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{"created":"2022-01-31T15:05:01.488865+00:00","id":"lit30123","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Lange, Konrad","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 14: 242-273","fulltext":[{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"Gedanken zu einer \u00c4sthetik auf entwickelungsgeschichtlicher Grundlage.\nGleichzeitig als Bericht \u00fcber Karl Groos, \u201eDie Spiele der Tiere\u201c.\n(Jena, Fischer, 1896. 359 S.)\nVon\nKonrad Langs.\nDiesem Buche gegen\u00fcber bin ich in einer eigent\u00fcmlichen Lage. Als ich im Jahre 1892 meine \u201eK\u00fcnstlerische Erziehung der deutschen Jugendu (Darmstadt, Bergstr\u00e4fser, 1893) schrieb, mufste ich nat\u00fcrlich auch auf die Kinderspiele n\u00e4her eingehen. Dabei war mir klar geworden, dafs das Spiel in noch viel h\u00f6herem Mafse, als man bisher annahm, eine Analogieerscheinung oder Vorstufe der Kunst sei. Ich hatte mir damals vorgenommen, diesen Gedanken, dessen Keime bekanntlich schon bei Kant, Schilder und Spencer zu finden sind, demn\u00e4chst weiter su verfolgen und bei dieser Gelegenheit auch die Spiele der Tiere genauer zu untersuchen. Schon hatte ich meinen zoologischen Kollegen Eimer gebeten, mir bei der ersten Sammlung des Materials behilflich zu sein, als ich erfuhr, dais Professor Groos in Giefsen, dessen vortreffliche Einleitung in die \u00c4sthetik* Giefsen 1892) ich inzwischen kennen gelernt hatte, im Begriff sei, ein Buch \u00fcber die \u201eSpiele der Tiereu zu schreiben. Dieses Buch liegt nun seit anderthalb Jahren vollendet vor, und ich kann nur sagen, ich freue mich, dafs der Verfasser mir damit zuvorgekommen ist. Denn ich h\u00e4tte gerade jetzt doch nicht die Zeit gehabt, die zoologische Litteratur in dieser eingehenden Weise durchzuarbeiten und mir besonders in den heiklen Fragen der","page":242},{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"Gedanken m einer \u00c4sthetik auf entwicketungsgeschichUieher Grundlage, 243\nmodernen Psychologie und der DABWlN-WEiSMANNschen Deszendenztheorie eine so scharf pr\u00e4zisierte \u00dcberzeugung zu bilden, wie das dem Philosophen von Fach m\u00f6glich gewesen ist. Wenn ich es nun unternehme, das Buch hier ausf\u00fchrlicher und in etwas anderer Form, als es in der Regel bei Rezensionen geschieht, zu besprechen, so dr\u00e4ngt mich dazu nicht nur die Freude dar\u00fcber, dafs ich gerade in den Hauptpunkten vollkommen mit dem Verfasser \u00fcbereinstimmen kann, sondern auch das Gef\u00fchl, bei einem Stoffe, \u00fcber den ich mir selbst schon lange meine Gedanken gemacht habe, durch einige neue Gesichtspunkte und kleinere theoretische Abweichungen vielleicht auf kl\u00e4rend wirken und den Verfasser selbst in seinen weiteren Arbeiten f\u00f6rdern zu k\u00f6nnen,\nWir haben es bei dem Gaoosschen Buch mit nichts Geringerem zu thun als mit der Einleitung einer neuen Epoche der \u00e4sthetischen Forschung, mit dem ersten wirklich wissenschaftlichen Beitrag zu einer \u00c4sthetik auf entwickelungsgeschichtlicher Grundlage. Wenn das vielleicht nicht allen Lesern sofort klar geworden ist \u2014 ich habe sehr wunderbare Kritiken des Werkes gelesen \u2014 so hegt das einmal daran, dafs der Verfasser hier selbst noch mit seinen Ansichten ringtr noch zu sehr unter der Herrschaft des Stoffes steht, uns, wenn ich so sagen soll, noch zu oft in die Werkstatt seiner Gedanken hineinsehen l\u00e4fst, wodurch mancher Leser vielleicht die Hauptsache \u00fcbersehen konnte. Dann aber vor allem daran, dafs sich der Verfasser das beste, was er weifs, ohne Zweifel f\u00fcr sein geplantes Werk \u00fcber die Spiele der Kinder aufgespart hat, wo es ja auch noch mehr am Platze ist. Ja, ich w\u00fcrde es sogar f\u00fcr kein Ungl\u00fcck gehalten haben, wenn er auch die letzten Abschnitte des vorliegenden Buches (von* S. 313 an) an dieser Stelle noch nicht abgedruckt h\u00e4tte, da sie streng genommen mit dem Spiel der Tiere nichts mehr zu thun haben.\nKeime zu einer evolutionistischen \u00c4sthetik lagen ja schon mehrfach vor, besonders bei Darwin, Spbncbr, Weismann, Wallace, Soubiau u. \u00c0., aber man hatte sie gerade auf \u00e4sthetischer Seite bisher nur wenig beachtet, weil man die Modifikationen der DARWiNschen Deszendenztheorie, wie sie in der neodarwinistisohen Entwicklung der Zoolope vorliegen, f\u00e4lschlich als eine Ersch\u00fctterung der ganzen Entwicklungslehre auffafste und nun nat\u00fcrlich auf einem scheinbar so unsicheren Fundament nicht weiter-\n10*","page":243},{"file":"p0244.txt","language":"de","ocr_de":"244\nKonrad Lange.\nbauen wollte?. Der Verfasser zeigt nun aber meines Erachtens in einwandfreier Weise, da\u00df auch der unbestrittene Kern der DaBWiNschen Theorie, n\u00e4mlich die Hypothese von der Bedeutung der nat\u00fcrlichen Auslese f\u00fcr die Erhaltung der Arten, voll-kommen gen\u00fcgt, um die Entwickelung der \u00e4sthetischen Ph\u00e4nomene bei den Lebewesen zu erkl\u00e4ren. Ja, er f\u00fchrt sogar aus, da\u00df auch die sexuelle Auslese .in gewisser Weise auf die Entwickelung des Spiel- und Kunsttriebes einen Binflufs gehabt haben k\u00f6nne, wenn auch nicht ganz in dem Sinne, wie es D AB WIN wolle.\nDas Werk zerf\u00e4llt dem Inhalt (nicht der Form) nach in drei Teile: erstens die Aufz\u00e4hlung und Beschreibung aller tierischen Spiele, die bisher beobachtet worden sind (S. 77\u2014229 und S. 258\u2014291), zweitens ihre psychologische Erkl\u00e4rung (S. 292 bis 318, aber auch S. 1\u201421 und passim), drittens die Er\u00f6rterung ihrer entwicklungsgeschiohtlichen Bedeutung (S. 22\u201476 und 290 bis 252). Der Verfasser m\u00f6ge :mnr gestatten, sein. Buch in dieser Weise umzuordnen, da f\u00fcr meinen Zweck die stilistischen oder p\u00e4dagogischen Gr\u00fcnde nicht maisgebend sein k\u00f6nnen, die ihn veranlagst haben m\u00f6gen, den Inhalt der einzelnen Tele mehr in. gleichm\u00e4\u00dfiger Weise \u00fcber das Ganz\u00a9 zu verteilen.\nWas zun\u00e4chst die Materialsamml un g betrifft, so steht der Verfasser dabei ja nat\u00fcrlich auf den Schultern zahlreicher Vorg\u00e4nger, von denen, unter den \u00e4lteren, besonders Rhmabus, Brshm, Naumann und Schkitlin, unter den j\u00fcngeren besonders Dabwin, die Br\u00fcder M\u00fclles, Hudson und Romanes zu nennen sind. Aber er hat auch eigene Beobachtungen gemacht, z. B. an Hunden (er ist anscheinend ein grosser Hundefreund) und in zoologischen G\u00e4rten, und eine anregende und ergebnisreiche Korrespondenz ml dem Direktor Seite vom Frankfurter zoologischen Garten gef\u00fchrt, durch die ihm mancher neue Gesichtspunkt vermittelt worden ist. Ans diesen verschiedenen Quellen ist nun eine Materialsammlung hervorgegangen, die cm Vollst\u00e4ndigkeit gerade der hier in Betracht kommenden Erscheinungen alle bisherigen Schriften \u00fcber Tierpsychologie bei weitem \u00fcbertrifft. Vor allen Dingen hat der Verfasser aber dimes gro\u00dfe Material gmrtig zu dnrchdrmgen gesucht, indem er m nach bestimmten Gesichtspunkten geordnet und danach acht verschieden\u00a9 Arten, von Spielen unterschieden hat.\nEher m\u00f6chte- ich nun allerdings gleich einen gewiesen Vor-","page":244},{"file":"p0245.txt","language":"de","ocr_de":"Gedanken zu einer \u00c4sthetik auf entwi\u00dfkehmgsgescfnchtUcher Grundlage.\t245\nbehalt machen. Ich selbst hatte in meiner k\u00fcnstlerischen Br-mehung die Spiele der Kinder in vier Gruppen eingeteilt: 1) Bewegungsspiele, 2) Sinnesspiele, 3) Kunst- oder Illusionsspiele, 4) Verstandeespiele. Unter Bewegungsspielen hatte ich z. B. das blo&e Springen und Tanzen ohne bestimmtes Bollen-bewufstsein (ohne dais sich das Kind m einer bestimmten Bolle f\u00fchlt), unter Sinnesspielen diejenigen Spiele, bei denen der Genuis vorwiegend im Sehen oder Boren merkw\u00fcrdiger Formen, Farben, Bewegungen und T\u00f6ne besteht, unter Kunst- oder Ulu-skmaspielen diejenigen, bei denen das Kind sich in ein anderes Wesen hineinf\u00fchlt, oder sich einer Phantasievorstellung hingiebfc, unter Verstandesspielen z. B. Lotto, Dambrett, Schach u. s. w. verstanden. Ba die letztere Gattung beim Tier nat\u00fcrlich weg-f\u00e4llt, blieben also f\u00fcr die Tierpsychologie nur drei Klassen von Spielen \u00fcbrig, Bewegungsspiele, Sinnesspiele und Illusionsspiele. Als Beispiel f\u00fcr die ersten w\u00fcrde etwa zu nennen sein: das planlose Herumrennen der Hunde bei Spazierg\u00e4ngen, als Beispiel f\u00fcr die zweiten: das Zerknittern von Papier und das Schlagen an t\u00f6nende Gegenst\u00e4nde, wie man es bei Affen beobachten kann, als Beispiel f\u00fcr die dritten: das Spiel des Hundes mit einem St\u00fcck Holz, in das er wie in ein Beutetier hineinbeifst, oder der Katze mit dem Garnkn\u00e4uel, das sie wie eine Maus verfolgt.\nDer Verfasser unterscheidet dagegen acht Arten von tierischen Spielen, n\u00e4mlich 1) das Experimentieren, 2) die Bewegungsspiele, 3) die Jagd- und Kampfspiele, 4) die Liebesspiele, 5) die Bauk\u00fcnste, 6) die Pflegespiele, 7) die Nachahmungsspiele, 8) die Neugier. Die Abtrennung der Bewegungsspiele von den Jagd- und Kampfspielen, die ja auch auf Bewegung beruhen, begr\u00fcndet er \u00e4hnlich wie ich durch das Kennzeichen, dafs bei jenen die Lust blofs in der Bewegung, bei diesen auch in dem Spielen einer Bolle besteht. Dagegen w\u00fcrde ich es f\u00fcr richtiger gehalten haben, wenn die Nummern 3), 4), 6) und 7) unter einen gemeinsamen Begriff, n\u00e4mlich den der Illusion, zusammen-gefafst worden w\u00e4ren. Denn ihr gemeinsames Kennzeichen ist eben, wie der Verfasser im Verlauf seiner Arbeit selbst ausf\u00fchrt, die Illusion. Ob diese sich in der Weise geltend macht, dafs die Tiere so thun, als ob sie mit einander k\u00e4mpften, oder in der, dafs sie so thnn, als ob sie ein W\u00fcd jagten, als ob sie sich begatten wollten, als ob sie ein Junges pflegten, als ob","page":245},{"file":"p0246.txt","language":"de","ocr_de":"246\nKonrad Lange.\nsie irgend ein anderes Gesch\u00f6pf w\u00e4ren, ist der Sache nach ziemlich gleichg\u00fcltig. Alles das sind nur verschiedene Modifikationen eines und desselben Gef\u00fchls, n\u00e4mlich der Illusion.