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{"created":"2022-01-31T12:32:14.515783+00:00","id":"lit30156","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Preyer, W.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 14: 321-328","fulltext":[{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"Farbenunterscheidung und Abstraktion in der ersten Kindheit.\n\nVon\nW. Pbeyeb.\nAls ich vor bald zwanzig Jahren anfing, die Entwickelung des Farbensinnes in der ersten Kindheit zu untersuchen, fehlte \u00a9s g\u00e4nzlich an Vorarbeiten und Methoden. Keine der zur Pr\u00fcfung des Farbensinnes Erwachsener erfundenen Verfahrungs-weisen liefs sich mit Aussicht auf guten Erfolg beim Kinde an wenden. Am meisten erhoffte ich noch von der alten Seebeck-schen Methode, da die Sortierung gleichartiger ungleichfarbiger Objekte (Marken, T\u00e4felchen u.dergl.) in gleichfarbige Gruppen bei gen\u00fcgend zahlreicher Vertretung jeder Farbe das Kind m\u00f6glicherweise wie ein neues Spiel erg\u00f6tzen konnte. Indessen fielen diese Versuche noch zu Anfang des dritten Lebensjahres sehr unbefriedigend aus wegen der Unm\u00f6glichkeit, die Aufmerksamkeit des Kindes hinreichend lange auf das Aussuchen und Zusammenlegen gerichtet zu halten. Die Fehler, welche gemacht wurden, konnten daher ebensowohl der Zerstreutheit wie etwa mangelhaftem Farbenunterscheidungsverm\u00f6gen zugeschrieben werden. Aus diesem Grunde nahm ich schon vom Anfang an die Farbenbenennung zu H\u00fclfe. Wenn ein Kind alle ihm auf gleich gestalteten, gleich grofsen, gleich glatten, gleich hellen, gleich nahen Fl\u00e4chen vorgelegten Farben richtig benennt, so unterscheidet es zweifellos die Farben in der Empfindung richtig. Durch Variationen dieses Einpr\u00e4gens der Farbennamen und Kombinationen mit dem obigen Verfahren, liefs sich nun zwar die Aufmerksamkeit etwas l\u00e4nger fesseln, aber die Ergebnisse waren im ganzen trotzdem wenig befriedigend. Die Versuche mufsten allzu oft wiederholt werden, und doch waren die Fortschritte im richtigen Benennen der\n21\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XIV.","page":321},{"file":"p0322.txt","language":"de","ocr_de":"322\nW. Prtym\\\nFarben nach, langen Zeitr\u00e4umen nur gering, manchmal zweifelhaft und Tor\u00fcbergehend. Als ein Nachteil dieses Verfahrens kommt noch hinzu, dafs von Benennungsfehlem vollkommen freie Beobachtungsreihen von einiger Ausdehnung kaum je erzielt werden k\u00f6nnen. Solange das Kind aber einzelne Farben falsch benennt, kann, eine partielle Farbenblindheit oder Unterempfindlichkeit f\u00fcr Farbenunterschiede weder ausgeschlossen noch angenommen werden, da die Fehler zum Teil durch Unaufmerksamkeit\u00bb zum Teil durch die dem Kinde un\u00fcberwindliche Schwierigkeit, die ihm an und f\u00fcr sich inhaltleeren Schalleindr\u00fccke blau, gelb, gr\u00fcn u. s. w. in seinem Ged\u00e4chtnisse fest mit den vorgelegten zugeh\u00f6rigen Farben zu verkn\u00fcpfen\u00bb bedingt sein k\u00f6nnen. Die Farbennamen sind noch zu abstrakt. Das Kind stellt sich dabei nichts vor, weil es die stets an der Oberfl\u00e4che haftende Farbe eines Gegenstandes von dem Gegenst\u00e4nde selbst nicht zu trennen und als Gedankending f\u00fcr sich ohne Anschauliches in seinem Ged\u00e4chtnis nicht aufzubewahren vermag. Es hat noch zu wenig \u00dcbung im Abstrahieren.