Open Access
{"created":"2022-01-31T12:28:30.259852+00:00","id":"lit30198","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Wolff, Gustav","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 15: 1-70","fulltext":[{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\nVon\nDr. med. et phil. Gustav Wolff,\nI. Assistenzarzt an der psychiatrischen Klinik in W\u00fcrzburg.\n\u00dcber die Bedeutung psychiatrischer Thatsachen f\u00fcr das Verst\u00e4ndnis des normalen Seelenlebens herrscht heute wohl allgemeine Einigkeit. Sind doch die Krankenbeobachtungen f\u00fcr den Psychologen die wichtigsten Gelegenheiten, das auf allen anderen biologischen Gebieten immer mehr in seinem Wert erkannte Experiment zu H\u00fclfe zu rufen. Bei der \u201eexperimentellen Psychologie^, von der heute so viel gesprochen wird, handelt es sich ja doch meistens nicht um eigentliche experimentelle Untersuchungen, wenigstens nicht um Untersuchungen, denen Experimente im biologischen Sinne des Wortes zu Grunde liegen. Denn Messungen allein, und seien sie auch mit noch so subtilen und komplizierten Apparaten vorgenommen, sind noch keine Experimente. Mit dem gleichen Rechte, mit welchem so manche psychologische Arbeit sich eine experimentelle nennt, k\u00f6nnte jede deskriptiv anatomische Arbeit auf diese Bezeichnung Anspruch machen, sofern mit feinen Apparaten dabei vorgegangen wurde. Wohl hat ja auch die Psychologie eine grofse Reihe wirklich experimenteller Untersuchungen zu verzeichnen, aber was hier erforscht werden kann, sind doch immer beschr\u00e4nkte und keineswegs die wichtigsten Gebiete, weil experimentelle Eingriffe in das Seelenleben der Versuchsperson zwar, wie vielfache Untersuchungen gezeigt haben, m\u00f6glich, aber doch nur in sehr beschr\u00e4nktem Umfang m\u00f6glich sind, und weil das Tierexperiment f\u00fcr die Analyse psychischer Vorg\u00e4nge nur wenig zu leisten vermag. Die Psychologie, dieser wichtigste und h\u00f6chste Zweig der Biologie, st\u00e4nde deshalb gegen\u00fcber den anderen biologischen Disziplinen sehr im Nachteil da, wenn\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XV.\t1","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"2\nGustav Wolff.\nwir nicht Gelegenheit h\u00e4tten, die von der Natur manchmal an-gestellten Experimente zu beobachten.\nDie Experimente der Natur stehen allerdings dem Kunstexperimente bez\u00fcglich ihres methodologischen Wertes bedeutend nach. Denn sie k\u00f6nnen ja niemals systematisch auf Grund bestimmter Fragestellung angestellt werden, sondern sie m\u00fcssen hingenommen werden, wie sie sich zuf\u00e4llig bieten, und nach dem einzelnen uns gegebenen Falle mufs sich unsere Fragestellung richten. Und w\u00e4hrend die M\u00f6glichkeit vielfacher Wiederholung eine grofse Reihe von Fehlerquellen beim Kunstexperiment auszuschliefsen gestattet, sind die Naturexperimente immer nur in der Einzahl gegeben. Denn niemals stimmen zwei, auch noch so \u00e4hnliche F\u00e4lle in allen Einzelheiten \u00fcberein, und nicht selten stehen gerade die wichtigsten F\u00e4lle ganz ohne Analogon da.\nBedenkt man nun, ein wie unberechenbares und schwer zu bearbeitendes Material die menschliche Seele ist, so m\u00f6chte man beinahe daran zweifeln, ob man berechtigt und im st\u00e4nde ist, aus einem derartigen Unikum einen einwandfreien Schlufs, eine sichere Bereicherung unseres Wissens zu sch\u00f6pfen.\nIn einem solchen Falle kommt nat\u00fcrlich alles auf die Sicherheit und Genauigkeit der Untersuchung an. Diese mufs eine nach allen Richtungen m\u00f6glichst ersch\u00f6pfende gewesen sein, und w\u00fcnschenswert ist, dafs sich mehr als ein Beobachter daran beteiligt hat. Denn wenn der Fall nicht mehrmals gegeben sein kann, so soll er wenigstens mehreren gegeben sein.\nA. Der Fall Yoit.\nI. Die bisherige Litteratur.\nIm folgenden m\u00f6chte ich nun zun\u00e4chst berichten \u00fcber die Ergebnisse einer Nachuntersuchung des ber\u00fchmten Falles Voit, eines Falles von traumatischer Sprachst\u00f6rung, der durch die GEASHEYsche Abhandlung \u00fcber amnestische Aphasie allgemein bekannt geworden ist. \u00dcber den Fall existieren bis jetzt folgende Publikationen :\n1. Haupt, Ein Beitrag zur Lehre von den Basisfrakturen\u00bb W\u00fcrzburg 1884.","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\t3\n2.