Open Access
{"created":"2022-01-31T15:08:49.955191+00:00","id":"lit30122","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Uhthoff, W.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 14: 197-241","fulltext":[{"file":"p0197.txt","language":"de","ocr_de":"4\nWeitere Beitr\u00e4ge zum Sehenlemen blindgeborener und sp\u00e4ter mit Erfolg operierter Menschen, sowie zu dem gelegentlich vorkommenden Verlernen des Sehens bei j\u00fcngeren Kindern, nebst psychologischen Bemerkungen bei totaler kongenitaler Amaurose.\nVon\nProf. W. Uhthoff\nin Breslau.\nDie folgenden Mitteilungen, welche wohl auch \u00fcber den eng spezi alis tisch ophthalmologischen Rahmen hinaus f\u00fcr weitere Kreise (Physiologen, Psychologen u. \u00c2.) einiges Interesse haben d\u00fcrften, schliefsen sich an fr\u00fchere Ausf\u00fchrungen \u00dcber den gleichen Gegenstand an, die ich seiner Zeit mitteilen konnte. Es sind dies die Aufs\u00e4tze \u201eUntersuchungen \u00fcber das Sehenlernen eines siebenj\u00e4hrigen blindgeborenen und mit Erfolg operierten Knaben\u201c. (Beitr\u00e4ge0mPsychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Festgru\u00df mm 70. Geburtstag H. von Helmholts) und \u201eEin Beitrag zur vor\u00fcbergehenden Amaurose nach Blepharospasmus bei kleinen Kindern\u201c (Sitmngsber. d. Marburger Qesetlsch. 0. Be\u00dfrd. d. ges. Naturwiss., Sitzung vom 9. Dezember 1891). F\u00fcr beide Kapitel bin ich in der Lage gewesen, neue, wie ich glaube, wertvolle Beobachtungsreihen anzustellen, deren Bekanntgabe verlohnen d\u00fcrfte.\nAuf die Litteratur der einschl\u00e4gigen Gebiete will ich dieses Mal nicht wieder n\u00e4her eingehen, sondern in dieser Hinsicht auf meine fr\u00fchere Mitteilungen verweisen, zumal seit jener Zeit nur sehr wenig Neues auf diesem Gebiete ver\u00f6ffentlicht worden ist (wie z. B. von Fbanckb, \u201eDas Sehen-","page":197},{"file":"p0198.txt","language":"de","ocr_de":"198\nw. \u00fchthoff:\nlernen eines 26j\u00e4hrigen intelligenten Blindgeborenentt, Be\u00fcr, z. Augenheilkde. XVI. S. 1. 1894, Baihlmann, \u201e\u00dcber die B\u00fcck-wirkung der Gesichtsempfindungen auf das psychische und physische Leben\u201c, diese Zeitschr. Bd. VIH. 1895. 8. 401).\nIm Anschlufs hieran m\u00f6ge es mir gestattet sein, \u00fcber eine Beobachtung von hochgradigem doppelseitigen angeborenen Mikrophthalmus mit totaler Amaurose, ohne jede Lichtempfindung, bei einer jetzt 37j\u00e4hrigen Patientin zu berichten, und zwar weniger wegen der Seltenheit des Falles vom ophthal-mologischen Standpunkte aus, als wegen des psychologischen Verhaltens der Patientin, die, sehr intelligent, viel \u00fcber ihren Zustand selbst nachgedacht hatte und gern \u00fcber eine Beihe von Punkten Auskunft gab, die ein weitergehendes Interesse in Anspruch nehmen d\u00fcrften. Es handelt sich hier um eine etwas eingehendere Analyse des Seelenlebens eines M\u00e4dchens, das niemals von Geburt an eine Spur von Lichtempfindung besessen hat bei sonst guter Intelligenz und intaktem Denkverm\u00f6gen. Wir werden sehen, wie manche ihrer Angaben auf den ersten Blick sehr \u00fcberraschend erscheinen, bei genauerer Untersuchung aber doch in der Kegel ihre nat\u00fcrliche Erkl\u00e4rung finden.\nI. Ein neuer Fall (II) von kongenitaler doppelseitiger Katarakt bei einem 5j\u00e4hrigen sp\u00e4ter mit Erfolg operierten Knaben.\nSeit meiner ersten Mitteilung (s. oben) habe ich Gelegenheit gehabt, noch drei weitere einschl\u00e4gige Beobachtungen in der Marburger Universit\u00e4t\u00ab-Angenklinik zu machen, von denen zwei Meine blindgeborene Patienten, ein Geaohwisterpaar von 8 und 4 Jahren, gleichfalls von mir mit Erfolg operiert wurden, w\u00e4hrend der dritte Fall in meiner Abwesenheit von Herrn Dr. Axenfbld operiert wurde; jedoch konnte ich auch bei diesem Patienten, einem. 5j\u00e4hrigen intelligenten. Knaben, die Sehpr\u00fcfungen nach den, Operationen von .Anfang an durchf\u00fchren, und soll in. Folgendem \u00fcber die Ergebnisse dieser Pr\u00fcfungen eingehender berichtet werden, w\u00e4hrend loh die vorhin erw\u00e4hnten beiden Meinen Geschwister anfser Betracht lassen will, da die Angaben und, Pr\u00fcfungsergebnisse bei, ihnen als unzureichende bezeichnet werden m\u00fcssen.","page":198},{"file":"p0199.txt","language":"de","ocr_de":"Sehenlemen blindgeborener und sp\u00e4ter mit Erfolg operierter Menschen.\t199\nIch werde mich bei der Mitteilung der Unterfluohungs-ergebnisse bei dem letztgenannten 5j\u00e4hrigen Knaben thun\u00fcchst an das fr\u00fchere Untersuchungsschema halten, um so in m\u00f6glichst \u00fcbersichtlicher Weise einen Vergleich mit den fr\u00fcheren Beobachtungen zu erm\u00f6glichen. Auch habe ich Gelegenheit gehabt, den zuerst operierten 7 j\u00e4hrigen Knaben 2x/t Jahre nach den damaligen Operationen noch einmal eingehend zu beobachten, und es d\u00fcrfte nicht ohne Interesse sein, die dabei gewonnenen Daten in Verbindung mit dieser neuen Beobachtung nachtr\u00e4glich noch kurz zu registrieren.\nDer Knabe BL W. ans Schmalkalden wurde durch den Herrn Kollegen Kreisphysikus Dr. Lkhxkbach der Klinik \u00fcberwiesen und am 13. August 1896 aufgenommen. Derselbe litt an doppelseitiger kongenitaler Cataracta reducta mit teil weiser Verkalkung der Linsen. Die Katarakt-Operationen wurden von Herrn Dr. Axenfbld vorgenommen, wobei es gelang, die rechtsseitige Katarakt so zu extrahieren nach Anlegung einer Iridektomie, dafs eine zentrale freie L\u00fccke entstand, w\u00e4hrend links anfangs noch erhebliche Staarreste zur\u00fcckblieben, die sich im Laufe der Zeit erst allm\u00e4hlich resorbierten, so dafs zum Schlufs der Pr\u00fcfungsperiode auch hier eine freie zentrale L\u00fccke vorhanden war.\nDer Knabe war in seiner Erziehung durchaus nicht vernachl\u00e4ssigt worden, im Gegenteil hatte seine Mutter sich offenbar sehr viel mit ihm abgegeben, und dokumentierte sich dies schon vor den Operationen durch das Vorhandensein vieler Begriffe und Anschauungen, die geradezu \u00fcberraschten und von der Intelligenz des Kleinen ein g\u00fcnstiges Zeugnis ablegten. Herr Dr. Axknfsxd hat schon vor der Operation mit dem Kinde eine Reihe von Untersuchungen angestellt, deren Resultate hier teilweise kurz angef\u00fchrt werden sollen.\nNach Maisgabe des lokalen Befundes konnte von einem irgendwie erheblichen Sehen vor der Operation nicht die Rede sein, da die reduzierten und kreidig weifsen zum Teil verkalkten Linsen das Pupillargebiet auch nach Anwendung von Atropin ganz deckten. Er konnte die Farben rot, blau und gr\u00fcn in gr\u00f6lseren Objekten richtig unterscheiden, w\u00e4hrend das Erkennen von gelb ihm offenbar grolse Schwierigkeiten machte, sonst erkannte er nur Lichtschein, \u00fcber die Projektion des Lichtscheins machte er keine guten Angaben, zumal er sehr lichtscheu war. Bewegungen greiser Objekte und Personen konnte er aus n\u00e4chster N\u00e4he undeutlich wahmehmen. Die begleitende Mutter sagte: \u201eEr sieht gar nichts, hat auch niemals etwas gesehen, schon im Alter von einigen Monaten haben wir den weifsen Schein in beiden Augen bemerkt.\u201c Eine Schwester des Knaben leidet aff doppelseitigem Schichtstaar und wird gleichzeitig mit Ihm operiert.\nTrotz dieser Aussagen seiner Matter, die ihn offenbar sehr eingehend beobachtet hat, \u00fcberrascht der Junge bei genauerer Pr\u00fcfung durch manche seiner Angaben.\nAls der Patient in den Garten gef\u00fchrt wird und man ihm eins","page":199},{"file":"p0200.txt","language":"de","ocr_de":"200\nw: ukthoff:\ngr\u00f6fsere farbige Blume vorh\u00e4lt, behauptet er ganz richtig, das sei eine Blume, und ebenso beim Vorhalten von gr\u00fcnen Bl\u00e4ttern ganz richtig, das seien Bl\u00e4tter. Bei genauerer Nachforschung stellt sich heraus, dais er sich in seinem Urteil \u00fcber die vorgehaltenen Objekte lediglich durch die \u00e4ufsera Umst\u00e4nde leiten l\u00e4fst. In das Zimmer gef\u00fchrt bezeichnet er dieselben Objekte nicht mehr richtig, er benennt nur die Farbe, nur das Bewufstsein, sich im Freien, im Garten zu befinden, hatte ihm offenbar den Schlufs nahegelegt, die vorgehaltenen farbigen Objekte seien Blumen und Bl\u00e4tter. Hielt man ihm im Garten andere farbige Objekte vor, so bezeichnete er dieselben ebenfalls als Blumen.\nAn den Flufs gef\u00fchrt, behauptete er richtig, das sei \u201eWasser*, wenn der helle Beflex vom Wasserspiegel sein Auge traf, stellte man ihn so, dafs das nicht der Fall war, so erkannte er das Wasser nicht.\nEin M\u00e4dchen mit einer weifsen Sch\u00fcrze dicht vor ihn gestellt, nannte er richtig \u201eein M\u00e4dchen*, eine m\u00e4nnliche Person mit weifser Sch\u00fcrze aber ebenso \u201eein M\u00e4dchen*, nur der weifse Beflex dar Sch\u00fcrze leitete ihn bei der Beurteilung u. s. w. \u2014 Bei genauerer Nachforschung zeigte sich stets, dafs nur \u00e4u\u00fcserliche Momente f\u00fcr ihn bei der Beurteilung mafs-gebend waren und dafs von einem eigentlichen gegenst\u00e4ndlichen Erkennen nicht die Bede sein konnte.\nVon einem Spiegel wufste er, dafs man sich selber in demselben sehen k\u00f6nne, jedoch eben nur von seiner Mutter hatte er das geh\u00f6rt. Wir werden sp\u00e4ter sehen, was auf diese seine Kenntnis vom Spiegel zu geben war, und wie lange es dauerte, bis sich bei ihm die richtige Erkenntnis vom Spiegelbilde Bahn brach.\nEin grofses welfoes St\u00fcck Papier und einen weifsen Teller bezeichnet\u00bb er als \u201eein Bild*.\nAls V\u00f6gel erkannte er nur diejenigen an, welche wirklich fliegen, jedoch beschr\u00e4nkte sich seine ganze Kenntnis der fliegenden V\u00f6gel auf zwei Exemplare (die Lerche und die \u201eZiske*). Letztere wahrscheinlich ein Staar, der zu Hause im Bauer gehalten wurde.\nH\u00fchner und G\u00e4nse erkennt er nicht als V\u00f6gel an, weil sie nicht fliegen, auch h\u00e4tten dieselben nicht zwei, sondern vier Beine.\nDiese Beispiele m\u00f6gen gen\u00fcgen, um zu zeigen, wie der Knabe sich trotz seiner Sehst\u00f6rung eine Beihe von Anschauungen und Vorstellungen gebildet hat, die auf den ersten Blick ein gewisses vorhandenes Sehverm\u00f6gen zu verraten scheinen, f\u00fcr deren Zustandekommen sich jedoch durchweg eine andere Erkl\u00e4rung auffinden l\u00e4fst.\nDie ersten genaueren Sehpr\u00fcfungen nach den Operationen beginnen am 27. VIII. 1896.\nI. Das Erkennen von Objekten, Personen,\nTieren et\u00e7.\nBei der ersten Pr\u00fcfung erkennt er keinen der vorgehaltenen Gegenst\u00e4nde, welche ihm nach dem Gef\u00fchl v\u00f6llig bekannt sind, durch das Gesicht. Eine Beihe von Spielsachen (Ball,","page":200},{"file":"p0201.txt","language":"de","ocr_de":"Sehenlernen blindgeborener und sp\u00e4ter mit Wrfolg operierter Menschen* 201\nTrompete u. g. w.), mit denen er sich in den letzten Tagen bei verbundenen Angen oder im Dunkeln besch\u00e4ftigt hat, werden ihm gezeigt, es sind ihm alle ganz unbekannte Dinge, Er darf* dieselben jetzt wieder bef\u00fchlen und dann betrachten, und jetzt gelingt es ihm, schon bei den ersten Versuchen nach einiger \u00dcbung auch durch das Gesicht allein einzelne Objekte (wie z. B. die Trompete) richtig zu erkennen und mit dem richtigen Namen zu belegen. Eine Katze erkennt er durch das Gesicht nicht, aber auch als er sie anf\u00fchlt, weifs er nicht zu sagen, um was es sich handelt. Auf die Frage, ob er jemals eine Katze gehabt habe, oder ob zu Bause eine solche sei, antwortet er im verneinenden Sinne. Er packte die Katze ungeschickt und sorglos \u00fcberall an, ohne sie zu erkennen, sie interessiert ihn offenbar lebhaft. Sehliefslich wird er bei seinen Manipulationen von dem Tier gekratzt, dieses Ereignis macht ihn bedenklich, und scheint er dadurch doch eine gewisse Erinnerung an eine Katze zu bekommen. Bei genauer Nachfrage stellt sich auch heraus, dafs ein Nachbar in seiner Heimat eine Katze besals, was ihm offenbar jetzt m die Erinnerung kam. Auf die Frage, was denn eine Katze thue, antwortet er, \u201esie fangt M\u00e4use14.\nBei einer Pr\u00fcfung am 29. VIEL (also 2 Tage sp\u00e4ter) zeigt sich noch im wesentlichen dasselbe Resultat, doch erkennt er heute schon verschiedene Objekte (BaU, L\u00f6ffel) durch das Gesicht allein wieder. Abermalige Belehrung im Erkennen von Objekten, welche er betasten und dann mit seinem Auge betrachten darf.\nAm 30. VIII. sind im Erkennen von Objekten durch das Gesicht wieder erhebliche Fortschritte zu verzeichnen. Ein Streichholz, eine Streichholzschachtel, ein Thaler, ein Bleistift und ein Schl\u00fcssel werden richtig erkannt. Es l\u00e4fst sich immer wieder mit absoluter Sicherheit naohweisen, dafs er durchaus unf\u00e4hig ist, ein Objekt mit dem Auge richtig zu erkennen, welches ihm bisher noch nicht gezeigt war, wenn es ihm auch nach dem Gef\u00fchl sehr wohl bekannt war.\nAuch einzelne Gesichter, die ihm wiederholt gezeigt wurden, erkennt er heute schon richtig.\nAuch am 4. IX, 1896 erkennt er manche Objekte durch das Gesicht noch nicht richtig wieder, obschon sie fr\u00fcher schon seinem Tastsinn und seinem Auge zug\u00e4nglich gemacht","page":201},{"file":"p0202.txt","language":"de","ocr_de":"202\nW. Uh\u00fbi\nwaren und ihm nach dem Gef\u00fchl allein sehr wohl bekannt waren. Man konnte hierbei den Einflufs der Aufmerksamkeit sehr deutlich konstatieren. Wurde er energisoh angehalten, eingehendere Studien mit seinen Augen an den Objekten vorzunehmen, wie z. B. durch die Fragen \u201ewie lang ist es\u201c?, \u201ewelches Ende ist d\u00fcnner, und welches ist dioker\u201c?, \u201ewelohe Farbe hat esu ?, so beginnt er, das Objekt mit seinem Blick gleichsam abzusuchen, wandert mit demselben von einem Ende zum andern, giebt die einzelnen Merkmale dann h\u00e4ufig richtig an und kommt so schliefslich zur richtigen Erkenntnis des Objektes, indem er dasselbe auch richtig benennt, was ihm anfangs nicht m\u00f6glich war.\nSein besonderes Interesse erregt heute eine weiXse Maus, die man vor ihm auf einem Stuhl umherlaufen l\u00e4fst, er fa\u00a3st dieselbe sorglos an, bis dieselbe ihn beifst. Er hat offenbar nie eine Maus vorher ber\u00fchrt und hat keine Ahnung, was das sein kann. Bei der n\u00e4chsten Demonstration erkennt er sie sofort wieder durch das Gesicht, ohne sie zu ber\u00fchren, auch scheut er sich jetzt, sie wieder anzufassen.