\n\u00c4hnlich auf anderen Gebieten. Nur zwei Beispiele. Zeichne ich dem Kinde einen Kreis hin und sage: \u201eDas ist ein Kreis\u201c, so sagt es \u201eTeller\u201c und nennt kleine Halbkreise, wie schwarze T\u00fcpfel, \u201eV\u00f6gelchen\u201c.\nNachdem ich l\u00e4ngst die \u00dcberzeugung gewonnen hatte\u00bb dafs mein Sohn die T\u00f6ne c de als verschieden\u00a9 T\u00f6ne empfand, waren alle Bem\u00fchungen, ihm beizubringen, dafs sie c d und e heifsen, vergeblich. Die abstrakten, dem Kinde sinnlosen Bezeichnungen c d e konnten mit den richtig empfundenen T\u00f6nen nicht dauernd verkn\u00fcpft werden.\nIch bekenne, oft und lange nach einer Methode gesucht zu haben, um wenigstens f\u00fcr die Farben di\u00a9 erw\u00e4hnten Schwierigkeiten zu beseitigen. Es gelang nicht. Andere waren aber auch nicht gl\u00fccklicher. Alle, die meine Versuche mit und ohne Modifikationen, mit und ohne Zuh\u00fclfenahme der Farbennamen wiederholt haben, widersprechen einander, und die allzu oft bei Widerspr\u00fcchen der mit unzul\u00e4nglichen Methoden arbeitenden Forscher zur Erkl\u00e4rung angef\u00fchrten \u201eindividuellen Verschiedenheiten der Kinder\u201c mufsten auch hier herhalten. Sie reichen allerdings f\u00fcr manche F\u00e4lle wohl aus, aber nicht f\u00fcr alle Divergenzen der Autoren. Wenn ein und dasselbe intelligente Kind an zwei aufeinanderfolgenden Tagen nach","page":322},{"file":"p0323.txt","language":"de","ocr_de":"Farbenunterscheidung und Abstraktion in der ersten Kindheit.\t323\nverschiedenen Methoden gepr\u00fcft wird und bez\u00fcglich der Farben-erkennung g\u00e4nzlich verschiedene Resultate liefert, so wird di\u00a9 Schuld mehr auf die Methoden und St\u00f6rungen, z. B. Suggestionen, als auf individuelle Besonderheiten zu schieben sein. Dann d\u00fcrfen auf letztere aber auch die Abweichungen verschiedener Kinder voneinander nicht ausschliefslich bezogen werden.\nIch gab deshalb die Hoffnung nicht auf, \u00a9ine neue bessere Methode zu finden oder in Erfahrung zu bringen. Diese Hoffnung hat sich, trotz der namentlich in Nord-Amerika seit Jahren m\u00e4chtig anschwellenden Litteratur \u00fcber die geistig\u00a9 Entwickelung in der Kindheit, erst vor Kurzem erf\u00fcllt, und zwar ist es \u00a9in\u00a9 Frau, ein\u00a9 ihr T\u00f6chterchen mit \u00e4ufserster Schonung und doch sehr gr\u00fcndlich beobachtende junge Mutter, di\u00a9 das richtige Prinzip gefunden hat. Ich bezweifle, ob \u00fcberhaupt ein Mann es ohne weibliche H\u00fclfe jemals gefunden haben w\u00fcrde, denn M\u00e4nner halten sich .in der Regel .in Kinderstuben nicht lange auf und versetzen sich viel schwerer in den Gem\u00fctzustand ihrer Kinder, als M\u00fctter.\nFrau Professor E. Dehio in Dorpat hat das Verdienst, den neuen psychologischen Kunstgriff ersonnen zu haben, und teilt mir in einem sorgf\u00e4ltigen Bericht \u00fcber die geistige Entwickelung ihres erstgeborenen Tochterchens Adelheid (geb. 22. Mai 1894) mit, wie sie darauf verfiel, mich um mein Urteil ersuchend.