\tMorian, Zwei F\u00e4lle von Kopfverletzungen mit Herdsymptomen. Langenbedes Arch. Band 31, Heft 4.\n3.\tGrashey, \u00dcber Aphasie und ihre Beziehungen zur Wahrnehmung. Arch. f. Psychiatr. Band 16. S. 644 ff., 1885.\n4.\tSommer, Zur Psychologie der Sprache. Zeitschr. f. Psychol, u. Physiol, d. Sinnesorg. Band 2, S. 143ff., 1890.\n5.\tSommer, Ein seltener Fall von Sprachst\u00f6rung. Habilitationsschrift. W\u00fcrzburg 1891.\n6.\tSommer, Grashey, Wernicke, Jahressitzung des Vereins der deutschen Irren\u00e4rzte zu Weimar, 1891. Allg. Zeitschr. f. Psychiatr. Band 48, S. 491 ff.\nWenn ich nun diesen Fall, \u00fcber den bereits eine so umfangreiche Litteratur vorliegt, nach anderthalbj\u00e4hriger Beobachtung einer abermaligen Bearbeitung unterziehe, so f\u00fcrchte ich fast, in den Verdacht zu kommen, eine Ilias post Homerum schreiben zu wollen. Ich glaube aber, zeigen zu k\u00f6nnen, dafs die Ilias bis jetzt nur in sehr kleinen Bruchst\u00fccken auf uns gekommen ist, dafs die Analyse dieses ber\u00fchmten Falles, auf welchen zum Teil recht weitgehende Schlufsfolgerungen aufgebaut worden sind, noch immer einer sehr wesentlichen Erg\u00e4nzung f\u00e4hig war.\nII. Der bisher bekannt gewordene Defekt des Voit und die GrRASHEYsche Erkl\u00e4rung.\nDie abermalige Untersuchung des Falles hat mir in besonders deutlicher Weise gezeigt, wie notwendig bei der Beobachtung derartiger Kranken eine regelrechte systematische Pr\u00fcfung der intellektuellen F\u00e4higkeiten des Patienten ist. Gar zu leicht verleitet eine zuerst entdeckte, vielleicht unmittelbar in die Augen springende Anomalie den Untersucher dazu, sich auf diesen Defekt zu konzentrieren, wobei dann weitere Abnormit\u00e4ten in Gefahr sind, aufser Acht gelassen zu werden.\nLange hatte ich den Fall beobachtet und die meisten der von Grashey und Sommer gemachten Angaben best\u00e4tigt gefunden, ohne denselben wesentliche Erg\u00e4nzungen hinzuf\u00fcgen zu k\u00f6nnen, bis endlich eine systematisch durchgef\u00fchrte Untersuchung, die sich g\u00e4nzlich unabh\u00e4ngig machte von den bisher \u00fcber den Kranken publizierten Beobachtungen und Theorien, mich finden liefs, dafs die bekannt gewordenen Intelligenz-\n1*","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4\nGustav Wolff.\ndefekte dieses Patienten nur ein ganz kleiner Bruchteil dessen sind, was demselben fehlt.\nDer von Geashey an dem Kranken gemachte, von Sommee best\u00e4tigte Befund ist im wesentlichen der, dafs der Kranke nicht im st\u00e4nde ist, f\u00fcr ein gesehenes Objekt den Kamen anders als schreibend zu finden. Der Anblick eines Gegenstandes ist nicht im st\u00e4nde, bei Voit das Wort zu dessen Bezeichnung auszul\u00f6sen, der Kranke vermag jedoch den Namen zu schreiben, und, nachdem er ihn geschrieben hat, auch auszusprechen. Ob er dabei das Geschriebene sieht, ist einerlei, das Wesentliche ist ausschliefslich der Vollzug der Schreibbewegung, die, wie von Sommee festgestellt wurde, mit einem Finger der rechten oder linken Hand, mit der rechten oder linken grofsen Zehe, und sogar, wenn alle vier Extremit\u00e4ten am Schreiben gehindert werden, mit der Zunge in der geschlossenen Mundh\u00f6hle ausgef\u00fchrt werden kann.\nSowohl von Geashey wie von Sommee wurde versucht, diese eigent\u00fcmliche St\u00f6rung auf die bekannten Aphasieschemata zur\u00fcckzuf\u00fchren, beide Beobachter stiefsen bei diesem Versuch auf sehr erhebliche Schwierigkeiten.\nAus der F\u00e4higkeit des Kranken, gesehene Gegenst\u00e4nde zu erkennen, m\u00fcfste nach Geashey1 auf die Intaktheit des \u201eZentrums f\u00fcr Objekt bilder\u201c, aus seiner F\u00e4higkeit, Vorgesprochenes zu verstehen, auf die Intaktheit des \u201eZentrums f\u00fcr Klangbilder\u201c, also aus der vorhandenen St\u00f6rung auf eine L\u00e4sion der Verbindungsbahn beider Zentren geschlossen werden, letzteres jedoch in der Weise, dafs die Leitung vom Klangbildzentrum nach dem Objektbildzentrum erhalten, in umgekehrter Richtung aber unterbrochen sei. Da nun eine nur nach der einen Seite gerichtete Leitungssch\u00e4digung ebenso schwer vorzustellen ist unter Voraussetzung einer einzigen nach beiden Richtungen leitenden Bahn wie unter Voraussetzung doppelter Leitungsbahnen, so erschiene die schematische Darstellung der vorliegenden St\u00f6rung sehr erschwert.