\nWas aber das Experimentieren betrifft, so ist das, was Gaoos so nennt, meines Erachtens \u00fcberhaupt nicht von den Bewegungsspielen und Sinnesspielen zu trennen. Denn wenn der Verfasser darunter das Sichrecken, Greifen, Flattern, Nagen und Scharren junger Tiere in den ersten Lebenstagen, aufser-dem aber auch das Bellen der jungen Hunde, das Schnurren der Katzen u. s. w. versteht, wodurch die Tiere die Herrschaft \u00fcber ihren K\u00f6rper und die Kenntnis ihrer Umgebung erwerben und ihre Sinneswerkzeuge ausbilden, so ist nicht einzusehen, wie man diese Th\u00e4tigkeiten prinzipiell von den Bewegungsund Sinnesspielen, d. h. dem Rennen, Springen, Klettern, Flattern, Schwimmen, Bellen, Br\u00fcllen, Schnattern ohne bestimmten Zweck und ohne Rollenbewufstsein scheiden will. Wo h\u00f6rt das eine auf und wo f\u00e4ngt das andere an?\nDer Verfasser wird vielleicht sagen: da wo der Genufs an der Th\u00e4tigkeit anf\u00e4ngt. Ich gebe ihm das zu, m\u00f6chte dabei aber bemerken, dafs ein Genufs bei jedem Spiel vorausgesetzt werden mufs (was ja auch seine Ansicht ist), dafs also alles, was vor dem Genufs oder aufserhalb des Genusses liegt, streng genommen \u00fcberhaupt nicht als Spiel betrachtet werden darf. Wenn ich mich morgens beim Aufstehen mifsmutig recke, so ist das kein Spiel, sondern eine physiologisch begr\u00fcndete Bewegung, die einen bestimmten Zweck hat und aufserdem eher von einem Unlustgef\u00fchl als von einem Lustgef\u00fchl begleitet ist. Wenn ich aber im Lauf des Tages Tennis spiele, so ist das ein Spiel und zwar ein Bewegungsspiel. Denn es verschafft mir Lust durch Bewegung. Genau so ist es bei den Tieren. Die allerfr\u00fchesten Reflexbewegungen der neugeborenen Tiere, die sich aus rein physiologischen Gr\u00fcnden erkl\u00e4ren, sind kein Spiel, da es ganz unwahrscheinlich ist, dafs sie ihnen Genufs bereiten, und da sie praktisch ebenso notwendig sind wie das Saugen neugeborener Kinder an der Mutterbrust. Das Spiel f\u00e4ngt meines Erachtens erst da an, wo die Bewegung einmal als Genufs empfunden wird und zweitens nicht gleichzeitig einem bestimmten praktischen Zweck dient. Dafs man diese Grenze durch Beobachtung nicht genau festsstellen kann, weifs ich sehr wohl. Darum bin ich auch dagegen, das Experimentieren","page":246},{"file":"p0247.txt","language":"de","ocr_de":"Gedanken eu einer \u00c4sthetik mf entmckekmgsgeschichtUcher Grundlage.\t247\nvon den Bewegungs- und Sinnesspielen loszutrennen und als eine besondere Art von Spiel zu bezeichnen. Ich rechne deshalb denjenigen Teil des Experimentieren\u00bb, der eine lustvolle und zwecklose Bewegung der Glieder (auch der Lungen) darstellt, zu den Bewegungsspielen, denjenigen, defr in einer \u00dcbung und Erg\u00f6tzung der Sinne besteht, zu den Sinnesspielen.\nZu den letzteren geh\u00f6rt nun aber meiner Ansicht nach auch alles das, was etwa von der Neugier als wirkliches Spiel betrachtet werden kann. W\u00fcsbegier und Aufmerksamkeit sind an sich jedenfalls kein Spiel, da sie einen ganz bestimmten praktischen Zweck haben und, so lange sie \u00fcberhaupt andauern, ohne ausgesprochene Lustempfindungen sind. So will denn auch der Verfasser die Neugier nur insofern als Spiel gelten lassen, als sie \u201espielend ausgef\u00fchrte theoretische Aufmerksamkeit\u201c (mit anderen Worten spielende Wifsbegier) ist. Aber inwiefern kann man \u00fcberhaupt von einer spielenden Aufmerksamkeit reden? Hat die Aufmerksamkeit einen praktischen Zweck, d. h. bereitet man sich durch sie auf einen Eindruck vor, der irgend einen Zweifel beseitigen, ein R\u00e4tsel l\u00f6sen soll, so so ist sie offenbar kein Spiel. Und ist sie Spiel, so ist sie offenbar keine Aufmerksamkeit, sondern \u00e4sthetische Anschauung. Werna man eine Schlange in einen Affenk\u00e4fig legt, und die Affen kommen, wie das der Verfasser ausf\u00fchrt, neugierig auf das ungewohnte Etwas zugeschritten, das da zusammengeballt liegt, .kann man da von Spiel reden? Kann man \u00fcberhaupt das aus Neugier und Furcht gemischte Gef\u00fchl, das wir hier bei den Affen voraussetzen m\u00fcssen, als Lustgef\u00fchl auffassen? Wenn sie sich aber \u00fcberzeugt haben, dafs die Schlange tot ist, und sich nun \u00fcber ihre sch\u00f6nen Farben und ihre schillernde Baut freuen \u2014 falls sie das \u00fcberhaupt thun \u2014 so ist das offenbar eine Vorstufe der \u00e4sthetischen Anschauung oder ein Sinnesspiel, dann aber ist es eben keine blofse Aufmerksamkeit oder Neugier mehr. Ich m\u00f6chte also auch diese als besonderes Spiel streichen.\nEbenso rechne ich zu den Sinnesspielen einen grofsen Teil derjenigen Erscheinungen, die Gkoos unter den Nachahmungsspielen aufz\u00e4hlt, n\u00e4mlich alle aus der Nachahmung anderer Wesen hervorgegangenen Stimm\u00fcbungen. Dagegen l\u00e4fst es sich wohl rechtfertigen, wenn der Verfasser die Bauk\u00fcnste in eine besondere Klasse verweist, wobei ich nur bemerken","page":247},{"file":"p0248.txt","language":"de","ocr_de":"Kimrad Idm\u00e7e.\n\u2022m\nm\u00f6chte, dafs,, wenn mm auch die Schinuokk\u00fcn\u00abte \u00fcberhaupt in dkaelbe Klasse setzen wollte, es -vielleicht doch praktischer wies, sie ebenfalls den S\u00fbmeaspiaton \u00abazureclmen.\nEs blieben also als tierische Spiele nur: 1) BewegimgptpMla, 2) Sinnosepiele, 3) Banspiek, 4) Illnsioiisspiele, imd die >1^toteren w\u00fcrden wieder in Kampf- und Jagdspieie, Liebesspiel\u00ab, Pfleg espiele (und NachahmungsspieLe) zerfallen.\nWenn, wir' nun auf die Illusion es pieie n\u00e4her imgihn, so hat der Verfasser da, wie .m\u00fb sch\u00e4mt, -die Grenze zwischen Spiel rad Emst nicht immer ganz scharf gezogen. .Br weife allerdings den Unterschied zwischen dem eigentlichen Spiel und der Emsthandlnng sehr wohl zu. w\u00fcrdigen und hat bei einer gan.een Beihe von Beispielen sehr' besonnene und sorgf\u00e4ltige Erw\u00e4gungen dar\u00fcber angestellt, ob wir es mmr mit esnem Spiel oder .mit #mer Emsthandlung au thun haben. Allein das hat ihn doch sch\u00fcafsUeh nicht verhindert, manches als Spiel aufzufassen, was diesen Namen offenbar nicht verdient.\nBesonders deutlich ist mir dies bei den Pflegespielem entgegengetreten. Wenn PBCHUfiL-LoBBOHE Beeht hat, dafs Paviane allerhand leblose Gegenst\u00e4nde, wie Kinder ihre Puppen, pflegen, sie abends mit in ihre Sohlafk\u00e4sten nehmen und dort auch am Tage verwahren (8. 163), so ist das allerdings ein Spiel. Aber gerade dieser Erz\u00e4hlung m\u00f6chte Gmoos wenig -Beweiskraft beilegen, w\u00e4hrend er z. B. als Pflegespiele das Aufziehen von Jungen anderer Arten durch \u00e4ltere kinderlose Tiere oder die Freundschaftsverh\u00e4ltnisse verschiedener Tiere untereinander auffafst, die doch schlie&lich nicht mit mehr Beoht Spiele genannt werden k\u00f6nnen, als das Aufziehen und Pflegen der eigenen Jungen. Denn in allen diesen F\u00e4llen liegt doch ein bestimmter praktischer Zweck vor, der den Gedanken an Spiel, ausschliefst. Ebensowenig, wie man die Liebe der Stiefeltern zu ihrem Stief- oder Adoptivkinds oder Freundschaft und Mitleid als Spiel oder Kunst bezeichnen kann, ebensowenig d\u00fcrften die analogen Erscheinungen des Tierlebens unter den Begriff Spiel zu rubrizieren sein. Man m\u00fc&te denn in allem diesen F\u00e4llen annehmen, dafs das Tier bei der Pflege von Jungen .anderer Arten sich der Illusion hing\u00e4be, ein eigenes Kind zu pflegen, und das d\u00fcrfte im einzelnen Falle schwer zu beweisen mm.\nDasselbe Bedenken mufe ich gegen die Behandlung 'tier Liebesspiele bei Gboos erheben. Er giebt zwar zu, dais","page":248},{"file":"p0249.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022 \u2022\nGedanken su einer \u00c4sthetik auf entwickdungsgeschichtlieher Grundlage, 249\n-die Bewegungen und T\u00f6ne, die des M\u00e4nnchen bei der Bewerbung macht, das Siohaufblasen, das Zeigen des Federschmucks, das Hinundhertrippeln oder Siohduoken, das Fi\u00fcgei-schXagen oder lebhafte Fliegen, sich von den eigentlichen Spielen durch die Beziehung auf den wirklichen Akt der Begattung unterscheiden. Aber er will doch den hergebrachten Namen Spiel auch f\u00fcr die Bewerbungserscheinungen selbst beibehalten wissen, weil das M\u00e4nnchen dabei ein Bewufstsein von der Wirkung dieser K\u00fcnste auf das Weibchen und ein \u201eGef\u00fchl der SelbstdarsteUung* habe. Es w\u00e4re das dann ganz derselbe Fall wie beim Stutzer, der, um Eindruck auf eine Sch\u00f6ne zu machen, seinen Bart dreht, seufzt, sich in den H\u00fcften wiegt u, s. w.\nAllein hier mufs man doch zweierlei ganz scharf unterscheiden, n\u00e4mlich diejenigen Bewerbungsk\u00fcnste, die Mittel zum Zweck sind, und diejenigen, die nicht zur Begattung f\u00fchren oder f\u00fchren sollen. Kein Mensch wird auf den Gedanken kommen, eine reale Verf\u00fchrungsszene, und wenn dabei auch noch so viel bewufste Selbstdarstellung stattf\u00e4nde, f\u00fcr ein Spiel oder eine Kunstleistung zu halten. Was soll uns wohl berechtigen, in derselben Erscheinung bei T\u00fcren ein Spiel zu sehen? Dagegen kennt unser gesellschaftliches Leben eine Menge Verf\u00fcgungen, bei denen eine Selbstdarstellung der Geschlechter ohne einen unmittelbaren sexuellen Zweck stattfindet, z. B. den Tanz, die verschiedenen Gesellschaftsspiele, die geselligen Vergn\u00fcgungen mit Musik und dgl. In allen diesen F\u00e4llen reden wir von Spiel. Dieses Spiel hat allerdings eine innere Beziehung zu Bewerbungserscheinungen, insofern diese sich unter Umst\u00e4nden daran ankn\u00fcpfen k\u00f6nnen und vielleicht auch da, wo dies nicht der Fall ist, in Gestalt von dunklen Ahnungen damit verbunden sind und einen Teil des Genusses ausmaohen. Allein deshalb mufs man sie doch von den eigentlichen Be-Werbungshandlungen streng trennen. Danach w\u00fcrde man also auch bei den Tieren nur diejenigen Handlungen als Liebesspiele gelten lassen d\u00fcrfen, die nicht den unmittelbaren Zweck der Begattung haben. Und deren giebt es bekanntlich eine ganze Menge. Junge Hunde machen die bei der Begattung notwendigen Bewegungen schon lange, ehe sie die n\u00f6tige Reife erlangt haben, um den Akt der Begattung selbst zu vollziehen. Bei Antilopen hat man solche Bewegungen schon in der sechsten Woche ihres Lebens beobachtet. Erwachsene Tiere, auch solche","page":249},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"250\nKonrad Lange.