\nEs war ihr aufgefallen, wie sp\u00e4t das gut entwickelte Kind die Farben zu benennen anfing. Im 25. Lebensmonat wurde \u00fcberhaupt keine Farbe benannt, obgleich Rot ihr seit Monaten h\u00e4ufig vorgesagt worden war. Im 28. Monat wird endlich Rot zum ersten Mal\u00a9 richtig benannt und bezeichnet, im 27. auch Schwarz und Weifs. Mit den W\u00f6rtern Gr\u00fcn, Blau und Lila \u201ewird auf gut Gl\u00fcck um sich geworfen\u201c. Gelb war dem Kinde nur selten vorgesagt worden. Erst gegen Ende des 27. Monats kam die \u201eFarbentafel zur Erziehung des Farbensinnes\u201c von Magnus (1879) zur Anwendung, die ich vorzugsweise benutzt und empfohlen hatte. Aus der Gesamtheit aller Oval\u00a9 mufste A. zun\u00e4chst alle roten heraussuchen, auf Veranlassung, aber ohne Suggestionen der Mutter. Es gelang, insofern nur ein helles (blasses, weifsliches) Oval zur\u00fcckblieb. Mit Blau und mit Gr\u00fcn mifslang jedoch der Versuch vollst\u00e4ndig. In diesem\n21*","page":323},{"file":"p0324.txt","language":"de","ocr_de":"324\nW. Prtyer.\nFalle versagte also die SEEBECKsche Methode ganz und gar, denn das Kind war nicht farbenblind, wie das Folgende zeigt.\nAm n\u00e4chsten Tage wurden ihm die dunkelsten Farbenovale, eines nach dem anderen, in die Hand gegeben mit dem Bedeuten, eie auf di\u00a9 entsprechenden der Farbentafel zu legen. \u00c2. war eifrig dabei. Bot legte sie zwar anfangs auf Purpur, als ihr aber gesagt worden, es sei falsch, richtig auf Bot, Blau zuerst auf Dunkelbraun, dann auf ein helleres Blau. Gelb, Braun, Violett, Purpur, Gr\u00fcn wurden sogleich richtig gelegt, Schwarz nach einigem Hin- und Hersuchen auf eine hellere Fl\u00e4che. Orange wurde \u00fcberhaupt nicht gefunden.\nBei diesen und allen folgenden Versuchen best\u00e4tigte sich meine Erfahrung, dafe nur die erste Versuchsreihe verwertet werden darf, da durch Zerstreutheit und Abspannung in jeder folgenden desselben Tages \u201eein viel schlechterer Erfolg erzielt0 wird.\nAm, n\u00e4chsten Tage, dem 1. des 28. Monats, legte A. Purpur, Bot, Gelb, Blau, Gr\u00fcn, Schwarz, Orange richtig, aber Braun auf Schwarz und Violett auf Blau.\nAm 2. Tage des 28. Monats wurden alle 9 Kartons richtig gelegt, am 3. ebenso alle bis auf Schwarz, das auf ein helleres Oval geriet.\nBei 4 weiteren Versuchen innerhalb der folgenden 11 Tage kamen im ganzen \u25a0\u2014 ohne die geringste Ab\u00e4nderung des Verfahrens \u2014 nur 5 Fehler vor : zweimal wurde Violett auf Blau, zweimal Bot auf Purpur und einmal Bot auf Orange gelegt.\nHiernach war es der Mutter nicht mehr zweifelhaft, da\u00fc A. die Hauptfarbenunterschiede wahrnahm, zumal sie die Fehler meist schnell verbesserte, wenn man sie darauf aufmerksam, machte. Aber in eben dieser Zeit war das Kind nicht .im st\u00e4nde, die Farben richtig zu benennen, aufser Schwarz und Bot, wobei Scharlach und Purpur mit als Bot galten. Mit den Benennungen Blau, Gr\u00fcn, Gelb, Lila warf A. dagegen \u201ehoffnungslos um sicha. Die Mutter meinte, das Kind interessiere sich im ganzen nicht f\u00fcr Farbenunterschiede. Damit steht jedoch der beim Sortieren nur durch ihre F\u00e4rbung voneinander zu unterscheidender Objekte bekundete Eifer nicht im Einklang. Dann meinte sie, das Kind betrachte die Farbe als etwas zum Objekt geh\u00f6riges, das es \u201enicht davon zu abstrahieren und einem anders gestalteten, gleichfarbigen beizulegen\u201c wisse.","page":324},{"file":"p0325.txt","language":"de","ocr_de":"Farbenunterscheidung und Abstraktion in der ersten Kindheit 326\nAuch diese Vermutung trifft nicht zu; denn andere .Kinder k\u00f6nnen leicht, wie das meinige, die Farbe von einem Objekte auf* andere anders gestaltete \u00fcbertragen. So nannte der Sohn der Frau Stanley Hall1 schon in der 46. Lebenswoche allerlei bewegte schwarze Gegenst\u00e4nde, wie