\nDiese Schwierigkeit verschwindet nun allerdings bei n\u00e4herem Zusehen. Dafs Voit, wie Geashey betont,2 \u201emit Leichtigkeit unter mehreren Gegenst\u00e4nden denjenigen herausfindet, dessen\n1\tNo. 3, S. 658 ff.\n2\tNo. 3, S. 658.","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n5\nName ihm vorgesprochen wurde/4 ist n\u00e4mlich, wie wir sehen werden, noch nicht als Beweis zu betrachten, dafs der Weg vom Wortklangzentrum zum Objektbildzentrum unverletzt ist. Voit ist n\u00e4mlich, wie sp\u00e4ter gezeigt werden wird, niemals im st\u00e4nde, die optischen Eigenschaften eines ihm genannten Gegenstandes schreibend anzugeben, wenn dieser nicht seiner direkten optischen Anschauung gegeben ist. Der ihm genannte Gegenstand reproduziert also die optische Erinnerung desselben zum mindesten in einer sehr unvollkommenen Weise, und wenn wir das Zentrum f\u00fcr diese Reproduktion als normal annehmen, so k\u00f6nnen wir die Sch\u00e4digung in der Leitung nach diesem Zentrum suchen. Eine L\u00e4sion der Leitung m\u00fcfste dann in beiden Richtungen gefordert werden, und diese Schwierigkeit f\u00fcr eine schematische Darstellung dessen, was Voit im Gegensatz zum gew\u00f6hnlichen Menschen nicht kann, w\u00e4re gehoben. Es bliebe nur noch die Schwierigkeit, die sich der schematischen Darstellung dessen, was Voit im Gegensatz zum gew\u00f6hnlichen Menschen kann, entgegenstellt.\nDer Kranke kann die ihm fehlenden Namen durch Schreiben finden. In der \u00fcblichen Weise m\u00fcfste daher eine Verbindung zwischen dem Objektbildzentrum und dem Zentrum f\u00fcr die Bewegern gsvorstellung der Sprache angenommen werden. Diese Annahme weist jedoch Grashey ab mit den Worten:1 \u201eIn Wirklichkeit aber w\u00e4re mit einer solchen Annahme doch nichts erkl\u00e4rt, sondern lediglich eine Umschreibung der zu erkl\u00e4renden Thatsachen vollzogen.44 Man kann Grashey hierin Recht geben, ohne doch darin einen zwingenden Grund zur Ablehnung obiger Annahme zu finden. Denn man kann fragen, ob denn irgend ein Schema des Sprachvorganges etwas anderes sein soll und sein kann, als eine Einkleidung der Thatsachen in eine bequeme Formel. Wer diese Frage verneint \u2014 und ich glaube dies aufs allerentschiedenste thun zu m\u00fcssen \u2014, der wird an und f\u00fcr sich um so weniger ein Bedenken tragen, die Thatsache, dafs unser Kranker den Namen eines gesehenen Gegenstandes schreibend findet, durch eine Verbindung des Objektbildzentrums mit dem Sprachbewegungszentrum schematisch auszudr\u00fccken, als, worauf Grashey ja selbst hinweist, die postulierte Verbindung ja keine andere w\u00e4re wie diejenige, die bei\n1 No. 3, S. 669.","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6\nGustav Wolff.\njedem schreibenden Taubstummen angenommen werden mufs. Immerhin w\u00e4re die allgemeine Ged\u00e4chtnisschw\u00e4che des Kranken mit diesem Schema noch nicht erkl\u00e4rt, oder besser gesagt, in diesem Schema noch nicht ausgedr\u00fcckt, sondern m\u00fcfste noch als eine besondere accessorische Erscheinung angesehen werden, und diesen, eine einheitliche Darstellung des Falles verhindernden Mifsstand beseitigt allerdings die Grasheys che Auffassung.\nGrashey glaubt, dafs der Kranke nicht, wie man meinen sollte, den Kamen der ihm gezeigten Gegenst\u00e4nde schreibt, bevor die Klangvorstellung des Namens in ihm aufgetaucht ist, sondern er nimmt an, der Patient schreibe nur dasjenige, was er innerlich geh\u00f6rt hat. Wenn der Kranke einen Gegenstand sieht, so taucht nach dieser Auffassung wohl die Klang-Vorstellung des Namens in ihm auf, aber das Ged\u00e4chtnis ist zu schwach, um die Klangvorstellung so lange festzuhalten, als zur Aussprache des Wortes n\u00f6tig w\u00e4re. Wenn der letzte Teil des successive auftauchenden Klangbildes im Bewufstsein erscheint, sind die ersten Teile bereits wieder vergessen, und das Wort kann daher auch nicht ausgesprochen werden. Um dies doch zu k\u00f6nnen, sucht nun der Kranke die einzelnen Teile des Klangbildes successive zu fixieren, indem er sie aufschreibt, und dieser Kunstgriff erm\u00f6glicht ihm dann das Aussprechen des Wortes.\nDiese Auffassung des Falles w\u00fcrde nun allerdings eine einheitliche Beurteilung desselben erm\u00f6glichen und h\u00e4tte deshalb etwas aufserordentlich Verlockendes, wenn es m\u00f6glich w\u00e4re, dieselbe den Thatsachen gegen\u00fcber aufrecht zu erhalten.