\nIm ganzen macht Patient relativ schnelle Fortschritte im Erkennen von Objekten durch das Gesicht allein, wobei seine Aufmerksamkeit allerdings eine wesentliche Bolle spielt. Aber auch bis in die sp\u00e4tere Untersuchungszeit hinein l\u00e4fst sich noch immer wieder nachweisen, dafs er Gegenst\u00e4nde durch das Gesicht allein zuerst nicht erkennt, wenn sie ihm auch durch den Tastsinn sehr wohl bekannt sind. Es bedarf bei jedem neuen Objekt erst der Belehrung und der Kontrolle seiner Gesichtsempfindung durch den Tastsinn. Auch sind Ver\u00e4nderungen der Demonstrationsbedingungen sehr wohl im st\u00e4nde, ihn wieder zu verwirren, wie z. B. das Hinhalten einer Streichholzschachtel nicht von der Fl\u00e4che her, sondern mit der Schmalseite voran u. 8. w.\nEL Beobachtung des eigenen Spiegelbildes.\nErst einige Tage nach Beginn der Sehpr\u00fcfungen, am 30. vni. 1896, wird Patient vor einen grolsen Spiegel (Th\u00fcr eines Schrankes) gef\u00fchrt. Er sagt zuerst: \u201eEs ist ein Ofen\u201c. \u2014 Sinnend steht er dann l\u00e4ngere Zeit vor dem Spiegel, zuletzt gefragt, was er sieht, sagt er: \u201eeinen Jungen\u201c. \u2014 \u201eIst es nicht ein M\u00e4dohen\u201c? \u2014 \u201eNein, ein Junge\u201c. \u2014 Er zeigt, wie","page":202},{"file":"p0203.txt","language":"de","ocr_de":"Seheniernen blindgeborener und sp\u00e4ter mit Erfolg operierter Menschen.\t203\ngrofs derselbe ist. \u2014 \u201eWer ist der Junge\u201c? \u2014 \u201eIch weifs nicht\u00bb ich kenne ihn nicht\u201c, antwortet er. \u2014 Auf Geheifs zeigt er dann auf die Hase und auf die Augen des Jungen\u00bb st\u00f6fst dabei aber auf die Spiegelscheibe. Ebenso ergeht es ihm\u00bb wenn er versucht, einzelne K\u00f6rperteile des Bildes zu ergreifen. \u2014 \u201eEr ist nicht im Zimmer\u201c sagt er hierauf spontan.\nAufgefordert, doch den Jungen zu fragen, wie er heifse, schweigt er konstant trotz eindringlichster Aufforderung, die Frage zu thun. Zuletzt sagt er: \u201eer h\u00f6rt mich nicht durch die Scheibe\u201c. Nochmalige dringlichste Aufforderung, die Frage zu thun, ist ebenfalls ohne Erfolg, er ist offenbar fest \u00fcberzeugt, dafs er keine Antwort erhalten wird.\nGegen den Band des Spiegels gef\u00fchrt, sieht er den Jungen nicht, er geht dann spontan sofort wieder vor den Spiegel zur\u00fcck, um den Jungen wiederzusehen, der ihn sehr zu interessieren scheint. Aufgefordert\u00bb den Jungen zu schlagen, versucht er es, f\u00e4hrt dabei aber wieder mit der Hand gegen die Scheibe und sagt hierauf wiederum: \u201eDer Junge ist nicht im Zimmer\u201c.\nHierauf gefragt: \u201eBist Du das selbst dort im Spiegel\u201c? antwortet er mit \u201enein\u201c. \u2014 \u201eKann man sich denn selbst im Spiegel sehen\u201c? Er antwortet: \u201eMeine Mutter sieht sich selbst im Spiegel\u201c. \u2014 \u201eKannst Du Dich denn nicht auch selbst im Spiegel sehen\u201c? Er sagt: \u201eNein, ich bin zu klein\u201c. \u2014 Hier sei bemerkt, dafs genauere Nachfragen ergeben, dafs seine Mutter fitr gew\u00f6hnlich einen kleinen an der Wand h\u00e4ngenden Spiegel benutzt, an welchen er wegen seiner geringen Gr\u00f6fse nicht herranreicht.\nBei sp\u00e4teren Pr\u00fcfungen vor dem grofsen Spiegel \u00e4ufsert er sich wiederholt dahin, dafs \u201edas kein Spiegel sein k\u00f6nne, es sei ein Fenster; ein Spiegel sei nicht so grofs\u201c. Dagegen nennt er sp\u00e4ter einen kleineren Spiegel\u00bb den man ihm in die Band giebt, richtig einen \u201eSpiegel\u201c.\nHierauf wird der Knabe an ein Fenster gef\u00fchrt, und er sieht durch die Scheibe in den Garten. Gefragt: \u201eWas siehst Du\u201c? antwortet er \u201eGras\u201c. \u2014 Es wird ihm nun von jenseits mein Gesicht der Fensterscheibe gen\u00e4hert. Er sieht dasselbe und erkennt es richtig \u201eProfessor\u201c. \u2014 Hierauf wird noch ein zweites Gesicht mit Bart und Brille neben dem meinigen an die Fensterscheibe gebracht, er sagt \u201eauch ein Professor\u201c.","page":203},{"file":"p0204.txt","language":"de","ocr_de":"204\nHierauf das Gesicht eines M\u00e4dchens, er sagt \u00bbein M\u00e4dchen\u201c. \u2014 Es wird jetzt durch die Fensterscheibe hindurch mit dem Knaben gesprochen, er antwortet jetzt und stellt Fragen an uns. Hierauf wird er wieder dem grofsen Spiegel und somit seinem Spiegelbilde gegen\u00fcber gestellt, er ist aber nicht zu \u00fcberreden, das Spiegelbild anzureden, obschon er einen groCsen Spiegel f\u00fcr ein Fenster h\u00e4lt. \u2014 Wiederum gefragt, ob er der Junge im Spiegel selber sei, verneint er das.\nErst f\u00fcnf Tage sp\u00e4ter, am 4. IX. 1896, werden die Versuche mit dem Spiegel wieder aufgenommen, nachdem er inzwischen keinen Spiegel zu Gesichte bekommen hat und auch Niemand ihm \u00fcber das Sehen im Spiegel Aufkl\u00e4rung gab. Auch heute erkl\u00e4rt er einen grofsen Spiegel wieder f\u00fcr ein Fenster, sein Spiegelbild nennt er wiederum \u201eeinen Jungen\u201c. Er zeigt auf die einzelnen K\u00f6rperteile des Bildes, ist aber nicht zu be-wegen, dasselbe anzureden. Es wird jetzt sein Kopf gefafirt und vor dem Spiegel hin und her bewegt; er beobachtet das im Spiegel und sagt, \u201eich bewege mich\u201c. Trotzdem aber verneint er noch die Frage, ob er sich nicht selbst im Spiegel sehe.\nDie Untersuchungen der n\u00e4chsten Tage vor dem Spiegel bringen ihn in seiner Erkenntnis nicht weiter. Am 17. IX. 1896 zeigt er sich besonders mitteilsam und aufgeweckt, er nennt aber auch heute noch den grofsen Spiegel ein Fenster \u2014 \u201eBist Du der Junge im Spiegel?\u201c \u2014 \u201eNein\u201c. \u2014 \u201eAber der macht doch immer dasselbe wie Du selbst?\u201c \u2014 \u201eEr sieht es von mir und macht dann so.\u201c \u2014 Auf Geheifs ruft er heute den Jungen an und fragt nach seinem Namen. Da keine Antwort erfolgt, ist er durch nichts zu bewegen, noch weitere Fragen an ihn zu richten.\nAuf die Frage: \u201eWie heifst denn der Junge?\u201c antwortet er auf einmal \u201eHugo\u201c (sein eigener Name) \u2014 \u201eNun, dann bist Du es doch selbst.\u201c \u2014 \u201eNein, ich bin es nicht, es giebt mehr Jungen, die Hugo heifsen\u201c, ist seine Antwort.\nMan kann ihn hierauf leicht bereden, da\u00a3s der Junge im Spiegel einen anderen Namen habe, er nennt ihn sp\u00e4ter immer David (wohl offenbar der Name eines kleinen Kameraden aus der Heimat).\nVerschiedentlich versucht er nochmals, den Jungen im Spiegel zu greifen, f\u00e4hrt dabei auf die Scheibe und meint : \u201eer","page":204},{"file":"p0205.txt","language":"de","ocr_de":"SeherUemen blindgeborener und sp\u00e4ter mit Erfolg operierter Menschen.\t205\nist nicht da.u Er greift hierauf hinter den Spiegel, findet nichts und \u00e4ufsert hierauf mim ersten Mal: \u201eer sitzt im Holzrahmen drin.\u201c\nGelegentlich sagt er heute zuletzt nach l\u00e4ngerer Belehrung, wenn man ihm zeigt, dafs der Junge im Spiegel doch immer dasselbe mache, wie er selbst: \u201eJa, das bin ich,\u201c \u2014 Im n\u00e4chsten Augenblick aber ist er auch wieder der festen Ansicht, dafs es ein Fremder sei. Er hat offenbar immer noch keine richtige Vorstellung von seinem Spiegelbilde.\nEs folgt jetzt ein Stadium, wo der Knabe zeitweise \u00fcberzeugt zu sein scheint, dafs er sein eigenes B\u00fcd im Spiegel sieht, wenn man ihn besonders darauf hinweist, wie der Junge im Spiegel doch alles genau so mache, wie er selber, und wenn er dahingehende Bewegungen ausf\u00fchrt und dieselben genau beobachtet. Dann sagt er wiederholt : \u201eJa, das bin ich,\u201c \u2014 Im n\u00e4chsten Augenblick aber, wenn er sich ganz ruhig vor dem Spiegel h\u00e4lt, ist er wieder \u00fcberzeugt, dafs er einen fremden Jungen sieht. Er behauptet schliefslioh regelm\u00e4fsig: \u201eWenn ich so mache (d. h. z. B. seinen Arm vor dem Spiegel auf und ab bewegt), dann bin ich es; wenn ich nicht so mache, dann ist es ein anderer Junge.\u201c\nEs wird ihm zu dieser Zeit ein Brettchen in die Hand gegeben, welches von der einen Seite mit einem blauen, von der anderen mit einem roten St\u00fcck Tuch beklebt ist, er h\u00e4lt es vor den Spiegel, so dafs ihm die rote Fl\u00e4che zugekehrt ist, er im Spiegel aber die blaue Fl\u00e4che sieht. Diese Erscheinung verwirrt ihn sichtlich und best\u00e4rkt ihn in der Annahme, dafs er einen fremden Jungen im Spiegel vor sich habe.\nWenn er seine beiden ausgestreckten H\u00e4nde dicht vor den Spiegel h\u00e4lt, so z\u00e4hlt er ganz richtig 4, \u201e2 geh\u00f6ren mir, 2 dem Jungen im Spiegel, jeder Mensch hat 2 H\u00e4nde.\u201c\nErst bei wiederholten weiteren \u00dcbungen vor dem Spiegel gewinnt er immer mehr die \u00dcberzeugung, dafs er sich selber im Spiegel sehe, jedoch behauptet er auch am 27. IX. 1896 noch gelegentlich, einen fremden Jungen zu sehen.\nImmerhin \u00e4ufsert er heute schon spontan: \u201eIch wufste es fr\u00fcher nicht, dafs man sich im Spiegel sieht, jetzt weifs ich es.\u201c Aber trotz dieser \u00c4ufserung spricht er noch wiederholt von einem fremden Jungen im Spiegel. Patient gewinnt die richtige Beurteilung seines Spiegelbildes erst ganz allm\u00e4hlich,","page":205},{"file":"p0206.txt","language":"de","ocr_de":"206\nW. Vhthoff,\nund scheint es bei weiteren Versuchen, als ob die Benutzung eines kleineren Spiegels, den er in die Band bekommt, ihm das richtige Verst\u00e4ndnis erleichtert, wohl offenbar deshalb, weil er einen kleinen Spiegel als solchen anerkennt und von seiner Mutter weif\u00bb, dafs dieselbe sich in ihrem kleinen Wandspiegel selbst sieht.\nHI. Das Erkennen von bildlichen und fig\u00fcrlichen Darstellungen von Personen, Tieren und Objekten\nmacht ihm grofse Schwierigkeiten, namentlich wenn dieselben weit hinter der nat\u00fcrlichen Gr\u00f6fse Zur\u00fcckbleiben. In der ersten Zeit der Sehpr\u00fcfungen war es ihm ganz unm\u00f6glich, stark verkleinerte Bilder von Tieren, Menschen und Objekten richtig zu deuten. Erst in der sp\u00e4teren Zeit gelang es ihm nach l\u00e4ngerer Unterweisung, die Bilder von gewissen Tieren in ziemlich guter farbiger Darstellung richtig zu erkennen.\nIV. Das Erkennen der Farben.\nGelingt dem Patienten schon beim ersten Versuch auch bei kleineren Objekten ganz prompt: Bot, Blau und Gr\u00fcn werden richtig angegeben, bis auf Gelb, von dem er behauptet, er wisse nicht, was das sei. Eine einmalige Belehrung gen\u00fcgt aber auch hier, um ihn dauernd dar\u00fcber aufzukl\u00e4ren. Er benennt es fernerhin stets richtig. Es sei Mer bemerkt, daJGi Patient auch schon vor der Operation die Farben Bot, Blau und Gr\u00fcn in greiseren Objekten richtig zu unterscheiden vermochte. \u2014 Gefragt, welche Farbe ihm am besten gefalle, antwortet er sofort: \u201edie blaue Farbe\u201c, ohne \u00fcber das Warum weiter Auskunft geben zu k\u00f6nnen.\nV. \u00dcber das exzentrische Sehen des Knaben\nund das Gesichtsfeld.\nEine genauere Gesichtsfeldpr\u00fcfung des Patienten ist schwer durchf\u00f6hrbar, immerhin gelingt es, bei l\u00e4ngeren eingehenderen Versuchen nachzuweisen, dafs er ein gr\u00f6fseres weifses bewegtes Objekt auch ziemlich weit peripher wahrnimmt, allerdings nicht so weit, wie ein ganz normales Auge. Es bleibt das Gesichtsfeld trotz eindringlichster Aufforderung an den Patienten doch im m\u00e4fsigen Grade unregelm\u00e4fsig konzentrisch","page":206},{"file":"p0207.txt","language":"de","ocr_de":"Sehenlemen blindgeborener und sp\u00e4ter mit Erfolg operierter Menschen,\t207\neingeengt, nach aufsen scheinbar am st\u00e4rksten. Eine genaue perimetrische Aufnahme ist nicht m\u00f6glich. Bei sp\u00e4teren Pr\u00fcfungen werden die Grenzen des Gesichtsfeldes noch als weiter angegeben, immerhin aber als nicht ganz bis zur normalen Ausdehnung reichend.\nSehr auff\u00e4llig ist auch in diesem Falle wieder, \u00e4hnlich wie bei dem fr\u00fcheren (Franz Kroennng), dafs exzentrische Netzhauteindr\u00fccke f\u00fcr die Orientierung so gut wie gar nicht verwertet werden. Schon bei den ersten Sehpr\u00fcfungen am 27. YIII. 1896 macht sich diese Thatsaohe sehr geltend. Wird er aufgefordert, ein markanteres Objekt (St\u00fcck Zucker, weifses St\u00fcck Papier u, s. w.) am Fufsboden aufzusuchen, so geht er in geb\u00fcckter Stellung voran, seine Augen zum Fufsboden gewendet. Nach l\u00e4ngerem Bem\u00fchen gelingt es ihm in der Regel, das Objekt auch wirklich zu finden, jedoch mufs es ihm gerade in seine BlickUnie kommen. Oft geht er unmittelbar an dem Objekt vor\u00fcber, so dafs er offenbar seine exzentrischen Netzhautbilder von dem Objekt sich gar nicht nutzbar machen kann f\u00fcr das Auffinden desselben.\nAuch bei seiner Orientierung im Raum tritt die schlechte Verwertung exzentrischer Netzhauteindr\u00fcoke deutlich zu Tage. Schon bei den ersten eingehenderen Pr\u00fcfungen am 27. VIII. ist er im st\u00e4nde, gr\u00f6fsere Hindernisse, die bis in die H\u00f6he seiner Augen reichen, zu vermeiden, namentlich wenn durch dringende Mahnungen seine Aufmerksamkeit geweckt wird. Dagegen st\u00f6fst er regelm\u00e4fsig an, wenn die in den Weg gestellten Hindernisse niedrig sind, so dafs er nur exzentrische Netzhautbilder von denselben bekommt.*\nEin vor ihm hergerollter grofser lebhaft gef\u00e4rbter BaU einregt sehr sein Interesse, er l\u00e4uft demselben nach und kann ihn eine Strecke weit verfolgen, sowie ihm aber der Ball aus seiner Blioklinie kommt, verliert er ihn aus den Augen, und ebenso findet er ihn oft nicht mehr auf, wenn derselbe nicht mehr in Bewegung ist.\nWird ihm unvorhergesehen auch ein gr\u00f6fseres markantes Objekt exzentrisch hingehalten, so sieht er es in der Regel nicht, oft auch nicht, wenn es hin und her bewegt wird, dagegen greift er nach gerade zentral vorgehaltenen Objekten bald ziemlich prompt. \u00dcbrigens l\u00e4fst sich schon nach dreimaligen \u00dcbungen am 30, VIII. 1896 eine erhebliche Besserung auch in","page":207},{"file":"p0208.txt","language":"de","ocr_de":"208\nw. Uhthoff;\nder Verwertung exzentrischer Netzhauteindr\u00fccke konstatieren, namentlich f\u00fcr bewegte Objekte.\nVI. \u00dcber das Erlernen des Z\u00e4hlens vor gehaltener\nObjekte.