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{"created":"2022-01-31T12:32:18.498214+00:00","id":"lit30181","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Witasek, Stephan","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 14: 401-435","fulltext":[{"file":"p0401.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Psychologie der Komplexionen.\nVon\nDr. Stephan Witarek.\nAn den Vortrag \u00fcber die \u201eAuffassung von Ver\u00e4nderungen\u201c, den Dr. Stern auf dem letzten Psychologenkongrefs gebalten hat, schlofs sieb eine Diskussion an, zu der ich nun1 noch nachtr\u00e4glich das Wort ergreifen m\u00f6chte. Dafs ich es nicht gleich damals that, hatte seinen Grund vornehmlich darin, dafs ich das, was ich zu sagen habe, nicht mit der bei einer solchen Gelegenheit n\u00f6tigen K\u00fcrze und Knappheit h\u00e4tte verbringen k\u00f6nnen. Jedoch als Einleitung zu den zwei folgenden Studien \u2014 die \u00fcbrigens nebenbei bemerkt zur Zeit des Kongresses im wesentlichen l\u00e4ngst fertig gestellt waren \u2014 d\u00fcrfte dieser Nachtrag, da er denselben Gegenstand betrifft wie sie, ganz gut vorzubringen sein. Die Wichtigkeit der Sache und das Interesse, das ihr gelegentlich jenes Vortrages entgegengebracht worden ist, berechtigt mich wohl, anzunehmen, dafs ich auch heute noch nicht zu sp\u00e4t komme.\nGegenstand der Diskussion waren die Ausf\u00fchrungen, die Dr. Stern der Ver\u00e4nderangs Wahrnehmung gewidmet hatte. Er wies darauf hin, dafs sich die Vorstellung der Ver\u00e4nderung auf von einander grundverschiedene psychische Vorg\u00e4nge auf bauen k\u00f6nne. Vergleichen wir zwei zeitlich getrennte Zust\u00e4nde eines und desselben Dinges 'und finden wir sie verschieden, so kommen wir zur \u00dcberzeugung, dafs an dem Dinge eine Ver\u00e4nderung vor sich gegangen sein m\u00fcsse; die Ver\u00e4nderungsvorstellung, die wir auf diesem Wege erhalten, ist eine un-\n1 nachdem, ich auf den eben erschienenen Bericht \u00fcber dem HI. internationalen Kongrefs f\u00fcr Psychologie, M\u00fcnchen, Lehmann 1897, verweisen kann.\nZeitschrift filr Psychologie XIV.\n26","page":401},{"file":"p0402.txt","language":"de","ocr_de":"402\nanschauliche, indirekte, das Produkt eines Schlulsverfahrens. Wenn wir aber den Sekundenzeiger einer Uhr oder bei rascher Verdunkelung der Lichtquelle die Helligkeit eines Bogens Papier betrachten, so sehen wir die Ver\u00e4nderung, und von der Notwendigkeit eines Vergleichens ist keine Bede. Dr. Stken nennt das die \u201eeigentliche oder direkte Wahrnehmung von Ver\u00e4nderungen\u201c und charakterisiert sie als \u201ediejenige, in der alle wesentlichen Faktoren der Ver\u00e4nderung, insbesondere zeitlicher Ablauf, Stetigkeit und successive Verschiedenheit, unmittelbarer Bewusstseinsinhalt sind. Vorbedingung dessen ist, da\u00a3s ein zeitlich ausgedehnter Bewufstseinsakt eine psychische Einheit bilden, d. h. in seiner Gesamtheit Grundlage einer einheitlichen Auffassung werden kann.\u201c1 \u2014 Als dritte Art von Ver\u00e4nderungsauffassung macht Dr. Stern schlie\u00dflich die durch momentane Wahrnehmung zu st\u00e4nde kommende namhaft. \u201eInsofern ein einzelner Wahmehmung8m ornent alle den Ver\u00e4nderungseindruck konstituierenden Faktoren enth\u00e4lt, bezeichne ich seinen Inhalt als ,\u00dcbergang8zeichen\u2018, d. h. es handelt sich nicht um direkte Wahrnehmung der Ver\u00e4nderung, (denn hiezu geh\u00f6rt Wahrnehmung des zeitlichen Ablaufs), sondern um ein psychisohes Gebilde von charakteristischer Eigenart, das auf Grund fr\u00fcherer Erfahrungen Ver\u00e4nderung-anzeigend gedeutet wird.\u201c1\nIch weifs nicht, ob diese Auseinandersetzungen Dr. Ste\u00e4ns eine Erweiterung jener theoretischen Darlegungen bedeuten, die er schon an anderer Stelle \u00fcber diesen Gegenstand vorgebracht hat. In seiner Arbeit \u00fcber \u201edie Wahrnehmung von Helligkeitsver\u00e4nderungen\u201c5 wenigstens unterscheidet er blo\u00df zwischen momentaner und indirekter Auffassung (durch Vergleichen). Die \u201eeigentliche\u201c Ver\u00e4nderuUgs Wahrnehmung, die er in seinem Vortrage charakterisiert hat, bleibt dort unerw\u00e4hnt. Ob er vielleicht die visuelle Bewegungsvorstellung, wie er sie in seiner Arbeit \u00fcber \u201edie Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges\u201c4 analysiert, als einen solchen Thatbestand hinstellt, ist mir nicht v\u00f6llig sicher.\nSo viel aber ist klar, dafs die momentane und die eigentliche Ver\u00e4nderung8wahmehmung einander viel n\u00e4her stehen\n^^rnmmmmm\t*\n1 S. Kongre\u00dfbericht. S. 186.\n*\tEbenda.\n\u2022\tDiese Zeitsehr. Bd. VII. S. 249 ff.\n4 Diese Zeitsehr. Bd. VH. S. 321 ff.","page":402},{"file":"p0403.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Psychologie der Komplexionen.\n403\nals der indirekten. Schon der unmittelbare psychische Aspekt spricht deutlich genug daf\u00fcr, und ich bin daher eher geneigt, den Umstand, dafs Dr. Stern urspr\u00fcnglich von der \u201eeigentlichen\u201c Ver\u00e4nderungswahrnehmung gar nicht gesprochen hat, dahin zu 'verstehen, dafs er sie im grofsen und ganzen mit der Mornentan-wahmehmung mit behandelt zu haben meint, als dafs er sie ganz \u00fcbersehen h\u00e4tte.\nIch m\u00f6chte aber noch um einen Schritt weiter gehen und sagen: Die momentane und die eigentliche Wahrnehmung sind einander wesensgleich. Diese Ansicht st\u00fctze ich auf folgende \u00dcberlegungen.\nDie momentane Ver\u00e4nderungswahrnehmung stellt sich nach Stern im wesentlichen folgendermafsen dar. Es liege ein Reiz -Bi vor, dem die Empfindung Et entspricht; dieser Reiz Rt gehe nun in einem bestimmten Zeitpunkt in den davon verschiedenen (aber demselben Gebiete angeh\u00f6rigen) Reiz \u00df8 \u00fcber; diesem \u00dfg entspricht ein E%. W\u00e4hrend nun auf Seite der physikalischen Reize nichts Anderes gegeben ist als B, und dann Bj, entsteht auf psychischer Seite aufser den diesen Reizen entsprechenden Empfindungen Ex und Et noch etwas Drittes, ein x1 das im Momente des \u00dcberganges von Et nach E% aktuell wird und uns die \u00dcberzeugung vermittelt, dafs eine Ver\u00e4nderung stattgefunden habe.\nBesehen wir uns demgegen\u00fcber einen Fall der eigentlichen Ver\u00e4nderungswahrnehmung. Auf Seite der Reize findet z. B. ein kontinuierlicher \u00dcbergang von \u00df. nach \u00dfw in bestimmter Geschwindigkeit statt. Was hegt auf psychischer Seite vor? Zun\u00e4chst gewifs die Reihe der Empfindungen von 2?\u00ab bis En, und auf Grund dieser Empfindungsreihe ergiebt sich uns die anschauliche Wahrnehmungsvorstellung einer Ver\u00e4nderung. Nun taucht aber die Frage auf, wie kommt es denn, dafs wir in diesem Falle unmittelbar zum Bewufstsein einer Ver\u00e4nderung kommen, w\u00e4hrend wir, wenn die Ver\u00e4nderungsgeschwindigkeit unter einer gewissen Grenze bleibt, dazu erst eines Vergleiches des Anfangs- mit dem, Endstadinm. bed\u00fcrfen? Beide Male handelt es sich ja um eine kontinuierlich sich ver\u00e4ndernde Reihe von Reizen, der beide Male eine allm\u00e4hlich sich ver\u00e4ndernde Empfindung entspricht. Wie kommt es, dafs wir bei gr\u00f6fserer Geschwindigkeit des Vergleiches entbehren k\u00f6nnen? Daran kann es nicht liegen, dafs hier das Ver\u00e4nderungsergebnis\n26*","page":403},{"file":"p0404.txt","language":"de","ocr_de":"schon innerhalb so kurzer Zeit merklich ist, innerhalb welcher es bei geringer Geschwindigkeit die Merklichkeitsschwefle noch nicht erreicht. Denn Merklichkeit und Unmerklichkeit kommen erst dort in Betracht, wo verglichen wird; das ist aber gerade bei der eigentlichen Ver\u00e4nderungs Wahrnehmung nicht der Fall. Was ist es also, das die Funktion des bei geringer Geschwindigkeit notwendigen Vergleichen, n\u00e4mlich zur Erkenntnis der Ver\u00e4nderung zu f\u00fchren, bei gr\u00f6fserer Geschwindigkeit ersetzt?\nHaben wir die Antwort auf diese Frage vielleicht darin gegeben, dafs bei der eigentlichen Wahrnehmung von Ver\u00e4nderung \u201ealle wesentlichen Faktoren der Ver\u00e4nderung, insbesondere zeitlicher Ablauf, Stetigkeit und successive Verschiedenheit unmittelbarer Bewufstseinsinhalt sind?\u201c Da m\u00fcssen wir uns vorerst dar\u00fcber klar werden, was hier mit dem Ausdruck \u201eunmittelbarer Bewufstseinsinhalt sein\u201c, gemeint ist. Er kann heifsen, dafs der betreffende Wahmehmende an das Vorhandensein des zeitlichen Ablaufes, der Stetigkeit etc. ausdr\u00fccklich denkt, darum weifs, dar\u00fcber urteilt. Ist das in unserem Falle gemeint? Nein; von der Notwendigkeit eines solchen Urteils zum Zustandekommen der anschaulichen Ver\u00e4nderungsauffassung ist keine Bede \u2014 wenn auch der Vorgang so beschaffen sein mufs, dafs es sich m\u00fcfste mit Evidenz f\u00e4llen lassen. \u2014 Heilst also der fragliche Ausdruck blos, dafs Stetigkeit etc. vorgestellt werden? Wohl auch nicht; viel eher, dafs etwas Stetiges, zeitlich Ablaufendes und sich successive Ver\u00e4nderndes in der WahrnehmungsvorStellung sei. Doch auch damit kann der Sinn des Ausdruckes nicht v\u00f6llig getroffen sein; denn das tr\u00e4fe ja gerade so gut f\u00fcr den Thatbestand zu, der den Umweg tiber\u2019s Vergleichen braucht, da auch in diesem Falle der Beiz Vorgang und demgem\u00e4fs wohl auch der Empfindungsvorgang die genannten Eigenschaften aufweist. Ja \u2014 k\u00f6nnte man dem gegen\u00fcber wieder sagen \u2014 bei der indirekten Ver\u00e4nderungsauffassung sind diese Eigenschaften allerdings gegeben, aber sie werden nicht aufgefafst. Freilich ; das heifst aber nichts Anderes, als dafs zwischen unserem Verhalten zur Stetigkeit, successiven Ver\u00e4nderung etc. bei indirekter Ver\u00e4nderungsauffassung einer- und bei anschaulicher andererseits genau dieselbe Verschiedenheit besteht wie zwischen deren Vorstellungen selbst, und sie k\u00f6nnen daher, zumal sie \u00fcberdies","page":404},{"file":"p0405.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Psychologie der Kompleosionen.\n405\nnichts Anderes als abstrakte Vorstellungen von Ver\u00e4nderungen bestimmter Art sind, zur Erkl\u00e4rung dieser Verachiedenheit nicht\nherangezogen werden.