\ndesselben Geschlechts, ergehen sich auch zu Zeiten, wo sie offenbar zur Begattung garnicht aufgelegt sind, in \u00e4hnlichen Bewegungen. Es ist ja sch\u00fcefslich eine Sache der Konvention, was man unter Spiel verstehen will, und an sich w\u00e4re nichts dagegen einzuwenden, wenn man auch die Bewerbungserschei-n ungen selbst mit dazu rechnete. Auch ist, wie gesagt, zuzu-geben, dafs einerseits das, was man im engeren Sinne Liebesspiel nennt, sehr leicht in eine wirkliche Bewerbungshandlung \u00fcbergehen kann, andererseits auch die wirklichen Bewerbungshandlungen anfangs eine Zeit lang einen spielerischen Charakter haben k\u00f6nnen. Aber trotzdem wird es gut sein, im Interesse eines klaren Verst\u00e4ndnisses die Grenze wenigstens theoretisch m\u00f6glichst scharf zu ziehen.\nWenden wir diesen Gesichtkpunkt nun auch auf die anderen Spiele an, so gewinnen wir auch ihnen gegen\u00fcber eine klarere Auffassung. So z. B. bei den Jagdspielen. Wenn ein Hund mit einem St\u00fcck Holz spielt, als wenn es ein Beutetier w\u00e4re, oder eine Katze ein Gamkn\u00e4nel verfolgt, als wenn sie eine Maus vor sich h\u00e4tte, so ist das offenbar ein Spiel. Wenn aber eine Katze mit einer Maus, die sie gefangen hat, experimentiert, sie abwechselnd losl\u00e4fst und wieder f\u00e4ngt, so ist es schon sehr zweifelhaft, ob wir darin noch ein Spiel erkennen d\u00fcrfen. Giebt sich die Katze dabei der Illusion Mn, die Maus liefe ihr wirklich fort, und sie m\u00fcfste sie wieder fangen, so kann man freilich von einem Illusionsspiel reden, will sie aber durch den Aufschub der T\u00f6tung nur ihre instinktive Grausamkeit befriedigen, ihr Machtgef\u00fchl geniefsen, ihre bevorstehende S\u00e4ttigungsliist steigern, so kann offenbar von Spiel ebensowenig die Bede sein, wie bei einem \u00e4lteren Kinde, das ein j\u00fcngeres in grausamer Weise neokt, oder bei einem Knaben, der einer Fliege die Fl\u00fcgel ausreifst, ehe er sie t\u00f6tet. Durch den Endzweck des Beleidigens oder T\u00f6tens und das Hinzutreten anderer Instinkte wird Mer der Spielcharakter offenbar verdunkelt oder geradezu aufgehoben.\nEbenso ist es mit den dramatischen Spielen. Kein Mensch wird auf den Gedanken kommen, den Kampf zweier br\u00fcnstiger Hirsche um das Weibchen, der auf Leben und Tod geht, ein Spiel zu nennen. Wenn aber zwei jung\u00a9 Hunde sich bek\u00e4mpfen, ohne sich doch wirklich zu beifsen, oder Binder und B\u00f6cke mit gesenkten H\u00f6rnern gegeneinanderrennen, ohne","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"Gedanken zu einer \u00c4sthetik auf mtwtekekmgsgescMchtHeher Grundlage. 251\nsich zu verletzen, so ist das ein Spiel, selbst unter der Voraussetzung, dafs diese Th\u00e4tigkeiten in einer inneren Beziehung zu Bewerbungserscheinungen stehen.\nBei den Bauspielen trifft genau dasselbe zu. Ein Vogel, der in der Paarungszeit sein Nest baut, spielt nicht, sondern f\u00fchrt eine zweckm\u00e4fsige und notwendige Handlung aus. Wenn aber der Zaunk\u00f6nig, noch ehe er ein Weibchen gefunden hat, Versuche im Nest bauen macht, oder V\u00f6gel in der Gefangenschaft an den Stangen ihres K\u00e4figs allerlei Geflechte ausf\u00fchren, oder der Laubenvogel sich seine wunderbaren Laubeng\u00e4nge baut und sie mit allerlei bunten Gegenst\u00e4nden aussbhm\u00fcckt, nur um aufser dem Nest noch einen Platz zu haben, wo er mit dem Weibchen sch\u00e4kern und auch wohl seine Bewerbungsk\u00fcnste vornehmen kann, so ist das ein Spiel.\nSehr schwierig ist die Beurteilung dessen, was der Verfasser Nachahmungsspiele nennt. In gewisser Weise kommt ja nicht nur bei den Sinnesspielen, sondern auch bei allen Illusionsspielen, z. B. den Kampf- und Jagdspielen und ebenso den Bauk\u00fcnsten eine Art Nachahmung in Betracht. Dem die Jungen werden zu diesen Spielen offenbar teilweise durch die Nachahmung der Alten veranlafst. Wenn man also die Nachahmungsspiele als besondere Klasse von jenen trennen will, so kann man das nur unter der Voraussetzung thun, dafs man unter Nachahmung etwas Anderes versteht als diese Nachahmung der Alten durch die Jungen. In der That will der Verfasser zu dieser Klasse unter anderem die \u00fcberraschenden Kunstst\u00fccke der Affen, die z, B. in Nachahmung ihrer Herren Schrauben auf-und zudrehen, Streichh\u00f6lzer anz\u00fcnden u. dgl., oder der V\u00f6gel, die, ohne abgerichtet zu sein, sprechen oder menschlich singen lernen, gerechnet wissen. Allein, wer will uns sagen, ob hier nicht eine Art Ro\u00fcenbewufstsein vorliegt, oder ob die Tiere bei solchen Handlungen \u00fcberhaupt Lust empfinden? Bei abgerichteten Tieren wenigstens wird man anzunehmen haben, dafs sie die Handlung mehr als Arbeit fassen und den Genufs mehr in der nachherigen Belohnung als in dem Kunstst\u00fcck selbst finden. Man wird deshalb besser thun, den Begriff der Nachahmung als einen, der in allen K\u00fcnsten eine gewisse Rolle spielt, aufzufassen und nicht zum besonderen Einteilungsprinzip zu machen.\nDurch die sch\u00e4rfere Begrenzung des Spielbegriffs, die wir im Vorigen versucht haben, wird nun auch eine bestimmte","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252\nK\u00fbmrad lxmg**\nTheorie des Verfassers widerlegt, n\u00e4mlich die, daft das keineswegs zwecklos und nur um seiner selbst willen da m Leider hat sich der Verfasser in dieser Beziehung von Souriait und \u00d6BOSSB beainfimfsen lassen, die beide die Theorie von der Zwecklosigkeit des Spieles bek\u00e4mpft haben. Allein schon die vorsichtige Art, wie Grosse seme Ansicht formuliert, h\u00e4tte ihn stutzig machen m\u00fcssen. Denn wenn Grosse auch die Zwecklosigkeit des Spieles leugnet, so f\u00fcgt er doch ausdr\u00fccklich die Versicherung hinzu, dafs der Lustwert des Spieles (und darauf kommt es doch hier allem an), \u201ewie in der Kunst nicht in dem ziemlich unbedeutenden \u00e4ufteren Zweck, sondern in der Th&tig-keit selbst liegt und die Begr\u00fcndung, die Souriau seiner Theorie giebt, h\u00e4tte die sonst so scharfe Kritik des Verfassers vollends herausfordern m\u00fcssen. \u201eWenn wir spielen\u201c so sagt n\u00e4mlich Souriau, \u201eso besch\u00e4ftigen wir uns immer mit dem Resultat unserer Th\u00e4tigkeit. Es handelt sich allemal um einen Zweck, den wir erreichen wollen. Wir haben immer eine Schwierigkeit zu \u00fcberwinden, einen Rivalen zu besiegen oder irgend einen F ortschritt zu machen.\u201c Ich verstehe nicht recht, was der franz\u00f6sische \u00c4sthetiker damit sagen will. Ob beim Spiel \u00fcberhaupt ein Zweck vorliegt oder nicht, darauf kommt es Mer ja garuicht an, sondern vielmehr darauf, ob dieser Zweck ein spielender (fingierter), oder ein realer (au\u00dferhalb des Spiels liegender) ist. Und da kann doch keine Frage sein, daft nach der sch\u00e4rferen Begrenzung des Spielbegriffs, die wir gegeben haben, von einem praktischen aufterhalb des Spiels liegenden Zweck \u2014 abgesehen nat\u00fcrlich von den Bazardspielen u. dgL \u2014 weder beim Menschen noch beim Tier die Rede sein kann. Ein Knabe, der seinen Spielkameraden beim Balgen mederwiaft, verfolgt dabei absolut keinen praktischen Zweck, sondern ist nachher wieder sein bester Freund \u2014 wenn das Spiel nicht in Ernst ansgeartet ist. Sein einziger Zweck ist das Niederwerfen, di\u00ab geh\u00f6rt aber zum Spiel und kann deshalb nicht in Betracht kommen. Ein M\u00e4dchen, das seiner Puppe Kleider macht, hat dabei allerdings einen bestimmten Zweck, n\u00e4mlich die Puppe an bekleiden. Aber dieser Zweck ist eben ein spielerischer, fingierter, denn die Puppe friert ja in Wirklichkeit gar nicht, es \u201ehat also eigentlich keinen Zweck\u201c, sie zu bekleiden. Nein, wir bleiben bei der alten Theorie stehen, wonach es gradeau eine","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"Oedanken su einer \u00c4sthetik auf enlwickehmgsgeschichtUcher Grundlage. 263\nBedingung des Spiels ist, dafs es keimen Zweck hat, wenigstens keinen aufser dem in ihm selbst liegenden fingierten.\nDabei ist aber freilich noch eine genauere Bestimmung n\u00f6tig. Man mufs nooh binzuf\u00fcgen, dafs es keinen praktischen Zweck hat, der dem Spielenden als solcher bewnfst ist. Denn einen Zweck im h\u00f6heren anthropologischen Sinne hat das Spiel, wie wir sehen werden, allerdings. Allein gerade dieser ist dem spielenden Kinde nicht bewnfst, geschweige denn dem Tier, und nur der erwachsene Kulturmensch in den grofsen St&dten, der kein reines psychologisches Versuchsobjekt mehr ist, weifs, dafs er Tennis und Foot-ball spielt, um dadurch \u00bbeinen K\u00f6rper zu kr\u00e4ftigen.\nAber damit sind wir schon in den zweiten psychologischen Teil des \u00d6BOoaechen Buche\u00bb hineingeraten, zu dem wir uns jetzt wenden. Wir haben als eine wichtige psychologische Voraussetzung des Spiels das Nichtvorhandensein eines aufserhalb des Spiels liegenden dem Spielend en be-wnfsten Zweckes kennen gelernt, Eine zweite ebenso wichtige, die schon oben aagedeutet, ist sein Lustcha-r&kter. Es gibt kein Spiel, dessen Wert ffir den Menschen nicht in erster Linie in der Lust best\u00e4nde, die es dem Spielenden verschafft, Da\u00bb ist auch die Ansicht des Verfassers, der die einzelnen Ursachen der Lust bei dieser Gelegenheit genau auseinandersetzt. Und zwar sind es bei den Bewegung^ (und, wde ich jetzt wohl hinzuf\u00fcgen darf, den Sinnes-)spwlen offenbar in erster Linie rem physiologische Gr\u00fcnde, die das Lustgef\u00fchl erzeugen, die Verst\u00e4rkung der Muskelaktion, die \u00f6eeehleunigung des Pulses, die Steigerung der ltespirationatiefe, di\u00bb Erweiterung der peripherischen Blutgef&fse (die starke Be-\u00fch\u00e4tigung des Nervensystems). Zu diesen physiologischen Momenten kommen nun aber nach der Annahme des Verfassers noch h\u00f6here psychische. Vor allen Dingen die Freude am TJr-saohe-sein, das Maohibewufstsem, in welchem er geradezu \u2014 hierin etwas von Nietzsche beoinfinfst \u2014 die psychische Grundlage des Spiels erblickt. Daran ist ohne Zweifel etwas \u00fcMchtiges, und ich hatte einen ganz \u00e4hnlichen Gedanken in immer K\u00fcns\u00fc\u00e4rischen Erstehung S, 52 ausgesprochen, als ich von der Bedeutung des Bilderbuches f\u00fcr das Kind sagte: \u201eEs mufs em unendlicher Reiz f\u00fcr das Kind darin liegen, dafs es in","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"264\nKonrad Lange.