\nSpontan kann Patient bis 80 richtig z\u00e4hlen. Nach dem Gef\u00fchl giebt er eine Anzahl von Gegenst\u00e4nden (Finger der vorgehaltenen H\u00e4nde n. s. w.) richtig an. Am 29. VXIL 1896 (also bei der zweiten Sahpr\u00fcfung) wird er aufgefordert, die ausgespreizten Finger der vorgehaltenen Hand nach dem Gesicht zu z\u00e4hlen, es ist ihm unm\u00f6glich. Er darf sodann einen Finger nach dem andern mit seinem Finger zeigen, aber nicht ber\u00fchren, und dabei gleichzeitig ansehen, nach einiger \u00dcbung bringt er es fertig, die Zahl der Finger richtig anzugeben. Dagegen will es ihm durchaus noch nicht gelingen, s\u00fbt den Augen allein die Zahl der Finger richtig zu erkennen, auch nicht, wenn dieselbe nur 2 betr\u00e4gt. ik sieht dabei recht gut, ob die beiden Finger auseinandergespreizt werden oder ob sie stille stehen, aber die Zahl 2 begreift er mit H\u00fclfe semer Augen allein noch nicht.\nAnalog verh\u00e4lt sich die Sache, wenn eine Anzahl Streichh\u00f6lzer auf dunklem Grunde vor ihm hingelegt werden. Mit den Augen allein vermag er sie nicht zu z\u00e4hlen, wohl aber bringt er es nach einiger \u00dcbung richtig fertig, wenn ihm gestattet wird, auf das einzelne Streichholz mit dem Finger hinzuzeigen uni dasselbe gleichzeitig anzusehen. Er macht hierbei spontan die \u00c4ufserung ; \u201eloh kann nicht mit den Augen z\u00e4hlen, nur mit den Fingern\u201c.\nNach einer Beihe methodisch fortgesetzter Versuche gelingt es ihm schliefslioh, auch mit den Augen allein eine Anzahl Streichh\u00f6lzer, welche durch einen Zwischenraum getrennt Hegen, richtig zu z\u00e4hlen, indem er mit dem Blick, wie man deutlich verfolgen kann, von einem H\u00f6lzchen zum andern wandert. Dieses Wandern des Blickes wird weniger durch Drehung der Augen als seitliche Verschiebungen des Kopfes in der betreffenden Sichtung bewerkstelligt. Das Z\u00e4hlen der Streichh\u00f6lzer erfolgt zuletzt auch noch richtig, wenn das eine horizontal, das andere vertikal gelegt ist, auch vermag er mit seinem Finger ganz richtig anzudeuten, ob das betreffende Streichholz vertikal oder horizontal hegt. Wenn man einige","page":208},{"file":"p0209.txt","language":"de","ocr_de":"Sehenkmen blindgeborener und sp\u00e4ter mit Erfolg operierter Menschen. 209\nStreichh\u00f6lzer vor seinen Augen langsam kreuzweise \u00fcberein\u00ab ander legt\u00bb so giebt er die Zahl sohliefsHoh auch richtig an, aber doch etwas unsicher. Dagegen findet er sich durch einen kleinen Haufen kreuzweise gelegter Streichh\u00f6lzer mit den Augen nicht durch\u00bb er kann sie nicht richtig z\u00e4hlen.\nBei diesen Pr\u00fcfungen f\u00e4llt immer wieder auf\u00bb dafs, wenn die Objekte in gr\u00f6fseren Zwischenr\u00e4umen vor ihn hingelegt sind, er oft inneh\u00e4lt mit dem Z\u00e4hlen\u00bb indem er denkt, die Reihe sei zu Ende, er hat dann das etwas weiter exzentrisch gelegene H\u00f6lzchen nicht mehr bemerkt.\nVII. Wahrnehmung der Formen vorgehaltener Objekte,\nSch\u00e4tzung der Entfernungen.\nIn dieser Hinsicht ist zun\u00e4chst zu konstatieren, dafs Fat. nach dem Gef\u00fchl sehr wohl anzugeben weifs, wie die Form der Objekte, was z. B. rund und was viereckig ist.\nBei der zweiten eingehenden Sehpr\u00fcfung am 29. VIH. wird ihm ein Thaler auf dunklem Grunde vorgelegt: er sieht ihn und zeigt mit dem Finger auf denselben\u00bb weifs ihn allerdings noch nicht zu benennen, da er ihm vorher noch nicht gezeigt ist. Es wird ihm jetzt die Frage vorgelegt: \u201ei#t das Ding rund?\u201c Er sagt: Nein, rund ist es nicht;\u201c als er dann den Thaler anf\u00fchlen darf, benennt er ihn sofort spontan als \u201erund\u201c. \u00c4hnlich ergeht es ihm mit einem Ei, welches er nach dem Gesicht als \u201enicht rund\u201c, nach dem Gef\u00fchl aber sofort bestimmt als \u201erund\u201c bezeichnet.\nAuch am folgenden Tage bei nochmaliger Pr\u00fcfung passieren ihm dieselben Irrt\u00fcmer, indem er verschiedene runde Objekte bei der Betrachtung mit dem Auge als \u201enicht rund\", ja sogar zum Teil direkt als \u201eviereckig\" bezeichnet. Sobald er aber die Gegenst\u00e4nde in die Hand bekommt, benennt er die Form richtig. Nach l\u00e4ngerer fortgesetzter Pr\u00fcfung gelingt es ihm zuletzt, einen kleinen viereckigen Kasten mit dem Auge allein auch als \u201eviereckig\u201c zu erkennen, und auf Geheifs zeigt er sodann die vier Ecken des Kastens richtig. Es Hefs sich also bei dem Knaben in der ersten Zeit evident feststellen, dafs er nach dem Gef\u00fchl einen richtigen Begriff von der Form hatte, mit dem Auge allein jedoch dieselbe durchaus nicht richtig beurteilen konnte.\nDie Sch\u00e4tzung von Entfernungen der vorgehaltenen Objekte bleibt auch bis zum Schlufs der Sehpr\u00fcfungen am\nZeitschrift Ihr Psychologie XIV.\t14","page":209},{"file":"p0210.txt","language":"de","ocr_de":"210\nW. Ukthoff.\n27. IX. 1896 sehr unsicher, namentlich, wenn es sich um etwas gr\u00f6fsere Entfernungen handelt. Etwas besser geht es, wenn das Objekt sich in der Greifweite des Patienten befindet. Auch macht es einen Unterschied, ob das betreffende Objekt ihm an einem d\u00fcnnen, fast unsichtbaren Faden hingehalten wird, oder ob es ihm mit der Hand und ausgestrecktem Arm gezeigt wurde; letzteres orientierte ihn offenbar etwas besser.\nIch will hier bemerken, dafs die \u00dcbungen bis in die letzte Zeit bei dem Patienten monokul\u00e4r angestellt wurden, erst dann hatte sich auch auf dem zweiten Auge die Katarakt soweit resorbiert, dafs eine zentrale freie L\u00fccke entstand. Eingehende vergleichende Untersuchungen zwischen dem monokularen und binokularen Sehen des Patienten fehlen also in diesem Falle.\nVIII. Orientierung im Baum.\nObwohl der Knabe schon bei der ersten eingehenden Sehpr\u00fcfung am 27. VIII. ein lebhaftes Interesse f\u00fcr sein neugewonnenes Sehverm\u00f6gen an den Tag legt und auch bald lernt, gr\u00f6fsere Hindernisse mit H\u00fclfe seines Gesichtssinnes zu umgehen, so kann man bei der dritten eingehenden Pr\u00fcfung am 30. VIH, doch noch beobachten, wie er, sich selbst in einem fremden Zimmer \u00fcberlassen, von seinen Augen noch fast gar keinen Gebrauch macht. Er betastet die Gegenst\u00e4nde, sch\u00fcttelt dieselben, f\u00fchrt sie zum Teil ans Ohr, aber nicht vor das Auge; und doch findet er sich leidlich zurecht durch seinen Gesichtssinn allein, sobald man ihn energisch dazu ermahnt, seine Augen zu benutzen. Er zog es offenbar noch vor, sich in altgewohnter Weise zu orientieren, als sich seines neuerschlossenen Sinnes zu bedienen, dessen Benutzung von ihm erst relativ m\u00fchsam erlernt werden mufste,\nBesonders hervorzuheben scheint mir noch eine Thatsache, die bei unserem Patienten w\u00e4hrend der ersten Sehpr\u00fcfung wiederholt deutlich konstatiert werden konnte. Wenn Patient bei den ersten, auch erfolgreichen Versuchen, ein markantes Objekt auf dem FuXsboden mit den Augen aufzufinden, aufgefordert wurde, auf dieses gefundene Objekt, welches er offenbar sah, mit dem Finger hinzuzeigen, so zeigte er wiederholt ganz betr\u00e4chtlich an dem Objekt vorbei. Eine wiederholte Nachpr\u00fcfung ergab ein analoges Besultat. Bei der zweiten Sitzung","page":210},{"file":"p0211.txt","language":"de","ocr_de":"Sehenlernen blindgeborener und sp\u00e4ter mit Erfolg operierter Menschen. 211\nschon, am 29. VIII., war diese Erscheinung verschwunden, er konnte jetzt auch mit dem Finger ganz richtig auf das gesehene Objekt hindeuten, Patient hatte offenbar inzwischen schnell gelernt, die Lokalisation eines Objektes im Baume vermittelst seines Auges in Einklang zu bringen mit seinem Muskelgef\u00fchl, w\u00e4hrend er bei der ersten Pr\u00fcfung es noch nicht ausreichend verstand, durch seinen Gesichtssinn geleitet, die Richtung korrekt anzugeben. Dieses Unverm\u00f6gen bei dem Patienten war zuerst sehr auffallend und verschwand sehr schnell, jedoch glaube ich, durch wiederholte Pr\u00fcfung das Faktum sicher konstatiert zu haben. Wurde Patient bei geschlossenen Augen zu dieser Zeit aufgefordert, nach einem Schalleindruck mit der Hand die Richtung zu zeigen, so konnte er das relativ gut, allerdings liefs sich sp\u00e4ter deutlich feststellen, wie er noch an Sicherheit gewann, wenn er seine zeigende Hand mit dem Auge kontrollieren konnte und dementsprechend die ihn anrufende Person gleichzeitig sah und h\u00f6rte.\nIX. Die Augenbewegungen.\nVor der Operation sowohl, wie auch nachher noch w\u00e4hrend der Sehpr\u00fcfungen besteht ausgesprochener Nystagmus. Es ist durchweg nicht ein ganz gleichm\u00e4fsiges rhythmisches Hin- und IT erzittern der Augen wie bei gew\u00f6hnlichem Nystagmus, sondern es sind mehr die unregelm\u00e4fsig hin und her irrenden Bewegungen der Bulbi, allerdings immer im assoziierten Sinne, wobei auch eine grofse Neigung von seiten des Patienten besteht, beide Bulbi unter nystagmusartigen Zuckungen unter die oberen Lider zu stellen. Diese Neigung, die Augen nach oben zu rotieren, besteht auch bei den sp\u00e4teren Sehpr\u00fcfungen noch in sehr ausgesprochener Weise, so dafs Patient bei Aufforderung, ein vorgehaltenes Objekt zu fixieren, dasselbe oft nur exzentrisch mit nach oben gewendeten Augen ansieht und h\u00e4ufig erst bei sehr energischer Mahnung sich entschliefst, dasselbe vor\u00fcbergehend zentral zu fixieren. Gegen Ende der Sehpr\u00fcfungen wurde es ihm entschieden leichter, seine Augen richtig zentral ' einzustellen. Jedoch waren auch bei den sp\u00e4teren Pr\u00fcfungen sowohl der Nystagmus als auch die Neigung, exzentrisch zu fixieren, noch deutlich nachweisbar.\n14*","page":211},{"file":"p0212.txt","language":"de","ocr_de":"212\nw. uhtkoff.\nX. Das psychische Verhalten des Knaben.\nEs wurde schon Eingangs erw\u00e4hnt, dafs der kleine Patient f\u00fcr sein Alter als ein recht intelligenter Junge zu bezeichnen war, man merkte bei ihm sehr deutlich, dafs seine Mutter offenbar um seine geistige Entwickelung sehr lebhaft bem\u00fcht gewesen war und sich viel mit ihm abgegeben hatte. Sem Interesse an dem neugewonnenen Sehen war auch als ein reges zu bezeichnen, und unterschied er sich in dieser Hin-sicht sehr ausgesprochen von der anfangs v\u00f6lligen Teilnahmslosigkeit unseres fr\u00fcher beobachteten 7j\u00e4hrigen Knaben (F. K.), Und doch \u00fcberraschten manche Antworten des Knaben bei den verschiedenen Sehpr\u00fcfungen. Als man ihn bei der ersten l\u00e4ngeren Sehpr\u00fcfung, am Schl\u00fcsse derselben, wo er schon verschiedene Objekte durch den Gesichtssinn wieder zu erkennen gelernt hatte, fragte, \u201eob er jetzt besser sehe als fr\u00fcher?\u201c antwortete er mit \u201enein\u201c. \u2014 Bei der dritten Sehpr\u00fcfung behauptet er noch auf die Frage : \u201eKannst Du denn jetzt sehen?\u201c \u2014 \u201eNein, ich kann nicht ein bischen sehen!\u201c Bald darauf aber gesteht er zu: \u201eJa ich kann ein bischen sehen und freue mich dar\u00fcber. Es ist h\u00fcbsch, wenn man gucken kann.\u201c \u2014 \u201eWarum ist es h\u00fcbsch, zu sehen?\u201c \u2014 \u201eIch weifs nicht, man kann ein Bilderbuch sehen.\u201c \u2014 Bei der sp\u00e4teren Pr\u00fcfung am 27. DL entspinnt sich noch folgendes Gespr\u00e4ch : \u201eFreust Du Dich denn, dafs Du sehen kannst.\u201c \u2014 \u201eJa!\u201c \u2014 \u201eAber warum freust Du Dich dar\u00fcber?\u201c \u2014 \u201eDafs ich nach Hause komme.\u201c \u2014\n\u201eWarum ist es denn sch\u00f6n, zu sehen?\u201c \u2014 \u201eIch weifs nicht,\n\u2022\u2022\nwarum.\u201c \u2014 Aus derartigen Aufserungen erhellt, dafs Patient auch in der sp\u00e4teren Periode der Sehpr\u00fcfungen sein neu erworbenes Sehverm\u00f6gen noch nicht hoch veranschlagt.\nEpikrise nebst Nachtr\u00e4gen zu Fall I. (F. K.)\nWerfen wir einen B\u00fcckbiick auf diese Beobachtungen und ziehen einen Vergleich zwischen diesem und unserem fr\u00fcherem Fall (F. K,), so zeigt sich zun\u00e4chst, wie auch nicht anders zu erwarten, dafs auch dieser Patient zuerst absolut unf\u00e4hig ist, irgend ein vorgehaltenes Objekt oder eine Person sofort durch das Gesicht zu erkennen, es bedarf immer erst des vergleichenden Studiums zwischen den Erfahrungen des Tastsinnes, des Geh\u00f6rsinnes u. s. w. und denen des neu erwor-","page":212},{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"Sehmlemen blindgeborener und sp\u00e4ter mit Erfolg operierter Menschen, 213\nbenen Gesichtssinnes, bevor das Erkennen durch den Gesichtssinn allein m\u00f6glich wird. Es ist dies eine Thatsache, die in allen einschl\u00e4gigen Beobachtungen in der Litteratur wiederkehrt und sich auch auf dem Boden der empiristischen Theorie als unbedingt notwendig ergiebt. Ja, dieses Nichterkennen von Objekten durch den Gesichtssinn allein l\u00e4fst sich bei unserem Fall I (F. K.) sogar noch nach Jahren, als er zur Untersuchung wieder in die Klinik gebracht wird, gelegentlich nachweisen. Es giebt jetzt noch einzelne Objekte, die er dem Namen und dem Gef\u00fchl nach kennt, die er aber inzwischen nicht Gelegenheit gehabt, durch seinen neuerworbenen Gesichtssinn zu pr\u00fcfen; er erkennt sie jetzt nach dem Gesicht allein nicht.\nSehr interessant war auch bei dieser zweiten Vorstellung, den Knaben bei der Beobachtung einer Seifenblase (in der Luft schwebend) zu sehen, die er offenbar bis dahin noch nie beobachtet hatte. Er rief \u201eein Glas\u201c, pl\u00f6tzlich platzte die Blase zu seinem gr\u00f6fsten Erstaunen und er wurde durch die einzelnen Wasserteilchen etwas benetzt, er sagte jetzt sofort \u201eWasser\u201c.\nIm ganzen machte unser Fall II (der 5j\u00e4hrige Junge) schnellere Fortschritte im Erkennen von Objekten und Personen durch den Gesichtssinn allein, als Fall I. Letzterer hatte aber auch offenbar vor den Operationen noch weniger gesehen als unser Fall II, da bei ersterem nicht nur verkalkte reduzierte Katarakte, sondern gleichzeitig noch ein Pup\u00fclar-abschlnfs bestand und die Erziehung des Knaben aufserordeni-lich vernachl\u00e4ssigt war.