\nEs bleibt demnach keine andere Beantwortung unserer Frage \u00fcber als folgende: Was an Beiz Vorg\u00e4ngen und an diesen unmittelbar entsprechenden Empfindungen bei direkter und bei indirekter Ver\u00e4nderungsauffassung vorliegt, ist einander gleichartig. Bi\u00a9 indirekte Ver\u00e4nderungsauffassung st\u00fctzt sich auf ein Vergleichen, die direkte nicht, und doch mufs etwas da sein, das ihr das Vergleichungsergebnis ersetzt. Ba das im urspr\u00fcnglichen Empfindungsthatbestand nicht liegen kann, da ferner die Selbstbeobachtung absolut nichts von irgend welchen mittelbaren, abgeleiteten Funktionen merken l\u00e4fst, so sind wir wohl gen\u00f6tigt, anzunehmen, dafs sich in solchen F\u00e4llen ganz unmittelbar ein eigener neuer Vorstellungsthatbestand einstellt, der dann erst die anschauliche Ver\u00e4nderungsvorstellung ausmacht. Dafs dieses psychische Plus, das zu dem vom Beizvorgang direkt Gebotenen hinzukommt, ein Vorstellungsthatbestand und nicht etwa ein Ver\u00e4n d erungs \u201e gef\u00fchl\u201c sein kann, erhellt daraus, das gerade dieses Element es ist, welches die eigentliche Ver\u00e4nderungsauffassung zur wirklichen, einzig anschaulichen macht, bei der man die Ver\u00e4nderung direkt wahrnimmt, was nur dann m\u00f6glich ist, wenn sie eben Inhalt einer anschaulichen Vorstellung ist und ihr Gegebensein nicht erst aus irgend welchen anderen psychischen Daten erschlossen zu werden braucht; das w\u00e4re aber notwendig, wenn es sich durch ein \u201eGef\u00fchl\u201c ank\u00fcndigte. \u2014 Wir sehen also, auch bei der anschaulichen, zeitlich ausgedehnten V\u00a9r\u00e4nderungsWahrnehmung giebt es auf psychischer Seite neben den direkten Empfindungen Ea bis JEnl die wir ohne weiteres den Beizen Ma bis Rn zuordnen k\u00f6nnen, einen neuen Vorstellungsinhalt x9 dem im objektiven physikalischen Beizvorgang nichts entspricht.\nEin Einwand ist noch zu beseitigen, bevor sich diese Behauptung einer 'kritischen Betrachtung aussetzen darf. Ist* die Verschiedenheit unseres psychischen Verhaltens gegen\u00fcber Ver\u00e4nderungen bei \u00fcber- und bei untermerklicher Geschwindigkeit nicht vielleicht schon eben durch diese Geschwindigkeitsverschiedenheit allein gen\u00fcgend erkl\u00e4rt ? K\u00f6nnte man nicht sagen, dafs der anschauliche Eindruck, den ein\u00a9 mit der n\u00f6tigen Geschwindigkeit vor sich gehende Ver\u00e4nderung hervorruft, doch","page":405},{"file":"p0406.txt","language":"de","ocr_de":"406\nnichts Anderes enth\u00e4lt, als die den Beizen direkt entsprechenden Empfindungen, und dafis diese an und f\u00fcr sich ohne Hinzutreten eines neuen psychischen Thatbestandes gen\u00fcgen, jenen Eindruck auszumachen? \u2014 Wir brauchen uns nur n\u00e4her zu besehen, was dieser Gedanke verlangt, um seine Unhaltbarkeit zu erkennen. Beschr\u00e4nken wir uns auf das unmittelbar Empfundene, so liegt w\u00e4hrend des Ablaufes eines kontinuierlich sich ver\u00e4ndernden Beizes in jedem Augenblick niohts Anderes vor als eben die dem Beize des betreffenden Augenblicks entsprechende Empfindung; dann ist in jedem Moment von dem Vorangegangenen keine Spur mehr vorhanden. Nehmen wir die Erinnerungsbilder der vorhergegangenen Stadien der Ver\u00e4nderung hinzu, so haben wir trotz der \u00e4ufseren Kontinuit\u00e4t des objektiven physischen Vorganges doch nur eine Summe, eine Mehrheit von einander fremd gegen\u00fcberstehenden, unverbundenen Vorstellungsinhalten, die den Charakter einer \u201epsychischen Einheit\u201c nicht aufweisen kann. Lassen wir aber die Erinnerungsbilder wieder aufser Spiel und kehren wir zum reinen Emfin-dungsgebiet zur\u00fcck, ziehen jedoch diesmal die ganze Empfindunge-reihe, wie sie abl\u00e4uft, in Betracht, so sind wir mit dieser Mehrheit von psychischen Thatbest\u00e4nden gegen\u00fcber der geforderten Einheit noch schlechter daran als mit der zuerst herangezogenen, da die einzelnen Bestandteile hier sogar \u00fcber eine Zeitstrecke verteilt sind.1 * * Das blofse unmittelbare Empfinden kann eben nichts liefern als unverbunden nebeneinander stehende Inhalte; der anschauliche Inhalt einer Ver\u00e4nderungs-Vorstellung ist jedoch mehr als eine blofse Summe von Einzel-\n1 In der Zeit zwischen Abschlu\u00df des Manuskripts und Korrektur der vorliegenden Arbeit erschien Sterns Aufsatz \u00fcber \u201ePsychische Pr\u00e4senzzeit\u201c (diese Zeitschr. Bd. Xlll. S. 326ff.), in deren erstem Abschnitt die Behauptung vertreten wird, dafs das Vors teilen zeitlich ausgedehnter Gegenst\u00e4nde ohne Mitwirkung des Ged\u00e4chtnisses durch einen auf der Thatsache der \u201ePr&semzeit\u201c beruhenden eigent\u00fcmlichen psychi- 4 sehen That bestand zu st\u00e4nde komme. Aus begreiflichen \u00e4ufseren Gr\u00fcnden\nkann ich hier auf diese Ansicht nicht mehr n\u00e4her eingehen, was jedoch f\u00fcr den vorliegenden Zweck insofeme gleichg\u00fcltig ist, als sie wenigstens damit, worauf es mir in der Widerlegung des obigen Einwandes ankommt, ganz gut im Einklang steht; denn auch von ihrem Standpunkte aus gen\u00fcgt das in jedem Momente vom physikalischen Beize direkt ge-\nlieferte Empfindungselement keineswegs f\u00fcr das Zustandekommen der\nanschaulichen Yer\u00e4nderungswahrnehmung","page":406},{"file":"p0407.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Psychologie der Komplexionen.\n407\nzust\u00e4nden; wenn ich einen sich ver\u00e4ndernden Vorgang anschaulich wahmehme, so ist in meinem Vorstellen keine blofse Summe von Einzelzust\u00e4nden enthalten. Ich stelle sie vielmehr in Verbindung mit einander vor, und diese Verbindung mufs ja auch vorgestellt sein. Das heilst also, di\u00a9 Vorstellung einer Ver\u00e4nderung enth\u00e4lt nicht nur die Vorstellungen der einzelnen Ver\u00e4nderungsstadien, sondern auch die Vorstellung ihrer Verbindung.\nWir k\u00f6nnen also sagen : Der anschauliche Wahrnehmungsinhalt einer Ver\u00e4nderung ist ein eigenartiges psychisches Gebilde, das sich aus den unmittelbaren Empfindungen und einer die Verbindung der Inhalte dieser darstellenden Vorstellung zusammensetzt, doch in der Weise, dafs diese letztere Vorstellung nicht etwa als neues Bestandst\u00fcck neben den Empfindungen steht, sondern vielmehr auf dies\u00a9 gegr\u00fcndet ist und ohne sie ebensowenig gedacht werden kann, wie irgend ein\u00a9 Relation ohne ihre Glieder.\nIch erinnere nun daran, dafs es mir darum zu thun ist, die psychologisch\u00a9 Wesensgleichheit der \u201emomentanen\u201c mit der \u201eeigentlichen\u201c Ver\u00e4nderungswahmehmung zu beweisen. Dazu haben wir nun die Grundlagen in der Hauptsache beisammen.\nDie momentane Ver\u00e4nderungsauffassung charakterisiert sich dadurch, dafs aufser den beiden Empfindungen Et und Et im Augenblick\u00a9 des \u00dcberganges ein x in die Vorstellung tritt, f\u00fcr das der physikalische Reiz kein Korrelat enth\u00e4lt. Genau dasselbe haben wir mutatis mutandis als das Wesentlich\u00a9 der \u201eeigentlichen\u201c Ver\u00e4nderungswahmehmung erkannt. Dazu kommt noch, dafs dieses \u00fcber den physikalischen Reizvorgang hinausgehende psychische Plus ohne di\u00a9 Empfindungsinhalte in beiden F\u00e4llen, in der momentanen Auffassung gerade so gut wie in der zeitlich ausgedehnten, physiologisch sowohl wie psychologisch, undenkbar ist. Und schliefslich weise ich darauf hin, dafs die Hypothesen, durch welche Dr. Stern seine \u00dcbergangsempfindung physiologisch verst\u00e4ndlich zu machen sucht, auch auf die Sachlage der eigentlichen Ver\u00e4nderungswahmehmung anwendbar sind; doch m\u00f6chte ich gerade darauf kein besonderes Gewicht legen.\nWir k\u00f6nnen also sagen : Die anschauliche Auffassung momentaner und die zeitlich ausgedehnter Ver\u00e4nderungen sind gleich-","page":407},{"file":"p0408.txt","language":"de","ocr_de":"artige psychische Vorg\u00e4nge. Die Verschiedenheit des psychologischen Aspektes beider betrifft nichts Wesentliches und ist durch die zeitlichen Verh\u00e4ltnisse gen\u00fcgend erkl\u00e4rt.\nIch bin nun an dem Punkte angelangt, wo ich an die Diskussion \u00fcber den Vortrag Dr. Steens ankn\u00fcpfen m\u00f6chte. Mir ist n\u00e4mlich an dieser Diskussion zweierlei aufgefallen. Erstens, dais alles, was pro und contra gesagt wurde, zwar dem Wortlaute nach der \u00dcbergangsempfindung galt, dem Sinne nach aber ganz wohl auch auf die \u201eeigentliche44 Ver\u00e4nderungs-Wahrnehmung anwendbar war, so dafs ich mich der Vermutung nicht enthalten kann, die Unterredner h\u00e4tten, sei es bewusst, sei es unbewufst, auch diese im Auge gehabt; jedenfalls liegt in diesem Umstand eine Best\u00e4tigung meiner obigen Behauptung. Zweitens, dafs mit einer einzigen Ausnahme s\u00e4mtlichen Aufee-rungen die Anerkennung jenes psychischen Plus zu Grunde lag und es sich eigentlich nur um seine Benennung und Klassifikation handelte. Prof. K\u00fclpe nahm Anstofs daran, dais der Thatbe8tand als Empfindung bezeichnet werde; Prof. Ebbinghaus schlug den Terminus Anschauung vor; Prof. Exnxb wies auf die bekannte Erfahrung hin, dafs Bewegungen im Gesichtsfeld auch bei untermerklicher Distanz von Anfangsund Endpunkt erkennbar sein k\u00f6nnen, und deutete sie in einem Sinne, der zeigte, dafs er gleichfalls die Existenz von psychischen Thatbest\u00e4nden, die \u00fcber den physikalischen Beiz hinausgehen, anerkennt. Nur Dr. Stratton erkl\u00e4rte sich gegen die Annahme und stellte sie als unbegr\u00fcndet hin; sein Hauptr argument bestand, wenn ich mich recht erinnere, darin, dafs die Annahme von Ver\u00e4nderungsempfindungen zu einer unendlichen Seihe von Ver\u00e4nderungsempfindungen h\u00f6herer Ordnung f\u00fchre. Leider kann ich keinen Versuch unternehmen, seinen Einwand zu entkr\u00e4ften \u2014 vielleicht ist es \u00fcbrigens ohnedies schon durch die Entgegnung Dr. Sterns geschehen \u2014, da mir mein Ged\u00e4chtnis die blos summarischen Angaben des Kongrefs-berichtes in diesem Punkte nicht ausreichend erg\u00e4nzt.\nIch werde also kaum Widerspruch zu bef\u00fcrchten brauchen, wenn ich sage:\nAuf psychologischer Seite liegt das Wesentliche der direkten Ver\u00e4nderungsauffassung darin, dafs die den physikalischen Beizen unmittelbar entsprechenden Empfindungsinhalte zur psychischen","page":408},{"file":"p0409.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Psychologie der Komplexionen.\n409\nEinheit durch einen hinzutretenden Vorstellungs-inhalt zu za mm engefafst werden, einen Inhalt, dem in den physikalischen Beizen nichts entspricht und der so beschaffen ist, dafs er gesondert von den Empfindungsin hal ten , auf die er sich sozusagen gr\u00fcndet, gar nicht vorgestellt werden kann.\nGowifs ist es eine h\u00f6chst wichtige Eigent\u00fcmlichkeit des psychischen Lebens, die wir durch diese Erkenntnis erfafst haben. Sie ist aber noch betr\u00e4chtlich wichtiger, als sie sich uns bis jetzt dargestellt hat; denn sie erstreckt sich \u00fcber \u00a9in viel weiteres Gebiet psychischen Geschehens, als das ist, auf dem wir sie vorl\u00e4ufig betrachtet haben, ja ich m\u00f6chte aie sogar zu dessen allgemeinsten und charakteristischesten Merkmalen z\u00e4hlen. Ist ja schon das Gebiet dessen, was wir Ver\u00e4nderung im gew\u00f6hnlichen Sinne nennen, aufserordentlich umfangreich und mannigfaltig. Und doch ist es nur ein kleiner Teil von all den F\u00e4llen, in denen sich diese psychische Eigent\u00fcmlichkeit beth\u00e4tigt. Die anschauliche Vorstellung einer Melodie, wohl eines der pr\u00e4gnantesten hierhergeh\u00f6rigen Beispiele, kommt nur durch sie zu st\u00e4nde; nicht minder die eines Akkordes oder sonst eines musikalischen Zusammenklanges ; ferner ebenso die Mn\u00e4sthetische Bewegungswahrnehmung, und die visuelle Auffassung von Bewegungen d\u00fcrfte, selbst wenn Dr. Stk en mit seiner Analyse dieses Vorganges recht haben sollte, nicht ohne das Mitwirken dieses psychischen Prinzipes zu st\u00e4nde kommen k\u00f6nnen.