Schuhe, Pantoffeln gehender Menschen, einen geschleuderten Fufsball \u201e Kitty \u201c, weil seine schwarze Katze so hiefs. Nicht eine solche echt kindliche rein induktive Generalisation fiel \u00c0. schwer, sondern die Abstraktion der Farbe f\u00fcr sich ohne ihre \u00dcbertragung auf einen anderen bekannten Gegenstand, an dessen Namen dann jenes Abstractum haften bleiben konnte wie \u201e Kitty Dieser Gedanke mufs auch Frau D. vorgeschwebt haben, obsohon sie es nicht erw\u00e4hnt; denn sie schreibt: \u201eAuf folgende Weise nun suchte ich das Interesse des Kindes auf die Farbenunterschiede zu richten; ankn\u00fcpfend an Erlebnisse des Strandaufenthaltes lege ich vor di\u00a9 Klein\u00a9 auf den Tisch die gr\u00fcnen Farbenovale als \u201eHeuschlag\u201c, die blauen als \u201eMeerwasser\u201c, die gelben zu zwei und zwei als \u201eBadebr\u00fccke\u201c und aus den braunen wird das \u201eBadehaus\u201c gelegt, ein schwarzes ist \u201eBank\u201c; ein rotes K\u00e4rtchen stellt das Kind und ein lila K\u00e4rtchen di\u00a9 Mama vor, welche beide \u00fcber den Badesteg ins Badeh\u00e4uschen gef\u00fchrt werden und alsdann ins Meerwasser springen. Diese ganze Veranstaltung macht der Kiemen grofses Vergn\u00fcgen und sie lernt sehr schnell die Farbenk\u00e4rtchen fehlerlos sortieren und benennen. Anstatt der Benennungen \u201egr\u00fcn, gelb, braun und blau\u201c wird \u201eHeuschlag, Badebr\u00fccke, Badehaus und Meerwasser\u201c gebraucht und verstanden. Einmal werden die hellsten braunen Ovale f\u00fcr gelb angesehen; im ganzen kommen keine Fehler vor.\u201c\nGegen Ende des 30. Monats wurden, aufser den neun dunkeln Farben, auch hellere Schattierungen auf der Farbentafel richtig gefunden, zwar nicht jedesmal sicher und nicht schnell, aber so h\u00e4ufig korrekt, dafs ein Zufall ausgeschlossen ist. Dann heifst es:\n\u201eMeine These w\u00e4re also die, dafs das Auge des Kindes viel fr\u00fcher f\u00e4hig ist, die Farbenunterschiede wahrzunehmen, als sein Interesse es dazu dr\u00e4ngt, sich die sie bezeichnenden Namen einzupr\u00e4gen.\u201c\n1 The Child-study Monthly. Vol. II. Jan. 1897. No. 8. S. 460. Chicago-New York. Werner School Book Company.","page":325},{"file":"p0326.txt","language":"de","ocr_de":"326\nW. Frei\nIn dieser Form spricht die allzubescheidene These nur eine l\u00e4ngst bekannte Thatsache aus, die sich schon in der ersten (im Jahre 1881 erschienenen) Auflage meines Buches \u00fcber \u201eDie Seele des Kindes\u201c (S. 7) angegeben findet. Das Neue, was Frau Dehio gefunden hat, ist nicht diese These, sondern ein sicheres Mittel, um jene fehlende Abstraktion bei der Benennung der Farben zu wecken und zu erhalten, so dafs das Kind mit Leichtigkeit in k\u00fcrzester Frist sie richtig benennen lernt mit den Namen ihm bekannter und interessanter konkreter Objekte von der betreffenden Farbe. Nahrungsmittel, die das Kind oft gesehen hat, auch Kleider, w\u00fcrden ohne Zweifel sich sehr gut zu dieser neuen Art des Unterrichtens mit H\u00fclfe der fast immer regen Kinderphantasie eignen. Es sei z. B. \u201eWeifs\u201c die Milch, \u201eGelb\u201c die Butter, \u201eBraun\u201c der Zwieback, \u201eGrau\u201c das Brod, \u201eGr\u00fcn\u201c der Apfel, \u201eRot\u201c die Mama, \u201eBlau\u201c das Kind, \u201eSchwarz\u201c der Pudel, so l\u00e4fst sich daraus mehr als ein lustiges Kindergeschiohtchen Zusammenlegen und durch solche mnemotechnische Kunstgriffe sich schon bei sehr jungen Kindern der Farbensinn im buchst\u00e4blichen Sinne spielend erziehen und gleichzeitig eine Benennung der Farben herbeif\u00fchren, w\u00e4hrend bisher alle anderen Versuche scheiterten.