\nDie Ergebnisse in betreff der richtigen Erkenntnis des eigenen Spiegelbildes waren in unserem Fall II fast noch bemerkenswerter als in dem Fall I. Es machte dem kleinen Patienten enorme Schwierigkeiten, das Wesen seines eigenen Beflexb\u00fcdes im Spiegel richtig zu begreifen, und trotzdem wufste er schon vor der Operation sehr bestimmt von seiner Mutter, dafs man sich selbst im Spiegel sehen k\u00f6nne. Aber er war \u00fcberzeugt, dafs er selbst es nicht k\u00f6nne, weil \u201eer zu klein sei\u201c. Ganz allm\u00e4hlich macht er Fortschritte, und er macht ein ziemlich andauerndes Zwischenstadium durch, w\u00e4hrenddessen er wohl \u00fcberzeugt ist, dafs er sein eigenes Bild im Spiegel sehe, wenn er seine absichtlich vorgenommenen Bewegungen im Spiegel sieht; gleich darauf aber auch wieder","page":213},{"file":"p0214.txt","language":"de","ocr_de":"214\nw. \u00fchthoff:\n\u00fcberzeugt ist, es m\u00fcsse ein Fremder sein, wenn er sieb ruhig\n\u2022\u2022\nvor dem Spiegel verh\u00e4lt. \u00c4nderungen der Versuchsbedingungen, wie der Versuch mit der von beiden Seiten verschiedenfarbigen Scheibe im Spiegel, sind geeignet, ihn wieder an der richtigen Natur seines Spiegelbildes zweifeln zu lassen.\nUnser Fall I hatte mit \u00e4hnlichen Schwierigkeiten zu k\u00e4mpfen, wie s. Z. geschildert, bis er zur richtigen Erkenntnis kam. Jetzt nach 21/* Jahren erkennt er sein Bild sofort richtig im Spiegel wieder. Man bemerkt aber gelegentlich noch sehr gut, wie er, wenn er ganz unerwartet vor einen Spiegel kommt, im ersten Augenblick nicht Bescheid weifs, wer ihm gegen\u00fcbersteht, aber ein Paar von ihm sofort ausgef\u00fchrte und beobachtete Bewegungen geben ihm gleich richtigen Aufschlu\u00df. Umgekehrt passiert es ihm aber auch jetzt noch Mn und wieder, dafs er das lebensgro\u00dfe farbige B\u00fcd eines Knaben unter Glas f\u00fcr sein eigenes h\u00e4lt und beginnt, seine orientierenden Bewegungen zu machen, bis er sich bald \u00fcberzeugt, dafs es nicht sein eigenes B\u00fcd ist.\nVergessen darf man bei unseren beiden Patienten nicht, dafs ihre relativ geringe Sehsch\u00e4rfe naturgem\u00e4fs das Sehen des Spiegelbildes erschwerte, immerhin lehrt der Erfolg der Seh\u00fcbungen, dafs dieselbe ausreichte, um schlie\u00dflich das richtige Erkennen ganz gut zu erm\u00f6glichen. \u2014 Dafs es Blindgeborenen und sp\u00e4ter mit Erfolg operierten Menschen viel leichter werden mufs, Objekte, welche sie durch den Tastsinn schon kennen oder kennen lernen k\u00f6nnen, auch durch das Gesicht zu verstehen, als einen richtigen Begriff vom Spiegelbilde some von B\u00fcdem \u00fcberhaupt zu bekommen, bei deren Erkennen sie ausschlie\u00dflich auf den Gesichtssinn angewiesen sind, glaube ich, liegt auf der Band, und diese Thatsache trat evident bei unseren beiden F\u00e4llen zu Tage.\nNoch mehr Schwierigkeiten Ms mit dem Erkennen des Spiegelb\u00fcdes hatten beide Knaben mit dem Erkennen von Bildern und fig\u00fcrlichen Darstellungen von Personen, Tieren und Objekten. Es machte hierbei einen gro\u00dfen Unterschied, ob die b\u00fcdliche und fig\u00fcrliche Darstellung ungef\u00e4hr die nat\u00fcrlichen Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisse repr\u00e4sentierte, oder ob die Dimensionen s. B weit hinter der nat\u00fcrlichen Gr\u00f6\u00dfe sur\u00fcckblieben. Da die orientierende Kontrolle durch den Tastsinn bei bildlichen Darstellungen ganz fehlt und die Sch\u00e4tzung","page":214},{"file":"p0215.txt","language":"de","ocr_de":"Sehenlemen blindgeborener und sp\u00e4ter mit Erfolg operier ter Menschen* 215\nder Gr\u00f6fsenverh\u00e4itnisse durch das wieder sehend gewordene Auge zuerst sufserordentlieh unsicher ist, so erscheinen diese Schwierigkeiten im Erkennen von selbst gegeben, und in der That w\u00e4hrte es lange und bedurfte der methodischen Unterweisung, bis Beide in der Lage waren, kleinere Bilder richtig zu deuten. Es ist f\u00fcr derartige- Patienten offenbar ganz besonders schwer fafsbar, wie auf dem so kleinen Baum eines Bildes ein so grofses Objekt der Aufsenwelt Platz haben kann.\nMan k\u00f6nnte ein wenden, dafs diese Schwierigkeiten des Er-kennens von relativ kleinen Abbildungen grofser Objekte (z, B. Pferd, Kuh u. s. w.) doch nicht so grofs sein d\u00fcrften, da ja auch ein sehr grofses Objekt aus gr\u00f6fserer Entfernung schliefs\u00fcch unter kleinem Gesichtswinkel \u00e4hnlich wie das B\u00fcd erscheinen irrafs. Es ist hierbei jedoch zu bedenken, in welcher Weise die Knaben sich vorher \u00fcber gr\u00f6fse Dinge (z. B. Pferd, Kuh u. s. w.) orientiert haben. Sie haben vor den Operationen die Erfahrung gemacht, dafs ein solches Tier sehr grofs ist, so dafs sie es lange nicht abtasten, ja kaum heranreichen k\u00f6nnen ; sie sind auch nach den Operationen wegen ihrer geringen Sehsch\u00e4rfe eigentlich nicht in der Lage, dieselben aus grofsen Entfernungen zu sehen. Sie studieren die Dinge auch nachher aus grofser N\u00e4he, und da erscheint es sehr begreiflich, dafs der Untersuchte z. B. auf einem Blatt Papier, welches er in der Hand vor sich h\u00e4lt, ein Pferd nicht erkennt, von dem er von fr\u00fcher her durch seinen Tastsinn aus grofser N\u00e4he die Vorstellung einer enormen Gr\u00f6fse gewonnen hat. Er lernt es allm\u00e4hlich; aber viel schneller mufs ihm das gelingen, wenn die Abbildungen ungef\u00e4hr die richtigen Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisse der Dinge aus relativ naher Entfernung wiedergeben, die Gr\u00f6fse des Gesichtswinkels allem ist Mer doch nicht mafsgebend. In Bezug auf das Erkennen von Farben ist unser Fall I ganz besonders interessant. Die Sehst\u00f6rung war bei ihm vor der Operation der Katarakte so hochgradig, dafs es nicht gelang, den Nachweis eines FarbenunterscheidungsVerm\u00f6gens bei ihm zu f\u00fchren. Bei der Komplikation der Kataraktb\u00dcdung mit Pupillarverschlufs d\u00fcrfte dies negative Pr\u00fcfungsergebnis in Bezug auf das Farbenunterscheidungsverm\u00f6gen kaum \u00fcberraschen, Auch nach der Operation konnte dieser 7j\u00e4hrige Patient zuerst \u00fcber verschiedenfarbige Objekte absolut keine Auskunft geben. Er begriff offenbar gar nicht, um was es sich handelte, \u201edas ist","page":215},{"file":"p0216.txt","language":"de","ocr_de":"216\nW, Uhihoff.\nein Ding44, sagte er beim Hinhalten farbiger Objekte und nach der Farbe gefragt. Es bedurfte erst bei ihm eines wiederholten methodischen Unterrichtes in Bezug auf die Farben, bis er dann schlielslich relativ schnell richtig unterscheiden lernte.\nSehr markant waren hierbei auch vergleichende Untersuchungen mit dem Farbenerkennungsverm\u00f6gen eines normalen 17* j\u00e4hrigen Kindes. Letzteres war noch gar nicht im st\u00e4nde, \u00fcber die Farben richtige Angaben zu machen trotz eingehendster und wiederholter Belehrung. W\u00e4hrend es den Begriff verschiedener Gegenst\u00e4nde oft ebenso rasch lernte und im Ged\u00e4chtnis behielt wie der Knabe, konnte letzterer die Farben viel schneller richtig unterscheiden. Bei dem 17*j\u00e4hrigen Kinde mangelte offenbar noch die M\u00f6glichkeit \u00fcberhaupt, die Farben richtig aufzufassen, was ja auch mit den Untersuchungen anderer Autoren \u00fcbereinstimmt, z.B.Preteb, der angiebt, dafs vor dem vollendeten zweiten Lebensjahre eine irgendwie sichere Farbenkenntnis nicht existiert, ja dafs Blau und Gr\u00fcn wohl erst am Ende des dritten Lebensjahres sicher erkannt werden k\u00f6nnen. Ich verweise Mer \u00fcbrigens auf meine fr\u00fcheren ausf\u00fchrlichen Mitteilungen. Jedenfalls mufs es als ein aufserordentlich seltenes Verhalten bei Menschen mit kongenitaler Katarakt angesehen werden, wenn die Sehst\u00f6rung, wie in unserem Fall I, so hochgradig ist, dafs Farben auch in gr\u00f6fseren Objekten nicht erkannt werden k\u00f6nnen. \u00c4hnliche Angaben \u00fcber ein v\u00f6lliges Fehlen des Farbenunterscheidungsverm\u00f6gens vor der Operation finden sich in der Litteratur nur bei vereinzelten Autoren, wie z. B. bei Wabdbop und v. Hippel, durchweg war das Erkennen von Farben auch schon vor der Operation nicht ganz unm\u00f6glich. \u2014 Auch bei der neuen Vorstellung unseres Patienten nach zwei Jahren erkannte er Farben auch in kleinen Objekten ganz prompt.\nAnders lag eben die Sache bei unserem j\u00fcngst beobachteten Fall H. Derselbe konnte schon vor den Operationen Farben in gr\u00f6fseren Objekten richtig unterscheiden und erkannte sie sp\u00e4ter auch in kleinen Objekten sofort richtig wieder. Das richtige Erkennen von Gelb scheint ihm zuerst vor und auch nach den Operationen noch gewisse Schwierigkeiten zu bereiten, w\u00e4hrend bei Fall I Gelb mit am fr\u00fchesten und sichersten wieder erkannt wurde.","page":216},{"file":"p0217.txt","language":"de","ocr_de":"Sehenlemen blindgeborener und sp\u00e4ter mit Erfolg operierter Menschen, 217\nWas nun das Verhalten des Gesichtsfeldes und des exzentrischen Sehens, sowie dessen Verwertung bei unserem j\u00fcngst beobachteten Fall H anbetrifft, so glich er in dieser Hinsicht unserem Fall I aulserordentlieh. Das periphere Sehen der Netzhaut wurde von Beiden in der ersten Zeit wenig verwertet. Es waren exzentrische Netzhauteindr\u00fccke zuerst weder im st\u00e4nde, reflektorisch eine einstellende Augenbewegung hervorzurufen, noch den Patienten zu einer zweck-m\u00e4fsigen Greifbewegung zu veranlassen, noch ihm f\u00fcr die Orientierung im Baume oder das Auffinden von Objekten zu n\u00fctzen. Wurden die Knaben z, B, im Anfang der Sehpr\u00fcfungen aufgefordert, ein exzentrisch vorgehaltenes Objekt zu ergreifen, so war ihnen das unm\u00f6glich, weil sie dasselbe nicht gewahrten, wurde das Objekt hin und her bewegt, so erleichterte dies die Sache. Ebenso verhielt es sich, wenn sie aufgefordert wurden, auf einen peripher gehaltenen Gegenstand den Blick zu richten. Auch beim Suchen von Objekten trat dies in exquisitester Weise hervor: wenn der Gegenstand nicht direkt in die Blicklinie des Patienten kam, so wurde er nicht gefunden, sie wanderten unmittelbar an dem Objekt vor\u00fcber, ohne es zu gewahren. Ebenso zeigte sich dieses Verhalten sehr deutlich beim Umgehen von Hindernissen; reichten die Hindernisse bis in Augenh\u00f6he herauf oder herab, so wurden sie sicher umgangen, entwarfen sie nur exzentrische Bilder auf der Netzhaut der Untersuchten, so stolperten dieselben dar\u00fcber. Auch war schnelle Ann\u00e4herang von markanten Gegenst\u00e4nden in exzentrischer Richtung nicht im st\u00e4nde, reflektorischen Lidschlufs herbeizufuhren, w\u00e4hrend ein solcher vom Netzhautzentrum aus prompt eintrat. Vergleichende Pr\u00fcfungen mit viel j\u00fcngeren gut sehenden Kindern ergaben in dieser Hinsicht sehr markante Unterschiede. Zur Zeit der sp\u00e4teren Pr\u00fcfungsperioden besserte sich diese Nichtverwertung exzentrischer Netzhaut-eindr\u00e4oke, und bei unserem Fall I war dieselbe bei der abermaligen Untersuchung 27\u00ab Jahre sp\u00e4ter eine ganz normale.\nSehr analog gestalten sich in beiden F\u00e4llen die Verh\u00e4ltnisse beim Erlernen des Z\u00e4hlens vorgelegter Objekte durch den Gesichtssinn allein. Unser Fall XI, der 5 j\u00e4hrige Junge, z\u00e4hlte von vornherein schon spontan bis 30 und konnte auch nach dem Gef\u00fchl eine geringere Anzahl von Objekten, z. B. die Finger der Hand, richtig angeben. Fall X konnte","page":217},{"file":"p0218.txt","language":"de","ocr_de":"218\nnicht das einmal, und durch l\u00e4ngere m\u00fchsame Unterweisung mufste ihm das erst beigebracht werden. Der weitere Vorgang des Z\u00e4hlenlernens war nun aber bei Beiden ein ganz gleichartiger. Anfangs mufsten Beide, um eine kleinere und in Zwischenr\u00e4umen getrennt liegende Anzahl von Objekten nach dem Gesichtssinn richtig zu z\u00e4hlen, sich in der Weise helfen, dafs sie auf die einzelnen Objekte mit dem Finger hinzeigten (wenn sie dieselben auch nicht ber\u00fchrten) und sie gleichzeitig mit den Augen ansahen. Bei einem weiteren Fortschritt wurde es ihnen dann m\u00f6glich, durch successives Fixieren jedes einzelnen Objektes, indem sie durch seitliche Kopfverschiebungen die Augen dem Objekt gegen\u00fcber brachten (nicht durch Seitw\u00e4rtswendungen der Augen selbst), die Zahl der Objekte richtig zu erfassen. Und noch erheblich sp\u00e4ter lernten sie dann auch mehrere Objekte, die nicht zu weit voneinander getrennt waren, gleichzeitig zu \u00fcbersehen und so mit den Augen richtig zu z\u00e4hlen. Lagen die Objekte durch gr\u00f6fsere Zwischen-r\u00e4ume getrennt, so \u00fcbersahen sie auch nach l\u00e4ngerer \u00dcbung h\u00e4ufig noch die benachbarten und z\u00e4hlten falsch, offenbar in erster Linie aufGrund der mangelhaften Verwertung exzentrischer Netzhauteindr\u00fccke. Wie schwer es den Patienten wurde, anfangs nach dem Gesicht allein zu z\u00e4hlen, zeigt so recht auch unser Fall II, der, obwohl er zwei vor sich ausgespreizte Finger sah und auch bemerkte, dafs sie bewegt wurden, doch die Zahl, ohne gleichzeitig zu tasten, nicht angeben konnte. \u201eIch kann nicht mit den Augen z\u00e4hlen, nur mit den Fingern\u201c, das war seine spontane \u00c4ufserung.\nSehr bemerkenswert war auch noch bei unserem Fall I, dafs er, wenn mehrere Streichh\u00f6lzer kreuzweise \u00fcbereinander vor ihn hingelegt wurden, dieselben nicht richtig z\u00e4hlte, sondern die Zahl falsch angab, indem er die Enden der Streichh\u00f6lzer nacheinander mit den Augen aufsuchte und so ungef\u00e4hr auf die doppelte Anzahl der wirklich vorhandenen kam, w\u00e4hrend er einfach durch einen Zwischenraum getrennt liegende H\u00f6lzchen schon richtig z\u00e4hlte. Auch beim Wiedersehen nach 2 7* Jahren z\u00e4hlt der Knabe noch deutlich in der Weise, dafs er jedes Objekt einzeln nacheinander fixiert, jetzt aber doch schon ausgesprochener seitliche Augenwendungen dabei benutzt als fr\u00fcher, wo er das Fixieren gleichsam bei","page":218},{"file":"p0219.txt","language":"de","ocr_de":"Sehenlernen blindgeborener und sp\u00e4ter mit Erfolg operierter Menschen, 219\ngleicher Augenstellung nur durch seitliche K\u00f6rperverschiebungen be werks t eilig te,\nDie richtige Beurteilung der Form gesehener Objekte ist unserem zweiten Patienten durch das Auge allein zuerst ganz unm\u00f6glich, obwohl er z. B. \u00fcber rund und viereckig nach dem Gef\u00fchl sehr wohl orientiert ist und sich in dieser Hinsicht viel besser unterrichtet zeigt als s. Z, unser Fall I (der 7 j\u00e4hrige Knabe). Einen Thaler auf dunklem Grunde nennt unser Fall IX nach dem Gesicht zun\u00e4chst ausdr\u00fccklich \u201enicht rund\u201c, korrigiert sich aber sofort, wenn er den Gegenstand betastet, und sehr bald lernt er auch nach dem Gesichtssinn einfachere Formen (wie rund, viereckig u. s. w.) richtig zu benennen. Wie grofs in dieser Hinsicht die Schwierigkeiten f\u00fcr unseren Fall I waren, ist in meinen fr\u00fcheren Mitteilungen ausf\u00fchrlich geschildert worden.