\neinem solchen Bilderbuch, Blatt fur Blatt umwendend* die zahl-reichen Gegenst\u00e4nde der Natur, rascher als es jemals in Wirklichkeit m\u00f6glich w\u00e4re, an seinem Blick vor\u00fcberziehen lassen kann, Bin Gef\u00fchl, gemischt aus Machtbewufstsein und k\u00fcnstlerischem Genufs, wie es ihm aufserdem nur beim Kunstspiel zu Teil wird! Ein Emporheben \u00fcber die Unselbst\u00e4ndigkeit und Unvollkommenheit seines sonstigen Daseins, wie es sich der Erwachsene nur schwer vorstellen kann. \u00dcberall sonst im Leben ist es schwach und abh\u00e4ngig. Hier im Gebiete der Phantasie hat es ein Feld, wcf es frei und ungebunden schalten kann. Das ist sein Reich, wo Niemand das Recht hat, ihm dreinzureden. Hier f\u00fchlt es sich grofs, m\u00e4chtig, g\u00f6ttlich, Herrscher und Sch\u00f6pfer in einer Person.\u00ae Dennoch m\u00f6chte ich davor warnen, dem Triebe nach Macht-beth\u00e4tigung bei der Erkl\u00e4rung des Spiels eine zu wichtige Stellung einzur\u00e4umen, denn gerade dieser Trieb ist dem Spiel nicht allein eigent\u00fcmlich, sondern tritt noch viel st\u00e4rker in anderen Th\u00e4tigkeitsgebieten des Menschen, z, B. dem sozialen, vor allen Dingen auch bei der Grausamkeit hervor. Und gerade ha Spiel ist er doch mehr eine Nebenerscheinung als die eigentliche treibende Ursache.\n\u00dcbrigens ist es ja klar, dafs die Freude am Auchk\u00f6nnen, die beim Spiel, wie gesagt, nicht zu bezweifeln ist, in der Kunst eine vollkommene Analogie hat. Der Wetteifer mit Anderen,\nM\ndas \u201eanch\u2019 io son\u2019 pittore\u201c, die Freude an der \u00dcberwindung technischer Schwierigkeiten, das Gef\u00fchl der Macht \u00fcber die Gem\u00fcter der Menschen, alles das mufs bei grofsen K\u00fcnstlern ungef\u00e4hr dieselbe Rolle spielen, wie bei Kindern die Befriedigung, im Spiel siegreich gewesen zu sein oder sonst eine Schwierigkeit \u00fcberwunden zu haben, und ist gewifs als eine m\u00e4chtige F\u00f6rderung der Kunstth\u00e4tigkeit zu betrachten. Aber fur das wichtigste psychische Moment, gewissermafsen die Grundlage der Kunst, wird man es doch kaum halten d\u00fcrfen.\nDiese Bedeutung hat vielmehr ein anderes auch vom Verfasser vollauf gew\u00fcrdigtes Moment, das in gleicher Weise im Spiel wie in der Kumt auftritt, n\u00e4mlich das Gef\u00fchl der Schein-th\u00e4tigkeit, der bewufsten Selbstt\u00e4uschung. Unter der bewufsten Selbstt\u00e4uschung verstehe ich, wie aus meiner K\u00fcnstlerischen Erziehung S. 21 f. und meiner T\u00fcbinger Antrittsvorlesung \u201eDie bewu\u00dfte Selbstt\u00e4uschung als Kern des h\u00fcnst-","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"Gedanken m einer \u00c4sthetik auf entwickdungsgeschichthcher Grundlage. 255\nlerischen Genussesa (Leipzig 1895) hervorgeht, das zentrale Gef\u00fchl, das sieh bei jedem intensiven Kunstgenufs eins teilt, und das ich als gef\u00fchlsm\u00e4fsige Erzeugung eines nicht vorhandenen Etwas auf Grund eines sinnlich wahr* nehmbaren Bealen definiert habe. Man t\u00e4uscht sich selbst vor, dafs man irgend etwas Lebendiges sehe oder h\u00f6re oder irgend eine Stimmung habe, w\u00e4hrend man doch thats\u00e4chlich nur toten Marmor oder tote Leinwand sieht und vielleicht eine ganz andere Stimmung hat, als einem der K\u00fcnstler octroyieren w\u00fcl. Man glaubt etwas zu sehen, zu h\u00f6ren, zu f\u00fchlen, und glaubt es doch wieder nicht, kurz, man t\u00e4uscht sich selbst in bewufster Weise.1\nIch hatte schon im zweiten Heft der eingegangenen Zeitschrift Aula darauf hingewiesen, dafs der Ursprung dieses Gef\u00fchles nicht nur im Spiel der Kinder, sondern wahrscheinlich schon in dem der Tiere zu erkennen sei, und ich freue mich, dafs der Verfasser dieser Ansicht beitritt, die bewufste Selbstt\u00e4uschung f\u00fcr das feinste und innerlichste Element des Spiel-vergn\u00fcgena erkl\u00e4rt und diese Theorie in vorsichtiger und \u00fcberzeugender Weise zu begr\u00fcnden sucht. Nach seinen Ausf\u00fchrungen darf man es f\u00fcr vollkommen erwiesen halten, dafs der Hund, der mit seinem Spielgenossen k\u00e4mpft, ohne ihn doch zu verletzen, ganz genau weifs, dafs das, was er treibt, nur ein Spiel ist. Er redet sich ein, er habe es mit einem Feinde oder einem Jagdtier zu thun, und weifs doch ganz genau, dafs er einen Freund vor sich hat, den er nicht beifsen darf. Wenn die Katze mit dem rollenden Garnkn\u00e4uel spielt, als ob es eine Maus w\u00e4re, und dieses Spiel auch dann noch fortsetzt, nachdem sie l\u00e4ngst durch Packen und Beifsen gemerkt hat, dafs es keine Maus ist, so erkl\u00e4rt sich das nur durch die Annahme einer be-wufsten Scheint\u00e4tigkeit, das heifst eben der bewufsten Selbstt\u00e4uschung. K\u00e4men alle diese Spiele nur bei jungen Tieren vor, so k\u00f6nnte man ja freilich sagen : das ganze Spiel ist nichts als eine instinktive Handlung, bei der \u00fcberhaupt kein psychisches Moment mitwirkt. So aber, wo sie ebenso bei erwachsenen Tieren\n1 Wenn irgend ein j\u00fcngerer Rezensent meiner Sewufsten Selbst-t\u00e4uschung behauptet hat, der Ausdruck \u201ebewufste Selbstt\u00e4uschung\u201c sei eine Oontradictio in adj ec to, etwa wie \u201eh\u00f6lzernes Eisen\u201c, so kann ich ihm nur raten, auJfeer der \u00dcberschrift meiner Abhandlung auch die letztere selbst zu lesen.","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256\nKonrad Jxmge.\nVorkommen, di\u00a9 di\u00a9 wirkliche Jagd, den wirklichen Raub warn eigener Erfahrung kennen, reicht diese Erkl\u00e4rung nicht aua Man mufs vielmehr annehmen, dafs sich beim Tier durch individuelle Erfahrung im Laufe der Zeit ein Bewu\u00dftsein von der Nachahmung der eigenen Ernsthandlungen ausbildet, und diems Bewu\u00dftsein ist es eben, was wir \u201ebewufste Selbstt\u00e4uschung* nennen. Danach wurde sich also das Lustgef\u00fchl der bew^sten Selbstt\u00e4uschung infolge einer h\u00f6heren Entwickelung der Intelligenz ausbilden, und das Tier w\u00fcrde sich durch die Erwerbung dieser F\u00e4higkeit unmittelbar bis vor di\u00a9 Stufe der Kunst erheben. Die Katze weifs einerseits ganz genau, dafs das, was sie vor sich hat, keine Maus ist. Aber sie redet rieh ein, es w\u00e4re eine, sie erg\u00e4nzt rieh das Garnkn\u00e4uel phantasiem\u00e4frig zur Maus. Und gerade in dieser Erg\u00e4nzung, in diesem Spiel der Phantasie besteht f\u00fcr rie der Genufs. Das letztere k\u00f6nnen wir nat\u00fcrlich nicht empirisch nach weisen, aber wir k\u00f6nnen es durch die Analogie des Mnd\u00fcchen Illusionsspiels und des menschlichen Kunstepieis sehr wahrscheinlich machen. Wer freilich der Ansicht ist, dafs z. B. in der Malerei di\u00a9 lebendige Vorstellung der Natur auf Grund des toten Scheinb\u00fcdee nur etwa\u00ab Nebens\u00e4chliches sei, der wird diese ganze Auseinandersetzung nicht f\u00fcr richtig halten k\u00f6nnen.\nBei der Er\u00f6rterung der kindlichen Spiele hatte ich den Beiz der bewufsten Selbstt\u00e4uschung nur innerhalb der eigentlichen Kunstspiele, nicht innerhalb der Bewegung\u00bb- und Sinnes-spiele gelten lassen. Der Verfasser h\u00e4lt \u201edi\u00a9 Ausdehnung des Begriffs auf die \u00fcbrig\u00bb Spiele ebenfalls f\u00fcr geboten, nat\u00fcrlich mit dem Vorbehalt, dafs das Bewufstsein der Scheint\u00e4tigkeit nicht vorhanden soin mufs, sondern nnr vorhanden sein kann*. Unter dhesem Vorbehalt geh\u00a9 ich ihm vollkommen recht. Aber gerade das Bewusstsein dm Soheinthfttigkeit ist ja das einzige Kennzeichen, wodurch ridk die Illusionsspiele von den Bewegungsspielen und SrnnewpaLen unterscheiden. Wenn ein Hund planlos \u00fcber eine Wiese reimt, ohne dabei rin bestimmtes Rollenbewufstsein zu haben, so ist des ein Beweguugsspiel. Wenn er dagegen einem geworfenen Stein nachrennt nnd dabei ein Tier zu jagen glaubt, so ist das rin BlurionsspieL Im letzteren Fall mufs man nat\u00fcrlich eine bewu\u00dfte Selbstt\u00e4uschung annehmen, im \u00a9rsteren nicht. Und wenn mm danach eine Einteilung der K\u00fcnste in Bewegungsh\u00e4toat\u00e4 xmi","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"Gedanken m einer \u00c4sthetik auf entwickelungsgeschichtUeher Grundlage.\t267\nIllusionsk\u00fcnste vornimmt, so geht daraus unmittelbar hervor, dafs die bewufste Selbstt\u00e4uschung nicht in allen, sondern nur in den Illusionsk\u00fcnsten eine Bolle spielen kann. Sie fallt weg bei dem, was der Verfasser Experimentieren, Bewegungsspiele und Neugier nennt, und tritt auch bei den Liebesspielen nur insoweit auf, als diese nicht um der Begattung willen ausgef\u00fchrt werden. Bafs die Grenzen zwischen Bewegungs\u00ab und Hlusionsspielen, zwischen Scheinth\u00e4tigkeit und bestimmter Absicht, Spiel und Ernst fl\u00fcssig sind, und dafs es im einzelnen Falle schwer ist, eine bestimmte Entscheidung zu treffen, ob eine Th\u00e4tigkeit der einen oder der anderen Gattung angeh\u00f6rt, weifs ich wohl. Bas darf uns aber nicht hindern, die Grenzen begrifflich so genau wie m\u00f6glich festzulegen.\nBei Gelegenheit der bewufsten Selbstt\u00e4uschung f\u00fcgt der Verfasser zwei Kapitel hinzu, in denen er das von mir zur Erkl\u00e4rung der k\u00fcnstlerischen Illusion gebrauchte B\u00fcd von der Pendelbewegung (Hinundher sch wanken des Bewusstseins zwischen Schein und Wirklichkeit) durch den Hinweis auf \u201edie Spaltung des Bewufstseins in der Scheint\u00e4tigkeit44 zu modifizieren und meine Theorie durch eine Er\u00f6rterung \u00fcber das \u201eFreiheitsgef\u00fchl in de^ Scheint\u00e4tigkeit41 zu erweitern sucht. Ich habe diese Abschnitte nat\u00fcrlich mit ganz besonderem Interesse gelesen, m\u00f6chte aber hier, wo es sich um die Spiele der Tiere handelt, nicht naher darauf eingehen, Jedenfalls scheint mir der Hinweis auf das Freiheitsgef\u00fchl, wie ich schon oben andeutete, eine wichtige Erg\u00e4nzung der Theorie von der bewufsten Selbstt\u00e4uschung zu sein.\nF\u00fcr ganz besonders gl\u00fccklich halte ich den Nachweis des Verfassers, dafs das Spiel in seinem ersten Auftreten keine Nachahmung von Emsthandlungen, sondern vielmehr ein instinktiver Akt, eine Vor\u00fcbung, oder, wie der Verfasser h\u00fcbsch sagt, eine \u201eVorahmung44 der Wirklichkeit ist. Gboos stellt sich damit in einen Gegensatz zu Wunbt und schliefst sich besondere an Soubxau (Le plaisir du mouvement, Revue scientifique, TII. S\u00e9rie, Tome XVII) an. Bei dieser Gelegenheit gilt es nat\u00fcrlich, Stellung zu der Frage des Instinkts zu nehmen. Ger Verfasser teilt in dieser Beziehung die Auffassung von H. E. Ztkglkb, (\u00dcber den Begriff des Instinkts, Verhandl. d. deutsch. so\u00fbl. GeseUsck. 1891), wonach der Instinkt eine zwe ckm\u00e4fsi ge (durch Selektion zweckm\u00e4fsig gewordene) Beflex th\u00e4tigk eit ist, bei der von\nZeitschrift f\u00fcr Psychologe XIV.