\nAufserdem ist diese Methode auch auf andere Gebiete anwendbar, wenigstens mufs ich es nach gelegentlichen Beobachtungen f\u00fcr h\u00f6chst wahrscheinlich halten. Man lasse ein Kind, dem schlechterdings nicht beizubringen ist, dafs drei bestimmte T\u00f6ne c d e heifsen, zuerst ein ungestrichenes c\u00b0 h\u00f6ren und sage dazu: \u201eDas ist die Kuh (muh-kuh)\u201c, hierauf das eingestrichene d' mit den Worten: \u201eDas ist der Hund (wau-wau)\u201c, endlich das zweigestrichene e\" als: \u201eV\u00f6gelchen (piep-piep)\u201c, dann wird das Kind bei Wiederholung der drei T\u00f6ne nach einer gewissen Zeit sie ohne Zweifel mit den drei Tiemamen, sich der betreffenden aufserordentlich verschiedenen Tierstimmen erinnernd, richtig bezeichnen. Durch allm\u00e4hliche Verminderung der beiden grofsen Tondistanzen kann man dann nach und nach mehr T\u00f6ne mit festen phantastischen Benennungen dem K\u00fcnde, falls es \u00fcberhaupt Geh\u00f6r hat, einpr\u00e4gen und die richtigen Bezeichnungen sp\u00e4ter folgen lassen. Ich habe hier z. Z. keine gute Gelegenheit, kleine Kinder in dem erforderlichen Ent-wickelung8stadium zu beobachten. Vielleicht stellt ein Leser dieser Zeitschrift oder dessen Gattin den einfachen Versuch an","page":326},{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"Farbenunterscheidung und Abstraktion in der ersten Kindheit.\t327\nund berichtet dar\u00fcber. Die genetische Psychologie mufs ihr Thatsachenmaterial da holen, wo es zu finden ist, und in dieser Hinsicht wird sie die Kinderstube besonders reich an ungehobenen Sch\u00e4tzen finden.\nSohliefslich sei noch die grofse p\u00e4dagogisch\u00a9 Bedeutung der neuen Methode hervorgehoben. Ihre Ergebnisse zeigen schlagend, wie verkehrt es ist, kleinen Kindern abstrakte Dinge direkt zum Verst\u00e4ndnis bringen zu wollen \u2014 sie k\u00f6nnen noch nicht richtig und konsequent abstrahieren, weil die Assoziationsbahnen ihres Gehirns (Flechsios Assoziationszentren) wegen zu geringer Erfahrung noch nicht ausgebildet sind \u2014 w\u00e4hrend das, was der Lehrer zu erreichen w\u00fcnscht, unter Umst\u00e4nden spielend leicht durch Anwendung passend gew\u00e4hlter Anschauungsmittel erzielt werden kann.\nEs giebt aber abstrakte Gebilde, welche weder in dieser Weise, noch anderswie dem Kinde klar gemacht werden k\u00f6nnen, weil sie an sich unklar sind. So z. B. die Begriffe Freiheit, Materie, Kausalit\u00e4t. Ich bin .in jungen Jahren durch die Unm\u00f6glichkeit, trotz des besten Willens und angestrengten Nachdenkens, mir bei den Worten Ursache und Wirkung im wissenschaftlichen Gebrauch etwas Klares vorzustellen, jahrelang beunruhigt worden, da ich, in der Meinung, Andere seien dazu im st\u00e4nde, an einen Mangel meines Denkapparats zu glauben geneigt war. Nachdem ich aber erfahren hatte, wie aufserordentlich vers\u00e7hieden die gr\u00f6fsten Philosophen und Naturforscher den Begriff der Ursache auffassen \u2014 man vergleiche z. B. Descartes, Francis Bacon, Spinoza, Kant, John Stuart Mill, Robert Mater in diesem Punkte miteinander \u2014 und wie willk\u00fcrlich man im Laufe der Entwickelung der Naturwissenschaft mit dem angeblich fundamentalen Begriffe der Kausalit\u00e4t umsprang, als wenn er eine Modesache w\u00e4re, da gewann ich die \u00dcberzeugung, dafs die unklaren Begriffe Ursache und Wirkung f\u00fcr die Erforschung der Welt nicht allein \u00fcberfl\u00fcssig, sondern auch sch\u00e4dlich sind.