\nSchon Sommer hat bei seiner Nachuntersuchung des Falles der GRASHEYschen Auffassung gegen\u00fcber un\u00fcberwindlich erscheinende Schwierigkeiten gefunden.\nEr sagt:1 \u201eAlso k\u00f6nnte Voit offenbar nur dann ein ganzes Wort (eine Lautkombination) schreibend finden, wenn er die einzelnen Buchstaben sich in einer dauernd sichtbaren Weise fixierte. Nun vergifst er sie aber durchaus nicht, sondern findet ein Wort gerade so gut auch dann, wenn er es so geschrieben hat, dafs \u00fcberhaupt keine sichtbaren Buchstaben zu st\u00e4nde kommen.14 Diese Thatsache war Grashey bekannt, und er nahm an,2 dafs der Kranke jeden Buchstaben entweder\n1\tNo. 5, S. 7.\n2\tNo. 3, S. 680.","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber 'krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n7\n\u201edurch wirkliches Niederschreiben oder durch Schreibbewegung und gleichzeitiges Aussprechen festh\u00e4lt\u201c. Die M\u00f6glichkeit, dafs der Kranke den von ihm geschriebenen und ausgesprochenen Buchstaben l\u00e4nger festh\u00e4lt als den blofs innerlich geh\u00f6rten, ist ja wohl zuzugeben. Es ist bekannt, dafs man leichter etwas auswendig lernt, wenn man es laut, als wenn man es nur still f\u00fcr sich liest. Aber der Kranke braucht gar nicht die einzelnen von ihm geschriebenen Buchstaben auszusprechen, er thut es \u2014 jetzt wenigstens \u2014 in den allerwenigsten F\u00e4llen. Immerhin ist es m\u00f6glich, dafs der Kranke sie innerlich spricht, und es kann dann vielleicht angenommen werden, dafs er durch die Schreibbewegung und das innerliche Aussprechen des Buchstabens denselben f\u00fcr so lange auswendig lernt, bis er das ganze Wort geschrieben hat. Dies liefse sich also vielleicht zur Not doch noch mit der GRASHEYschen Theorie vereinigen.\nSommer sagt nun weiter: \u201eNach der Hypothese m\u00fcfste Voit auch bei totaler Fesselung1 den Anfangsbuchstaben finden, wenn ihm nur das Bild dauernd vorliegt.\u201c\nDafs Voit hierzu nicht im st\u00e4nde ist, war Grashey ebenfalls bekannt. Nun stellte Sommer2 aber ferner sogar fest, dafs Voit \u201eim gefesselten Zustande selbst ganze Silben und gr\u00f6fsere Bruchst\u00fccke des Namens beim. Vorsprechen des Namens nicht als zu dem Objekte geh\u00f6rig\u201c erkannte.\nDieser SoMMERsche Befund, den ich vollst\u00e4ndig best\u00e4tigen kann, scheint mir allerdings mit der GRASHEYschen Theorie nicht mehr vereinbar zu sein, da er beweist, dafs in Voits Be-wufstsein beim Anblick eines Gegenstandes jedenfalls keine Klangvorstellung auftaucht.\nUnd \u00fcberdies l\u00e4fst sich nun noch direkt beweisen, dafs es eine S ehr ift Vorstellung ist, die in Voit'zun\u00e4chst aufsteigt.\nW\u00e4re n\u00e4mlich Grasheys Annahme wirklich richtig, w\u00e4re wirklich Voits Schreiben weiter nichts als ein Mittel, die einzelnen im Bewufstsein aufsteigenden Lautgebilde zu fixieren, so k\u00f6nnte doch immer nur dasjenige fixiert werden, was von Voit wirklich innerlich geh\u00f6rt wird. Buchstaben, die im Wort nicht geh\u00f6rt werden, m\u00fcfsten auch in einem auf diese Weise ge-\n1\t\u201eTotale Fesselung\u201c nennt Sommer den Zustand des Kranken, in dem er bei festgehaltenen H\u00e4nden und F\u00fcfsen und herausgestreckter Zunge nickt im st\u00e4nde ist, ein Wort innerlich zu finden.\n2\tNo. 5, S. 8.","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8\tGustav Wolff.\nschriebenen Worte fehlen. Es k\u00f6nnte also, um bei einem G\u00fcASHEYschen Beispiele zu bleiben, wohl verst\u00e4ndlich erscheinen, dafs w\u00e4hrend des Anblickens der Giefskanne zuerst der Laut G innerlich geh\u00f6rt und dann durch den Buchstaben G fixiert w\u00fcrde; dafs dann derselbe Vorgang mit dem i stattfinde; aber dafs Voit nunmehr ein ie schreibt, ist jedenfalls auffallend; denn mit dem e schreibt er ja einen Buchstaben, der im Klangbild nicht geh\u00f6rt wird, der vielmehr nur im Schriftbild eine dehnende R\u00fcckwirkung auf den vorhergehenden Buchstaben hat. Es m\u00fcfste also angenommen werden, dafs der Klangvorstellung eines gedehnten i immer die Schriftvorstellung des \u201eie\u201c bei dem Kranken entspricht, was aber nicht der Fall ist, da er im Wort \u201eihnen\u201c die Dehnung durch das \u201eh\u201c ausdr\u00fcckt.