\t17","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258\nKonrad Lange.\nBewufstsein keine Bede sein kann. Nun fafst Groos freilich auch die Nachahmung als einen Instinkt auf, und es scheint danach fast, als ob er eine gewisse Nachahmung beim Spiel noch keineswegs f\u00fcr gen\u00fcgend hielte, dieses \u00fcber die Stufe einer instinktiven Handlung zu erheben. Andererseits ist es zweifellos, dafs, je mehr sich das Individuum entwickelt, oder je mehr es sich um h\u00f6her entwickelte Tierarten handelt, um so mehr die Nachahmung beim Spiel eine Bedeutung erlangt. Jedenfalls aber gilt es, den scheinbaren Widerspruch zu beseitigen, dafs der Hauptreiz des Spieles auf der bewufsten Selbstt\u00e4uschung beruhen und der Spieltrieb doch gleichzeitig ein Instinkt, also eine vom Bewufstsein vollkommen losgel\u00f6ste Re\u00dcexth\u00e4tigkeit, sein soll. Dieser Widerspruch wird am besten durch die Annahme beseitigt, dafs zwar die primitiven Formen des Spiels, vor allen Dingen also die einfacheren Bewegungs- und Sinnesspiele, dann aber auch die Anfange der Nachahmung, auf den Instinkt zur\u00fcckzuf\u00fchren sind, dafs aber die komplizierteren Formen der Nachahmung und vor allen Dingen die bewufste Selbstt\u00e4uschung sich erst infolge der individuellen Erfahrung und h\u00f6heren Intelligenz des Tieres entwickeln. Ein K\u00e4tzchen, das in seinen ersten Lebenstagen die Beine reckt und allerlei Bewegungsspiele ausf\u00fchrt, handelt offenbar genau so instinktiv wie ein neugeborenes Kind, das, ehe es noch einmal sehen kann, an der Brust der Mutter saugt. In beiden F\u00e4llen kann von Nachahmung keine Bede sein. \u2018 Diese tritt vielmehr erst bei der weiteren Entwickelung ein, oder besser gesagt, sie wird erat im Laufe der weiteren Entwickelung auf das Spiel angewendet, nachdem sie vorher schon als instinktives Mittel im Kampf ums Dasein, als wichtige Schutz- und Trutz-mafsregel eine Bolle gespielt hat. Jedenfalls ist aber die Grenze, wo beim Spiel der Instinkt aufh\u00f6rt; und die bewufste Nachahmung oder Selbstt\u00e4uschung anf\u00e4ngt, empirisch nicht scharf zu ziehen.\nEndlich weist Gaoos auch die von Schiller angebahnte und von Spencer weitergebildete Theorie zur\u00fcck, dafs das Spiel nur aus einem Kraft\u00fcberschufs, aus einer nach Entladung dr\u00e4ngenden \u00fcbersch\u00fcssigen Muskel- und Nervenkraft zu erkl\u00e4ren sei. Den Gegenbeweis findet er in der bekannten That-saohe, dafs Hunde nicht nur dann spielen, wenn sie sich vorher ausgeruht haben, sondern auch dann, wenn sie scheinbar voll-","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"Gedanken su einer \u00c4sthetik auf entwickelungsgeschich tlicher Grundlage.\t259\ns\u00fcndig ermattet sind, ebenso wie sich ja auch der Mensch meistens erst nach des Tages Last und M\u00fche dem Kunstgenufs hingiebt. Das Spiel dient in diesem Falle geradezu als Mittel der Neubelebung, der Reintegration der Kr\u00e4fte. Auch die von Steinthal und Lazaeub begr\u00fcndete Theorie der Erholung, die zu der vorigen nicht gerdezu in einem Gegensatz steht, erkl\u00e4rt das Ph\u00e4nomen nicht, sondern man kann bestenfalls nur sagen: Kr\u00e4fte\u00fcberschufs und Erholungsbed\u00fcrfnis k\u00f6nnen zwar f\u00fcr die Energie, mit der das Spiels betrieben wird, von Bedeutung sein, sind aber nicht als die eigentlichen Ursachen desselben zu betrachten.\nUnd hiermit kommen wir nun zum dritten Te\u00fc der Arbeit, n\u00e4mlich zur Er\u00f6rterung der entwickelungsgeschichtlichen Bedeutung des Spiels. Wie ist das Spiel \u00fcberhaupt, vom Standpunkt der Entwickelungsgeschichte aus, entstanden? Welche Bedeutung hat es f\u00fcr die Erhaltung und Entwickelung der Arten?\nUm diese Fragen zu entscheiden, gilt es nat\u00fcrlich, Stellung zu nehmen zu den Problemen der LAMAECK-DARWiNschen Entwickelungslehre und zu ihrer Modifikation und Weiterbildung durch den Neodarwinismus. In dieser Beziehung nimmt nun der Verfasser einen, wie mir scheint, f\u00fcr den Philosophen gegenw\u00e4rtig ziemlich einwandfreien Standpunkt ein: Er legt seiner Er\u00f6rterung nur die Hypothese von der nat\u00fcrlichen Auslese zu Grunde, die ja heutzutage von allen Zoologen, auch von denjenigen angenommen wird, die daneben noch bestimmte Einfl\u00fcsse des Klimas, der Ern\u00e4hrung u. s. w. als eigentliche Ursachen der Artver\u00e4nderung gelten lassen wollen. Dagegen scheidet er die streitige und von vielen geradezu verworfene Hypothese von der geschlechtlichen Auslese oder, was damit zusammen-h\u00e4ngt, der Vererbung erworbener Eigenschaften aus der Betrachtung aus, oder m\u00f6chte sie wenigstens nur in stark modifizierter Weise gelten lassen.\nDie Erhaltung und Weiterbildung der Arten w\u00fcrde danach also nicht durch die Auswahl des passendsten M\u00e4nnchens seitens des Weibchens bei der Begattung und dem entsprechend durch die Vererbung erworbener Eigenschaften von Generation auf Generation, sondern \u2014 abgesehen von etwaigen sonstigen Einfl\u00fcssen \u2014 durch den sozusagen mechanischen Akt der nat\u00fcrlichen Auslese, d. h. durch den Untergang der Untauglichen\n17*","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260\nKonrad Lange.\n\u2022\"* _______________\nund das \u00dcberleben der Tauglichen garantiert werden. Auf dieser Grundlage baut sich nun eine Theorie auf\u00bb die den Stempel hoher Glaubw\u00fcrdigkeit an sich hat, und in der ich den Kern und das Hauptverdienst des Gmoosschen Buches erkenne.\nAlle echten Spiele sind zuerst Jugendspiele. Selbst die Liebesspiele, f\u00fcr die man die vorherige Ausbildung des Geschlechtstriebes voraussetzen sollte, treten schon im unreifen Alter auf. Das ist f\u00fcr die Beurteilung der ganzen Frage von entscheidender Bedeutung. \u201eDie Jugenspiele beruhen darauf, dafs gewisse f\u00fcr die Erhaltung der Art besonders wichtige Instinkte schon zu einer Zeit auftreten, wo das Tier ihrer noch nicht ernstlich bedarf. Sie sind im Gegensatz zu der sp\u00e4teren ernsten Aus\u00fcbung eine Vor\u00fcbung und Ein\u00fcbung der betreffenden Instinkte. Dieses verfr\u00fchte Auftreten ist von au\u00dferordentlichem Nutzen und verweist uns daher auf das Prinzip der nat\u00fcrlichen Auslese. Da n\u00e4mlich die ererbten Instinkte auf diese Weise noch nachtr\u00e4glich durch individuelle Erfahrung ausgefeilt werden k\u00f6nnen, brauchen sie selbst nicht mehr so fein durchgearbeitet zu sein, und der Selektion wird damit die M\u00f6glichkeit gegeben, die blinde Macht der Instinkte abzuschw\u00e4chen und zum Ersatz daf\u00fcr die selbst\u00e4ndige Intelligenzentwickelung immer mehr zu beg\u00fcnstigen. In dem Moment, wo die Intelligenzentwickelung hoch genug steht, um im Kampf ums Dasein n\u00fctzlicher zu sein als vollkommene Instinkte, wird die nat\u00fcrliche Auslese solche Individuen beg\u00fcnstigen, bei denen jene Instinkte in, weniger ausgearbeiteter Form, schon in der Jugend, ohne ernstlichen Anlafs, rein zum Zweck der Vor\u00fcbung und Ein\u00fcbung in Th\u00e4tigkeit treten \u2014 d. h. solche Tiere\u00bb die spielen. Ja, man wird schliefsHch, um die biologische Bedeutung der Spiele in ihrer ganzen Gr\u00f6fse zu w\u00fcrdigen, den Gedanken wagen d\u00fcrfen: Vielleicht ist die Einrichtung der Jugendzeit selbst zum Teil um der Spiele willen getroffen. Die Tiere spielen nicht, weil sie jung sind, sondern sie haben eine Jugend, weil sie spielen m\u00fcssen.41\nWenn ich auch di\u00a9 Formulierung im, einzelnen Me und da etwas anders gew\u00fcnscht h\u00e4tte, stimm\u00a9 ich doch im allgemeinen dem Verfasser vollkommen bei. Geht man von, der Thateache","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"Gedanken gu einer \u00c4sthetik auf mtwickelungsgeschichtlicher Grundlage, r 261\n\u00bb\naus, das die T\u00fcchtigsten im Kampf ums Dasein \u00fcberleben, nnd baut man darauf die Hypothese auf, dafs die im Kampf ums Dasein notwendigsten Eigenschaften sich durch die nat\u00fcrliche Auslese steigern m\u00fcssen, so ist es klar, dafs sich im Verlauf der Entwickelung der Spieltrieb als wesentliches Kennzeichen der Jugend ausb\u00fcden mufs, weil diejenigen Tiere offenbar am meisten \u00fcberleben werden, die in ihrer Jugend am meisten gespielt haben. Am klarsten ist dies ia bei den Bewegungsspielen. Ein Raubtier, das in seiner Jugend viel im Spiel gesprungen ist, wird nat\u00fcrlich auch spater, wenn es sich seine Beute.erobern mufs, dazu besonders tauglich sein. Und indem nun solche Individuen am meisten \u00fcberleben, wird im Laufe der Generationen das instinktive Bewegungsspiel in der Jugend nat\u00fcrlich immer mehr gesteigert.\nUnd genau dasselbe ist auch mit den Illusionsspielen der Fall. So wie ein M\u00e4dchen, das in seiner Jugend viel mit Puppen gespielt hat, sp\u00e4ter als Mutter ganz besonders kinderlieb ist, so wird auch ein junger Hund, der in seinen ersten Monaten viel Jagdspiele gespielt hat, sp\u00e4ter ein besonders guter Jagdhund werden. Die Kinder jener Mutter werden auch wieder kinderlieb und die Jungen dieses Jagdhundes auch wieder gute Jagdhunde werden, we\u00fc ihnen der Pflegeinstinkt und der Jagdinstinkt in besonders hohem Mafse angeboren ist. Und da nun die nat\u00fcrliche Auslese diejenigen Individuen vernichtet oder weniger beg\u00fcnstigt, die f\u00fcr ihren Beruf als M\u00fctter oder Jagd-hunde weniger tauglich sind, steigert sie indirekt auch den Spieltrieb der Jugend.\nDadurch tritt nun auch die bewufste Selbstt\u00e4uschung unter den Gesichtspunkt der nat\u00fcrlichen Auslese. Es ist eine Thatsache, dafs die h\u00f6her entwickelten Individuen, bei denen die Intelligenz schon bis zu einem gewissen Grade ausgebildet ist, den Kampf ums Dasein auch ohne angeborene Instinkte oder besser gesagt trotz einer gewissen Zur\u00fcckdr\u00e4ngung der angeborenen Instinkte bestehen k\u00f6nnen. Je h\u00f6her sich die Intelligenz ausbildet, um so mehr k\u00f6nnen die Instinkte entbehrt werden, also \u2014 wenn es sonstwie von Nutzen f\u00fcr die Art ist \u2014 absterben. Ja, sie werden sogar im Interesse der h\u00f6heren Intelligenzentwickelung absterben m\u00fcssen.^ damit sie durch ihr Zur\u00fcektreten gewissermafsen das Feld i\u00fcr die Entwickelung der Intelligenz freimachen. Mit","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\nKonrad Langt.