\nEichten wir unseren Blick nun auf Weiteres und fassen wir dabei das Wesentlich\u00a9 der in Rede stehenden Thatsache m\u00f6glichst allgemein ins Auge, so fallt uns sofort auf, dafs wir bis jetzt nur innerhalb einer einzigen nat\u00fcrlichen Klasse der besprochenen Thatsache geweilt haben, \u00fcber die jedoch diese selbst weit hinausreicht. Ihr wesentliches Charakteristiken, ein Vorstellungsinhalt, der sich auf andere in der besprochenen eigent\u00fcmlichen Weise gr\u00fcndet und dem, im physikalischen Reizvorgang kein Korrelat entspricht, zeigt sich ganz unverkennbar im Gebiet\u00a9 einer grofsen, \u00fcberaus bedeutenden Klasse psychischen Geschehens, n\u00e4mlich bei den Beziehungsvorstellungen. Die Vorstellungen von Gleichheit, \u00c4hnlichkeit, Verschiedenheit sind nicht durch Empfindung oder Wahrnehmung gegeben ; sie bauen sich vielmehr, hier allerdings unter Vermittelung einer","page":409},{"file":"p0410.txt","language":"de","ocr_de":"410\neigenen psychischen Th\u00e4tigkeit, des Vergleichen, auf anderen Vorstellungen auf. Das Gleiche gilt von dem ausgedehnten Gebiet der Notwendigkeitsrelationen, die ja auch in den mannigfachsten Gestalten eine grofse Rolle in unserem Vorstellungsleben spielen.\nDas sind die auff\u00e4lligsten und handgreiflichsten F\u00e4lle, an denen das Entstehen eines neuen, \u00fcber den physikalischen Beiz hinausgehenden Vorstellungsinhalts zu erkennen ist; aber es sind noch nicht alle. Meine Aufgabe kann es jedoch nicht sein, die \u00fcbrigen F\u00e4lle vorzuf\u00fchren, denn die Analyse, die erforderlich w\u00e4re, um ihre Hierhergeh\u00f6rigkeit erkennen zu lassen, w\u00fcrde zu weit f\u00fchren. \u00dcberdies kann ioh in diesem Punkte auf bereits \u00e4ltere Publikationen verweisen. Denn wer die Fortschritte der Psychologie w\u00e4hrend der letzten Jahre verfolgt hat, wird wissen, dafs ich mit diesen Darlegungen keineswegs einen neuen Gedanken bringe. Ehrenfkij8 hat l\u00e4ngst1 gezeigt, dafs manche komplexe Vorstellungsgebilde Inhaltsteile aufweisen, die nicht direkt vom physikalischen Reiz herr\u00fchren, aber doch eine wesentlich bestimmende Rolle spielen. Er ben\u00fctzte bei seinen Ausf\u00fchrungen haupts\u00e4chlich das Beispiel der Melodie und der r\u00e4umlichen Gestalt und kam auf diesem Wege dazu, f\u00fcr solche Gebilde die Bezeichnung Gestaltqualit\u00e4t vorzuschlagen. Meinong* * unterzog die Gedanken Ehrenfels\u2019 einer kritischen Durchsicht, auf Grund welcher er dieses psychische Plus, das seinen direkten Ursprung nicht im physikalischen Reiz hat, das sich vielmehr auf andere Vorstellungsinhalte gr\u00fcndet, die es dadurch zu einer psychischen Einheit verkn\u00fcpft, als fundierten Inhalt bezeichnete, w\u00e4hrend er f\u00fcr das ganze Vorstellungsgebilde, die fundierenden Inhalte zusammen mit dem fundierten, die Bezeichnung \u201eKomplexionsvorstellung\u201c vorsohlug; die Bestandst\u00fccke dieser sind demnach eben die fundierenden Inhalte.8\n1 \u00dcber \u201eGestaltqualit&tenw. VierteJjahrsechr. f. tries. FhiL XIV. (1890.) S. 249-292.\n*\tZur Psychologie der Komplexionen und Relationen. Diese Zeitschr. Bd. II. S. 245\u2014266. Die allerwichtigsten Grundz\u00fcge der in den beiden zitierten Arbeiten niedergelegten Lehre habe ich in gedr\u00e4ngter Kurse in dieser Zeitschr., Bd. XII, S. 188 t., Anm., reproduziert.\n\u2022\tDamit soll nicht gesagt sein, dafs jede Komplexionsvorstellung auf Fundierung angewiesen ist. Vergl. dazu Mkinong, Beitr\u00e4ge zur","page":410},{"file":"p0411.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Psychologie der Komplexionen.\n411\nNach dieser Terminologie ist also die anschauliche Ver\u00e4nderungsvorstellung eine Komplexionsvorstellung, deren Bestandst\u00fccke durch die einzelnen ineinander \u00fcbergehenden Empfindungsinhalte gegeben sind\u00bb w\u00e4hrend dasjenige, was dieses \u201eobjektive Kollektiv\u201c* 1 zur1 Einheit verbindet, der der Ver\u00e4nderungsvorstellung eigent\u00fcmliche fundierte Inhalt ist.\nIch glaube nicht, den Ideen Br. Sterns und derer, die an\nder Diskussion in M\u00fcnchen Teil genommen haben, durch diese\n\u2022\u2022 ________________________________________________\n\u00dcbersetzung in die Ausdrucksweise Meinongs und Ehrenfels\u2019 Gewalt anzuthun. Ich hoffe vielmehr, dafs es mir gelungen ist, die erfreuliche Thatsache nachgewiesen zu haben, dafs die psychologische Forschung wieder einmal auf v\u00f6llig getrennten Bahnen zu gleichem Ergebnis gelangt ist. Vielleicht darf ich mich auch der Hoffnung hingeben, dadurch denjenigen, die auf diesen getrennten Bahnen vorw\u00e4rts schreiten, neuen Anstofs zu gegenseitiger W\u00fcrdigung und Anregung gegeben zu haben.\nDen Komplexionsvorstellungen sind auch die folgenden zwei Untersuchungen gewidmet. Die Fragen, denen sie nachgehen, sind freilich ganz anderer Art als die von Dr. Stern behandelten, und dadurch ist eine ziemliche Verschiedenheit des \u00e4ufseren Aspekts unserer Arbeiten bedingt. Doch wird der Kundige unschwer herausfinden, dafs sie trotzdem einem gemeinsamen Interessenkreise dienen.\nNoch will ich vorausschicken, dafs ich mich der Terminologie Meinongs bediene. Als Symbol f\u00fcr eine Komplexionsvorstellung verwende ich, gleichfalls nach Mbxnong, das Zeichen\nr , worin a, 6, c, d die Bestandteile und r den fundierten ab cd\nInhalt bedeuten. Unter einer Komplexion h\u00f6herer Ordnung verstehe ich diejenige, deren n\u00e4chste Bestandst\u00fccke selbst schon Komplexionen sind. Eine solche stellt sich daher in der\nSymbolik folgendermafsen dar:\nr\nei et\nabc efg\u2022\nTheorie der psychischen Analyse. Diese Zeitschr. Bd. VI. S. 868 f.\u00bb ferner Meinong, Phantasie Vorstellung und Phantasie, Zeitschr. f. Philos. Bd. XCV (1889), S. 175 (\u201eerzeugbare und vorfindliche Vorstellungskomplexionen\u201c).\n1 Meinong, Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse. Diese Zeitschr. Bd. VI. S. 858.","page":411},{"file":"p0412.txt","language":"de","ocr_de":"I.\nDie Entstehung der Vorstellungen von Komplexionen\nh\u00f6herer Ordnung.\nIch stelle mir folgende Frage: Woran liegt es, d&Ts sich aus der grofsen Menge von Empfindungen, die wir in jeder Zeitstrecke, ja auch schon in jedem Augenblick haben, ganz bestimmte Empfindungen aussondem und zu Komplexionen zusammenschliefsen, da doch urspr\u00fcnglich alle Empfindungen gleich zusammenhanglos nebeneinander stehen? Liegen n\u00e4mlich die Reize rly rv r3, r4, dann q1} qv qsj qa vor, und zwar allenfalls so, dafs die mit gleichen Indices versehenen gleichzeitig sind, so giebt das auf psychischer Seite die Empfindungsmehrheit\n**17 e27 e8\u2019\n*11 *87 *3\u00bb *4\u00bb\nund in dieser k\u00f6nnen nun die verschiedensten Komplexionsgruppierungen eintreten; es kann el9 ev e5, eK zu einer, ei9 \u20ac$J *s, *4 zur zweiten Komplexion werden; es kann sich e1 mit ex zusammenschliefsen, aber auch \u20acx mit e2 u. s. f. \u2014 Wonach richtet sich diese Auswahl, die \u00fcberdies, wie es scheint, ganz ohne unser Zuthun vor sich geht?\nDie gleichen ausgezeichneten Dienste, die seinerzeit bei der Grundlegung der Lehre von den Gestaltqualitaten das Beispiel von der Melodie geleistet hat, wird uns bei der vorliegenden Untersuchung der polyphone Tonsatz leisten. Dabei will ich bemerken, dafs ich hier unter polyphonem Tonsatz ganz allgemein diejenige musikalische Form verstehe, die darin besteht, dafs zwei oder mehrere in sich geschlossene, selbstst\u00e4ndige Melodien gleichzeitig nebeneinander hergehen. Da\u00df ein solches musikalisches Gebilde thats\u00e4chlich eine Komplexion h\u00f6herer Ordnung darstellt, habe ich schon an anderer Stelle bewiesen.1\nDiese zeitliche Komplexion h\u00f6herer Ordnung und ihr psychisches Entstehen wollen wir uns also n\u00e4her besehen und un s dabei die Bequemlichkeit eines schematischen Symbols ge-\n1 Siehe d\u00fcse Zeitschr. Bd. XII, S. 200. Anm. 2.","page":412},{"file":"p0413.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Psychologie der Komplexionen.\n413\nstatten. Es sei die Melodie M. :\t, ri , mit der Melodie Jbf\u00bb:\n_______\n,r* , eh einem solchen komplexen Gebilde vereinigt. Ist\nes auf Wahrnehmung aufgebaut, so sind durch diese gegeben etwa ax zugleich mit a2, bt mit b21 cx mit c% u. s. w. Das ist das durch Wahrnehmung gegebene Material, das der Fun-dierungsdisposition zu weiterer Verarbeitung vorliegt.\nW\u00fcrde sich nun die Fundierung jedesmal in der gleichen Weise vollziehen und immer zu dem gleichen Resultat f\u00fchren, so w\u00e4re an dem Vorgang nichts besonders Merkw\u00fcrdiges. Nun wissen wir aber, dafs das keineswegs der Fall ist, sondern dafs, sobald es sich um fundierte Inhalte h\u00f6herer Ordnung handelt, sehr verschiedene Gruppierungen m\u00f6glich sind, die nat\u00fcrlich zu voneinander wesentlich verschiedenen Komplexionen f\u00fchren. In dem von uns betrachteten Beispiel kann sich ja sehr gut aus at und a2 eine unzeitliche1 Komplexion zusammensetzen, ebenso aus bx und &2, ct und e2 u. s. w.; und diese unzeitlichen Komplexionen k\u00f6nnen dann allenfalls als Bestandst\u00fccke einer zeitlichen von h\u00f6herer Ordnung auftreten. Es kann aber auch, wie es der polyphone Satz verlangt, a% von a2 sozusagen getrennt bleiben und mit bv cv dv ebenso at mit b2} c2, d2 eine zeitliche Komplexion fundieren, und diese beiden ihrerseits dann wieder eine solche h\u00f6herer Ordnung. Wollen wir diese beiden F\u00e4lle durch unsere Symbolik darstellen, so erhalten wir f\u00fcr den ersten:\nund f\u00fcr den zweiten\nQ>x bx Cj dx..\n#2 ^2 ^2 d2...\nR\nJ\n1 Was unter den Termini\u00ab \u201ezeitliche\u201c und \u201eunzeitliche\u201c Komplexion zu verstehen ist, erl\u00e4utert sich am leichtesten durch Beispiele: Zu ersteren geh\u00f6ren Melodie, Bewegung, zu letzteren Accord, r\u00e4umlich\u00a9 Gestalt etc. Vergl. Ehbbhtels a. a. O. S. 263.","page":413},{"file":"p0414.txt","language":"de","ocr_de":"414\nDamit ist aber die Zahl der verschiedenen vorg&ngigen M\u00f6glichkeiten keineswegs ersch\u00f6pft; vielmehr sind das erst gleichsam die beiden extremen F\u00e4lle. In der blofsen Wahrnehmung steht jeder einzelne Ton jedem anderen gleich fremd und zusammenhanglos gegen\u00fcber. Es liegt also noch gar kein Grund vor, warum sich nicht etwa die Reihen 1 und 2 kreuzen\nsollten. So k\u00f6nnte es zu Bildungen kommen, wie \u00a3\t, daraus\nai ^\ndann weiter etwa\n\u00fbj\tCj (/j\tCj\noder ein andermal\nQt\n^2 dj\nQi\nb% cx d\nt\nu. 8. w. ; die kaum absehbare Mannigfaltigkeit, die sich dabei als m\u00f6glich herausstellt, sei durch diese wenigen Beispiele angedeutet.\nWas ist nun Ursache f\u00fcr das thats\u00e4chliche Eintreten einer bestimmten Gruppierung in einem bestimmten Fall? Was ver-anlafst die Fundierungsdisposition, das eine Mal in dieser, das andere Mal in jener Art der Zusammenfassung an die Bestandst\u00fccke heranzutreten? Oder vielleicht besser umgekehrt, was bestimmt die Wahmehmungsinhalte, sich nun in dieser, dann in jener Gruppierung dem Fundieren dazubieten?