\nFerner k\u00f6nnte z. B. Voit unter Voraussetzung der Grashey-schen Hypothese beim Anblick eines Vogels, eines Fisches und einer Photographie im Niederschreiben des Anfangsbuchstabens keine regelm\u00e4fsige Sicherheit zeigen; denn bei allen drei Gegenst\u00e4nden w\u00fcrde das zuerst in ihm aufsteigende Klanggebilde das n\u00e4mliche ^ein, und da Voit das Wort, welches in ihm in statu nascendi begriffen ist, noch gar nicht kennt, so w\u00e4re ihm kein Anhaltspunkt daf\u00fcr gegeben, ob er f\u00fcr den innerlich geh\u00f6rten Laut ein F, ein V oder ein Ph zu schreiben hat. Er w\u00fcrde also entweder f\u00fcr den n\u00e4mlichen Laut immer den n\u00e4mlichen Buchstaben schreiben, oder wenn er aus verschiedenen Buchstaben, die der Schrift f\u00fcr den gleichen Laut zu Gebote stehen, einen ausw\u00e4hlte, so k\u00f6nnte diese Wahl nur vom Zufall abh\u00e4ngen, und die Wahrscheinlichkeit, z. B. in den oben genannten drei W\u00f6rtern den richtigen Buchstaben zu treffen, w\u00e4re sehr klein. Daraus aber, dafs er regelm\u00e4fsig den richtigen Buchstaben w\u00e4hlt, ist zu folgern, dafs er nicht die entstehenden Teile eines Klangbildes, sondern die eines Schriftbildes schreibt. Nur eine rein phonetische Schrift, wie keine Sprache sie besitzt, w\u00fcrde den Patienten in stand setzen, das, was er innerlich successive h\u00f6rt, auch in der konventionellen Orthographie wiederzugeben, aber die Inkonsequenzen einer Orthographie d\u00fcrften bei den schriftlich gefundenen W\u00f6rtern niemals zu Tage treten. Wird ihm ein Bilderrahmen gezeigt mit der Aufforderung, das Wort aufs Papier zu schreiben, so schreibt er \u201eRahmen\u201c richtig mit h; wird ihm in der Abbildung eine Versammlung von Damen gezeigt, so schreibt er","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n9\n\u201eDamen44 richtig ohne h. Nicht weil im einen Fall ein anderes Klangbild in ihm aufsteigt \u2014 denn dies trifft ja nicht zu \u2014, sondern weil ein anderes Schriftbild in ihm erwacht, nur deshalb schreibt er die W\u00f6rter verschieden. Wie sollte Voit wissen k\u00f6nnen, dafs der beim Anblick von Theebl\u00e4ttern zun\u00e4chst in ihm erwachende T-Laut ein Th ist, bei Tinte jedoch nur ein einfaches T? Und doch schreibt er beide W\u00f6rter richtig. Er schreibt sogar Tinte mit T, obwohl er Dinte spricht. Das in ihm entstehende Klangbild beginnt also mit einem D, und ein solches m\u00fcfste er nach der GRASHEYschen Theorie unweigerlich niederschreiben, wenn er die entstehenden Teile seines Klangbildes fixierte. Ihm aber taucht eben zun\u00e4chst nicht das Klangbild, sondern das in der Schule gelernte Schriftbild auf, dieses f\u00e4ngt mit einem T an, und das schreibt er nieder. Er m\u00fcfste nach der GRASHEYschen Theorie \u00fcberhaupt im unterfr\u00e4nkischen Dialekt seine Worte fixieren, wenn er nur seine Klangbilder aufzeichnen w\u00fcrde.\nDie Form der \u201eamnestischen Aphasie44, wofern es eine solche geben sollte, ist also Yoits Sprachst\u00f6rung nicht. Aber wie ist dann die eigent\u00fcmliche Art und Weise, nach der er die Namen findet, zu deuten?\nBevor wir versuchen, eine Antwort auf diese Frage zu geben, m\u00fcssen wir uns vor allem von den sonstigen St\u00f6rungen, die sich in Yoits Seelenleben konstatieren lassen, Kenntnis verschaffen.\nIII. Die bisher nicht bekannt gewordenen Defekte\ndes Yoit.\n1. \u00dcbergang vom Wort zur Yorstellung. a) Optische Sph\u00e4re.\nWir haben schon oben den bisher bekannt gewordenen Krankheitsbefunden eine neue Thatsache hinzugef\u00fcgt, indem festgestellt werden konnte, dafs der dem Kranken vorgesprochene Name eines Gegenstandes die optische Erinnerung dieses Gegenstandes in sehr mangelhafter Weise reproduziert, was aus der Thatsache hervorgeht, dafs Yoit nicht im st\u00e4nde ist, die optischen Eigenschaften des ihm genannten Gegenstandes schreibend anzugeben.","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10\nGustav Wolff.\nFragt man ihn z. B. : \u201eWas hat eine Wiese f\u00fcr eine Farbe?\u201c so ist er nicht im st\u00e4nde, das Wort \u201egr\u00fcn\u201c schreibend zu finden. Die Frage: \u201eWas hat der Zucker f\u00fcr eine Farbe?\u201c hat das gleiche Resultat. \u201eWie viel Beine hat ein Pferd?