\nanderen Worten: die ererbten Bahnen des Gehirns werden in Gunsten der erworbenen Bahnen entlastet.\nEinen wichtigen Schritt in dieser Richtung macht da\u00ae Tier beim \u00dcbergang vom Bewegungsspiel zum IllusionsspieL War seine Bewegung anfangs durch den blofsen Instinkt diktiert, so wird sie jetzt gef\u00f6rdert durch die Nachahmung bestimmter Emsthandlungen und die bewufste Illusion. Die Vorstellung, dafs das Garnkn\u00e4uel eine Maus, das St\u00fcck Bolz ein Beutetier sei, weckt bei der Katze und beim Bund den r\u00e4uberischen Instinkt, steigert die Lebhaftigkeit ihrer Bewegungen, verl\u00e4ngert das Spiel und bewirkt dadurch, dafs das letztere einen m\u00f6glichst hohen Nutzen f\u00fcr das sp\u00e4tere Leben erh\u00e4lt. Denn durch das Spiel \u00fcbt sich das Tier auf den Kampf ums Dasein ein. Da der Instinkt nat\u00fcrlich mit der Steigerung der Intelligenz schw\u00e4cher wird, so mufs die bewufste Selbstt\u00e4uschung jetzt geradezu die Gewalt des Instinktes ersetzen. Fiele sie hinweg, so w\u00fcrde auch die Bewegung nicht so lange amhalten und nicht so intensiv sein, mit einem Wort, das Tit* w\u00fcrde eben nicht oder wenigstens bei weitem nicht so viel und lebhaft spielen. Der Lustwert der bewufsten Selbstt\u00e4uschung ist also geradezu die Ursache der l\u00e4ngeren Fortsetzung des Spiels.\nEbenso beim spielenden Kampf zweier Bunde. Man wundert sich immer dar\u00fcber, dafs dieselben sich trotz aller Wut, mit der sie aufeinander losfahren, doch niemals beifsen. Der Grund daf\u00fcr ist sehr einfach: Sie wollen spielen und k\u00f6nnen das nur unter Voraussetzung der bewufsten Selbstt\u00e4uschung. Sie wissen aus Erfahrung ganz genau : Sobald der erste wirkliche Bits erfolgt, h\u00f6rt das Spiel als solches auf. Das Bewufstsein der Selbstt\u00e4uschung ist also f\u00fcr sie ein 'Mittel der Aufrechterhaltung des Spieles, also die Ursache einer intensiveren mnd wirksameren Vor\u00fcbung der Kraft. Offenbar braucht der Spielinstinkt auf den h\u00f6heren Stufen der Intelligenzentwickelung einen solchen Stimulus, einen psychischen Stachel, wenn er sich in intensive^ und arterhaltender Weise beth\u00e4tigen soll. Dadurch aber erh\u00e4lt die bewufste Selbstt\u00e4uschung eine geradezu ungeheure Bedeutung im, Kampf ums Dasein. Sie ist einer der ersten Schritte zur Entwickelung der Intelligenz, die Bedingung f\u00fcr eine ausreichende Vorbereitung auf die ernsthaften Aufgaben des Lebens, einer der wesentlichsten Faktoren f\u00fcr die Erhaltung und Entwickelung der Arten.","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"Gedanken zu einer \u00c4sthetik auf entioickdungsgeschichtlicher Grundlage.\t263\nDenn wenn es vorher schon klar war, dafs diejenigen Individuen im Kampf tuns Dasein am meisten \u00fcberleben und sieh fortpflanzen, die in ihrer Jugend am meisten Bewegungsspiele gespielt haben, so ist es jetzt nat\u00fcrlich auch einleuchtend, dafs diejenigen Tiere bei der nat\u00fcrlichen Auslese den Vorteil haben, die bei sich steigernder Intelligenz am meisten f\u00e4hig sind, Illusionsspiele zu spielen, d. h. die bewufste Selbstt\u00e4uschung in sich zu erzeugen. Also wird durch die nat\u00fcrliche Auslese die bewufste Selbstt\u00e4uschung, wenn auch nicht geradezu geschaffen, so doch fortgebildet, von Generation zu Generation gesteigert und verfeinert. Sie wird bei wachsender Intelligenz nicht nur zur Mutter des Spiels, sondern auch zur Mutter der Kunst.\nDaher kommt es auch, dafs die h\u00f6heren Lebewesen viel mehr spielen, d. h. eine l\u00e4ngere Jugendzeit haben als die niederen. Sie brauchen eben mehr Zeit und Kraft zur Entwickelung der Intelligenz und zur Steigerung der bewufsten Selbstt\u00e4uschung, die sie im Kampf ums Dasein so n\u00f6tig haben. Wenn Geoos der Meinung ist, dafs die niederen Tiere wahrscheinlich kein Spiel kennen, so ist das nat\u00fcrlich nur eine relative Wahrheit, da sich die bewufste Selbstt\u00e4uschung im Laufe der Entwickelung durch die nat\u00fcrliche Auslese selbstverst\u00e4ndlich immer mehr zur\u00fcckschieben, d. h. schlielslich auch auf die niederen Organismen ausdehnen mufs.\nEine besondere Modifikation empf\u00e4ngt diese Lehre noch durch ihre Anwendung auf die Liebesspiele. Auch hier hat Geoos einen, wie ich glaube, sehr \u00fcberzeugenden und fruchtbaren Gedanken ausgesprochen. Da n\u00e4mlich die m\u00f6glichste Steigerung des Geschlechtstriebes offenbar im Interesse der Erhaltung der Art ist, mufs der Begattung ein l\u00e4ngerer Erregungszustand vorausgehen. Dieser Aufschub wird wesentlich bewirkt durch die Spr\u00f6digkeit des Weibchens. Diese Spr\u00f6digkeit sucht das M\u00e4nnchen durch allerlei Bewerbungsk\u00fcnste, aufreizende Ber\u00fchrung, sonderbare Bewegungen, scharf artikulierte Laute u. dergl. zu \u00fcberwinden, wobei es sich gleichzeitig selber in den Zustand der Erregung versetzt, der zur Begattung n\u00f6tig ist. Aus diesem notwendigen Aufschub der Begattung gehen nun offenbar die Liebesspiele hervor. Denn wenn auch die Bewerbungserscheinungen selbst, wie wir oben gesehen haben, keine Liebesspiele sind, so haben wir doch die Liebesspiele als","page":263},{"file":"p0264.txt","language":"de","ocr_de":"264\tKonrad Lange.\nunbewufste Vor\u00fcbung zu ihnen aufzufassen. Ohne Zweifel wird dasjenige M\u00e4nnchen die Spr\u00f6digkeit des Weibchens am besten besiegen und dasjenige Weibchen das M\u00e4nnchen am meisten reizen, das in seiner Jugend am meisten Liebesspiele gespielt hat. In sofern wird also auch die geschlechtliche Auslese f\u00fcr die Steigerung des Spieltriebes eine gewisse Bedeutung haben k\u00f6nnen.\nNun gr\u00fcndet sich ja allerdings diese ganze Theorie auf die Thatsache, dafs die Spiele vorwiegend in der Jugend auf-treten. Wie erkl\u00e4rt es sich aber, dafs auch erwachsene Tiere, die doch ihre Kr\u00e4fte schon in Ernsthandlungen erprobt haben und fortw\u00e4hrend erproben k\u00f6nnen, trotzdem noch immer spielen*? Ich m\u00f6chte daf\u00fcr zwei Gr\u00fcnde geltend machen, die mir in dem Buch von Groos zwar angedeutet, aber nicht ganz klar herausgearbeitet zu sein scheinen.\nErstens spielt das erwachsene Tier, weil die'Ernsthand-lungen ihm nicht zur \u00dcbung seiner Kr\u00e4fte gen\u00fcgen. Bei Haustieren insbesondere, die ihre ganze Nahrung oder wenigstens einen Teil derselben ohne eigene Arbeit zugetragen bekommen, bleibt f\u00fcr die \u00dcbung des Raub- und Jagd-Instinkts nur das Spiel als Mittel \u00fcbrig. Deshalb spielen sie auch thats\u00e4chlich von allen Tieren am meisten. Und auch im Leben wilder Tiere kommen lange Zeitabschnitte vor, wo sie weder auf die Nahrungssuche ausgehen, noch auch fressen oder schlafen. Da ist es denn wohl begreiflich, dafs sie die Spiele ihrer Jugend, blofs um sich in \u00dcbung zu erhalten, auch im Alter fortsetzen.\nZweitens aber wird man wohl annehmen m\u00fcssen, dafs erwachsene Tiere sich durch Fortsetzung des Spiels auch in der reiferen Zeit f\u00e4hig erhalten, den Spielinstinkt besonders stark auf ihre Nachkommen zu vererben. Dieser Gedanke wird besonders nahe gelegt durch die Thatsache, dafs der Spieltrieb sich bei erwachsenen Tieren besonders vor und w\u00e4hrend der Paarungszeit in sehr starker Weise \u00e4ufsert. Und wenn es auch nach der Theorie Weismanns und seiner Anh\u00e4nger, der sich Groos anschliefst, undenkbar erscheint, dafs sich Intelligenzhandlungen als Instinkt auf die Nachkommen vererben, so mufs doch betont werden, dafs es sich in diesem Falle streng genommen darum gar nicht handelt, sondern vielmehr um die Annahme, dafs der Instinkt selbst sich von Generation auf","page":264},{"file":"p0265.txt","language":"de","ocr_de":"Gedanken eu einer \u00c4sthetik auf enUciekelungsgeschichtlicher Grundlage, 265\nGeneration nur dann in entsprechender St\u00e4rke vererben kann, wenn er bei den Eltern durch Spiel leb%ndig erhalten und fortw\u00e4hrend beth\u00e4tigt wird.\nEs l\u00e4fst sich im Augenblick noch gar nicht \u00fcbersehen,\nin welchem Mafse diese ganze Theorie f\u00fcr die moderne\n\u2022\u2022 _ _\n\u00c4sthetik wichtig werden kann. Ich habe in meiner T\u00fcbinger Antrittsvorlesung angedeutet, dafs ich aus der richtigen An-Wendung und Durchf\u00fchrung des Prinzips der bewufsten Selbstt\u00e4uschung eine Reform der \u00c4sthetik erhoffe, und habe im letzten Abschnitt jenes Vortrages und dem schon zitierten Artikel der Aula skizziert, in welcher Richtung ich mir diese Reform ungef\u00e4hr denke. Vor allen Dingen wird die n\u00e4chste Aufgabe sein, die F\u00e4den aufzuweisen, die vom Spiel der Tiere zum Spiel der Kinder und von diesem zur Kunst der primitiven V\u00f6lker und der erwachsenen Kulturmenschen hin\u00fcberf\u00fchren. Das wird der Verfasser ohne Zweifel in dem von ihm vorbereiteten Buch \u00fcber das Spiel der Kinder und in sp\u00e4teren Werken versuchen. Inzwischen m\u00f6ge er mir ge-statten, die Gedanken, die er in seinen \u201eSpielen der Tierea niedergelegt hat, nach einigen Richtungen hin in meiner Weise weiterzudenken.\nEs liegt zun\u00e4chst klar auf der Hand, und der Verfasser hat das auch selbst ausgef\u00fchrt, dafs jedes tierische Spiel seine Analogie in einem Kinderspiel und in einer Kunst hat. Nach meiner Auffassung w\u00fcrde sich die Sache etwa so darstellen. Den Bewegungsspielen der Tiere und Kinder entspricht beim erwachsenen Menschen vor allem der Tanz. Das Gef\u00fchl f\u00fcr den Rhythmus, dem der Tanz sein Dasein verdankt, ist bei Kindern und primitiven V\u00f6lkern ganz besonders stark entwickelt. Und da ist es nun sehr wichtig, dafs er sich in seinen ersten Keimen schon beim Tiere nachweisen l\u00e4fst. Wie beim Menschen d\u00fcrfen wir auch beim Tiere in der Bewegung der Beine (und Fl\u00fcgel), der Blutzirkulation und dem Pulsschlag die physiologischen Grundlagen des Rhythmus erkennen. Aufser-dem finden wir aber auch schon bei Tieren gewisse rhythmische Bewegungen, die einen spielenden Charakter haben. Dahin geh\u00f6ren die gleiohm\u00e4fsigen und lebhaften Bewegungen gefangener Tiere in ihren K\u00e4figen \u2014 die \u00fcbrigens auch in der Freiheit oft \u00e4hnlich ausgef\u00fchrt werden \u2014 dahin geh\u00f6ren die tanzartigen Bewegungen vieler V\u00f6gel, die bei einigen Arten","page":265},{"file":"p0266.txt","language":"de","ocr_de":"206\nsogar die Form richtiger T\u00e4nze annehmen, wobei die einzelnen M\u00e4nnchen sich nach einander inmitten einer gr\u00f6fseren Korona produzieren.