\nMan sieht, die Voraussetzungen, aus denen sich die Fragestellung ergiebt, sind klar, einfach und h\u00f6chst einleuchtend; die Frage selbst aber, so notwendig sie sich einstellt, scheint den Forscher entweder vor einer un\u00fcbersteiglichen Wand stehen zu lassen oder zur Annahme von fast geheimnisvollen, un-bewufsten psychischen Funktionen zu zwingen, die man in dem so spontan vor sich gehenden \u201eWahrnehmen\u201c von Melodien nie vermuten w\u00fcrde. Jedenfalls kann man sich, zum ersten Male vor diese Frage gef\u00fchrt, eines gewissen Staunens nicht erwehren.\n9","page":414},{"file":"p0415.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Psychologie der Komplexionen.\n415\nDiese Verwunderung mag sich noch steigern, wenn man jener Beantwortung, die sich vielleicht als n\u00e4chste und nat\u00fcrlichste darbietet, n\u00e4her tritt. \u2014 Man wird f\u00fcrs Erste geneigt sein zu sagen, es sei irgend ein den wahrgenommenen Inhalten anhaftendes Moment, das gerade zu dieser und nicht zu einer anderen Gruppierung beim Fundieren f\u00fchrt. Auf eine ganz \u00e4hnliche Thatsache wurde ja bereits von Ehrenfels hingewiesen.1 Wenn ich eine Fl\u00e4che vorstelle, so h\u00e4tte ich ja mit ihren unendlich vielen Ortsbestimmungen die Grundlagen f\u00fcr ein\u00a9 unendliche Mannigfaltigkeit von r\u00e4umlichen Komplexionen, Figuren, in der Vorstellung. Trotzdem gelangen, wie jedermann weifs, diese unendlich vielen Gestalten nicht zur Fundierung, sondern nur diejenigen, deren Bestandst\u00fccke sich von den angrenzenden Fl\u00e4chenst\u00fcckchen hinreichend abheben. Die Bestandst\u00fccke selbst tragen das bestimmend\u00a9 Moment in sich, verm\u00f6ge dessen es gerade zu dieser Fundierung kommt und zu keiner anderen. Ist\u2019s nicht auch so in unserem Fall? Nichts weniger als das ! Der Unterschied ist in die Augen springend. W\u00e4hrend der Anblick derselben gezeichneten Figur zu jeder Zeit und in jedem Individuum zum gleichen fundierten Inhalt f\u00fchrt, sind die psychischen Gebilde, die sich auf jenen wahrgenommenen Toninhalten unter verschiedenen Umst\u00e4nden und in verschiedenen H\u00f6rem aufbauen, von einander h\u00f6chst verschieden. Der Unmusikalische h\u00f6rt irgend eine der vielen Komplexionen, die oben als zwischen den beiden extremen F\u00e4llen Hegend vor gef\u00fchrt werden ; zu verschiedenen Malen vielleicht verschiedene, niemals aber oder h\u00f6chstens unter ganz besonders g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden di\u00a9 vom Tonsetzer gemeint\u00a9 zeitliche Komplexion h\u00f6herer Ordnung, deren Eintreten, beim musikalisch Ge\u00fcbten die Regel ist. Es ist offenbar, dafs das Moment, das f\u00fcr die bei der Fundierung eingehaltene Gruppierung den Ausschlag giebt, zum mindesten in den wahr\u00ab genommenen Inhalten nicht allein 'liegen kann.\nSo bleibt kein anderer Ausweg, als anzunehmen, dafs das Subjekt selbst etwas dazuthun mufs. H\u00e4lt man sich aber andere Beispiele von Komplexionen verwandter Art vor Augen, so wird dieser Gedanke wohl auf einiges Befremden stofsen. Wer w\u00fcrde je zugeben wollen, dafs die Beschaffenheit\n1 \u201e\u00dcber Gestaltqualit\u00e4ten\u201c, Vicrtefjahrsschr. f. wim, Philos. XIV. S. 288,","page":415},{"file":"p0416.txt","language":"de","ocr_de":"der Komplexion, die sich aus irgendwelchen vorliegenden Bestandst\u00fccken ergiebt, in irgend einer Weise von der Willk\u00fcr eines dem Subjekt m\u00f6glichen Einflusses auf den Verlauf der dabei in Frage kommenden psychischen Funktion abh\u00e4ngig sei? Wenn ich ein Dreieck auf einer Tafel aufgezeichnet sehe, welche psychische Operation sollte mir\u2019s da m\u00f6glich machen, etwas Anderes als eben dieses Dreieck zu sehen? Wenn ich eine Violinsaite anstreiche, wodurch sollte es mir m\u00f6glich sein, etwas Anderes als diese Klangfarbe zu h\u00f6ren? Es ist meinem Einfl\u00fcsse ganz entzogen, was sich auf Grund der vorliegenden Bestandst\u00fccke aufbaut. Und doch ist, wie wir gesehen haben, die Annahme der M\u00f6glichkeit und Thats\u00e4chlichkeit eines solchen Einflusses, zum mindesten bei Komplexionen h\u00f6herer Ordnung, eine unausweichliche. Sehen wir also zu, wie wir sie mit den anderw\u00e4rts gemachten Erfahrungen in Einklang bringen k\u00f6nnen.\nDa lassen sich nun, allerdings aus anderen Komplexions-Klassen, F\u00e4lle in Erinnerung bringen, in denen wenigstens das Eintreten des fundierten Inhaltes von eigenem, will-k\u00fcrlichem Eingreifen des Subjektes abh\u00e4ngt. Zur Ahnlich-keits-, Gleichheitsvorstellung kommt man nicht, wenn man nicht vergleicht; dem Konstatieren eines Widerspruches, einer Notwendigkeit liegt eine vorausgegangene psychische Th\u00e4tig-keit zu Grunde. \u2014 Nun ist aber schon, und, wie ich glaube, mit Erfolg, zu zeigen versucht worden, dafs auch die Fundierung der Komplexionen unserer Klasse ebenfalls eine solche Th\u00e4tigkeit erfordert.1 Wenn nun auch, wie oben hervorgehoben worden ist, der Ausfall der Komplexionen in den F\u00e4llen einfacherer Art, zum Beispiel bei geometrischen Figuren, Klangfarben, einfach gebautenMelodien, Bewegungsvorstellungen, wohl immer der gleiche sein mufs, so kann doch bei zusammengesetzteren Verh\u00e4ltnissen, wie sie bei Komplexionen h\u00f6herer Ordnung vorliegen, die Annahme, dafs sich diese Th\u00e4tigkeiten das eine und das andere Mal in verschiedener Weise vollziehen und demnach verschiedene Komplexionen zu Tage f\u00f6rdern, nicht von der Hand gewiesen werden. Mau braucht\n1 Siehe Meinong, \u201eZur Psychologie der Kemplexionen und Relationen\u201c, d\u00fcse Zeitschr. IL S. 260; auf anderem Wege von mir in meinen soeben im Arch. f. system. Philos. Bd. III. erscheinenden \u201eBeitr\u00e4gen bot speziellen Dispositions-Psychologie\u201c.","page":416},{"file":"p0417.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Psychologie der Komplexionen.\n417\nsich um so weniger daran zu stofsen, als ja durch diese Annahme der nat\u00fcrliche, eindeutige Zusammenhang zwischen fundierenden und fundierten Inhalten, verm\u00f6ge dessen die gleichen fundierenden 'Inhalte immer und \u00fcberall gleiche fundierte Inhalte geben, gar nicht ber\u00fchrt wird. Schematisch ausgedr\u00fcckt: die fundierenden Inhalte av 61, et k\u00f6nnen zusammen immer nur den fundierten Inhalt rv ebenso a2, ft2, ct nur r% geben, so dafii\ndaraus die Komplexionen at bx c1} a% b% c% entstehen und niemals\nandere ; diese beiden Komplexionen zusammen k\u00f6nnen wiederum\nniemals eine andere Komplexion geben als rx rs. Aber das hindert nicht, dafs at bx ct a\u00ee b\u00c8 c2 einmal nicht zu B, sondern zu einem anderen fundierten Inhalt zweiter Ordnung, zu Bf\nf\u00fchren, wenn sie sich z. B. so gruppieren\nax 5g Cj\tdg Cg\nDann hat aber B4 andere Bestandst\u00fccke als B, n\u00e4mlich nicht rx und r2, sondern ril und r'2, und diese letzteren sind von r1r% verschieden, weil sie ja auch von anderen Inhalten 'fundiert sind. Also nicht darin liegt die Variabilit\u00e4t der Koro* plexionen h\u00f6herer Ordnung, dafs gleiche fundierende Inhalte verschiedene Inhalte unmittelbar fundieren k\u00f6nnten, sondern nur in der M\u00f6glichkeit verschiedener Gruppierung derselben, wobei dann verschiedene Bestandst\u00fccke nat\u00fcrlicherweise auch verschiedene Komplexioncn ergeben m\u00fcssen.\nSo sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dafs, wenn bei gleichen Unterbestandst\u00fccken in verschiedenen F\u00e4llen verschiedene Komplexionen fundiert werden, als Ursache davon die Ver* \u2022cMedenheit der am Fundieren 'beteiligten psychischen Thitig-keit \u2014 und zwar nach 'ihrer die Gruppierung der Bestandst\u00fccke bedingenden Seite \u2014 in Anspruch genommen werden mufs.\nEs ist klar, dafs damit noch keine Antwort auf unsere Frage, sondera nur die 'Richtung gegeben ist, in der wir sie zu suchen, haben. Wir wissen nun, das Mafsgebende f\u00fcr den Ausfall der Komplexion liegt in der Art und Weise, wie das Bubjekt mit semen psychischen Funktionen an das vorliegende\nZeitschrift fflr Psychologie XIV.\t27","page":417},{"file":"p0418.txt","language":"de","ocr_de":"418\nMaterial heran tritt; die Gruppierung der Bestandst\u00fccke und die Zusammenstellung zu Komplexionen h\u00f6herer Ordnung ist bedingt durch eine psychische Th\u00e4tigkeit. Diese Th\u00e4tigkeit m\u00fcssen wir nun n\u00e4her kennen lernen.\nGewifs wird es den Weg nach diesem Ziel erleichtern, wenn wir zuerst F\u00e4lle betrachten, in denen die Sachlage im allgemeinen die gleiohe ist wie in den von uns untersuchten zeitlichen Komplexionen h\u00f6herer Ordnung, nur mit dem Unterschied, dafs sich ihre Fundierung immer in derselben Gruppierung vollzieht. F\u00fcr diesen Erfolg ist in solchen F\u00e4llen offenbar schon die Beschaffenheit der Bestandst\u00fccke selbst von gr\u00f6fster Bedeutung. Es ist nun wohl eine zul\u00e4ssige Annahme, dafs in jenen F\u00e4llen, in denen diese objektive Beschaffenheit der Bestandst\u00fccke nicht schon von vornherein eine derart zwingende, f\u00fcr den immer gleichm\u00e4fsigen Ausfall der Komplexion g\u00fcnstige ist, es der oben geforderten psychischen Th\u00e4tigkeit Vorbehalten ist, diese g\u00fcnstigen Verh\u00e4ltnisse herbei zu f\u00fchren. Wenn wir also erkannt haben, worin diese g\u00fcnstigen Verh\u00e4ltnisse bestehen, wird es uns auch m\u00f6glich sein, diejenigen psychischen Th\u00e4tigkeiten namhaft zu machen, die sie entweder selbst oder in ihren weiteren psychischen Wirkungen hervorzubringen geeignet sind, um dann unsere Aufgabe f\u00fcr gel\u00f6st erachten zu k\u00f6nnen. \u2014 Darum wollen wir uns also, wie gesagt, derartige, immer in der gleichen Weise ablaufende Komplexionsbildungen n\u00e4her besehen.\nWenn auf dem Klavier eine Melodie der Oberstimme von einer jener immer wiederkehrenden Figuren begleitet wird, oder wenn zum vollt\u00f6nenden Klavierpart die Violine eine Melodie spielt, oder wenn ein Streichquartett eine auf dem Klavier vorgetragene Melodie begleitet, oder wenn sum Orchester die Prinzipalstimme eines Violinkonzertes oder ein Horn- oder Posaunenmotiv ert\u00f6nt: so sind das lauter F\u00e4lle, in denen trotz der grofsen Anzahl der gleichzeitig gegebenen Bestandst\u00fccke die Fundierung doch immer in gleicher Weise vor sich geht. Zum mindesten wird dabei immer die sogenannte Hauptstimme als solche aufgefafst. Was l\u00e4fst sich als Ursache dieses Verhaltens erkennen? Es mufs ein Moment sein, das den durch Wahrnehmung gegebenen Bestandst\u00fccken anhaftet, das ferner entweder selbst oder in seinen Folgen auch durch willk\u00fcrliche psychische Th\u00e4tigkeit herbeigef\u00fchrt werden","page":418},{"file":"p0419.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Psychologie der Komplexionen.