\u201c Er findet die Antwort nicht. Genau so ist es bei allen optischen Eigenschaften eines ihm genannten Gegenstandes: nicht ein einziges Mal ist er im st\u00e4nde, die richtige Antwort zu geben.\nMan k\u00f6nnte zun\u00e4chst vermuten, dafs der Kranke die an ihn gerichteten Fragen gar nicht verstanden hat, dafs derselbe also nicht weifs, um welchen Gegenstand es sich handelt. Nun hat er aber im Sprachverst\u00e4ndnis gar keine L\u00fccke, denn er f\u00fchrt alle ihm gegebenen Befehle genau aus. Auch werden wir nachher sehen, dafs die Annahme, es handle sich um eine L\u00fccke im Sprachverst\u00e4ndnis, auch noch aus einem anderen Grunde mit absoluter Sicherheit abgewiesen werden kann.\nWir versuchen jetzt, dem Kranken die Antwort zu erleichtern. Wir legen ihm eine Anzahl von farbigen T\u00e4felchen vor, unter welchen auch ein gr\u00fcnes sich befindet, und fragen ihn: \u201eWas haben die Bl\u00e4tter der B\u00e4ume f\u00fcr eine Farbe?\u201c Er ist nicht im st\u00e4nde, auf das gr\u00fcne T\u00e4felchen zu deuten ; die St\u00f6rung, welche ihn am Finden der richtigen Antwort verhindert, liegt also nicht auf der sprachlichen Sph\u00e4re. Die Annahme einer St\u00f6rung im Sehapparate, die ihn aufser st\u00e4nde setze, die Farbent\u00e4felchen zu erkennen, wird widerlegt durch Yoits Verm\u00f6gen, die Farbe jedes einzelnen T\u00e4felchens jederzeit schreibend anzugeben. Fragt man ihn, indem man auf das gr\u00fcne T\u00e4felchen deutet: \u201eSehen die Bl\u00e4tter so aus?\u201c so antwortet er: \u201eKann sein.\u201c Die gleiche Antwort giebt er aber, wenn man dabei auf das blaue, gelbe oder rote T\u00e4felchen deutet.\nAuch aus der ihm vorgelegten W\u00f6rterliste:\nblau,\nrot,\ngr\u00fcn,\ngelb,\nist er nicht im st\u00e4nde, die richtige Antwort zu finden, er verh\u00e4lt sich diesen W\u00f6rtern gegen\u00fcber genau so wie gegen\u00fcber den Farbent\u00e4felchen. Die Gefahr, dafs er w\u00e4hrend des Suchens nach der Antwort die an ihn gerichtete Frage wieder vergifst, wird vermieden dadurch, dafs ihm die Frage fortw\u00e4hrend wiederholt wird.","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"Uber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n11\nWir fragen ihn jetzt: \u201eSind die Bl\u00e4tter an den B\u00e4umen gr\u00fcn?\u201c Er antwortet: \u201eKann sein.\u201c Frage: \u201eSind die Bl\u00e4tter an den B\u00e4umen blau?\u201c Antwort: \u201eKann sein.\u201c\nSolche Versuche wurden mit Hunderten von Beispielen bei dem Kranken wiederholt ; immer mit dem gleichen Erfolg. Der geh\u00f6rte und verstandene Karne ist in keinem einzigen Falle im st\u00e4nde, die optischen Eigenschaften des Gegenstandes zu reproduzieren.\nDiese neu gefundene Thatsache w\u00fcrde uns also wohl an und f\u00fcr sich vielleicht zu der Annahme berechtigen k\u00f6nnen, eine St\u00f6rung in der Leitung zwischen Klangbildzentrum und optischem Objektbildzentrum auch in der Richtung vom ersteren zum letzteren anzunehmen und damit die leichtere Einreihung des Falles in die \u00fcblichen Schemata zu erm\u00f6glichen, wenn wir nicht genau die n\u00e4mliche St\u00f6rung auf allen \u00fcbrigen Sinnessph\u00e4ren konstatieren m\u00fcfsten, also f\u00fcr die Verbindung des Klangbildzentrums mit den Zentren der \u00fcbrigen sinnlichen Erinnerungsbilder genau die n\u00e4mliche Verletzung postuliert werden m\u00fcfste.\nb) Akustische Sph\u00e4re.\nAuch die akustischen Eigenschaften eines ihm genannten Gegenstandes kann unser Kranker nicht angeben. Die Fragen: \u201eWie macht der Hund?\u201c \u201eWas thut die Uhr nach jeder Stunde ?\u201c \u201eWie schreit der Hahn?\u201c u. s. w. kann er nicht beantworten. Auch hier n\u00fctzt es nichts, ihm die richtige Antwort anzubieten ; die Zugeh\u00f6rigkeit der Antwort zur Frage kann er auch, wenn ihm die Antwort gegeben wird, nicht erkennen. Die Frage: \u201eMacht der Hund wau-wau?\u201c beantwortet er mit einem: \u201eKann sein\u201c, aber ebenso die Frage: \u201eMacht die Katze wau-wau?\u201c oder: \u201eSchreit der Hahn miau?\u201c, auch wenn bei der Frage ihm die entsprechenden Abbildungen vorgelegt werden. Einem rein akustischen Gegenst\u00e4nde kann man optische Eigenschaften beilegen, ohne dafs er Widerspruch erhebt. Die Frage: \u201eIst der Donner blau?\u201c wird entweder mit einem \u201eJa\u201c oder einem \u201eKann sein\u201c beantwortet.\nc) Taktile Sph\u00e4re.