\nAus den akustischen Sinnesspielen der Tiere und Kinder entwickelt sich die Musik. Und zwar ist nicht nur die Vokal-, sondern auch die Instrumentalmusik in ihnen schon im Keime enthalten. F\u00fcr die Vokalmusik ist der Gesang der V\u00f6gel und das tonleiterartige Geschrei gewisser Affenarten ein altes schon von Darwin und Spencer verwertetes Beispiel. Und wenn man auch bei der zweifelhaften Natur der sexuellen Auslese nicht annehmen darf, dafs die F\u00e4higkeit des Gesanges sich durch die Bevorzugung des besseren S\u00e4ngers von seiten des Weibchens entwickelt oder im Laufe der Generationen gesteigert hat, so darf man Groos doch gewifs beistimmen, wenn er vermutet, dafs z. B. die lauteren und artikulierteren Tongruppen der V\u00f6gel als Erkennungszeichen eine gewisse Rolle bei der Paarung spielen und dementsprechend auch durch die nat\u00fcrliche Auslese gesteigert und verfeinert werden. F\u00fcr die Instrumentalmusik liegen aber die Keime in Erscheinungen wie den geigenartigen Vorrichtungen auf den Fl\u00fcgeldecken der Grillen, deren sich diese Tiere bei der Ausf\u00fchrung ihres bekannten Ger\u00e4usches bedienen, und die Tierwelt zeigt uns auch schon den weiteren Schritt in der Entwickelung, dafs diese Instrumente vom K\u00f6rper losgel\u00f6st, gewissermafsen objektiviert werden, n\u00e4mlich beim Klopfen des Spechtes an die Baumrinde (soweit es spielend geschieht), beim Schlagen der Affen an t\u00f6nende Gegenst\u00e4nde u. dgl.\nZu den Sinnesspielen m\u00f6chte ich ferner noch die bekannte Freude der Elstern und Ratten an bunten und gl\u00e4nzenden Gegenst\u00e4nden rechnen, die sie sorgsam Zusammentragen und um den Eingang ihrer Wohnungen gruppieren. Ohne Zweifel haben wir hier die Vorstufe des so stark entwickelten Schmuck-bed\u00fcrfhisse8 der Wilden zu erkennen, das besonders in der Form der T\u00e4towierung und Narbenzeichnung auftritt und unmittelbar zu den schm\u00fcckenden K\u00fcnsten, zu Ornamentik und Kunstgewerbe hin\u00fcberf\u00fchrt.\n\u00dcber die Analogie der Bauspiele mit der Baukunst brauche ich nat\u00fcrlich kein Wort zu verlieren.\nDas, was ich bei den Tieren als Illusionsspiele bezeichnet habe, findet ferner in den dramatischen Spielen der Kinder und in der Schauspielkunst und dramatischen Poesie der Erwachsenen","page":266},{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"Gedanken mu einer \u00c4sthetik auf entwickehmgsgeschichtlicher Grundlage.\t267'\nseine Fortsetzung. Wenn wir als gemeinsames Kennzeichen aller dieser Spiele das \u201eThun als obtt bezeichnen k\u00f6nnen, so ist es klar, dafs Jagd- und Kampfspiele, Liebesspiele, Pflegespiele und Nachahmungsspiele f\u00fcr das Tier sowohl wie f\u00fcr das Kind dieselbe psychische Bedeutung haben m\u00fcssen, wie schauspielerische Auff\u00fchrungen f\u00fcr die Erwachsenen. Und wenn ich in meiner K\u00fcnstlerischen Erziehung bei den dramatischen Spielen der Kinder als besonders charakteristisch den Umstand bezeichnet hatte, dafs das Kind meistens noch Schauspieler und Publikum in einer Person ist, so k\u00f6nnen wir jetzt dieselbe Beobachtung auch bei den Tieren machen. Die Differenzierung des Schauspielers vom Publikum finden wir zuerst \u2014 abgesehen von gewissen Kinderspielen, die durch Nachahmung entstanden sind \u2014 bei den primitiven V\u00f6lkern, die schon dramatische Auff\u00fchrungen mit besonderen Zuschauern kennen. Ob vielleicht auch schon einige Auff\u00fchrungsspiele der Tiere, z. B, die Bingk\u00e4mpfe der Ameisen oder die oben erw\u00e4hnten Gesellschaftst\u00e4nze gewisser V\u00f6gel, als dramatische Spiele zu bezeichnen sind, wird sich wohl nicht entscheiden lassen, wie ja auch bei den primitiven V\u00f6lkern die Grenze zwischen Tanz und Schauspielkunst nicht immer genau zu ziehen ist.\nBei den Illusionsk\u00fcnsten zeigt sich nun der Hauptfortschritt des Menschen \u00fcber das Tier darin, dafs den Tieren, abgesehen von der Poesie, noch Malerei und Plastik fehlen, die bei den Kindern und Primitiven schon bis zu einem gewissen Grade ausgebildet sind. Wenn man einem Affen eine kleine plastische Nachbildung eines Affen vorh\u00e4lt, so zeigt er, wie Grogs beobachtet hat, nur Neugier und Furcht, keine Freude, und wenn sich die bekannten V\u00f6gel des Zeuxis durch seine gemalten Trauben t\u00e4uschen liefsen oder Schwalben sich, wie Leonardo da Vinci erz\u00e4hlt, auf die gemalten Eisengitter eines blinden Fensters niedersetzen wollten oder Hunde einen gemalten Hund anbellten, so ist das \u2014 abgesehen von der Frage nach der Glaubw\u00fcrdigkeit dieser Nachrichten \u2014 nur eine Best\u00e4tigung der bekannten Thatsache, dafs die Tiere die Malerei als Spiel nicht kennen, also das Gef\u00fchl der bewufsten Selbstt\u00e4uschung auf die Betrachtung von Bildern nicht anzuwenden wissen.\nWollte man nun danach eine Bangabstufung der K\u00fcnste vornehmen, so k\u00f6nnte man das nur in der Weise thun, dafs man die aus den rein instinktiven Spielen der Tiere hervor-","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268\nKonrad Lange.\ngegangenen K\u00fcnste, also den Tanz, die Musik, die Architektur und die Ornamentik, am tiefsten, die erst vom Menschen ausgebildeten, d. h. Malerei, Plastik und Poesie, am h\u00f6chsten stellte. Man m\u00fcfste dabei aber nat\u00fcrlich die Einschr\u00e4nkung machen, dafs auch die zuerst genannten K\u00fcnste \u00fcber ihre primitive Stufe erhoben werden k\u00f6nnen und im sp\u00e4teren Verlaufe der Entwickelung thats\u00e4chhch erhoben worden sind. Und wenn wir fragen, wodurch das geschehen ist, so k\u00f6nnen wir auch Mer wieder nur sagen: Durch die bewufste Selbstt\u00e4uschung, d. h. dadurch, dafs der Mensch sie in der Form der bewufsten Selbstt\u00e4uschung ausbildete. Und er that das, indem er lernte, durch Darstellung von Formen oder Vortrag und Produktion Anderen, auch ohne dafs diese sich selbst bewegten und T\u00f6ne von sich gaben, rem durch das Mittel der sinnlichen Wahrnehmung gewisse Bewegungsillusionen und gewisse Scheinstimmungen mitzuteilen, die ihnen einen Genufs bereiteten.\nBei dieser Gelegenheit wird es endlich auch am Platze sein, die Frage nach der Einteilung der K\u00fcnste auf Grund der gewonnenen Resultate von neuem aufzunehmen. Das thut auch der Verfasser im letzten Abschnitt seines Buches. Er unterscheidet drei Prinzipien, die im Spiel und in der Kunst ihren Ausdruck finden sollen, das Prinzip der Selbstdarstellung, der Nachahmung und der Ausschm\u00fcckung. Zur Selbstdarstellung rechnet er beim Tier die Bewerbungsk\u00fcnste, beim Menschen den Erregungstanz, die Musik und die Lyrik, zur Nachahmung beim Tier die Nachahmungsk\u00fcnste, beim Menschen den Nachahmungstanz, die Mimik, Plastik, Malerei, Epik und das Drama, zur Ausschm\u00fcckung die Bauk\u00fcnste der Tiere und das Kunstgewerbe (besser vielleicht die Ornamentik) und die ArcMtektur (nebst Gartenkunst) des Menschen. Diese Einteilung hat nun aber zun\u00e4chst das Bedenkliche, dafs dabei die Ausschm\u00fcckung des menschlichen K\u00f6rpers, wie wir sie in so ausgesprochener Weise bei den primitiven V\u00f6lkern finden, nicht angemessen untergebracht wird. Denn diese Ausschm\u00fcckung, die doch ohne Zweifel die \u00e4lteste menschliche Kunst ist und sich unmittelbar aus dem Zeigen des Schmucks seitens der Tiere bei Gelegenheit der Bewerbung entwickelt, ist doch sicherlich sowohl Selbstdarstellung wie Ausschm\u00fcckung.\nFerner scheint es mir bedenklich, den Tanz in zwei Teile zu teilen und den Erregungstanz unter die Selbstdarstellung,","page":268},{"file":"p0269.txt","language":"de","ocr_de":"Gedanken tu einer \u00c4sthetik auf entwickdungsgeschichtlicher Grundlage. 269\nden Nachahmungstanz dagegen unter die Nachahmung einzureihen. Denn auch der letztere ist ja offenbar gleichzeitig Selbstdarstellung, wie man denn dasselbe auch von der Mimik sagen kann. Ich meine also, dafs sich der Begriff der Selbstdarstellung ebensowenig wie der der Bewerbung, des Instinkts oder der Nachahmung zum Einteilungsprinzip eignet, und m\u00f6chte deshalb eine andere Einteilung verschlagen:\n1.\tK\u00fcnste auf rein instinktiver Grundlage, die erst bei h\u00f6herer Ausbildung der Intelligenz zu Stimmungsk\u00fcnsten und K\u00fcnsten der Bewegungsillusion entwickelt werden:\na)\tbeim Tier und Kind: die Bewegung\u00bb-, Bau- und Sinnesspiele;\nb)\tbeim erwachsenen Menschen : Tanz, Musik (Lyrik), Architektur und Ornamentik.\n2.\tK\u00fcnste auf Grundlage der bewufsten Selbstt\u00e4uschung oder Illusionsk\u00fcnste im engeren Sinne des Wortes:\na)\tbeim Tier und Kind : die Illusions- und Nachahmungsspiele ;\nb)\tbeim erwachsenen Menschen: Schauspielkunst, Drama, Epik, Plastik und Malerei.\nDabei ist allerdings festzuhalten, dafs auch Vermischungen von zwei Spielen resp. K\u00fcnsten der beiden Bauptgattungen stattfinden k\u00f6nnen. Dazu geh\u00f6rt z. B. das Spiel des Kindes mit dem Baukasten, das gleichzeitig auf der reinen Freude an der Form und auf der Freude am Nachahmen wirklicher Bauten beruhen kann, die Ornamentik, die zum Teil Bewegungsund Farbenkunst d. h. Sinnesspiel ist, zum Teil aber auch auf der Nachahmung der Natur beruht, u. s. w. Aber dadurch wird das Einteilungsprinzip als solches nicht in Frage gestellt.\nWichtiger aber als diese Systematik, die ja wie jede Systematik nur einen praktischen, ich m\u00f6chte sagen, p\u00e4dagogischen Wert hat, ist eine Anzahl allgemeiner \u00e4sthetischer Resultate, die sich aus der nunmehr angebahnten \u00c4sthetik auf entwickelungsgesohichtlicher Grundlage ergeben werden. Vor allen Dingen werden die Fragen nach der Bedeutung der Kunst im menschHcheh Leben, nach ihrem sozialen Charakter, ihrer Beziehung zu den ernsten Lebensaufgaben des Menschen eine ganz andere und weit tiefere Beantwortung als bisher finden.