\n419\nkann. Denn dafs in diesen, sieh immer die gleiche Ordnung gleichsam erzwingenden F\u00e4llen, die wir nun als Wegweiser zur Beantwortung unserer Frage ben\u00fctzen, das verursachende Moment im Grunde das gleiche sein rauCs, wie in jenen variabeln, das ergiebt sich mit Sicherheit aus der Thatsache des allm\u00e4hlichen \u00dcberganges zwischen beiden Gruppen.\nSehen wir uns also die oben angef\u00fchrten Beispiele daraufhin an. Da erinnern wir uns sogleich der Thatsache, dafs derartige Tongebilde 'in der Regel auch nur dann richtig aufgefafst werden, wenn jene sogenannte Hauptstimme auch ordentlich \u201eherauskommtu, wie sich der Musiker ausdr\u00fcckt. Wenn sie von dem Vortragenden nicht in geh\u00f6riger Weise hervorgehoben wird, geht auch sie in dem \u00fcbrigen Tongewirr unter, verschwimmt mit diesem, und der fundierte Inhalt, der so entsteht, ist ein ganz anderer. \u2014 Die Psychologie dieser Thatsache ist klar genug. Das Herausheben einzelner T\u00f6ne hat psychisch keine andere Bedeutung, als die eines Erh\u00f6hens des Yorstellungsgewichtes1 derselben ; so wird die Aufmerksamkeit unwillk\u00fcrlich auf sie gezogen, sie werden aus dem ganzen Ton-gebilde heraus analysiert. Es w\u00e4re also das erste Erfordernis, dafs die Bestandst\u00fccke, die in eine Komplexion zusammentreten sollen, aus dem gesamten vorliegenden Material heraus analysiert sein m\u00fcssen.\nNun, man braucht nicht tief zu denken, um. zu merken, dafs damit nur sehr wenig und noch ganz Unbestimmtes gesagt ist, ja sogar, dafs es nicht schwer ist, diesem ersten Ergebnis einen evident unrichtigen Sinn zu unterlegen. Ich will daher zun\u00e4chst ausdr\u00fccklich bemerken, dafs vorl\u00e4ufig damit gar nichts weiter gesagt sein soll, als dafs die Analyse in dem von uns untersuchten psychischen Yorgang gewifs eine Rolle spielt; welche und in welcher Weise, das bedarf noch weiterer Feststellungen, die erst der sp\u00e4tere Verlauf der Untersuchung bringen kann.\nZuv\u00f6rderst aber wollen wir uns nichts entgehen lassen, was sich sonst noch an den angef\u00fchrten Beispielen f\u00fcr unsere Zwecke Lehrreiches abnehmen l\u00e4fst. Nach dem Vorigen ist es\n1 Der Ausdruck \u201eVorstellungsgewicht\u201c nach Meinongs Vorschlag in seinen \u201eBeitr\u00e4gen zur Theorie der psychischen Analyse\u201c, diese Zeitschr. VI. S. 877. Vergl. auch die dortselbst befindlichem Ausf\u00fchrungen \u00fcber \u201eWesen und charakteristische Leistungen der Analyse.\u201c S. 417 ff.\n27*","page":419},{"file":"p0420.txt","language":"de","ocr_de":"nichts Neues mehr, wenn wir in K\u00fcrze vermerken, dafs alle die mannigfachen Umst\u00e4nde, die f\u00fcr die Analyse g\u00fcnstig sind, auch der Bildung des betreffenden fundierten Inhaltes zu statten kommen. In diesem Sinn wirken neben dem bereits fr\u00fcher Erw\u00e4hnten Intensit\u00e4ts- und Klangfarbenabst\u00e4nde, ebenso bisweilen auch zeitliche, sogar auch r\u00e4umliche Verteilung der T\u00f6ne, dann die Unterschiede der Tonregion und manches Andere. \u2014 Aber auch Momente, die mit der Analyse nichts zu thun haben und doch ftir den Ausfall der bei der Komplexionsbildung eingehaltenen Gruppierung von Bedeutung sind, wollen wir daran nicht \u00fcbersehen. Jedermann wird zugeben, dafs die Auffassung einer Reihe won T\u00f6nen als Melodie in jedem der oben als Beispiel angef\u00fchrten F\u00e4lle gerade dadurch so sehr beg\u00fcnstigt ist, dass eben diese T\u00f6ne gleiche Klangfarbe haben. Hingegen denke man sich, dafs sie in unregelm\u00e4fsigem Wechsel allenfalls von einer Geige, einem Horn, einem Klavier, einer Obo\u00f6 und einer Glocke angegeben w\u00fcrden; in vielen F\u00e4llen w\u00fcrde man unter solchen Umst\u00e4nden die Melodie gar nicht als eine solche erkennen. Dem praktischen Musiker werden \u00e4hnliche, wenn auch nat\u00fcrlich nicht so \u00fcbertriebene Beispiele daf\u00fcr aus der neueren Musiklitteratur bekannt sein, und er wird sich erinnern, dafs sie ihrer Auffassung einen gewissen Widerstand entgegen setzen. \u00c4hnliche Wirkung w\u00fcrden sehr grofse unmotivierte Intensit\u00e4tsschwankungen hervorbringen. \u2014 Diese Thatsachen f\u00fchren darauf hin, dafi eine gewisse Gleichartigkeit, eine gewisse \u00c4hnlichkeit der Bestandst\u00fccke wohl erforderlich ist, dafs sie als fundierende Inhalte von Komplexionen, zumal zeitlichen, f\u00fcngieren k\u00f6nnen. Die Thatsache, dafs gleichartige oder einander \u00e4hnliche Inhalte leichter in eine Komplexron zusammentreten, I\u00e4fst sich ja auch sonst an unz\u00e4hligen F\u00e4llen beobachten. Wenn die Form und die Farbe der verschiedenen Linien, die auf einer Landkarte Straf sen, Eisenbahnen, Fl\u00fcsse, Landesgrenzen und H\u00f6henschichten markieren, gut gew\u00e4hlt sind, so k\u00f6nnen sie sich noch so kreuzen und verwickeln, und doch wird man den Verlauf einer jeden auf den ersten Blick heraussehen, d. h. die Fundierung ihrer Gestalt vollzieht sich ganz von selbst, ohne dafs wir erst TnflK\u00fcfl.m sachen m\u00fcssen: es ist eben eine \u00fcbersichtliche, klare Landkarte; dagegen w\u00fcrde es M\u00fche kosten, wollte msn \u00abne von verschiedenen solchen Linien begrenzte Figur herausheben. \u2014","page":420},{"file":"p0421.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Psychologie der Komplexionen.\nm\nDerartige Momente also, welche die Bestandst\u00fccke gleichsam automatisch zum Anschluis aneinander bringen, sind \u00fcberall und \u00fcberall wirksam. Die Erfahrung lehrt nun, d&is dort, wo sie schw\u00e4cher sind, eine gewisse Anstrengung des Subjektes nachhelfen, und so den Zusammensehlufs der betreffenden Bestandst\u00fccke dennoch zu st\u00e4nde bringen kann\u00bb Diese Anstrengung kann keineswegs dazu aufgewendet werden, an den Bestandst\u00fccken selbst jene inhaltliche Ver\u00e4nderung hervor zu bringen, welche dann, wie wir schon gesehen haben, von selbst ihr Zusammentreten zu einer Komplexion herbeif\u00fchren; das w\u00e4re erfolglos; denn derartige Modifikationen an Wahmehmungs-inhalten zu bewirken, ist unserer Willk\u00fcr unm\u00f6glich. Sie kann also nur die \u00c4ufserung einer Th\u00e4tigkeit sein, welche die in jenen g\u00fcnstigeren F\u00e4llen \u00fcberfl\u00fcssige, in den minder g\u00fcnstigen, schwierigeren aber zur Komplexionsbildung notwendige Arbeit leistet. Wir m\u00fcssen uns also die F\u00e4higkeit, eine derart zusammenschliefsende Th\u00e4tigkeit zu entwickeln, zuschreiben.\nDie vorbereitende Untersuchung, die auf jene immer in gleicher Weise vor sich gehenden Fundierungs&Ue gerichtet war, hat ihre Aufgabe erf\u00fcllt. Wir verlangten von ihr, dafs sie jene psychischen Funktionen aufdecke, welche bei ung\u00fcnstigerer, die Fundierung weniger bestimmender Beschaffenheit der Bestandst\u00fccke die Gruppierung in einem bestimmte\u00bb Sinne zu lenken geeignet sind. Als solche hat sich uns einerseits die Analyse, andererseits eine gewisse zusammenschliefsende Th\u00e4tigkeit ergeben, und dieses Ergebnis wollen wir nun zur Betrachtung der komplizierteren Fundierungsf\u00e4lle, die der eigentliche Gegenstand unserer Untersuchung sind, ben\u00fctzen.\nKompliziertere F\u00e4lle? Sind es wirklich kompliziertere F\u00e4lle? Es giebt Gesichtspunkte, von denen aus sich diese Bezeichnung nicht rechtfertigen liefse. Stellen wir einmal daraufhin ausdr\u00fccklich einen Vergleich an. Wir h\u00e4tten auf der einen Seit#' eine zweistimmige Fuge, auf der anderen allenfalls ein einstimmiges Volkslied mit ganz primitiver Akkordbegleitung, Was f\u00fcr fundierte Inhalte und wie viele liegen in jedem der beiden F\u00e4lle vor ? Nun, im ersten zwei zeitliche Komplexio&en, die weiters als Bestandst\u00fccke einer dritten h\u00f6herer Ordnung fungieren ; im zweiten Fall wieder zweifellos eine zeitliche Komplexion, die Oberstimme, dann eine ganze Reihe von un-","page":421},{"file":"p0422.txt","language":"de","ocr_de":"422\nzeitlichen Komplexionen, die Akkorde der Begleitung; das w\u00e4ren hier die Komplexionen erster Ordnung ;1 \u00fcber das Weitere l\u00e4fst sich streiten: Bildet nun auch die Akkordbegleitung eine zeitliche Komplexion zweiter Ordnung, die dann mit der Oberstimme zusammen eine solche dritter Ordnung giebt? Ich glaube, in vielen F\u00e4llen wird es sich so verhalten. In anderen dagegen ist die Sache vielleicht so zu verstehen, dafs die von den Akkorden gebildete Komplexion h\u00f6herer Ordnung ausbleibt, wobei dann der Ton der Hauptstimme, der mit einem der Begleitungs-Akkorde zusammenfallt, mit als Bestandst\u00fcck in die unzeitliohe Komplexion eingeht, gleichzeitig aber auch Bestandst\u00fcck der die Oberstimme darstellenden zeitlichen Komplexion bleibt. \u2014 \u00dcberschaut man diese Verh\u00e4ltnisse, so wird man zugeben m\u00fcssen, dais der polyphone Satz weder der Zahl seiner komplexen Bestandst\u00fccke noch der Art seines Aufbaues nach komplizierter genannt werden kann. Er ist\u2019s aber unleugbar. Worin liegt es? \u2014 Die Frage ist nicht aufgeworfen, um hier sofort einer Beantwortung zugefuhrt zu werden ; doch ist es f\u00fcr die weitere Untersuchung notwendig, dafs wir uns wohl vor Augen halten, dafs bei den in Bede stehenden Komplexionen h\u00f6herer Ordnung thats\u00e4chlich etwas wie eine ganz besondere Komplikation, eine Erschwernis den anderen gegen\u00fcber vor liegt, die aber ihren Grund keineswegs in den eben gestreiften Verh\u00e4ltnissen haben kann.\nGehen wir nun unges\u00e4umt zur direkten Behandlung unserer urspr\u00fcnglichen Frage. Die Ergebnisse der Voruntersuchung weisen uns den Weg. Das erste derselben lautete dahin, dafs die von uns gesuchten, die Gruppierung bestimmenden Momente sowohl den Bestandst\u00fcckvorstellungen gleichsam objektiv m\u00fcssen anhaften k\u00f6nnen, aber auch der willk\u00fcrlichen Beeinflussung von Seite des Subjektes nicht entzogen sein d\u00fcrfen. Dieser Forderung entspricht aufs Beste die Analyse, auf welche ja die vorbereitende Untersuchung auch bereits gef\u00fchrt hat; allerdings nur in ziemlich unbestimmter Weise. Deshalb wurde auch dort schon bemerkt, dafs es nicht schwer w\u00e4re, dieses vorl\u00e4ufige Ergebnis ad absurdum zu f\u00fchren. Die Bestandst\u00fccke einer Komplexion m\u00fcssen sich keineswegs voneinander analysiert\n1 Wobei nat\u00fcrlich die Kummer nur im relativen Sinn gemeint ist.","page":422},{"file":"p0423.txt","language":"de","ocr_de":"Beitrage zur Psychologie der Komplexionen.