\nDie taktilen Eigenschaften eines ihm genannten Gegenstandes ist Voit ebensowenig im st\u00e4nde anzugeben, auch in","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"12\nGustav Wolff.\nder taktilen Sph\u00e4re finden wir dieselbe Eigent\u00fcmlichkeit wie in der optischen und der akustischen. Die Fragen: \u201eWie mufs ein Messer sein, damit es schneidet?\u201c \u201eWie mufs die Nadel sein, damit sie sticht?\u201c \u201eWie mufs die Eisbahn sein, damit man gut Schlittschuh fahren kann?\u201c und \u00e4hnliche werden alle von dem Kranken nicht beantwortet. Auch hier kann ihm der gr\u00f6fste Unsinn angeboten werden, ohne dafs er abgewiesen wird. Die Frage: \u201eMufs ein Messer stumpf sein, damit es schneidet?\u201c kann nur die stereotype Antwort: \u201eKann sein\u201c entlocken.\nd)\tGustatorische Sph\u00e4re.\nFragen: \u201eWie schmeckt der Zucker?\u201c und \u00e4hnliche k\u00f6nnen nicht beantwortet werden. Die Frage: \u201eSchmeckt der Zucker bitter?\u201c entlockt das \u00fcbliche \u201eKann sein.\u201c\ne)\tOlfaktorische Sph\u00e4re.\nHier k\u00f6nnen ja nur die Antworten \u201egut\u201c und \u201eschlecht\u201c erwartet werden, aber auch sie werden nicht gegeben. Die Fragen: \u201eWie riecht die Hose?\u201c \u201eWie riecht das Gras?\u201c \u201eWie riecht der Misthaufen?\u201c etc. bleiben unbeantwortet.\nf)\tVoits H\u00fclfsmittel\nzur Verdeckung der bisher geschilderten Defekte.\nWir finden also auf allen sinnlichen Gebieten denselben Defekt, dafs Voit nicht im st\u00e4nde ist, die sinnlichen Eigenschaften der ihm genannten Gegenst\u00e4nde anzugeben, obwohl ihm sein H\u00fclfsmittel des Schreibens zur Verf\u00fcgung steht. Es ist dies eben kein Sprachfehler, sondern ein Fehler im Vorstellungsverm\u00f6gen. Der Kranke kann sich den ihm genannten Gegenstand nicht so vorstellen, dafs ihm die sinnlichen Eigenschaften desselben zum Bewufstsein kommen. Er kann die Erinnerungsvorstellung der sinnlichen Eigenschaften nicht reproduzieren und kann daher auch nicht entscheiden, ob eine ihm angebotene Eigenschaft zutrifft oder nicht.\nGerade aber der Umstand, dafs Voit sich offenbar keine einzige Eigenschaft eines genannten Gegenstandes vorstellen kann, ist geeignet, unser Bedenken nochmals wachzurufen, ob","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\t13\nVoit auch wirklich den ihm vorgesagten Namen immer richtig verstanden hat. Denn das Verst\u00e4ndnis des Namens kann doch nur darin bestehen, dafs man den durch den Namen bezeich-neten Gegenstand vorstellt. Worin anders aber, so sollte man meinen, kann die Vorstellung eines Gegenstandes bestehen, als in der Vorstellung seiner Eigenschaften?\nDafs aber unser Kranker, obwohl er keine Eigenschaft sich vorstellen kann, trotzdem verstanden hat, um welche Sache es sich handelt, das beweist nicht nur seine prompte Ausf\u00fchrung aller Befehle, sondern vor allem, dafs er im st\u00e4nde ist, den Gegenstand, dessen Name ihm genannt ist, aufzusuchen, sich die Eigenschaften des Gegenstandes zur direkten sinnlichen Anschauung zu bringen und sie dann schreibend zu nennen.\nFragt man ihn nach der Farbe der Bl\u00e4tter, so geht er ans Fenster und sucht sich den Anblick eines Baumes zu verschaffen, und sobald ihm dies gelungen ist, ist er im st\u00e4nde, das Wort \u201egr\u00fcn\u201c schreibend anzugeben. Er weifs also genau, was man von ihm will, es fehlt ihm nur die sinnliche Vorstellung. Es n\u00fctzt ihm nichts, wenn er blofs gr\u00fcne Gegenst\u00e4nde sieht, er mufs wirklich gr\u00fcne Bl\u00e4tter sehen. Dafs er die Fragen sehr wohl verstanden, geht besonders deutlich hervor, wenn man ihn nach den Eigenschaften eines Gegenstandes fragt, bei dem der Versuch, sich denselben zur direkten Anschauung zu bringen, von vornherein aussichtslos w\u00e4re. In solchen F\u00e4llen wird dieser Versuch von unserem Kranken \u00fcberhaupt gar nicht gemacht. Fragt man ihn : \u201eWie viel Beine hat ein Pferd?\u201c so geht er ans Fenster und wartet, bis ein Pferd vor\u00fcbergeht. Fragt man ihn aber nach der Farbe des Schnees, so geht er zwar im Winter ans Fenster, im Sommer aber unterl\u00e4fst er den Versuch, sich Schnee zur Anschauung zu bringen, und beantwortet die Behauptung, der Schnee sei schwarz, mit einem zufriedenen \u201eKann sein\u201c. Dieselbe Keaktion erfolgt auf die Behauptung: \u201eAuf der Strafse laufen die Leute nackt herum\u201c, aber nur so lange, als er auf der Strafse keinen Menschen vor\u00fcbergehen sieht. Sobald ein Passant wahrzunehmen ist, deutet er auf denselben und ruft: \u201eNein, nein! Kleider!