\n\u00dcber das Erkennen der Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisse von Objekten sind bei unserem Failli keine eingehenden Untersuchungen angestellt worden, um so genauer aber s. Z. bei Fall I, Untersuchungen, in betreff derer ich hier nur auf meine fr\u00fcheren Mitteilungen verweisen kann. Nach einem Zeitraum von 2V* Jahren zwischen den fr\u00fcheren Pr\u00fcfungen und den jetzigen zeigt sich, dafs unser Fall I in der Beurteilung der Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisse eigentlich ganz sicher geworden, und dafs das, was er damals in dieser Hinsicht durch einen sehr m\u00fchevollen und zeitraubenden Unterricht erlernt hat, immer mehr gefestigt worden ist. Er erkennt jetzt ganz gut bei binokularem Sehen, was gr\u00f6fser und was kleiner ist, und w\u00e4hlt auch sicher aus einer erheblichen Anzahl von Objekten richtig der Or\u00f6fse nach aus. Auch in dem Zeigen des Gr\u00f6fsenmafses eines Objektes mit den H\u00e4nden hat er erheblich an Sicherheit gewonnen. Er nimmt diese Sch\u00e4tzung am liebsten in der Weise vor, dafs er mit seinen beiden H\u00e4nden die Endpunkte des Objektes ber\u00fchrt, entfernt man aber das gesehene und zu sch\u00e4tzende Objekt aus seinem Blick, so wird die Sch\u00e4tzung noch sehr unsicher. Die Beurteilung der Gr\u00f6fse zweier gleichartiger, aber verschieden grofser Objekte, die sich in ungleicher Entfernung vom Auge befinden, nimmt Patient jetzt ganz richtig vor, und zwar offenbar in erster Linie durch Vermittelung seines binokularen Sehaktes, der jetzt thats\u00e4ch-","page":219},{"file":"p0220.txt","language":"de","ocr_de":"220\nW. Uhthoff.\nlieh existiert. Es kommt jetzt bei binokularem Sehen nicht mehr vor, dafs Patient verschieden grofse Objekte, die sich in derartig ungleicher Entfernung von den Augen befinden, dais die Netzhautbilder ann\u00e4hernd gleich grofs sind, auch for wirklich gleich grofs h\u00e4lt.\nDie Sch\u00e4tzung der Entfernung gesehener Objekte von den Augen war bei unserem Fall II sehr unsicher, und irrte er sich namentlich anfangs sehr betr\u00e4chtlich ; ich habe auf die Untersuchung nach dieser Richtung nicht das grofse Gewicht gelegt, wie in dem fr\u00fcheren Fall, zumal Patient w\u00e4hrend des ersten * Abschnittes der Sehpr\u00fcfungen nur ein Auge zur Verf\u00fcgung hatte. Um so interessanter aber war es mir, bei unserem fr\u00fcheren Patienten, Fall I, nach einem Zwischenraum von 2 Vs Jahren noch einmal die fr\u00fcheren Pr\u00fcfungsresultate genau kontrollieren zu k\u00f6nnen. Der jetzt 9 j\u00e4hrige Knabe greift zur Zeit ganz prompt nach vorgehaltenen Objekten und sch\u00e4tzt die Entfernung richtig, sobald er beide Augen benutzt, also binokular sieht. Auch wenn das Objekt sich \u00fcber Greifweite hinaus in etwas gr\u00f6fserer Entfernung befindet, hat er ein relativ gutes Urteil \u00fcber dieselbe und streckt die Hand erst aus, um es zu ergreifen, wenn er sich zweckentsprechend augen\u00e4hert hat; nicht, dafs er wie fr\u00fcher in der ersten Zeit schon aus gr\u00f6fserer Entfernung den Gegenstand zu fassen suchte und erst nach vielfachen vergeblichen Versuchen sich dann allm\u00e4hlich tappend n\u00e4herte. Sobald man das eine Auge aber verdeckte, trat Unsicherheit ein, der Unterschied war aufserordentheh markant. Es ist keine Frage, dafs Patient einen binokularen Sehakt besitzt. Es ist dies umsomehr hervorzuheben, als, wie fr\u00fcher ausgef\u00fchrt, Patient vor der Kataraktoperation Strabismus convergens hatte, der erst operativ beseitigt werden mufste. Auch hat sich das richtige Greifen nach einem seitw\u00e4rts vom Patienten gehaltenen Objekte, wenn dessen Kopf gleichzeitig fixiert gehalten wird, also die fixierenden Augen sich in einer Endstellung befinden, sehr wesentlich gebessert; es ist auch hier der Fortschritt unverkennbar.\nDie Orientierung im Raum vermittelst des neuerschlossenen Gesichtssinnes erlernt unser Fall II relativ sehr viel schneller, als damals unser erster Patient. Aber auch bei ihm kann man nach wiederholter Pr\u00fcfung noch beobachten, wie er, sich selbst \u00fcberlassen, sich gelegentlich noch ganz durch","page":220},{"file":"p0221.txt","language":"de","ocr_de":"Sekenlemen blindgeborener und sp\u00e4ter mit Erfolg operierter Menschen,\t221\nseinen Tastsinn zu orientieren sucht, und es zuweilen noch energischer Ermahnung bedarf, um ihn f\u00fcr die Orientierung zum Gebrauch seiner Augen zu bewegen. Er hat jedenfalls von vornherein ein viel lebhafteres Interesse an seinem Sehen als der fr\u00fchere Patient (Fall I). Ich habe damals ausf\u00fchrlich geschildert, wie lange es gedauert, bis dieser anfing, auch spontan und ohne dringende Aufforderung seinen Gesichtssinn f\u00fcr seine Orientierung zu benutzen. Jetzt nach 21/* Jahren orientiert er sich ganz gut durch seinen Gesichtssinn allein und benutzt denselben auch spontan.\nIn Bezug auf die Augenbewegungen l\u00e4fst sich zun\u00e4chst bei beiden Patienten \u00fcbereinstimmend konstatieren, dafs der Nystagmus sich w\u00e4hrend der Sehpr\u00fcfungen verringerte und w\u00e4hrend des Fixierens sogar vor\u00fcbergehend sistierte. Besonders sei hier noch in betreff des Falles I nachgetragen, dafs derselbe jetzt nach einem Zeitraum von 21/* Jahren ganz prompt zentral fixiert und auch auf Geheifs (also ohne zu fixieren) die Augen willk\u00fcrlich gut nach allen Richtungen wendet. Die Augenstellung ist richtig, es besteht kein Strabismus mehr. Der Nystagmus besteht noch, wenn auch in geringerem Mafse als fr\u00fcher, und handelt es sich auch jetzt noch weniger um ein regelm\u00e4\u00dfiges schnellschl\u00e4giges Zittern der Augen, als um mehr oder weniger ausgiebige abirrende regellose Bewegungen, die aber immer im streng assoziierten Sinne vor sich gehen. Wenn die Aufmerksamkeit des Patienten abgelenkt ist und er gar nicht fixiert, so sind die umherirrenden Bewegungen der Augen st\u00e4rker und dieselben nehmen dann mit Vorliebe eine seitliche Endstellung ein, ja bei v\u00f6lliger Gedankenlosigkeit des Knaben kommen auch jetzt noch gelegentlich ganz vor\u00fcbergehende abnorme regellose Stellungen der Augen zueinander vor (z. B. abnorme Konvergensstellung des rechten Auges).\nIn Bezug auf das psychische Verhalten unseres Falles I will ich noch nachtragen, dafs in den 2V* Jahren, welche seit den Operationen verstrichen sind, aus dem fr\u00fcher so stumpfsinnigen und apathischen Knaben ein sehr lebhafter und durchtriebener Junge geworden ist, der durch seine tollen Streiche und Einfalle oft seine Umgebung beunruhigt. Auf die Entwickelung seiner Intelligenz ist die Wiederherstellung des Sehens jedenfalls von sehr vorteilhaftem Einfiufs gewesen.","page":221},{"file":"p0222.txt","language":"de","ocr_de":"222\nII. Eia weiterer Fall von vor\u00fcbergehender Amaurose\nnach Blepharospasmus.\nDas Kind Elisabeth F., 37* Jahr alt, aus Deinrode, wird am 16. II. 1893 in die Marburger Uni versit\u00e4ts-Augenklinik ausgenommen. Rechts besteht eine oberfl\u00e4chliche vaskularisierte Randkeratitis neben alten Tr\u00fcbungen der Cornea, jedoch ohne vordere Synechien. \u2014 Links findet sich Leucoma corneae totale mit staphylomat\u00f6ser Vorw\u00f6lbung, das linke Auge ist total erblindet. \u2014 Gleichzeitig beiderseits ausgesprochener Schwellungskatarrh mit Blepharospasmus, das Kind ist nicht im st\u00e4nde, die Augen zu \u00f6ffnen. Das Kind bietet die Symptome ausgesprochener Skrophulose (Dr\u00fcsenschwellungen, Gesichtsekzeme u. s. w.), sp\u00e4ter Lungenaffektion.\nNach Angabe der Mutter hat das Kind schon seit vier Monaten kranke Augen und soll seit Oktober 1892 dieselben nicht mehr ge\u00f6ffnet haben. Es besteht ausgesprochener Blepharospasmus, Lichtscheu und die Neigung bei dem Kinde, auf , dem Gesicht zu liegen und die Augen in die Kissen zu verbergen.\nSchon nach f\u00fcnf Tagen bei einer zweckentsprechenden Behandlung in der Klinik beginnt das Kind die Augen zu \u00f6ffnen unter Abklingen der entz\u00fcndlichen Erscheinungen. Die Besserung macht stetige und schnelle Fortschritte, so dafs das Kind schon Ende Februar 1893 die Augen frei \u00f6ffnen kann und die entz\u00fcndlichen Erscheinungen fast geschwunden sind.\nUm diese Zeit nun lehrt die genauere Beobachtung der kleinen Patientin, dafs sie trotz gut ge\u00f6ffneter Augen nichts sieht und sich wie eine v\u00f6llig Blinde gerirt. Dabei ist die Pupillarreaktion auf Licht auf dem rechten Auge gut erhalten, auch erfolgt prompt Lidschlufs, wenn Licht mit einem Konkavspiegel in das Auge hineingeworfen wird. Der Augenspiegelbefund ist negativ. Die Papille ist trotz der Hornhauttr\u00fcbungen ganz gut sichtbar.\nDas Kind zeigt sich ziemlich indifferent und apathisch. Beim Anruf, zu kommen, bleibt die Kleine zun\u00e4chst ruhig stehen, erst auf energischere Mahnung hin beginnt sie, sich langsam tappend vorzubewegen, sich offenbar nur nach dem Geh\u00f6r richtend, trotz gut ge\u00f6ffneter Augen. Die Richtung,","page":222},{"file":"p0223.txt","language":"de","ocr_de":"Sehcnlemen blindgeborener und sp\u00e4ter mit Erfolg operierter Menschen. 223\nin der sie sich fortbewegt, ist in der Eegel eine falsche, sie gt\u00f6fst an alle Hindernisse an. Beim Vorhalten von Objekten und Aufforderung, dieselben zu ergreifen, macht sie keine Anstalten dazu und verfolgt dieselben auch nicht mit dem B\u00fcck. Bei energischerer Aufforderung zum Ergreifen des Gegenstandes macht sie wohl einen tappenden Versuch mit der Hand, richtet jedoch die Augen nicht zweckentsprechend, kurzum, sie benimmt sich wie eine absolut Blinde. Sie l\u00e4uft z. B. gegen eine im Wege stehende Person mit hellem weiCsen Mantel direkt an und streckt gew\u00f6hnlich erst die H\u00e4nde vor, wenn die Kollision mit dem Hindernis schon erfolgt ist.\nSo bleibt der Zustand die ersten neun Tage nach dem Offnen des Auges unver\u00e4ndert. Nicht einmal \u00fcber HeU und Dunkel wird eine richtige Angabe gemacht trotz vorhandener Lichtreaktion der Pupille und unwillk\u00fcrlichem Lidschlufs bei hellerer Beleuchtung des Auges.\nAm 4. III. 1893 ist zum ersten Mal ein etwas lebhafteres psychisches Verhalten zu konstatieren, und scheint es, als ob das Kind beginnt, ein am Auge vor\u00fcbergef\u00fchrtes Objekt momentan mit dem B\u00fcck zu verfolgen ; werden die Versuche etwas l\u00e4nger ausgedehnt, so verschwindet auch diese Erscheinung wieder. Von einem Erkennen vorgehaltener Objekte ist aber auch jetzt noch keine Rede, auch l\u00e4uft Pat. noch gegen Hindernisse an. Nur gelegentlich scheint es zu bemerken, wenn es sich einem gr\u00f6fseren Hindernisse n\u00e4hert, indem es dann beginnt, die H\u00e4nde vorzustrecken, die sonst am K\u00f6rper herunterh\u00e4ngen. Heute l\u00e4fst sich auch gelegentlich ein reflektorischer Lidschlufs hervorrufen durch schnelle Ann\u00e4herung eines gr\u00f6fseren Gegenstandes in der Fixierlinie, was bis dahin nicht der Fall war.\nAm 6. III. ist das zeitweise Verfolgen von Objekten mit dem B\u00fcck unzweifelhaft zu konstatieren, ebenso der reflektorische Lidschlufs bei schnellem Zustofsen mit der Hand in der Richtung auf das Auge, auch erweist sich das unwillk\u00fcrliche Vorstrecken der H\u00e4nde bei Ann\u00e4herung an ein gr\u00f6fseres Hindernis jetzt schon als eine fast konstante Erscheinung. Ebenso werden beim Anz\u00fcnden der Lampe die Augen zu derselben hingewendet, bei Aufforderung, die Lampe zu zeigen, giebt das Kind oft eine falsche Richtung mit dem Finger an.\nUm diese Zeit wird das Kind in l\u00e4ngeren Sitzungen und","page":223},{"file":"p0224.txt","language":"de","ocr_de":"224\nw. mho ff.\nder Vorsicht halber mit verbundenen Augen mit einer Reihe von Gegenst\u00e4nden nach dem Gef\u00fchl bekannt gemacht ; es gelingt ihr, die Gegenst\u00e4nde auf diese Weise zuletzt richtig zu benennen. Nach dem Gesicht allein erkennt sie nichts. Psychisch ist sie in den letzten Tagen viel lebhafter geworden und antwortet auf vorgelegte Fragen. Werden gr\u00f6fsere Objekte (auch sehr markante) dem Kinde ex zentrisch vorgehalten, so verfolgt es dieselben mit dem Blick nicht.\nBei diesem Stande der Dinge wurde das Kind am 7. UT. von einer diffusen Bronchitis mit erheblichem Fieber befallen. Es trat jetzt ein deutlicher R\u00fcckgang der geringf\u00fcgigen bis dahin nachweisbaren Seh\u00e4ufserungen ein. Die Lichtreaktion und der unwillk\u00fcrliche Lidschlufs bei grellerer Beleuchtung des Auges blieben erhalten, dagegen war das Verfolgen eines vorgehaltenen gr\u00f6fseren Objektes mit den Augen, sowie das unwillk\u00fcrliche ahwehrende Ausstrecken der H\u00e4nde bei Ann\u00e4herung an ein gr\u00f6fseres Hindernis viel weniger ausgesprochen. Die Apathie des Kindes nahm wieder zu.\nDas Allgemeinbefinden des Kindes besserte sich allm\u00e4hlich wieder, und wurden auch die oben geschilderten Seh\u00e4ufserungen wieder lebhafter, ja am 21. HI. konnte man zum ersten Mal konstatieren, dafs auch ein exzentrisch rasch angen\u00e4hertes gr\u00f6fseres Objekt einen reflektorischen Lidschlufs hervorrief.\nUm diese Zeit ist auch eine sehr auffallende Erscheinung: dafs, wenn ein Objekt im Zentrum vorgehalten und von da nach rechts oder links seitw\u00e4rts bewegt wird, die Augen des Kindes deutlich in seitlicher Richtung mitwandem ; wird dagegen das Objekt vom Mittelpunkt nach oben und unten bewegt, so findet ein solches Mitwandern der Augen nicht statt. Dieser Unterschied f\u00fcr die seitlichen Blickrichtungen und die in der H\u00f6henrichtung ist sehr markant. Trotz des deutlichen Verfolgens des Objektes nach rechts und links ist Patientin doch nicht im st\u00e4nde, dasselbe zn greifen, sie geht nicht nur in der Entfernung fehl (was ja allenfalls durch das monokulare Sehen su erkl\u00e4ren w\u00e4re), sondern auch in der Richtung, so dafs sie in dieser Hinsicht ganz den Eindruck einer Nichtsehenden macht.