\n423\nder Fundierung darbieten; die Komplexionen, bei denen eine unendliche Anzahl von Bestandst\u00fccken anerkannt werden mufs, Strecken z. B., sprechen zu deutlich dagegen. Aber dafs auch in solchen F\u00e4llen die Analyse eine Rolle spielt, wird trotzdem zugegeben werden m\u00fcssen. Freilich nicht gegeneinander m\u00fcssen die Bestandst\u00fccke einer Komplexion analysiert sein, wohl aber gegen aufsen, gegen alles Angrenzende, das nicht mehr zur selben Komplexion geh\u00f6ren soll. Es ist eine \u00e4ufsere Analyse des objektiven Kollektivs, das durch die in die gew\u00fcnschte Komplexion aufzunehmenden Bestandst\u00fccke ausgemacht wird, gegen seine Umgebung. So allein, glaube ich, ist die Aussage der inneren Wahrnehmung, die deutlich genug f\u00fcr Analyse spricht, auszulegen. Soll z. B. vierstimmiger polyphoner Satz richtig aufgefafst werden, so m\u00fcssen die vier gleichzeitig miteinander erklingenden T\u00f6ne gut voneinander analysiert, sozusagen gesondert vorgestellt werden. Dagegen handelt es sich bei einer von Akkordfolgen begleiteten Melodie nur darum, dafs der Melodieton von den anderen gesondert werde.\nAber, wird man vielleicht einwenden, was soll die Analyse\n\u00fcberhaupt zu thun haben dort, wo noch gar keine Komplexionen gebildet sind? Man wird der Behauptung wohl stattgeben m\u00fcssen, dafs ein Inhalt nur dann der Analyse einen Angriffspunkt bietet, wenn \u00a9r einer Komplexion angeh\u00f6rt. Ist das nicht der Fall, steht er sozusagen f\u00fcr sich allein da, dann hat er es ja nicht mehr n\u00f6tig, durch Analyse ausgesondert zu werden. Wo keine Komplexion, da keine Analyse, das g\u00fct, wenn auch damit noch gar nichts zur Charakterisierung des Wesens dieser psychischen Funktion gesagt ist. Da aber nach dem Obigen die Analyse in unserem Fall erst zum Zustandekommen der Komplexion verhelfen soll, so ist offenbar in dem Zeitpunkt, da sie in Wirksamkeit treten soll, noch keine Komplexion vorhanden, und was hat dann Analyse \u00fcberhaupt dabei zu thun?\nEs ist nicht n\u00f6tig, auf Grund dieser \u00dcberlegung dem Zeugnis der inneren Wahrnehmung, das hier so deutlich f\u00fcr Analyse spricht, zu mifstrauen. Denn wohl ist es richtig, dafs Analyse nur an Komplexem einen Angriffspunkt finden kann, aber was giebt uns das Recht zur Behauptung, dafs di\u00a9 Inhalte, die in Komplexionen zueinander zu bringen sind, bevor","page":423},{"file":"p0424.txt","language":"de","ocr_de":"424\nStephan Witasek.\ndas gelungen ist, nickt auch schon welche eingegangen haben, nur eben nicht die gew\u00fcnschten, sondern etwa solche, f\u00fcr deren Zustandekommen Analyse nicht erforderlich ist.\nGar manches wird sich uns kl\u00e4ren, wenn wir nur der Th at sache gen\u00fcgend Aufmerksamkeit schenken, dafs manche gleichartigen Inhalte bei gleichzeitigem Auftreten, andere bei successively mit beinahe unwiderstehlicher Gewalt zur1 Vereinigung in einer Komplexion streben. Beleg\u00a9 daf\u00fcr sind so allt\u00e4glich und zahlreich, dafs sie sich jedermann von selbst aufdr\u00e4ngen. Und so wird es dem Zeugnis der inneren Wahrnehmung wohl nicht entgegen sein, wenn wir den Sachverhalt in der Weise verstehen, dafs beim Anh\u00f6ren polyphonen Satzes das eine Individuum, allenfalls ein v\u00f6llig unmusikalisches, dies\u00bb Tendenz g\u00e4nzlich unterliegt und dadurch sowohl wie durch den Einflufs, den schon die Gewichtsverh\u00e4ltnisse und andere Eigent\u00fcmlichkeiten der Bestandst\u00fcckvorstellungen auf den Fundie-rungs&kt an und f\u00fcr sich nehmen, zu irgend einer der vielen, eingangs charakterisierten Fehlkomplexionen gef\u00fchrt wird. Ein anderes Individuum wird vielleicht f\u00fcr den ersten Moment dieser Tendenz auch unterliegen, aber es hat m\u00f6glicherweise gen\u00fcgend \u00dcbung in der Analyse, um sich wenigstens nachher noch die einzelnen Inhalte auszusondem. Ein dritter, in polyphonem Satz ge\u00fcbter H\u00f6rer wird nur mehr gegen die Alleinherrschaft jener m\u00e4chtigen Tendenz anzuk\u00e4mpfen haben, mancher vielleicht kaum das. F\u00fcr einen solchen besteht aber auch die Komplikation und Schwierigkeit des polyphonen Satzes nicht mehr. \u2014 Nun erkennen wir auch, warum wir vollkommen recht hatten, von \u201ekomplizierterenu Komplexionen zu sprechen; es sind demnach solche, die dem, urspr\u00fcnglichen, gleichsam von selbst 'wirkenden Fundierungsdrang entgegen gebaut sind ; sie k\u00f6nnen nur zu st\u00e4nde kommen, wenn dieser durch eine eigens darauf gerichtete psychische Arbeit \u00fcberwunden ist, durch welche dann auch die Fundierung in die gew\u00fcnschte Sichtung gebracht werden mufs. So begreifen wir die Schwierigkeit de\u00ae Auffassens polyphoner Tonwerke.\nJa, sind wir nun aber nicht in eine Sackgasse geraten? Was soll uns die Analyse helfen ? Besten Falls liefert sie ja doch nichts Anderes, als was schon vor aller Komplexionsbildung Vorgelegen hat, und da stehen wir nun doch wieder vor der alten Frage, wie kommt es denn, daft, da doch der","page":424},{"file":"p0425.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Psychologie der Komplexionen.\n425\ntine Inhalt dem zweiten genau so fremd und zusammenhanglos gegen\u00fcbersteht als dem dritten und jedem anderen, und da nun nach vollzogener Analyse psychisch doch wieder nichts Anderes vorliegt, als die nackten Empfindungsinhalte, wie kommt es, dals nun die Komplexionsbildung zu einem anderen Resultat f\u00fchren sollte, als das erste Mal? Die Tendenz, die zuerst die Fehlkomplexionen erzwungen hat, besteht ja noch immer fort.\nNun, f\u00fcrs Erste hiefse das wohl, das Wesen und die Wirkung der Analyse verkennen. Die Leistung derselben ist ja nicht als \u201eSonderung der Vorstellungsinhalteu schlechtweg aufzufassen, von der Unbestimmtheit dieses Ausdruckes noch ganz abgesehen ; vielmehr l\u00e4fst sich ihre eigent\u00fcmliche und wesentlichste Bedeutung f\u00fcr das psychische 'Leben, wie wir wissen, als thats\u00e4chliche Ver\u00e4nderung des. Vorstellungsmaterials, auf das sie sich erstreckt, erkennen.1 Was also nach der Analyse psychisch vorliegt, ist wirklich von dem verschieden, was zu allem Anfang Vorgelegen hat; sie bewirkt inhaltliche Ver\u00e4nderungen an den fundierten Inhalten, aufserinhaltliche an den aus der Empfindung stammenden Vorstellungen. Und das allein w\u00fcrde vielleicht schon, zur Erkl\u00e4rung der Verschiedenheit der Komplexionsergebnisse vor und nach der Analyse herangezogen, diese in' manchen F\u00e4llen gen\u00fcgend begreiflich machen. \u00dcbt ja doch die .Analyse auf beinahe alle psychischen Akte und Vorg\u00e4nge entweder direkt oder indirekt bedeutenden Einflufe ans; ist\u2019s da zu wundem, dafs ihm auch das Fundieren unterliegt ?\nSich jedoch f\u00fcr alle F\u00e4lle mit dieser Erkl\u00e4rung zu begn\u00fcgen, schiene mir unzul\u00e4ssig. Die Gewichtssteigerung an den Bestandst\u00fcck Vorstellungen, die darnach die ganze Gruppierung der Komplexion zu bestimmen h\u00e4tte, reicht dazu wohl nicht aus; denn diese ist mehrdimensional, w\u00e4hrend sie selbst Ver\u00e4nderungen nur nach einer Dimenson gestattet. Wir m\u00fcssen also doch noch nach einer anderen H\u00fclfe suchen. Erinnern, wir uns - aber nur an das Ergebnis der vorbereitenden Untersuchung, so haben wir auch schon, was wir brauchen. Dort hat sich bekanntlich gezeigt, dafs die mannigfachen Vorg\u00e4nge de\u00ae Fundieren\u00ae nicht verst\u00e4ndlich sind, wenn wir uns nicht einer zusammenschliefsenden Th\u00e4tigkeit f\u00fcr f\u00e4hig halten, durch\n1 Mbxhong, Beitr\u00e4ge zur Theorie.... A. a. O. S. 417 fl. u. 8. 432.","page":425},{"file":"p0426.txt","language":"de","ocr_de":"426\nwelche der Wille auf die Gruppierung Einflufs zu nehmen in der Lage ist.\nDiese Th\u00e4tigkeit ist\u2019s also, und somit unser willk\u00fcrliches Eingreifen in die Komplexionsbildung, die den Ausfall derselben in letzter Linie bestimmt. Der fundierte Inhalt ist nicht lediglioh [Resultat eines blind wirkenden psychischen Mechanismus, sondern wir selbst fassen nach eigenem Ermessen die einzelnen Bestandst\u00fccke zu diesen oder jenen Gruppen zusammen und bedingen so die Form der zu bildenden Komplexion h\u00f6herer Ordnung.\nWas uns bei dieser Th\u00e4tigkeit Direktive ist, das m\u00f6chte ich ein Nebenprodukt der vollzogenen Analyse nennen. Diese macht uns n\u00e4mlich mit dem vorliegenden Empfindungsmaterial viel genauer und eingehender bekannt, als es ohne sie m\u00f6glich w\u00e4re; sie l\u00e4fst uns Bindung und Trennung von T\u00f6nen, Einoder Aussetzen von Stimmen, ihr Hervor- oder Zur\u00fccktreten, kurz alles, was man von der Plastik des Vortrages verlangt, bemerken; je vollendeter dieselbe ist, desto leichter die Arbeit des H\u00f6rens. Der musikalisch Unkundige ist ganz auf diesen Wegweiser angewiesen und hat daher manchem polyphonen Tonwerk gegen\u00fcber sohweren Stand. Der mit dem Aufban solcher S\u00e4tze Vertraute hat hingegen an seiner abstrakten Kenntnis dessen, was er h\u00f6ren soll, eine m\u00e4chtige St\u00fctze. \u2014\nWir sind am Ende unserer Untersuchung. Es ware \u00fcberfl\u00fcssig, noch ausdr\u00fccklich zu zeigen, dafs das, was wir an unserem musikalischen Beispiel gewonnen haben, auch allgemein gilt; der polyphone Satz hat uns ja nur dieselben Dienste geleistet, wie eine klar gezeichnete Figur bei einem geometrischen Beweis. \u2014 Auch eines nochmaligen Zusammenfassens des Ergebnisses kann ich mich enthalten; es ist einerseits schon oft genug wiederholt worden, andererseits aber auch einfach und klar genug, ja so einfach, dafs es mir nun fast selbstverst\u00e4ndlich vorkommt. Indes ist der Schein der Selbstverst\u00e4ndlichkeit meist keine schlechte Empfehlung; hoffentlich verh\u00e4lt es sioh auch in diesem Falle so.","page":426},{"file":"p0427.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Psychologie der Komplexionen.\n427\nXL\nDas Verh\u00e4ltnis der Unterscheidungsschwelle der Bestandst\u00fccke zu der der Komplexion.