\nEbenso wie das Spiel wird auch die Kunst k\u00fcnftig selbst","page":269},{"file":"p0270.txt","language":"de","ocr_de":"270\nKonrad Lange,\ndem n\u00fcchternsten Betrachter als ein m\u00e4chtiger Faktor im Kampf ums Dasein erscheinen, Denn wie noch das erwachsene Tier des Spieles bedarf, so bedarf auch der erwachsene Mensch der Kunst. Ist doch die Kunst nichts Anderes, als ein verfeinertes, wenn ich so sagen soll, durchgeistigtes SpieL Der Kunsttrieb ist der durch die Intelligenz unter Hinzutritt der nat\u00fcrlichen Auslese ausgearbeitete, verfeinerte und vermannigfaltigte Spielinstinkt. Und deshalb braucht auch der Erwachsene die Kunst zu denselben Zwecken, zu denen das erwachsene Tier des Spieles bedarf. Das ist so zu verstehen, Die Emsthandlungen des Menschen haben stets einen mehr oder weniger einseitigen Charakter. Sein Leben besteht, wie das ScbiMiBB in seinen Briefen \u00fcber die \u00e4sthetische Erziehung des Menschen ganz richtig ausgefuhrt hat, aus einem fortw\u00e4hrenden Wechsel zwischen Arbeit und sinnlichem Genufs. Und zwar werden bei der Berufsarbeit in der Regel nur einige wenige Kr\u00e4fte des menschlichen Geistes, diese aber in einseitiger Weise, in Anspruch genommen. Zahllose Gef\u00fchle, die in der Natur des Menschen liegen, hat er niemmk Gelegenheit, zu erproben. Es ist klar, was das f\u00fcr einen verh\u00e4ngnisvollen Einflufs auf die ganze Gattung haben w\u00fcrde \u2014 wenn uns nicht durch die Kunst ein Mittel gegeben w\u00e4re, diesen Mangel auszugleichen, Ein Beispiel mag das erl\u00e4utern.\nEs giebt Zeiten \u2014 ich meine damit besonders lange Friedenszeiten und solche, wo das politische und soziale Leben stagniert \u2014 in denen ein normaler Mensch oft Jahrzehnte lang keine Gelegenheit hat, gewisse Gef\u00fchle, die f\u00fcr die Erhaltung der Gattung n\u00f6tig sind, z. B. Mut, Vaterlandsliebe, Aufopferungsf\u00e4higkeit, Ehrgeiz, Todesverachtung, N\u00e4chstenliebe, praktisch zu beth\u00e4tigen. In vielen F\u00e4llen machen spezielle Verh\u00e4ltnisse selbst die Beth\u00e4tigung des Geschlecht triebes und der Kindesliebe dauernd oder auf lange Zeiten unm\u00f6glich. Hier bietet nun die Kunst eine Art Ersatz f\u00fcr das, was das Leben versagt hat. Der popul\u00e4re Sprachgebrauch sagt: Man braucht die Kunst, um sich zu erholen, arbeitsf\u00e4hig zu bleiben, nicht einseitig zu werden und zu verkn\u00f6chern. Das ist ja ganz richtig, aber das sind doch nur egoistische Gr\u00fcnde, die vom h\u00f6heren philosophischen Standpunkte aus wenig besagen wollen. Was n\u00fctzt es der Menschheit, ob ein einzelnes Individuum Freude an der Kunst hat oder nicht? Die Frage ist","page":270},{"file":"p0271.txt","language":"de","ocr_de":"Gedanken zu einer \u00c4sthetik auf entwickelungsgmcMclUlicher Grundlage. 271\nvielmehr vom entwiokelungsgesehichtliehen Standpunkt aufzufassen. Der Mensch bedarf der Kunst, um den Spielinstinkt in sich lebendig zu erhalten, der seinen Nachkommen, denen er ihn vererbt, im Kampfe ums Dasein unentbehrlich ist. Er mufs die Einseitigkeit seiner eigenen Ernstbesch\u00e4ftigung durch die k\u00fcnstliche d. h. spielende Erzeugung von Soheingef\u00fchlen in sich zu erg\u00e4nzen suchen, denn nur dadurch wird er f\u00e4hig, Nachkommen zu erzeugen, die auch nach einer anderen Richtung hin als er selbst produktive Gaben besitzen und eine produktive Th\u00e4tigkeit entfalten k\u00f6nnen. Und nur, indem er solche Nachkommen erzeugt, tr\u00e4gt er zur Erhaltung und Entwickelung der Gattung bei.\nDaher kommt es auch, dafs die Epochen der k\u00fcnstlerischen Bl\u00fcte h\u00e4ufig nicht mit den Epochen des kriegerischen Ruhmes oder der politischen Macht zusammenfallen. Unsere klassische Dichterperiode fiel in eine Zeit der politischen Erniedrigung und des stagnierenden sozialen Lebens. Aber gerade sie ist es gewesen, die den Aufschwung der Befreiungskriege vorbereitet hat. Die Gef\u00fchle von Mut und Ehre, von Bafs und Liebe, von Freiheit und Todesverachtung, die ein Schillbb in die Herzen der Menschen senkte, haben sich in der Zeit, wo sie keine praktische Beth\u00e4tigung finden konnten, durch Kunstgenufs erhalten und weitergebildet, bis sie dann, als die Not des Vaterlandes die Volksgenossen zur That rief, in glanzvoller Weise hervorbrachen und zum Siege f\u00fchrten.\nDas ist die Wahrheit des Satzes von der Verbindung der Kunst mit dem Leben, nicht die Lehre, dafs die Kunst in idealen H\u00f6hen \u00fcber der Wirklichkeit schwebe und mit dem Leben nichts zu thun habe, und auch nicht die Lehre, dafs sie immer nur grade die Gef\u00fchle, die der Ernst des Lebens eben in uns erregt, reproduzieren m\u00fcsse. Das ist, wenn man will, der Idealismus, das ist auch gleichzeitig der Realismus der Kunst.\nHiermit ist nun auch die einzige Form gegeben, in der man eine Tendenz in der Kunst f\u00fcr m\u00f6glich und berechtigt halten kann. Wie das Spiel ohne direkten Zweck, so ist auch die wahre Kunst ohne unmittelbare Tendenz. Die Kunst um der Kunst willen soll f\u00fcr den Erwachsenen ebenso das Ideal sein, wie das Spiel um des Spieles willen das Ideal des Kindes. Aber so wie das Spiel im h\u00f6heren entwickelungsgeschichtlichen Sinne doch einen","page":271},{"file":"p0272.txt","language":"de","ocr_de":"272\nKonrad Lange.\ngewissen Zweck hat, n\u00e4mlich die Ausbildung des K\u00f6rpers und die Vor\u00fcbung der sp\u00e4ter notwendigen Kr\u00e4fte, so hat auch die Kunst in demselben Sinne einen Zweck, n\u00e4mlich die Erhaltung und Verbesserung der Gattung durch Verst\u00e4rkung, Vertiefung und Vermannigfaltigung derjenigen Gef\u00fchle, die der Mensch im Kampf ums Dasein braucht, aber in der Einseitigkeit des Lebens nicht immer entwickeln kann. Und derjenige ist der wahrhaft grofse Dichter und K\u00fcnstler, der gerade f\u00fcr seine Zeit verm\u00f6ge seiner Intuition diejenigen Gef\u00fchle herauszugreifen versteht, die infolge der herrschenden politischen, sozialen und sonstigen Verh\u00e4ltnisse einer Beth\u00e4tigung im Spiele vor allem bed\u00fcrfen. Diese Gef\u00fchle soll er pflegen, das ist sein eigentlicher Beruf, das ist es, warum wir ihn einen Propheten, einen Seher nennen.\nAuf diesem Wege allein kann man auch, wie ich meine, zu einer metaphysischen Weiterbildung der \u00e4sthetischen Probleme gelangen, indem man n\u00e4mlich die Kunst eingliedert in die Fragen nach der Bestimmung des Menschengeschlechte, nach der Erhaltung und Verbesserung der Gattung Mensch. So wie die Ethik wissenschaftlich nur unter dem Gesichtspunkt der geistigen und k\u00f6rperlichen Verbesserung der menschlichen Rasse behandelt werden kann, so k\u00f6nnen auch in der \u00c4sthetik normgebende Gesetze nur unter diesem Gesichtspunkt aufgestellt und begr\u00fcndet werden.\nEs ist verlockend, diesen Gedanken auf die Kunst der Gegenwart anzuwenden, aber ich widerstehe der Versuchung und mache nur zum Schlufs noch darauf aufmerksam, dais auch die rein \u00e4sthetischen Streitfragen der Gegenwart durch diese neue Auffassung der \u00c4sthetik in eine Beleuchtung ger\u00fcckt werden, die manchen bisher streitigen Punkt der Entscheidung n\u00e4herf\u00fchrt. Dadurch, dafs die bewufste Selbstt\u00e4uschung nunmehr als \u00e4sthetisches Zentralprinzip definitiv erwiesen und \u201etief in den festen Grund der allgemeinen organischen Entwickelung verankerta ist, erhalten wir auch eine sichere Grundlage f\u00fcr unsere Stellung in dem Kampf zwischen idealistischer und realistischer \u00c4sthetik, der gegenw\u00e4rtig die Gem\u00fcter so sehr erhitzt. Es best\u00e4tigt sich, dafs die Auffassung des \u00e4sthetischen Scheins als einer wirklichen T\u00e4uschung, die von Plato ui\n\u00fcber Goethe bis herab auf Volkklt die ganze idealistische\n\u2022*\n\u00c4sthetik beherrscht hat, ein grofser Irrtum war, da ja die","page":272},{"file":"p0273.txt","language":"de","ocr_de":"Gedanken tu einer \u00c4sthetik auf mtwickelungsgeschichtlicher Grundlage,\t273\nT\u00e4uschung, die im Spiel und in der Kunst erregt wird, keine wirkliche, sondern eine bewufate oder, wie wir auch sagen k\u00f6nnen, spielende ist. Daraus geht aber unmittelbar hervor, dafs die sogenannten Idealisierungen im einzelnen Kunstwerk, inhaltliche sowohl wie formale, durchaus keine Bedingungen des Kunstgenusses und somit auch in keiner Weise notwendig sind. Andererseits zeigt sich aber auch, wie sehr die naturalistische \u00c4sthetik am Ziel vorbeigeschossen hat, wenn sie die Kunst nur f\u00fcr eine andere Form der Natur hielt und die Tendenz, das unmittelbare Eingreifen in den Kampf des Lebens, f\u00fcr ihre eigentliche Aufgabe erkl\u00e4rte. Den Vertretern dieser Ansicht mufste es bisher nat\u00fcrlich ein Dom im Auge sein, wenn man die Kunst als ein \u201eSpiel\u201c bezeiohnete. Aber auch sie werden sich vielleicht jetzt \u00fcberzeugt haben, dafs das, was wir unter Spiel verstehen, nicht etwas Leichtes und T\u00e4ndelndes, eines ernsten Mannes Unw\u00fcrdiges ist, sondern etwas so Ernsthaftes und Grofses, wie es nur irgend im Leben gedacht werden kann. Man hat fr\u00fcher wohl gesagt : das Spiel (und die Kunst) ist Nachahmung des Lebens, ein Kind des Lebens. Jetzt kann man den Satz umdrehen und mit damseiben, ja mit gr\u00f6fserem Beohte sagen : das Leben ist eine Nachahmung, ein Kind des Spieles und der Kunst. Gewifs ist das Leben nicht, wie manche wollen, des Spieles wegen da, sondern um der ernsten Th\u00e4tigkeit und ihrer h\u00f6heren Ziele willen. Aber diese ist nun einmal, wie wir gesehen haben, unm\u00f6glich ohne Spiel, und von der Art des Spiels h\u00e4ngt es zom grofsen Te\u00fc ab, ob die Ernsthandlungen des Lebens von Krfolg begleitet sein werden oder nicht. Dm hat auch Schilleb sehr wohl gewufst, als er das tiefe Wort aussprach: \u201eEmst ist das Leben, heiter ist die Kunst\u201c, ein Wort, das nur von oberfl\u00e4chlichen Beurte\u00fcem in dem Sinne aufgefafst werden kann, als ob Schiller damit der Kunst jeden ernsten Zweck abge-sprechen h\u00e4tte. Und wenn man nach alle dem die Aufgabe der Kunst im h\u00f6heren entwickelungsgesohiohtlichen Sinne formulieren soll, so kann man nur sagen: \u201eKunst ist die F\u00e4higkeit des Menschen, sich selbst und Anderen auf dem Soden der bewufsten Selbstt\u00e4uschung einen Genufs zu bereiten, der durch die Erweiterung und Vertiefung der menschlichen Anschauungen und Gef\u00fchle, die er bewirkt, zur Erhaltung und Verbesserung der Quittung beitr\u00e4gt.\u201c\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XIV.\n18","page":273}],"identifier":"lit30123","issued":"1897","language":"de","pages":"242-273","startpages":"242","title":"Gedanken zu einer \u00c4sthetik auf entwickelungsgeschichtlicher Grundlage: Gleichzeitig als Bericht \u00fcber Karl Groos, \"Die Spiele der Tiere\". Jena, Fischer, 1896. 359 S.","type":"Journal Article","volume":"14"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:05:01.488870+00:00"}