\nWird ein St\u00fcck Zucker, welches das Kind gern haben m\u00f6chte, vor ihm auf den Fufsboden geworfen, so dafs es h\u00f6rt, wohin dasselbe f\u00e4llt, so richtet es doch den Blick absolut nicht nach unten, sondern es sieht planlos horizontal vor sich hin.","page":224},{"file":"p0225.txt","language":"de","ocr_de":"Sehenlernen blindgeborener und sp\u00e4ter mit Erfolg operierter Menschen, 225\nEs scheinen also durch den Geh\u00f6rssinn auch noch keine Augenbewegungen ausgel\u00f6st zu werden. Aufforderragen, die Augen nach oben und unten, nach rechts und links zu wenden, bleiben ganz unbefolgt von seiten des Kindes.\nAuch jetzt erkennt das Kind vorgehaltene Gegenst\u00e4nde (z, B. eine Streichholzschachtel) durch das Gesicht noch absolut nicht, betrachtet sie auch in keiner Weise aufmerksam, nach dem Gef\u00fchl erkennt es dieselben sofort und benennt sie richtig. Auff\u00e4llig ist es ferner noch besonders, dafs es beim Untersuchen von Gegenst\u00e4nden mit den H\u00e4nden nie den Versuch macht, dieselben mit den Augen anzusehen oder dieselben mit den H\u00e4nden vor das Auge zu f\u00fchren. Es scheinen also auch durch den Tastsinn noch keine Augenbewegungen ausgel\u00f6st zu werden.\nAuch wenn man der Kleinen das St\u00fcck Zucker auf die Zunge bringt, dafs sie es schmeckt, und dran dasselbe wegrieht, so ist auch diese Manipulation nicht geeignet, eine Blickbewegung auszul\u00f6sen.\nErst am 2. IV. 1898 kann zum ersten Mal festgestellt werden, dafs Patientin ein vorgehaltenes St\u00fcck Zucker nicht nur mit den Augen in seitlicher Richtrag verfolgt, sondern auch mit der Hand, um es zu fassen. Gleich darauf aber sucht es noch planlos tappend mit der Hand umher, ganz wie fr\u00fcher. Der Unterschied zwischen dem Verfolgen eines vorgehaltenen Objektes in seitlicher und in der H\u00f6henrichtung bleibt noch sehr markant. Zum ersten Mal umgeht sie heute auch ein niedriges Hindernis richtig, welches nicht bis zur H\u00f6he der Blicklinie hinaufreicht.\nEs f\u00e4llt auf, dafs das Kind die Greifbewegungen nach einem vorgehaltenen Objekt nicht immer durch die zweckentsprechenden Augenbewegungen begleitet. Der Zusammenhang zwischen den Augenbewegungen und den reflektorischen Greifbewegungen scheint noch ein sehr lockerer zu sein. Es macht jetzt gelegentlich den Eindruck, dafs auch exzentrische Netzhauteindr\u00fccke wohl schon geeignet sind, reflektorisch Greif bewegungen, weniger Blickbewegungen auszul\u00f6sen.\nVon den \u00fcbrigen Sinnesorganen (Geh\u00f6r, Geschmack und Tastsinn) werden noch keine reflektorischen Augenbewegungen ausgel\u00f6st. Es scheinen also die Assoziationen noch nicht wiederhergestellt zu sein. Direkt durch das Sehen erkennt das Kind z. Z. immer noch keinen Gegenstand.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XIV,\n15","page":225},{"file":"p0226.txt","language":"de","ocr_de":"226\nW* Uhthoff;\nAm 6. IV. kann zum ersten Mal sicker festgestellt werden, dafs auch das exzentrische Netzhautbild eines Objektes eine zweckentsprechende Augenbewegung ausl\u00f6st, um das Objekt in die Fixierlinie zu bringen (also am 46. Beobachtungstage).\nAm 7. IV. im wesentlichen stat. id., doch scheint das Kind heute zum ersten Male f\u00fcr seine Orientierung im Baume (Umhergehen im Zimmer) die Augen zu benutzen und ihnen eine entsprechende Stellung zu geben. Auch niedrige, also nur exzentrisch gesehene Hindernisse, werden jetzt gelegentlich sicher umgangen, grofse stets sicher, und zwar ohne das sch\u00fctzende Vorstrecken der H\u00e4nde.\nAm 10. IV. (50. Beobachtungstag) l\u00e4fst sich als neue That-sache konstatieren, dafs das Kind, wenn es angerufen wird, gelegentlich die Augen dem Rufer zuwendet, anch verwendet es hier und da seine Blickrichtung schon zweckm&fsig, wenn es einen Gegenstand vor sich auf den Fufsboden fallen h\u00f6rt, um denselben aufzuheben. Es scheinen demnach Schalleindr\u00fccke gelegentlich jetzt schon geeignet, um reflektorisch zweckentsprechende Augenbewegungen auszul\u00f6sen, was bis dahin nicht der Fall war.\nAm 14. IV. l\u00e4fst sich konstatieren, dafs vorgehaltene Gegenst\u00e4nde nicht nur in horizontaler Richtung, sondern manchmal auch nach oben und unten deutlich mit den Augen verfolgt werden, deutlicher jedoch tritt dies beim F\u00fchren des Objektes nach unten zu Tage, nach oben noch weniger. Greifbewegungen nach den vorgehaltenen Gegenst\u00e4nden werden gleichfalls prompt ausgef\u00fchrt und auch mit richtiger Projektion. Auch nach exzentrisch vorgehaltenen Objekten greift das Kind jetzt, und zwar so, dafs es mit der Greifbewegung gleichzeitig eine zweckentsprechende Augenbewegung auf das Objekt hin ausf\u00fchrt. Wiederholte Nachpr\u00fcfungen best\u00e4tigen zweifellos diese neue Thatsache.\nAm 18. IV. noch im wesentlichen dasselbe Verhalten. Doch sind heute die Blickbewegungen nach oben und unten bei vorgehaltenen Objekten noch ausgesprochener, immerhin ist der Unterschied zwischen oben und unten noch sehr deutlich. Nach unten begleiten die Augen jetzt ziemlich prompt ein vorgehaltenes Objekt, nach oben noch weniger gut, nach den Seiten hin ganz prompt. Vergleichsweise werden analoge Untersuchungen bei einem 2j\u00e4hrigen Kinde angestellt, welches","page":226},{"file":"p0227.txt","language":"de","ocr_de":"Sehcnlemen blindgeborener und sp\u00e4ter mit Erfolg operierter Menschen. 227\nhierbei die Amgen prompt nach oben, unten, rechts und links wendet und die Greifbewegungen gleichzeitig durch zweckentoprechende Augenbewegungen begleitet.\nDas Resultat der Sehpr\u00fcfungen wechselt nach dem Verhalten des Allgemeinbefindens des Kindes immer noch wesentlich. Es hat sich eine Infiltration der linken Lungenspitze ausgebildet, zeitweise hektisches Fieber, zunehmende Kachexie. Wegen schlechten Allgemeinbefindens werden die Pr\u00fcfungen eine Zeit lang unterbrochen.\nAm 20. V. l\u00e4fst sich zum ersten Mal feststellen, dafs das Kind vorgehaltene Gegenst\u00e4nde durch das Gesicht allein richtig erkennt (Schl\u00fcssel u. s. w.).\nAm 23. V. wird es aus der Klinik entlassen. Nach sp\u00e4ter eingezogenen Erkundigungen hat sich das Sehen weiter gebessert, so dafs auch die Mutter das Kind wieder als ein sehendes betrachtete, die infolge der langen Dauer der Sehst\u00f6rung an einem Erfolg schon ganz verzweifelte.\nEpikrise: Der soeben mitgeteilte Fall erscheint mir nach mehr als einer Richtung bemerkenswert und geeignet, zu dem Krankheitsbild der vor\u00fcbergehenden \u201eAmaurose nach Blepharospasmus1* einen neuen Beitrag zu liefern,\nEs ist zun\u00e4chst besonders hervorzuheben die lange Dauer der Amaurose und die sehr langsame allm\u00e4hliche Restitution des Sehens. Von dem Moment an, wo das Kind zum ersten Mal wieder die Augen \u00f6ffnete und von da ab auch dauernd wieder ge\u00f6ffnet halten konnte, bis zu dem Zeitpunkt, wo das Sehen als wieder hergestellt angesehen werden konnte, vergingen eine Reihe von Wochen. Es scheint mir aufser Zweifel, dafs die interkurrente Erkrankung mit schlechtem Allgemeinbefinden (Ausbildung einer Lungenaffektion, Fieber u. s. w.) in erster Linie f\u00fcr die hochgradige Verz\u00f6gerung der Wiederkehr des Sehverm\u00f6gens bei dem Kinde anzuschuldigen ist. Die Schwankungen in den Erscheinungen im Zusammenhang mit den Schwankungen im Allgemeinbefinden traten wiederholt aufserordentlich deutlich zu Tage. Die erste ophthalmoskopische Untersuchung konnte nur in Chloroformnarkose ausgef\u00fchrt werden. Zerebrale Erscheinungen, die etwa auf einen gleichzeitig spielenden intrakraniellen Prozeis hingewiesen h\u00e4tten, waren niemals vorhanden.\nDie lange Dauer der R\u00fcckbildungsperiode der Sehst\u00f6rung\nIS*","page":227},{"file":"p0228.txt","language":"de","ocr_de":"228\nW. Uhlhoff.\nnun bot Gelegenheit zu mancherlei eingehenden Untersuchungen, wie sie in fr\u00fcheren Fallen nicht in der Ausdehnung angestellt werden konnten, und viele von den gefundenen Thats&chen gleichen denjenigen aufserordentlich, wie sie bei den blindgeborenen und mit Erfolg operierten Patienten beobachtet wurden,\nBafs eine Unterbrechung der peripheren optischen Leitungsbahnen nicht vorliegt, daf\u00fcr spricht die prompt erhaltene Lichtreaktion der Pupille, der negative ophthalmoskopische Befund und der reflektorische Lidschiufs bei hellerer Beleuchtung des Auges, Und doch machte das Kind gar keine Angaben in betreff des Sehens, nicht einmal den Unterschied zwischen Hell und Dunkel wufste es anzugeben. Unwillk\u00fcrliche reflektorische Vorg\u00e4nge am Auge wurden ausgel\u00f6st, aber scheinbar keine Spur einer bewufsten Sehempfindung.\nHierauf folgt sodann die erste Ausl\u00f6sung von Augenbewegungen durch die Netzhauteindr\u00fccke, das Kind beginnt unwillk\u00fcrliche, vor\u00fcbergehende Objekte mit den Augen zu verfolgen, ohne dafs es jedoch im st\u00e4nde w\u00e4re, diese Netzhauteindr\u00fccke zweckentsprechend zu verwerten. Wird es aufgefordert, die so mit den Augen verfolgten Objekte zu greifen, so ist es absolut nicht dazu im st\u00e4nde, es verh\u00e4lt sich bei den Greifversuchen noch ganz wie ein blindes Kind. Die Assoziation zwischen den Netzhaut ein dr\u00fccken und zweckentsprechenden Greifbewegungen ist also offenbar noch nicht wieder hergestellt, w\u00e4hrend reflektorisch zweckentsprechende Augenbewegungen schon ausgel\u00f6st werden.\nEs erscheint mir ferner sehr bemerkenswert, dafs die reflektorisch von der Netzhaut ausgel\u00f6sten Augenbewegungen zuerst nur in seitlicher Richtung erfolgen und in der H\u00f6henrichtung erst erheblich sp\u00e4ter eintreten, und dann auch noch deutlich nach unten fr\u00fcher und besser als nach oben. Ich m\u00f6chte glauben, dafs der Grund daf\u00fcr in dem Umstande zu suchen ist, dafs die Blickrichtung nach den Seiten und nach unten hin schon vor der Erkrankung bei dem Kinde eine h\u00e4ufiger benutzte und deshalb besser ge\u00fcbte war, als diejenige nach oben.\nAuch die reflektorische Ausl\u00f6sung von Augenbewegungen von den \u00fcbrigen Sinnesorganen aus war dem Kinde offenbar verloren gegangen. Es wendete die Augen nicht auf irgend einen Schalleindruck nach der betreffenden Richtung, auch","page":228},{"file":"p0229.txt","language":"de","ocr_de":"Sehenlemen blindgeborener und sp\u00e4ter mit Erfolg operierter Menschen. 229\nwenn man sicher war\u00bb dafs das Kind den lebhaften Wunsch hatte, z. B. in den Besitz eines Gegenstandes (St\u00fcck Zucker, auf den Fufsboden geworfen, u. s. w.) zu kommen. Ebenso wenig war sein Tastsinn im st\u00e4nde, zweckentsprechende Augen-einstelligen hervorzurufen z. B. beim Bef\u00fchlen von Objekten, welche es lebhaft interessierten. Auch durch Vermittelung des Geschmacks konnte es nicht bewogen werden, einem Gegenst\u00e4nde (z. B. Konfekt) seine Augen zuzuwenden. Wir sehen, wie alle diese Assoziationen dem Kinde offenbar abhanden gekommen waren und erst nach l\u00e4ngerer Zeit allm\u00e4hlich wieder erwachten.\nDie ersten Anf\u00e4nge des wiederkehrenden Sehens scheinen sich gleichsam noch unter der Schwelle des Bewufstseins zu vollziehen, so wie eben ausgef\u00fchrt die reflektorisch von der Netzhaut aus ausgel\u00f6sten Augenbewegungen. Zur Zeit, als diese schon ganz prompt erfolgten, war das Kind durchaus noch nicht im Stande, dieselben z. B. f\u00fcr zweokm\u00e4fsige Greifbewegungen zu verwerten; es verging geraume Zeit, bis es allm\u00e4hlich wieder lernte, ein mit den Augen richtig verfolgtes Objekt nun auch zweckm\u00e4fsig unter Kontrolle der Augen zu ergreifen. In der ersten Zeit tappte es noch ganz planlos nach dem Objekt umher, wie ein blindes Kind, w\u00e4hrend die Augen das Objekt richtig begleiteten. Diese Assoziation zwischen Sehen und Muskelsinn entwickelte sich zeitlich erst viel sp\u00e4ter wieder. Auch giebt es eine Periode, wo das Kmd schon greift nach einem Gegenst\u00e4nde, aber seine Greifbewegungen nicht durch entsprechendes Fixieren unterst\u00fctzt. Vergleichende Untersuchungen mit einem normalen, aber erheblich j\u00fcngeren Kinde ergeben evident den Unterschied ; letzteres begleitet jede Greifbewegung mit einer entsprechenden Augenbewegung. Erst gegen Schlufs der Sehpr\u00fcfungen stellte sich auch bei unserer Patientin die Koinzidenz von Greif- und Augenbewegungen wieder her.\nAufserordentMeh markant waren auch in diesem Falle die Resultate in Betreff des exzentrischen Sehens und seiner Verwertung.\nEs dauerte sehr lange, bis man nachweisen konnte, dafs exzentrische Netzhauteindr\u00fccke geeignet waren, sowohl Augenbewegungen als Greifbewegungen auszul\u00f6sen, obwohl die Lichtreaktion der Pupille von exzentrischen Netzhautpartieen prompt","page":229},{"file":"p0230.txt","language":"de","ocr_de":"eintrat. Es ist dies eine Erscheinung, die ich sowohl in fr\u00fcheren F\u00e4llen von Amaurose nach Blepharospasmus, als auch bei den Kongenitalblinden und sp\u00e4ter sehend gewordenen Patienten regelm\u00e4fsig konstatieren konnte. Das Kind verhielt sich in dieser Hinsicht wiederum wie bei einer hochgradigen konzentrischen Gesichtsfeldbeschr\u00e4nkung. Besonders trat dies auch noch in der ersten Zeit bei seiner Orientierung im Baume zu Tage. Es dauerte l\u00e4ngere Zeit, bevor das Kind grofse bis in den Fixierpunkt (Augenh\u00f6he) reichende Hindernisse sicher umging, w\u00e4hrend es \u00fcber kleinere exzentrisch sichtbare noch regelm\u00e4fsig stolperte. Das alles verlor sich aber in sp\u00e4terer Zeit, und es bestand sicher keine wirkliche hochgradige konzentrische Gesichtsfeldeinschr\u00e4nkung im gew\u00f6hnlichen Sinne. Von hemian-opischen Gesichtsfelddefekten konnte zu keiner Zeit etwas konstatiert werden.\nDas wirkliche Erkennen von vorgehaltenen Objekten erfolgte erst in der allerletzten Zeit, und zwar wurden f\u00fcr diese Pr\u00fcfungen immer Objekte verwendet, welche dem Kinde sicher schon vorher durch das Gef\u00fchl bekannt waren.\nIch will es unterlassen, auf die Litteratur dieses Gegenstandes hier noch einmal genauer einzugehen, ich verweise in dieser Hinsicht auf meine fr\u00fcheren Mitteilungen \u201eEin Beitrag zur vor\u00fcbergehenden Amaurose nach Blepharospasmus bei kleinen Kindern44 (Sitzungsber. der Marb. Ges. zur Bef\u00f6rderung der gesamten Wissenschaften. Sitzung vom 9. Dezember 1891), wo ich \u00fcber die einschl\u00e4gigen Arbeiten berichtet habe. Wesentliche neuere einschl\u00e4gige Mitteilungen liegen nicht vor.