\nEs giebt nicht viele Gebiete menschlichen Schaffens, auf denen f\u00fcr voneinander so verschiedene Leistungen dennoch von diesem oder jenem der Anspruch auf Gleichheit erhoben w\u00fcrde, als auf dem der aus\u00fcbenden Musik. Besehen wir uns einmal folgendes Vorkommnis der musikalischen Praxis, das, ein Beispiel f\u00fcr viele hierher geh\u00f6rige F\u00e4lle, hundert und hundertmal wiederkehrt. Ein Lehrer l\u00e4fst sich von seinem Sch\u00fcler ein Tonst\u00fcck Vorspielen. Die Leistung befriedigt ihn nicht. Eine Menge von Verst\u00f6fsen haben ihn gest\u00f6rt. Aber jeden einzelnen davon zu besprechen, w\u00e4re zu zeitraubend und auch kaum durchf\u00fchrbar. Deshalb spielt er lieber \u2014 nach einem unter Umst\u00e4nden ganz richtigen Grundsatz \u2014 dem Sch\u00fcler das betreffende Tonst\u00fcck selbst vor. S o w\u00e4re die Sache auszuf\u00fchren, meint er am Schlafs zu diesem. Der aber denkt sich, so habe er\u2019s ohnedies gemacht; das Tempo sei ziemlich das gleiche gewesen, sogenanntes Falschgreifen habe er sich nicht zu Schulden kommen lassen, kurz, er kann keinen Unterschied zwischen den beiden Ausf\u00fchrungen finden. Und doch, ein wie betr\u00e4chtlicher mag bisweilen in solchen F\u00e4llen thats\u00e4chlich vorliegen! Di\u00a9 Leistung des Sch\u00fclers ist vielleicht ganz \u00fcberladen von Unebenheiten und Verst\u00f6fsen aller Art. Die Accente sind unrichtig angebracht, die dynamischen Schattierungen fehlen oder sind dem Zufall \u00fcberlassen, Temposchwankungen treten allenfalls je nach den Bed\u00fcrfnissen der Technik ein, Legato und Staccato schwimmen ineinander ; handelt es sich um einen am Klavier ausgef\u00fchrten polyphonen Satz, so klingen T\u00f6ne weiter, die zu verstummen haben, und 'umgekehrt, andere werden ganz \u00fcbersehen, daf\u00fcr nicht hinein-geh\u00f6rende angeschlagen; ja vielleicht klingt wegen verfehlter Tonerzeugung nicht ein einziger Ton so, wie in korrekter Ausf\u00fchrung. So liegen eine Menge von Fl\u00fcchtigkeitsdelikten vor, die alle an und f\u00fcr sich ziemlich unbedeutender Natur sein m\u00f6gen, die aber oft mehr st\u00f6ren, als f\u00fcr jedermann greifbare Verst\u00f6fse. Von den M\u00e4ngeln des Verst\u00e4ndnisses und. der vielberufenen Auffassung, die, als vorzugsweise in asso-","page":427},{"file":"p0428.txt","language":"de","ocr_de":"ziativen und emotionalen Elementen wurzelnd, hier weniger von Belang sind, noch ganz abgesehen. \u2014 Es braucht wohl nicht erst ausdr\u00fccklich bemerkt zu werden, dafs diese Erfahrung nicht nur die Praxis des Musikunterrichtes darbietet, sondern dafs der Unterschied von korrektem und schleuderhaftem Spielen die ganze musikalische Welt durchzieht, so dafs man f\u00fcglich, fliefsende Grenzen vorausgesetzt, die Gesamtheit aller Musiktreibenden in korrekt und in st\u00fcmperhaft Spielende, aber auch die der H\u00f6renden in solche, die den Unterschied zwischen den beiden Gruppen erkennen, und solche, denen er entgeht, einteilen k\u00f6nnte.\nWelchen Wert hat nun diese Thatsache f\u00fcr unsere Untersuchungen? \u2014 Zun\u00e4chst den, als Beleg f\u00fcr die allerdings ziemlich nahe liegende Behauptung zu dienen, dafs es eine Unter8cheidungs- (Urteils-) Schwelle auch auf dem Gebiete h\u00f6chst komplizierter Komplexionen giebt. Denn entgeht mir in dem obigen Beispiel die Verschiedenheit zwischen dem Vortrag des Lehrers und dem des Sch\u00fclers, so ist es eben eine Verschiedenheit, die zwischen zwei Komplexionsinhalten, den betreffenden Melodievor8tellungen, zwar thats\u00e4ohlich besteht, aber von mir nicht gemerkt wird, d. h. also unter meiner Unterscheidungs-Urteils-) Schwelle liegt. Die Notwendigkeit der Annahme einer solchen gegen\u00fcber den Empfindungsinhalten, die einem Kontinuum angeh\u00f6ren, wurde am schlagendsten, soviel mir bekannt, von Stumpf1 dargethan. \u00dcbrigens hat diese Erkenntnis, wenn auch sonst nirgends so \u00fcberzeugenden Ausdruck, so doch heute fast \u00fcberall unbedingte Anerkennung gefunden, so dafs das Gegebensein einer Unterscheidungsschwelle auch auf dem Gebiet der Komplexionen zwar nicht selbstverst\u00e4ndlich, aber doch weder \u00fcberraschend noch merkw\u00fcrdig erscheinen wird.\nDoch das ist nicht alles, was die angef\u00fchrte Erfahrung lehrt. Es ergiebt sich vielmehr aus ihr ein Aufschluss \u00fcber das Verh\u00e4ltnis der Unterscheidungsf\u00e4higkeit an den Bestandst\u00fccken zu der an den Komplexionen.\nJedermann, der einen solchen oben geschilderten Fall einmal in der Praxis beobachtet hat, wird zugeben m\u00fcssen, dafs die Verschiedenheiten zwischen den Bestandst\u00fccken der korrekt und der fl\u00fcchtig ausgef\u00fchrten Komplexion offenbar zum\n1 Tonpsychol. I. S. 33.","page":428},{"file":"p0429.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Psychologie der Komplexionen.\n429\ngrofsen Teil l\u00e4ngst \u00fcber der Schwelle der Merklichkeit liegen. Die Xntensit\u00e4tsunterschiede in beiden F\u00e4llen sind bisweilen recht bedeutende; das Liegenbleiben eines Tones gegen\u00fcber dem Auslassen desselben ist bei den in der Musik vorkommenden Tonst\u00e4rken selbstverst\u00e4ndlich merklich; ebenso begr\u00fcnden die Temposchwankungen Verschiedenheiten, die, wie man sich in den meisten F\u00e4llen durch einfachen, ausdr\u00fccklichen Vergleich \u00fcberzeugen kann, allenfalls keineswegs untermerklich sind. \u2014 So steht es mit allen Abweichungen der Einzelheiten der korrekten Ausf\u00fchrung von denen der fl\u00fcchtigen. Und zwar sind diese Verschiedenheiten, wie wohl kaum ausdr\u00fccklich hinzugef\u00fcgt zu werden braucht, nicht nur f\u00fcr denjenigen merklich, f\u00fcr den es auch gleichzeitig die der Komplexion ist, in unserem Beispiel f\u00fcr den Lehrer, sondern auch f\u00fcr den, dem. diese letztere entgeht, f\u00fcr den Sch\u00fcler ; denn wenn er auf jeden einzelnen Verstofs aufmerksam gemacht wird, so sieht er ihn ja anstandslos ein.\nSo ergiebt sich auf diesem h\u00f6chst einfachen Wege folgendes Verh\u00e4ltnis zwischen der Unterscheidungsschwelle der Bestandst\u00fccke einerseits und der der Komplexionen andererseits. Sind C (ab cd) und C' (of V & <F) Komplexionen derselben Art (in unserem Pall Melodien), von denen je zwei Bestandst\u00fccke a und a\\ b und V u. s. w. eine \u00fcber der Urteilsschwelle liegende Verschiedenheit aufweisen, so ist damit noch keineswegs gegeben, dafis das auch bei der zwischen C(ab cd) und O (a* V & d*) bestehenden Verschiedenheit der Fall ist. \u2014\nVielleicht erhebt sich gegen diese Ausf\u00fchrungen folgender Einwand. Der Vergleich von Unterscheidungsschwellen an Inhalten verschiedener Art hat, wenn \u00fcberhaupt, nur dann Smn und Zul\u00e4ssigkeit, wenn f\u00fcr beide F\u00e4lle ann\u00e4hernd gleiche Aufmerksamkeitsgrade vorausgesetzt werden ; denn bekanntlich sind jene von diesen abh\u00e4ngig. Diese Voraussetzung scheint aber in der den obigen Behauptungen\" zu Grunde liegenden Erfahrungsthatsache nicht erf\u00fcllt; f\u00fcr' die Unterscheidung von a und b und b* wird n\u00e4mlich dabei h\u00f6here Aufmerksamkeit verlangt, als f\u00fcr die der Komplexionen, auf deren fl\u00fcchtige und schleuderhafte Ausf\u00fchrung ja immer hin-gewiesen 'Wurde. Die Aufstellung der obigen Beziehung erschiene daher unzul\u00e4ssig.\nDem ist entgegenzuhalten, dafs die Erh\u00f6hung der Aufmerksam-","page":429},{"file":"p0430.txt","language":"de","ocr_de":"430\nkeit, die beim Vergleichen der Bestandst\u00fccke unter Umstanden Platz greift, keinesfalls zur Hebung der Unterscheidungsfahig-keit aufgewendet wird, sondern nur dazu, die zu vergleichenden Glieder a und a' aus ihrer Komplexion heraus zu analysieren\u00ab Beweis dafftr ist die Thatsache, dafs, wenn a und a' nicht in ihren Komplexionen, sondern gesondert gegeben sind, eine solche Erh\u00f6hung der Aufmerksamkeit zum Erkennen des Unterschiedes gar nicht erforderlich ist, vielmehr schon der Grad, bei welchem die Verschiedenheit der Komplexionen noch un* merklich bleibt, dazu gen\u00fcgt. Wenn jemand zwei Komplexionen miteinander vergleichen soll, so hat er ja nicht die homologen Bestandst\u00fccke zu vergleichen, sondern eben die Komplexionen, die ja bekanntlich etwas Anderes sind, als das objektive Kollektiv jener. Freilich, wenn das nicht der Fall, sondern die Melodie durch die Summe der sie konstituierenden T\u00f6ne gegeben w\u00e4re, dann m\u00fcfste das oben festgestellte Verh\u00e4ltnis unm\u00f6glich sein. Aber so liegt ja die Sache nicht, sondern der Vergleich wird das eine Mal zwischen ganz anderen Inhalten gezogen als das andere Mal; und soweit die Erfahrungsthatsachen sich daraufhin kontrollieren lassen, kann auch bei beidemal gleicher Aufmerksamkeit jenes Ergebnis zum Vorschein kommen, auf dem meine Ausf\u00fchrungen fufsen. \u2014 Betrachten wir \u00fcberdies jene gar nicht seltenen F\u00e4lle, in denen der Vergleichende mit bestem Willen, also mit maximaler Aufmerksamkeit, den Unterschied zwischen den beiden Komplexionen nicht zu erkennen vermag, obwohl er den der Bestandst\u00fccke, sobald sie ihm durch Analyse gegeben sind, bemerkt, so finden wir darin die beste\u00ab Widerlegung dieses Einwandes.\nSchliefalich ist es ja auch gar nichts Verwunderliches, dafs die Unterscheidungsschwellen auf zwei voneinander so ganz verschiedenen Inhaltsgebieten, wie sie Bestandst\u00fccke und Komplexionen, reap, fundierte Inhalte darstellen, wenn sie sich \u00fcberhaupt miteinander in Beziehung setzen lassen, verschiedene H\u00f6he zeigen. \u2014 Es scheint also, dafs sich gegen das vorliegende Ergebnis weder a priori etwas einwenden l\u00e4fst, noch dafs seine Ableitung aus der mehrfach genannten Erfahrungsthatsache auf begr\u00fcndeten Widerstand stofsen k\u00f6nnte.\nDennoch wird es vielleicht bei manchem einiges Befremden erregen. Man ist doch gewohnt, mit Komplexionen im grofsen und ganzen sicherer umzugehen, als mit relativ Einfachem;","page":430},{"file":"p0431.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4gt zur Psychologie der Komplexionen.\n431\nVorstellen und Erkennen sind viel mehr mit jenen besch\u00e4ftigt als mit diesem. Oft genug und in mannigfacher Weise leistet dabei das Komplexe dem Einfachen eine H\u00fclfe.\nDagegen ist zun\u00e4chst nichts weiter zu sagen, als dafs das Bestehen eines derartigen Verhaltens der beiden Unterscheidungsschwellen im einen Fall ja durchaus nicht unvertr\u00e4glich damit ist, dafs es sich gelegentlich einmal in einem anderen Falle entgegengesetzt stellt. Auch ist vorg\u00e4ngig dagegen, dafs irgendwo \u00fcbermerkliche Unterschiede der Komplexionen bei untermerklichen der Bestandst\u00fccke vorliegen, ebensowenig zu sagen, wie gegen den vorhin erw\u00e4hnten umgekehrten Sachverhalt, und alle die Erw\u00e4gungen, die dort gebracht worden sind, um allf\u00e4llige apriorische Bedenken gegen eine derartige Ansicht zu zerstreuen, gelten hier gerade so gut. Es ist also theoretisch ganz wohl m\u00f6glich, dafs einmal in einem bestimmten Fall die Komplexionen noch unterschieden werden k\u00f6nnen, w\u00e4hrend das an den homologen Bestandst\u00fccken nicht mehr gelingt; ob es aber auch praktisch m\u00f6glich ist, das heifst, ob es in der Wirklichkeit vorkommt, das mufs die Empirie 'und deren Deutung zeigen.\nDas ist unter den vorliegenden Umst\u00e4nden freilich mifslich genug. Denn alles Durchsuchen der Erfahrungstatsachen f\u00fchrt zwar zu negativer Beantwortung unserer Frage, aber bekanntlich eignet auf solchem Wege empirisch gewonnenen negativen Urteilen keine Evidenz. Doch gew\u00e4hrt dieses fruchtlose Suchen eine Entsch\u00e4digung, die vielleicht mehr Vertrauen verdient, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Je \u00f6fter es einem n\u00e4mlich passiert, dafs man sich von Thatsachen, di\u00a9 auf den ersten Anschein unsere Frage bejahen, bei n\u00e4herem, Zusehen \u00fcberzeugt, dafs sie doch anders zu verstehen sind, desto mehr bekommt man ein Gef\u00fchl f\u00fcr die Unwahrscheinlichkeit oder gar Unm\u00f6glichkeit des gesuchten Falles ; es scheint, als sichere und \u00fcbe sich dadurch jene \u201epsychologische Phantasie\u201c, die Ehrenfels in der Einleitung sein,es Aufsatzes \u201e\u00dcber F\u00fchlen und Wollen\u201c1 beschreibt. \u2014 Ich will sonach einige dieser Beispiele hier wiedergeben; vielleicht bringen sie den Leser auf diesem Wege zu einer Entscheidung, so wie sie ihn auch mich gef\u00fchrt haben.