\nNoch heute sind die Ursachen im strengsten wissenschaftlichen Sinne, wie die Kr\u00e4fte in der Physik und Bio-logie, nichts als die letzten \u00dcberbleibsel der m\u00e4rchenhaften Phantasiegebilde des Kindes. Das Weihnachtsgeschenke spendende Christkindchen, der Knecht Ruprecht, di\u00a9 Heinzelm\u00e4nnchen und Kobolde, dann die Fetische und Amulette u. s. w.","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328\nbis zu den abstrakten Erdgeistern, die die Pflanzen wachsen machen, und dem lieben Gott, der die Wolken in Regen verwandelt \u2014 sind moderne Beispiele von phantastischen Ursachen, welche das Kind, oft unter kr\u00e4ftiger Beih\u00fclfe unkritischer M\u00fctter und Erzieherinnen, in die Natur verlegt, aber niemals in ihr findet. Denn Ursachen und Wirkungen giebt es \u00fcberhaupt in der Natur nicht. Die Geschehnisse der Welt verlaufen vielmehr vollkommen unabh\u00e4ngig von den allein der menschlichen Einbildung entspringenden Fiktionen, den Ursachen, Kr\u00e4ften, Trieben u. s. w. Nicht der Kausalnexus h\u00e4lt die Welt zusammen, sondern der Funktionsnexus. Jener ist unklar, dieser ganz klar. Mit seiner H\u00fclfe allein kann der Forscher den wahren Zusammenhang der Geschehnisse verstehen lernen, indem er die Art ihrer Abh\u00e4ngigkeit voneinander ermittelt. Diesen funktionellen Zusammenhang kann aber das Kind nicht begreifen, weil schon der Begriff der Funktion zu seiner Bildung mehr Abstraktion erfordert, als es aufbringen kann. Ihm gen\u00fcgen vorl\u00e4ufig die landl\u00e4ufigen, anthropomorphen, oft \u2014 wie einst die G\u00f6tter Griechenlands \u2014 grob personifizierten treibenden Kr\u00e4fte, welche die Angeh\u00f6rigen in reichlicher Anzahl ihm anbieten.\nSo macht das Kind in Betreff der Kausalit\u00e4t ziemlich denselben Entwickelungsgang durch, welchen die Kulturmenschheit im Grofsen \u00fcberwunden hat und es mufs ihm, selbst lange nach seiner M\u00fcndigkeit, schwer werden, die aus den fr\u00fcheren Vorstellungen \u00fcber Ursache und Wirkung gleichsam abdestillierten Annahmen \u00fcber Bewegungsursachen, wie Schwerkraft, Lebenskraft u. s. w. als \u00fcberfl\u00fcssige und sch\u00e4dliche, weil unklare Erfindungen zu verwerfen und statt dessen die Erkenntnis der funktionellen Abh\u00e4ngigkeit aller Erscheinungen voneinander als das h\u00f6chste erreichbare Ziel zu erkennen, nachdem es eine \u00dcberf\u00fctterung seiner Phantasie mit M\u00e4rchen \u00fcberstanden hat. Durch eine solche wird ein etwas sentimentaler Kultus der sogenannten Eiinderpoesie viel mehr gef\u00f6rdert \u2014 zum Schaden des Kindes, zum Erg\u00f6tzen der Angeh\u00f6rigen \u2014, als die normale Entwickelung des angeborenen Verstandes \u2014 dieses kostbarsten Produktes einer unermefslich langen phylogenetischen Entwickelung \u2014 beg\u00fcnstigt.","page":328}],"identifier":"lit30156","issued":"1897","language":"de","pages":"321-328","startpages":"321","title":"Farbenunterscheidung und Abstraktion in der ersten Kindheit","type":"Journal Article","volume":"14"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:32:14.515789+00:00"}