\nAlles in allem genommen m\u00f6chte ich auch heute noch eine Erkl\u00e4rung der Erscheinungen im Sinne Lebers (Graefes Arch. /. Ophthal. Bd. 26, Abth. 2.) f\u00fcr die zutreffendste halten. Das Kind verlernt gleichsam den Gebrauch der Augen, und es ist hierbei entschieden als ein wichtiges Moment anzusehen, dafs nicht nur lediglich eine passive Exklusion der Augen durch den Blepharospasmus vorliegt, sondern vielmehr gleichzeitig auch eine aktive willk\u00fcrliche von seiten des Blindes, indem es absichtlich durch den Lidschlufs die Augen wegen der damit verbundenen unangenehmen und schmerzhaften Empfindungen (Lichtscheu u. s. w.) von dem Sehen ausschliefst, seine Aufmerksamkeit willk\u00fcrlich von seinen Gesichtsempfindungen ab-","page":230},{"file":"p0231.txt","language":"de","ocr_de":"Seheniemen blindgeborener und sp\u00e4ter mit Erfolg operierter Menschen,\t231\nwendet und sich gew\u00f6hnt, mit seinen \u00fcbrigen Sinneswahr-nehmungen auszukommen. Die Assoziationen zwischen dem Gesichtssinn und den \u00fcbrigen Sinnen l\u00f6sen sich, so dafs das Kind erst wieder lernen mufs, seinen Gesichtssinn dem ganzen \u00fcbrigen psychologischen Mechanismus von neuem einzugliedern und denselben in seinem Sinnenleben mitzubenutzen. Hat das Kind erst das 4\u20145. Lehensjahr \u00fcberschritten, so treten derartige Erscheinungen von Verlernen des Sehens nicht mehr ein, weil offenbar zu dieser Zeit das Sinnenleben des Kindes und seine zugeh\u00f6rigen Assoziationen schon derartig gefestigt sind, dafs es zu einer solchen Lockerung des ganzen psychischen Mechanismus nicht mehr kommen kann, die ein Verlernen des Sehens im Gefolge haben k\u00f6nnte.\nAuch \u201esealenb\u00fcndu, glaube ich, darf man ein solches Kind nicht nennen, denn mag das Kind auch seine optischen Eindr\u00fccke nicht verstehen und richtig deuten, es w\u00fcrde dieser Umstand immer noch nicht erkl\u00e4ren, warum anfangs auch reflektorisch die Augenbewegungen nicht ausgel\u00f6st werden, und warum sp\u00e4ter, wenn die Augenbewegungen auf reflektorischem Wege von der Hetzhaut aus schon wieder eintreten, doch die Assoziationen f\u00fcr zweckm\u00e4fsige Greifbewegungen noch fehlen, wie bei unserer kleinen Patientin. Und auch von den \u00fcbrigen Sinnesorganen aus k\u00f6nnen anfangs keine zweckm\u00e4fsigen Augenbewegungen ausgel\u00f6st werden.\nAuch die Auffassung des Zustandes als \u201e Rind enblindheitu im Munk sehen Sinne (Silex) kann eine Erkl\u00e4rung der beobachteten Erscheinungen bei unserer kleinen Patientin nicht liefern.\nDafs die sonst gewonnenen Hypothesen zur Deutung dieser F\u00e4lle mir nicht zutreffend erscheinen (Zirkulationsst\u00f6rungen durch den Liddruck, Eeflexamaurose, Eintreten von atrophischen Ver\u00e4nderungen im Opticus oder von glaukomat\u00f6sen Erscheinungen u. s. w.), darauf bin ich in meiner ersten Mitteilung schon des Genaueren eingegangen und ist das auch von anderer Seite eingehend dargethan worden.\nZum Sohlufs gedenke ich noch gern der eifrigen Bem\u00fchungen des Herrn Kollegen Dr. Pom bei Aufstellung der ausgedehnten Versuchsreihen in diesem Falle.","page":231},{"file":"p0232.txt","language":"de","ocr_de":"-232\nW. Uhthoff.\nIII. Ein Fall von doppelseitigem hochgradigem Mikrophthalmus congenitus (ohne jede Lichtempflndung) nebst psychologischen Bemerkungen.\nWilhelmine Sp., 8? Jahre alt, ist das einzige Kind gesunder Eltern, in heredit\u00e4rer Hinsicht auch sonst nichts nachweisbar. Sie wurde etwas zu \u00a3r\u00fch geboren und war anfangs sehr klein und schw\u00e4chlich, entwickelte sich sp\u00e4ter jedoch geistig und k\u00f6rperlich ganz gut. Schon gleich nach der Geburt nun bemerkten die Eltern, dafs das Kind \u201ekeine AugenM hatte, auch konnte sich der Arzt davon \u00fcberzeugen. Irgend welche Lichtempfindungen sollen niemals bestanden haben.\nStatus praesens. Mittelgrofse, gut entwickelte, im \u00fcbrigen vollst\u00e4ndig gesunde Person, nirgends sonstige Zeichen irgend welcher Missbildung, sehr gute Intelligenz.\nAugen: Augenlider gut ausgebildet, aber abnorm klein. Breite der Lidspalte L. 19 mm, B, 21 mm. Die Lider, besonders links, eingesunken, geschlossen (wegen mangelnder Unterlage), k\u00f6nnen aber willk\u00fcrlich bewegt und etwas gehoben werden. Die durch den levator palpebrae bedingte Palte ist deutlich vorhanden.\nGr\u00f6fste H\u00f6he der \u00d6ffnung 20 mm \u201e Breite \u201e\t\u201e29\tmm\nGr\u00f6fste H\u00f6he der \u00d6ffnung 20 mm \u201e Breite \u201e\t\u201e30\tmm\nO rb italdurc h m es\u00ae er\n\u00bb\nLinks: Die Konjunktive, der Lidgr\u00f6fse entsprechend, geht naeh hinten trichterf\u00f6rmig auf zwei rundliche Gebilde, die 17 mm hinter dem Lidrand in der Orbita liegen. Etwa 4=6 mm, bevor sie dieselben erreicht, bildet sie eine frontale, wallf\u00f6rmige, 8 mm hohe Falte, welche diaphragmaartig emen Teil der rundlichen Gebilde deckt, sich aber durch Anziehen der Lider leicht gl\u00e4tten l\u00e4fst. Man erkennt alsdann deutlich, dafs nach der Innenseite hin ein erbsengrofser weifslicher Knoten liegt von der Farbe der Sclera, ohne dafs an ihm irgend welche Cornearudimente und dergleichen zu sehen sind. Die temporale H\u00e4lfte desselben ragt in die Orbital h\u00f6hle vor, nasalw\u00e4rts verliert sich die Muse in Orbitalgewebe. Man erkennt deutlich, wie dieser kleine Knopf auf Aufforderung hin sich mit dem Mikrophthalmus der rechten Seite etwas bewegt, und mufs derselbe daher als rudiment\u00e4rer Bulbus angesprochen werden. Nach auf sen und unten von demselben und von ihm durch eine Hefe Einziehung getrennt liegt eine ebenfalls kugelige, etwas gelb-weifse, ca. doppelt so grofse Prominenz, die mit ihrer vorderen H\u00e4lfte ebenfalls in die Augenh\u00f6hle frei vorragt, sonst im Gewebe eingebettet liegt und sich ebenso wie der rudiment\u00e4re Bulbus nach hinten nicht abgrenzen l\u00e4fst. Diese Prominenz bat offenbar cystisehe Natur, indem sie deutlich auf Druck fluktuiert; sie ist nur m\u00e4fsig gespannt und leicht ein dr\u00fcck bar. Es handelt sich hier um einen cystischen Anhang an den rudiment\u00e4ren Bulbus. Absolute Amaurose, keine Druckphosphene.","page":232},{"file":"p0233.txt","language":"de","ocr_de":"Sehenlemen blindgeborener und sp\u00e4ter mit Erfolg operierter Menschen, 283\nRechts: Lider und Konjunktiva \u00e4hnlich wie links. Der Bulbus ist ebenfalls rudiment\u00e4r, aber gr\u00f6fser als links. Er liegt an der Spitze des Konjunktivaltrichters, etwas nach innen, klein-haselnufsgrofs, zeigt oben, aufsen und innen seichte Schn\u00fcrfurchen und zentral eine etwas schw\u00e4rzliche unregelm\u00e4fsige, dreieckige Stelle von 2\u20148 mm Durchmesser, die der Hornhaut entspricht. Zwischen der temporalen und unteren Schn\u00c4rfurche ist die Sclera erheblich st\u00e4rker ausgebuchtet, hernienartig, so dafs diese Prominenz den ganzen Bulbus an Gr\u00f6fse \u00fcber trifft. Sie ist ebenfalls weich fluktuierend, der Inhalt schimmert nicht durch. Bei Aufforderung zu Bewegungen wird der rudiment\u00e4re Bulbus etwas in zuckende Bewegung in die gew\u00fcnschte Richtung gebracht, doch nicht weiter als 1\u20142 mm. Die eystoide Ausbuchtung unten aufsen beteiligt sich daran nur wenig.\nAuch hier besteht absolute Amaurose, keine Druckphosphene.\nSoviel \u00fcber den objektiven lokalen Augenbefund, der zeigt, dafs wir es hier nur m\u00eet einer ganz rudiment\u00e4ren Bulbusanlage zu thun haben, ohne eine Spur von Lichtempfindung und Druckphosphene beim Aufdr\u00fccken auf diese rudiment\u00e4ren kleinen Bulbi,\nHieran sehHefse ich nun einige Mitteilungen psychologischer Natur, die wohl gerade durch die ausf\u00fchrlichen und sehr intelligenten Angaben der Patientin besonderes Interesse bieten d\u00fcrften.\n1. Psychisches Verhalten. Patientin ist nicht traurig gestimmt deswegen, weil sie nicht sieht. Sie beneidet keinen Sehenden. Sie m\u00f6chte aber doch Heber sehen k\u00f6nnen, als viel Geld und Gut besitzen. Sie w\u00fcrde es f\u00fcr sehr Unrecht halten, ihren Nebenmenschen wegen des Sehens zu beneiden. Sie w\u00fcrde auch einem Anderen, wenn das im Bereich der M\u00f6gHoh\u00ab keit l\u00e4ge, nicht das Sehen f\u00fcr Geld abkaufen, \u201eder w\u00fcrde ja dann betrogen sein, und das w\u00e4re doch Unrecht\u201c.\nAuf Befragen, ob sie lieber das Geh\u00f6r missen und daf\u00fcr sehen wolle, antwortet sie ohne Z\u00f6gern, dafs ihr das Geh\u00f6r unendlich wertvoller sei, als sie sich das Sehen vorstellen k\u00f6nne.\nAls man ihr erz\u00e4hlt, dafs es gelegentlich vorgekommen sein solle, dafs ein blindgeborener Mensch, der durch Operation wieder sehend wurde, gar nicht einmal zufrieden gewesen sei und keine Freude an seiner neuerworbenen SehfUhigkeit empfunden habe, ftnfsert sie: \u201eDas w\u00e4re doch Unrecht, das Sehen ist doch eine sch\u00f6ne Gabe, f\u00fcr die man dankbar sein mufs. Verwirren mag es zuerst wohl, das Sehen zu leimen und M\u00fche machen, aber es ist doch interessant, und man kann sich dann doch am fremden Ort zurechtfinden. Als das Schwerste denke","page":233},{"file":"p0234.txt","language":"de","ocr_de":"234\nw. uhthoff:\nioh mir beim Sehenlemen, die Augenlider fortw\u00e4hrend ge\u00f6ffnet zu halten.\u201c \u2014 Es ist hier zu bemerken, dale bei dbr Patientin wegen der ganz rudiment\u00e4ren Beschaffenheit ihrer \u00dfulbi die Lider geschlossen sind und die Lidr\u00e4nder aufein anderliegen, nur mit sichtlicher Anstrengung ist sie im st\u00e4nde, die Lidr\u00e4nder etwas von einander zu entfernen.\nPatientin giebt an, dafs sie sehr wohl begreife, dafs Menschen viel schlimmer dran seien, die fr\u00fcher sahen und dann erblindeten, als solche, welche blind geboren wurden.\nSie glaubt fest an ein ewiges Leben im Jenseits und ist \u00fcberzeugt, dafs sie dann auch sehen wird. Denn es steht geschrieben \u201eAlles Leid hat dann ein Ende\u201c.\n2. Vorstellung von Licht und Farbe. Von hell und dunkel fehlt der Patientin jeder Begriff, sie kann sich von Tag und Nacht keine Vorstellung machen. Sie ist \u00fcberzeugt, dafs sie v\u00f6llig get\u00e4uscht werden k\u00f6nne dar\u00fcber, ob es Tag oder Nacht sei, wenn alle \u00e4ufseren Umst\u00e4nde eliminiert w\u00fcrden, welche eventuell Anhaltspunkte hierf\u00fcr gew\u00e4hren k\u00f6nnten, ob es sich um Tag oder Nacht handele (wie z. B. Ger\u00e4usch des t\u00e4glichen Verkehrs, Verhalten der sie umgebenden Menschen u. s. w.). Sie glaubt sicher, dafs es f\u00fcr sie andere H\u00fclfsmittel in ihrer Empfindung und in ihrem Gef\u00fchl nicht giebt, aus denen sie, ganz sich selbst \u00fcberlassen, merken k\u00f6nne, ob es heller Tag oder dunkle Nacht sei, und dafs man sie, wenn man es darauf anlege, wohl veranlassen k\u00f6nne, am Tage zu schlafen und in der Nacht zu wachen, ohne dafs sich das bei ihr in ihrer Empfindung verraten w\u00fcrde. Sie hat sich nie einen Begriff von Helligkeit oder Dunkelheit machen k\u00f6nnen. Auch l\u00e4fst sich bei den genauesten anamnestischen Erhebungen nicht feststellen, dafs sie jemals etwa eine zentral ausgel\u00f6ste Lichtempfindung (Flimmerskotom u. s. w.) gehabt habe.\nAuf die Frage, ob ihr alles \u201eschwarz\u201c vor den Augen sei oder etwa wie \u201eein grauer Nebel\u201c? weifs sie absolut nichts zu antworten. Es fehlt in dieser Hinsicht jede M\u00f6glichkeit der Verst\u00e4ndigung. Ebenso fehlt bei Druck auf die rudiment\u00e4ren Bulbi jede Andeutung eines Druckphosphens. Das Gef\u00fchl von strahlender W\u00e4rme erweckt in ihr niemals etwas wie Liohfc-empfindung, sie weifs aber wohl von H\u00f6rensagen, dafs es w\u00e4rmeausstrahlende Gegenst\u00e4nde giebt, die leuchten, aber auoh solche, die nicht leuchten. \u201eVom Leuchten habe ich immer","page":234},{"file":"p0235.txt","language":"de","ocr_de":"Sekenlemen blindgeborener und sp\u00e4ter mit Erfolg operierter Menschen. 235\ngeh\u00f6rt, aber etwas Besonderes denken kann ich mir nicht dabei, nur wenn ich in die Sonne sehe, dann f\u00fchle ich, dafs es gl\u00fchend ist.\u201c\n3.\tYon Farben hat Patientin naturgem\u00e4fs keine Vorstellung und doch giebt sie mit Bestimmtheit an, dafs Blau und Gr\u00fcn ihre Lieblingsfarben seien, und dafs sie die rote Farbe nicht gern m\u00f6ge. Auf die Frage, wie ihre Abneigung gegen Rot wohl entstanden sein m\u00f6ge, weifs sie anfangs keine bestimmte Auskunft zu geben. Sie meint zuerst, es k\u00f6nne wohl so Zusammenh\u00e4ngen, dafs sie von H\u00f6rensagen wisse, Rot sei eine auffallende helle Farbe, und es schicke sicht nicht f\u00fcr sie, in ihrem Alter und bei ihrer Blindheit sich auffallend zu kleiden, und daher stamme vielleicht ihre Abneigung gegen Rot. Zwei Tage sp\u00e4ter macht sie die spontane Angabe, dafs sie, nachdem sie viel dar\u00fcber nachgedacht habe, jetzt zu wissen glaube, warum ihr Rot eine unangenehme Farbe sei. Sie habe in der ersten Zeit ihrer Jugend keinen Unterschied zwischen Rot und den anderen Farben machen k\u00f6nnen; als sie im zehnten Lebensjahre ein grofses Schadenfeuer mit erlebt habe und die Leute ihr sagten, es sei ein schrecklich heller roter Feuerschein zu sehen. Sie glaube jetzt, dafs aus dieser Zeit ihre Abneigung gegen Rot stamme.\nWenn Patientin mit Objekten und Gegenst\u00e4nden der Aufsenwelt in Ber\u00fchrung kommt oder von denselben sprechen h\u00f6rt, so erkundigt sie sich nie nach der Farbe derselben, wie sie angiebt.\nTrotz ihrer Blindheit ist Patientin eine grofse Blumenfreundin, die Rosen sind ihr am liebsten, auch nicht riechende Blumen hat sie sehr gern und freut sich dar\u00fcber. Sie ist der Ansicht, dafs ihr Farbe und auch Geruch nicht mafsgebend * seien f\u00fcr ihre Vorliebe gewissen Blumen gegen\u00fcber. Sie kann einen Grund daf\u00fcr nicht angeben. \u201eEs macht mir Freude, dafs ich die Blumen aufgezogen habe.\u201c\n4.\t\u00c4sthetisches Urteil der Patientin. Auf die Frage, ob sie sich wohl getraue, nach dem Gef\u00fchl zu beurteilen, ob ein menschliches Antlitz sch\u00f6n oder h\u00e4fslich sei, antwortet sie mit \u201enein\u201c. Und auf den Einwand, es m\u00fcsse doch auch ihr ein jugendliches glattes Gesicht schHefslich sch\u00f6ner erscheinen, als das faltige Gesicht eines alten Menschen, erwidert sie, dafs sie das nicht sagen k\u00f6nne, es m\u00fcsse doch auch alte sch\u00f6ne","page":235},{"file":"p0236.txt","language":"de","ocr_de":"236\nw, \u00fcMoff:\nGesichter geben. Sie k\u00f6nne das eine schliefslich nicht sch\u00f6ner oder h&falicher finden als das andere.