\n1 Wien, Sitzung eher., phil. hist Kl. BcL 114.","page":431},{"file":"p0432.txt","language":"de","ocr_de":"432\nIrgend ein Anblick, allenfalls der einer Person, einer Landschaft oder von sonst irgend etwas, kommt einem gegen fr\u00fcher entschieden ver\u00e4ndert vor, man weifs aber nicht, worin diese Verschiedenheit liegt, welches Detail sich ver\u00e4ndert hat. Der Unterschied zwischen dem gegenw\u00e4rtigen Anblick und meinem Erinnerungsbild von ihm liegt also \u00fcber der Schwelle; und nun nicht zu wissen, was die Verschiedenheit verursacht, das heifst dooh nichts Anderes, als dafs man an den Bestandst\u00fccken keine Verschiedenheit merken kann? \u2014 Das w\u00e4re voreilig geschlossen. Die Erkl\u00e4rung liegt vielmehr in mangelnder Analyse; die Bestandst\u00fccke sind noch gar nicht einzeln vorgestellt, geschweige denn paarweise verglichen. Wenn ich von Teil zu Teil gehe, werde ich z. B. den Unterschied zwischen dem zahnlosen Mund von ehedem und seinem heutigen besahnten Aussehen schon erkennen k\u00f6nnen. Geschieht die Analyse in hinl\u00e4nglichem Mafs, so kommt man auch auf die Verschiedenheiten der Bestandst\u00fccke. \u2014 \u00dcbrigens spielt im vorliegenden Fall gewils auch die \u201eBekannthextsqualit\u00e4t\u201c1 eine Bolle, die den ganzen Thatbestand vielleicht richtiger ohne Heranziehung von Vergleichung erkl\u00e4rt.\nEin anderes Beispiel. Den Vorfohrungen virtuoser Instrumentalist en gegen\u00fcber hat man bisweilen das \u201eGef\u00fchl\u201c, dafs das etwas ganz Anderes sei, als was man sonst gew\u00f6hnlich h\u00f6rt; man weifs aber nicht, worin es eigentlich liegt. Ebenso passiert es einem manchmal beim Zeichnen von Studienk\u00f6pfen oder von Landschaften nach Vorlagen, dafs die Kopie dem Original kaum \u00e4hnlich sieht, und doch kann man sich keine Bechen Schaft dar\u00fcber geben, wie und wo man es besser zu machen h\u00e4tte. \u2014 Aber das sind lauter F\u00e4lle, die uns nichts Nerses mehr sagen; beim ersteren ist sogar, damit er als hi ehergeh\u00f6rig betrachtet werden kann, noch vonunzusetzeu, dafs er \u00fcberhaupt auf Vergleichung beruht, was durchaus nicht ausgemacht ist. Wenn aber ja, nun dann erkl\u00e4rt ihn sowohl wie den zweiten der Mangel an Analyse und sonach nat\u00fcrlich auch am Vergleichen der erst noch heraus zu analysierenden Be-standst\u00fccfce. Es kann also auch hier nicht v\u00e7n erwiesen unter-merkticher Verschiedenheit derselben gesprochen werden.\n1 S. H\u00f6fpding, \u201e\u00dcber Wiedererkennen, Assoziation und psychische Aktivit\u00e4t\u201c. V\u00fcrtefjahrsachr. f. tom. Philw. Bd. XIII. 8. 4\u00a37.","page":432},{"file":"p0433.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Psychologie der Komplexionen.\n433\nUnd gerade so ist es mir noch mit manchem anderen Beispiel ergangen; bei einem jeden habe ich die \u00dcberzeugung gewonnen, dafs es nur scheinbar f\u00fcr die Bejahung unserer Frage spricht, im Grunde aber anders verstanden werden nxufs. Das f\u00fchrte mich nun nach und nach zu immer festerer Zuversicht in der Behauptung, dafs es* F\u00e4lle von \u00dc bermerklichkeit der Verschiedenheit zwischen den Komplexionen bei Untermerk-lichkeit derer der Bestandst\u00fccke nicht giebt.\nNach diesen Ergebnissen lassen sich daher die verschiedenen M\u00f6glichkeiten des Verhaltens der beiden Unterscheidungsschwellen zu einander in folgender Tabelle \u00fcbersichtlich darstellen :\nVerschiedenheiten\n1.\tFa\u00fc\n2.\tFaH\n3.\tFall\n4.\tFall\nSo\nder Beetandstfteke\nmerklich\nmerklich\nunmerklich\nunmerklich\nd\u00abr Komplex!Wien\nmerklich \u25a0ummerklich unmerklich 1 merklich\ni\nthat8ftchlich nachweisbar.\nausgeschlossen.\nnat\u00fcrlich und von vornherein selbstverst\u00e4ndlich die F\u00e4ll\u00a9 1 und 3 scheinen m\u00f6gen, so zeigt die Tabelle doch, dafs sie nicht Ausdruck eines notwendigen Zusammenhanges sind. \u2014 Der Fall 2 ist \u00fcberdies gegen die Behauptung von Wert, dafs V erschiedenheit zwischen psychischen Thatbest\u00e4nden, wenn sie nur vorhanden sind, auch bemerkt werden m\u00fcssen; denn es wird doch niemand meinen, dafs merklich von einander verschiedene Bestandst\u00fccke gleiche Komplexionen liefern, k\u00f6nnten. Ebenso deutlich zeigt er, dafs das Vergleichen der Komplexionen nicht identisch ist mit dem der Bestandst\u00fccke; eine andere Seite des EHRENFKLSsohen Beweises daf\u00fcr, dafs jene etwas Anderes sind als die Summe dieser. -\u2014\nWelche Umst\u00e4nde sind es, di\u00a9 das Eintreten des Falles 2 ganz besonders beg\u00fcnstigen? \u2014 Zwei Punkt\u00a9 scheinen da vor allem mafsgebend zu sein. Wenn die Aufmerksamkeit in beiden zu vergleichenden Komplexionen vorzugsweise bei dem, was ihnen gemeinsam, ist, verweilt, so entgeht ihr die vorliegende Verschiedenheit nat\u00fcrlich umso leichter. In beiden F\u00e4llen ist es ja im grofsen und ganzen die \u201egleiche\u201c Melodie, die \u201egleiche\u201c Tonfolge ; diese interessiert vor allem und so ruft es die T\u00e4uschung des Urteils hervor. Zweitens ist auch ein gewisser Mangel an, Analyse mit ein Erfordernis des Eintretens unseres Falles. Denn freilich, werden die Bestandst\u00fccke heraus analysiert vorgestellt, so f\u00e4llt die Verschiedenheit an den homologen\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XIV.\n28","page":433},{"file":"p0434.txt","language":"de","ocr_de":"434\nPaaren zu leioht auf, und dieses Urteil beeinflufst dann das \u00fcber die Komplexionen.\nAuf dieser letzteren Thatsache beruht auch der Weg, auf dem in vielen F\u00e4llen eine \u00dcbung der Untersoheidungsfahigkeit f\u00fcr Komplexionen zu st\u00e4nde gebracht wird. Der Lehrer, der seinem Sch\u00fcler das \u201eGef\u00fc\u00dc f\u00fcr korrektes Spielen\u201c sch\u00e4rfen will, packt die Sache nicht so an, dafs er ihm Komplexionen, zwischen denen die mehrfach besprochene Verschiedenheit in gr\u00f6fserem oder geringerem Grad besteht, zum Vergleich vorlegt; das w\u00fcrde, wenn ja, so doch nur sehr langsam zum Ziele f\u00fchren. Er hat ein viel rationelleres Vorgehen im Gebrauch. An jedem Punkt, an dem sioh der Sch\u00fcler einen Verstofs der bezeichneten Art zu Schulden kommen l\u00e4lst, macht er ihn darauf aufmerksam; er veranlagst ihn also zur Analyse und f\u00fchrt ihn dadurch zum Erkennen der Verschiedenheit zwischen den Bestandst\u00fccken der eben ausgefuhrten und der Musterkomplexion. Wenn sioh das des \u00f6fteren wiederholt, so ist jener so weit, zun\u00e4chst auf mittelbarem Wege zum Unterschiedsurteil \u00fcber die Komplexionen zu gelangen. \u2014 Damit ist aber die Wirkungsweise dieses Verfahrens noch nicht ersch\u00f6pft. Denn indirekt sch\u00e4rft sich dadurch auch das unmittelbare Urteil \u00fcber die Komplexionen, so dafs es der Sch\u00fcler schliels-lich erreicht, die zwischen diesen vorliegende Verschiedenheit auch ohne Analyse zu erkennen.\nFreilich begegnet es bisweilen auf anderer Seite grofisen Schwierigkeiten. Der Sprache gebricht oft genug der Ausdruck zur Bezeichnung desjenigen Punktes, an dem der Vergleich zwischen den Bestandst\u00fccken vorgenommen werden solL Wird aber die Analyse des Sch\u00fclers nicht durch m\u00fcndliche Anweisung des Lehrers bereits in ihre Richtung geleitet, so findet er diesen Punkt gar nicht auf und entdeckt naturgem\u00e4fs wieder keinen Unterschied. Der Lehrer ist also neuerdings auf das anschauliche Vorfuhren angewiesen. Aber auch das ist in solchen F\u00e4llen oft mit Schwierigkeiten verbunden, da sich ja manche Bestandst\u00fcoke \u00fcberhaupt nicht isoliert her-steilen lassen, also die Auffindung des zu Vergleichenden neuerdings der Analyse des Sch\u00fclers \u00fcberlassen bleibt. So liegt das einzige Heil im wiederholten aufmerksamen Betrachten der Komplexionen, an welchen sich das zu \u00fcbende Urteil zu bet\u00e4tigen hat. Ein junger Violinspieler erz\u00e4hlte mir, dafs er,","page":434},{"file":"p0435.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Psychologie der Komplexionen.\n435\nals zu seiner letzten Ausbildung ein Meister von Weltruf bestellt wurde, anfangs absolut nicht im st\u00e4nde war, ihn zu befriedigen. Aber alles, was ihm dieser sagen konnte, war: \u201eSo ists nicht; machen Sie\u2019s so\u201c, 'und damit spielte er ihm, das Tonst\u00fcck zwei-, drei- und mehrmals vor. Jedoch selbst mit gr\u00f6fster Aufmerksamkeit konnte der Kunstj\u00fcnger keinen Unterschied gegen sein fr\u00fcheres Spiel herausfinden. Erst nach ver-hfiltnism\u00e4fsig langer Zeit kam ihm nach und nach die Erkenntnis der 'Verschiedenheit. Worin diese gelegen habe, das konnte er mir mit Worten ebensowenig auseinandersetzen, als es ihm gegen\u00fcber sein Lehrer im st\u00e4nde war. Der Weg, der also hier zur Steigerung der Unterscheidungsf\u00e4higkeit eingeschlagen wird, ist sonach dem in jenen gr\u00f6beren F\u00e4llen, von denen wir ausgegangen sind, zum Ziel f\u00fchrenden gerade entgegengesetzt. Die Verschiedenheit der Komplexionen ist zun\u00e4chst auch hier untermerklich. Da sich aber wegen des Mangels der Analyse nicht der Vergleich zwischen den Bestandst\u00fccken zu H\u00fclfe nehmen l\u00e4fst, so m\u00fcssen die Komplexionen selbst aufmerksam und wiederholt betrachtet werden. Das kann nun endlich zum Erkennen der Verschiedenheit f\u00fchren, und, da der Fall 4 ausgeschlossen ist, gleichzeitig der Analyse die Richtung weisend, zum Bemerken des zwischen den Bestandst\u00fccken vorliegenden. \u2014\n\u00dcbrigens mag bisweilen bei solchen Gelegenheiten anf\u00e4nglich auch die Merklichkeit dieser letzteren Verschiedenheit nahe an ihrer Grenze stehen, oder gar der Fall 3 vorliegen. Dann kann sich eine Steigerung der Unterscheidungsf\u00f6higkeit bis zum Erkennen der Verschiedenheit nur so vollziehen, dafs gleichzeitig auch die Verschiedenheiten zwischen den Bestand-st\u00fccken merklich werden. Der Weg dazu kann entweder direkt von der UnmerkUchkeit auf dem Gebiet der Komplexionen zur Merklichkeit auf demselben Gebiet f\u00fchren, so dafs zuerst die Merklichkeitsurteile hier gef\u00e4llt werden; dann mufs aber hinreichende Analyse auch die Verschiedenheit zwischen den Be-standstti\u00e7ken aufzufinden verm\u00f6gen. Oder es gelingt der \u00dcbung, zuerst auf dem Gebiete der Bestandst\u00fccke die Verschiedenheiten zu entdecken, was dann auf mittelbarem Weg auch zum Verschiedenheitsurteil \u00fcber die Komplexionen f\u00fchren kann.\nDamit glaube ich die Frage, in welchem Verh\u00e4ltnis die Unterscheidungsschwelle der Bestandst\u00fccke zu der ihrer Komplexion steht, im wesentlichen erledigt zu haben.\n28*","page":435}],"identifier":"lit30181","issued":"1897","language":"de","pages":"401-435","startpages":"401","title":"Beitr\u00e4ge zur Psychologie der Komplexionen","type":"Journal Article","volume":"14"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:32:18.498219+00:00"}