\n\u00dcber das Anssehen von Objekten, Schmucksachen n. s. w. erlaubt sie sich schon eher ein Urteil nach dem Gef\u00fchl \u201eob sch\u00f6n, ob h\u00e4fslich\u201c, ja oft giebt sie ohne alles Besinnen ihre bestimmte Ansicht kund. Das obere Ende eines etwas kompliziert gearbeiteten Augenspiegels, den man ihr in die Hand giebt, erkl\u00e4rt sie ohne Besinnen f\u00fcr eine Broche und zwar Ar eine sehr sch\u00f6ne, \u201eweil so viele kunstvolle Arbeit daran sei11. Sie wird bei ihrem Urteil \u00fcber die Sch\u00f6nheit eines Gegenstandes in erster Linie geleitet durch eine komplizierte Form desselben und durch die Annahme, dafs es sehr m\u00fchevoll gewesen sein m\u00fcsse, denselben herzustellen, dann mufs er auch sch\u00f6n sein nach ihrer Ansicht. Als man ihr einen glatten und einen rauhen Stab in die Hand giebt, halt sie den glatten f\u00fcr unbedingt sch\u00f6ner, es sei denn, dafs die Rauhigkeit des zweiten Stabes durch m\u00fchevolle k\u00fcnstlerische Arbeit hervorgebracht sei, dann m\u00fcsse sie diesen f\u00fcr sch\u00f6ner als den glatten halten.\nFr\u00fcher bis zu ihrem sechszehnten Lebensjahre hatte Patientin Freude an Sohmuckgegenst\u00e4nden und trug gern Schmuck, jetzt liebt sie es nicht mehr Schmuck zu tragen, weil der Pfarrer sagte, das seien eitle Dinge und man solle sein Hera nicht daran hingen.\nDagegen ist Patientin sehr musikalisch und hat grofse Freude an sch\u00f6nen Melodien.\nF\u00fcr einen jungen Mann will sie sich nie interessiert haben, hat nie einen solchen gebebt, \u201eich habe immer lieber Kinder und alte Leute gehabt. Ich bin gegen Fremde immer sehr zur\u00fcckhaltend, und es w\u00fcrde mir nie in den Sinn gekommen sein, zu heiraten.0\n5. Erinnerung an Personen und Gegenst\u00e4nde sowie das Erkennen derselben. Bei der Erinnerung an Personen und an gewisse Tiere wird sie in erster Linie durch ihre akustischen Erinnerungsbilder geleitet. Sie erinnert sich der Stimme der abwesenden Pers\u00f6nlichkeiten. Bei Gegenst\u00e4nden und auch bei stummen Tieren, z. B. einer Katze, sind es haupts\u00e4chlich die Erinnerungsbilder, welche sie durch den Tastsinn gewonnen hat, die mafsgebend f\u00fcr sie sind. So erinnert sie sich ihrer Mutter in erster Linie nach der Stimme. Auf die Frage, ob sie wohl ihre Mutter durch das Abtasten des Gesichts","page":236},{"file":"p0237.txt","language":"de","ocr_de":"Sehenjemen blindgeborener und sp\u00e4ter mit Kr folg operierter Menschen, 237\nderselben erkennen w\u00fcrde\u00bb erwidert sie: \u201eloh glaube nicht, wohl aber wenn ich ihre Hand ber\u00fchre; man giebt doch auch andern Leuten die Hand und dadurch kennt man mehr den Unterschied. Bei Gesichtern ist das anders\u00bb man f\u00fchlt doch nicht jeden Menschen nach dem Gesicht\u201c.\nBei Nennung von Namen fremder Menschen denkt sie niemals an deren Aufseres, Bart, Haar, Nase, Mund u. s. w. Gefragt: \u201eWie denken Sie sich einen Menschen aussehend?u antwortet sie: \u201eIch denke an ein Kind, das ich oft angefafst habe, und \u00fcbersetze dies ins Grofse\u201c, Ebenso ist es mit ihrem Begriff von einem grofsen Baum, auch Mer denkt sie an einen kleinen, der der Betastung zug\u00e4nglich war, und \u00fcbersetzt das ins Qrofse. Auch behauptet sie\u00bb dafs sie sich eine Vorstellung von einem Walde machen k\u00f6nne, indem sie an eine Anzahl solcher B\u00e4ume denke.\nVon Dingen, die keinem ihrer funktionierenden Sinne zug\u00e4nglich sind, kann sie sich keine Vorstellung machen. Auf die Frage, wie sie sich eine Wolke vorstelle, antwortet sie, es gebe schwarze und weifse Wolken. Sie erinnere sich hierbei einer Stelle aus der Bibel (\u201eProphet EliaM), wo steht: \u201eIch s\u00e4he eine kleine Wolke vom Meere aufsteigen, als eines Mannes Hand, und ehe man zusah, war der Himmel schwarz von Wolken und es kam ein grofser Regen\u201c. \u2014 Auf die Frage, ob sie sich nun eine Wolke wie eines Mannes Hand vorstelle? antwortet sie: \u201eNein, nur die Gr\u00f6fse schwebt mir vor\u201c.\n\u201eErscheint Ihnen ein Weifser und ein Neger verschieden zu sein?\u201c \u2014 \u201eDas kann ich wirklich nicht sagen, ich denke, es sind gleiche Menschen, nur die Farbe ist verschieden.\u201c\n6.\tDie Tr\u00e4ume der Patientin sind dadurch charakterisiert, dafs sie eigentlich nur im Traum h\u00f6rt, Gef\u00fchlsvorstellungen sollen nur ganz gelegentlich dabei in die Erscheinung treten.\n7.\tVorstellung von Bildern und vom Spiegel. Von Bildern kann Patientin sich so gut wie gar keinen Begriff machen, doch hat sie fr\u00fcher gelegentlich \u00fcber die Fl\u00e4che erhabener Bilder gef\u00fchlt und diese Vorstellung des Erhabenseins \u00fcber die Oberfl\u00e4che verbindet sie auch jetzt woM noch mit dem Begriff des Bildes. Bei der Frage: \u201eDenken Sie bei einem Bilde an ein Erhabensein desselben?\u201c antwortet sie erst mit \u201eNein\u201c. Dann sagt sie nach l\u00e4ngerem Besinnen: \u201eJa, eigentlich doch, ich mufs dann immer an \u00fcber der Fl\u00e4che erhabene Bilder denken.\u201c","page":237},{"file":"p0238.txt","language":"de","ocr_de":"Vom Spiegel kann sie sich gar keinen Begriff machen. \u201eIch kenne ihn ja durch das Gef\u00fchl und habe geh\u00f6rt, dais man sich darin sieht, und so denke ich, so wie man einen anderen Menschen im Bilde sieht, so sieht man sich auch im Spiegel. Man kann sich nur sehen im Spiegel, weil etwas dahinter ist und ebenso bei offenstehendem Fenster.tf\n8.\tDas Lesen von erhabener Blindenschrift nach dem Gef\u00fchl hat Patientin gelernt und liest ziemlich gel\u00e4ufig in der Weise mit den Fingern. \u201eJedoch habe ich selbst nie gern gelesen. Ich konnte viel besser auswendig behalten, wenn ich durch Andere vorlesen h\u00f6rte, als wenn ich selbst nach dem Gef\u00fchl las. Ich mufs beim Selbstlesen zu viel \u00fcber Anderes (wie die Buchstaben sich anf\u00fchlen, was sie bedeuten u. s. w.) nachdenken, und dadurch kann ich dann nicht so leicht auswendig behalten.\u201c\nSchreiben kann Patientin nur sehr schlecht, die einzelnen Buchstaben ihres Namens sind kaum erkennbar und sehr kritze-lich, nach Vollendung einzelner Buchstaben h\u00e4lt sie inne und sagt \u201ees geht nicht mehr weiter, als Kind konnte ich meinen Namen ziemlich schreiben, aber jetzt geht es nicht mehr\u201c.\nEbenso gelingt ihr das Aufzeichnen einfacher mathematischer Figuren, eines Kreises, eines Vierecks u. s. w., nur sehr unvollkommen.\n9.\tDas Gef\u00fchl der Furcht, des Abscheus und des Ekels hat Patientin gelegentlich sehr ausgesprochen bei Ber\u00fchrung von gewissen Dingen der Aufsenwelt. So sind ihr die M\u00e4use sehr verhafst, sie graut sich davor, und zwar glaubt sie selbst dies Gef\u00fchl des Abscheus davon ableiten zu k\u00f6nnen, dais sie vor langen Jahren einmal ganz unvorhergesehen eine tote Maus in die Hand bekam. Auch empfinde sie Abscheu vor gewissen gr\u00f6fseren Insekten, mit denen sie fr\u00fcher in Ber\u00fchrung gekommen sei. Auf die Frage, ob sie z. B. mit dem Begriff einer Schlange nicht eine sehr unangenehme Empfindung das Gef\u00fchl des Ekels verbinde, antwortet sie sofort mit \u201enein\u201c. \u00dcber eine Schlange habe sie noch nie nachgedacht, sie kenne gar keine, wisse nicht, wie dieselbe geformt sei und somit verbinde sich bei ihr damit auch keine unangenehme Empfindung, obwohl sie schon geh\u00f6rt habe, dafs es b\u00f6se und zuweilen giftige Tiere seien.\n10.\tAuffallend ist bei der Patientin, dafs sie trotz ihrer","page":238},{"file":"p0239.txt","language":"de","ocr_de":"Sehenlemen blindgeborener und sp\u00e4ter mit Erfolg operierter Menschen. 239\nv\u00f6lligen Blindheit von jeher doch die Gewohnheit hat, das Gesicht anf eine ihr entgegenkommende Pers\u00f6nlichkeit zu wenden, ferner das Gesicht auch auf denjenigen zu richten, der sie anredet, Gefragt, warum sie das thue, da es ihr doch f\u00fcr die Wahrnehmung oder fur die Orientierung nichts n\u00fctzen k\u00f6nne, weifs sie anfangs keine Auskunft zu geben, Spater meint sie, sie glaube, das stamme noch aus der Schulzeit her, wo sie angehalten wurde, das Gesicht zum Lehrer hinzuwenden, wenn er mit ihr sprach, auch sei sie angehalten worden, mit zugewandtem Gesicht zu gr\u00fcfsen.\n11.\tDas Taxieren von Entfernungen nach dem Geh\u00f6r ist bei der Patientin recht unsicher. Sie scheint sich in dieser Hinsicht anch wenig ge\u00fcbt zu haben, indem sie etwa in dem gegebenen Falle die Schritte abz\u00e4hlt, worauf sie der Pfarrer als auf ein H\u00fclfsmittel f\u00fcr die Orientierung schon fr\u00fch aufmerksam gemacht hat,\nDie Richtung, aus welcher ein Ger\u00e4usch kommt, kann Patientin relativ sicher mit der Hand angeben.\nAuch Mafseinheiten markiert sie mit beiden H\u00e4nden ziemlich gut.\n12.\tF\u00fcr die Ann\u00e4herung an ein hohes Hindernis (z. B. die Wand) hat Patientin ein sehr feines Gef\u00fchl. Sie merkt es sicher, wenn sie derselben sehr nahe gekommen ist. \u201eIch f\u00fchle es, es ist, als ob die Luft sich verdichtet,\u201c Eine weitere genauere Definition vermag sie nicht zu geben.\n13.\tAuf die Frage, ob sie sich wohl bei der Erkennung von Gegenst\u00e4nden des Geruches und Geschmackes mehr bediene als andere Menschen, da sie ja nicht sehe, antwortet sie bestimmt im negativen Sinne.\nDagegen macht sie von ihrem Tastsinn naturgem\u00e4fs einen sehr ausgedehnten Gebrauch, aber auch bei ihr ergeben Untersuchungen mit dem Tasterzirkel \u00fcber die Gr\u00f6fse der Empfindungskreise an verschiedenen R\u00f6rperregionen und namentlich an den Fingerspitzen durchaus keine h\u00f6heren Werte als bei anderen normalen und normal sehenden Menschen. Erw\u00e4hnt sei das hier nur mit R\u00fccksicht auf gegenteilige Angaben bei der bekannten Laura Bridgmann,\n14.\tDie Augenbewegungen der Patientin:\nZun\u00e4chst bestehen auf beiden Seiten h\u00e4ufige unwillk\u00fcrliche\nnystagmusartige Zuckungen im assoziierten Sinne und in seit-","page":239},{"file":"p0240.txt","language":"de","ocr_de":"240\nW. Uhthoff.\nHoher Richtung, jedoch kein eigentlicher schne\u00fcschllgiger kontixmierhcher Nystagmus. Von diesen unwillk\u00fcrlichen Bewegungen hat Patientin kein Bewufstsein.\nDagegen ist sie auffallenderweise auch im st\u00e4nde, willk\u00fcrlich und auf Geheifs deuthche, wenn auch minimale Bewegungen in seitlicher Richtung und im assoziierten Sinne mit den rudiment\u00e4ren Augen auszuf\u00fchren. Sie sagt bei diesen Versuchen : \u201eDas geht nicht so rasch und strengt auch sehr am Es ist so steif.a Nach oben und unten fehlen derartige will-k\u00fcrHche Bewegungen auf Geheifs so gut wie vollst\u00e4ndig, in seithcher Richtung dagegen sind sie deutKch erkennbar. Patientin hat dann nach ihrer Angabe auch \u201eein leises Gef\u00fchl\u201c, dafs ihre Augen sich bewegen.\nDiese Thatsache erscheint besonders bemerkenswert mit R\u00fccksicht darauf, dafs sie niemals eine Spur von Lichtempfin-dung besessen und die Bulbi selbst von Geburt an nur als ganz kleine Rudimente vorhanden sind. \u2014\nHiermit will ich die vorstehenden thats\u00e4chlichen Mitteilungen zur Lehre vom Erlernen und Verlernen des Sehens, sowie zum Kapitel der totalen angeborenen Amaurose schliefsen. Der erste Fall bietet grofse Analogien zu der fr\u00fcheren, s. Z. genau mitgeteilten Beobachtung und zu den sonstigen Beobachtungen in der Litteratur. Die auch dieses Mal wieder gemachten Wahrnehmungen sind s\u00e4mtlich mit der empiristischen Theorie sehr wohl in Einklang zu bringen und erkl\u00e4ren sich ungezwungen aus derselben.\nDasselbe l\u00e4fst sich von den bei unserem zweiten Falle beobachteten Thatsachen sagen, und halte ich diesen noch deshalb f\u00fcr besonders bemerkenswert, weil wegen der langen Dauer der R\u00fcckbildung der Sehst\u00f6rung Gelegenheit geboten war, eingehendere Studien \u00fcber die einzelnen Phasen dieses krankhaften Zustandes zu machen, als es in den fr\u00fcheren einschl\u00e4gigen Beobachtungen m\u00f6glich gewesen ist ; und ich m\u00f6chte glanben, dafs die gemachten Wahrnehmungen geeignet sind, die Erkl\u00e4rung der Amaurose nach Blepharospasmus bei j\u00fcngeren Kindern im Sinne Lebkrs zu st\u00fctzen. Jedenfalls sind die sonst aufgestellten Hypothesen f\u00fcr die Deutung dieser seltsamen Erscheinungen weniger geeignet, eine befriedigende Erkl\u00e4rung zu geben.\nDer letzte Fall von totaler kongenitaler Amaurose mit","page":240},{"file":"p0241.txt","language":"de","ocr_de":"Sehenlemm blindgeborener und sp\u00e4ter mit Erfolg operierter Mauchen, 241\nhochgradigem doppelseitigen Mikrophthalmus (sogenanntem Anophthalmus congenitus) liefert, wie ich glaube, einen ganz bemerkenswerten Beitrag zum Seelenleben des vollkommen blindgeborenen Menschen, der niemals einen Begriff von Bell und Dunkel erhalten hat und gezwungen war, von Geburt an durch seine \u00fcbrigen Sinne nach M\u00f6glichkeit diesen Defekt des Gerichtssinnes auszugleichen. Es ergeben sich hierbei auf den ersten B\u00fcck sehr \u00fcberraschende Angaben von seiten der Untersuchten, die aber doch bei genauerer Nachforschung ihre nat\u00fcrliche BrUlrmg finden. Erleichtert und gef\u00f6rdert wurden die Untersuchungen bei der Patientin aufserordentlich durch die grofse Intelligenz derselben und durch das hervorragende Interesse, das sie selbst an ihrem Zustande nahm, und mit dem sie bem\u00fcht war, eine Beihe von Erscheinungen in ihrem Seelenleben aufzukl\u00e4ren.\nZtiteehrill Ar Pijreholo\u00abrie XXV.\n16","page":241}],"identifier":"lit30122","issued":"1897","language":"de","pages":"197-241","startpages":"197","title":"Weitere Beitr\u00e4ge zum Sehenlernen blindgeborener und sp\u00e4ter mit Erfolg operierter Menschen, sowie zu dem gelegentlich vorkommenden Verlernen des Sehens bei j\u00fcngeren Kindern, nebst psychologischen Bemerkungen bei totaler kongenitaler Amaurose","type":"Journal Article","volume":"14"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:08:49.955197+00:00"}