\u201c Das interessanteste ist vielleicht folgendes Beispiel, welches besonders deutlich zeigt, wie bestimmt der Kranke weifs, um was es sich handelt, wie richtig er also das ihm genannte","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14\nGustav Wolff.\nWort verstanden hat nnd wie notwendig trotzdem die sinnliche Anschauung ist, um die sinnlichen Eigenschaften anzugeben. Ich fragte ihn einmal nach der Farbe des Blutes. Er besinnt sich lange, sieht h\u00fclflos im Zimmer umher, schliefslich dr\u00fcckt er sich eine auf seiner Hand befindliche kleine Pustel auf, bis er einen Tropfen Blut sieht, und nun giebt er schreibend die Antwort \u201erot\u201c. Bote Gegenst\u00e4nde waren dabei zahlreich im Zimmer, sodafs er hinreichend Gelegenheit hatte, sich den sinnlichen Eindruck des \u201eRot\u201c zu verschaffen, aber der sinnliche Eindruck allein gen\u00fcgt eben nicht, ihn die Eigenschaft finden zu lassen, es mufs ihm der Gegenstand selbst gegeben sein.\ng) Uichtsinnliche Eigenschaften.\nViel Zeit und M\u00fche wurde auf die Untersuchung dieses Gebietes verwendet. Besonders erschwert ist dieselbe hier dadurch, dafs jede Kontrolle fehlt, ob der Kranke verstanden hat, was man von ihm will. Die Fragen: \u201eIst der Hund falsch?\u201c \u201eKommen die guten Leute ins Zuchthaus?\u201c \u201eDarf man Menschen totschlagen?\u201c \u201eDarf man stehlen?\u201c und viele \u00e4hnliche wurden nur mit \u201eKann sein\u201c beantwortet, sodafs es zun\u00e4chst scheint^ als ob der n\u00e4mliche Defekt in der Vorstellungsf\u00e4higkeit auch auf diesem Gebiet vorliegt. Doch ist es gelungen, nachzuweisen, dafs der Defekt hier kein so hochgradiger ist, dafs es vielmehr hier bei ganz kurzer und einfacher Fragestellung in besonders guten Momenten, wenn er noch recht frisch und \u00fcberhaupt gut gelaunt ist, manchmal gelingt, ihm ein Wort zu entlocken. Die Behauptung: \u201eSie sind ein elender Lump!\u201c wurde lachend abgewehrt. \u201eSie haben Ihre Frau ermordet!\u201c wird ebenfalls verneint. \u201eWas ist einer, der gar nichts beh\u00e4lt, alles vergifst und gar nichts lernen kann?\u201c wurde einmal mit \u201efaul\u201c, ein anderes Mal mit \u201edumm\u201c beantwortet.\nDagegen wurde die Frage: \u201eIst ein Bettler reich oder arm?\u201c auch dann nicht beantwortet, wenn der Bettler ihm pantomimisch vorgespielt wird. Ebenso blieben zahlreiche \u00e4hnliche Fragen erfolglos.\nDie Frage: \u201eWohnt Gott in der H\u00f6lle?\u201c wurde verneint, und auf die weitere Frage: \u201eWo wohnt er denn?\u201c blickte der Kranke nach dem Himmel und sagte dann: \u201eIm Himmel.\u201c Die einige Monate sp\u00e4ter erfolgte Wiederholung dieses Versuchs hatte jedoch nur ein negatives Resultat.","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"t ber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n15\nAuf die Frage: \u201eWohnt der Teufel im Himmel?\u201c erfolgte die Antwort: \u201eJa\u201c; als \u00fcber die Antwort Unzufriedenheit ge-\u00e4ufsert wurde, sagte er: \u201eIch habe ihn noch nie gesehen, ich weifs nicht.\u201c\nAuf die Frage: \u201eSind Sie brav oder schlecht?\u201c erfolgte einmal die Antwort \u201ebrav\u201c, das andere Mal die Antwort \u201egut\u201c. Die Antwort \u201egut\u201c, die in der Frage nicht gegeben war, ist wichtig, weil sie eine Kontrolle gab, dafs der Kranke den Sinn der Frage richtig verstanden hatte und nicht blofs von den vorgesprochenen Worten ein beliebiges aus w\u00e4hlte.\nEine Patientin der Klinik erkl\u00e4rte er einmal wegen einer scherzhaft gemeinten Bede f\u00fcr ein \u201edummes Luder.\u201c\nAuf die Frage, was er davon halte, dafs er eine so kleine Unfallsrente bekomme, sagte er: \u201edas ist nicht recht, dafs sie mir so wenig geben, aber da kann man nichts machen.\u201c\nAls einer der Anwesenden einmal \u00fcber ihn lachte, sagte er: \u201edas ist nicht sch\u00f6n, dafs man \u00fcber mich lacht.\u201c\nJedenfalls zeigen einzelne solche Beispiele, dafs in Bezug auf die Beproduktionsf\u00e4higkeit auf nichtsinnlichem Grebiet eine etwas weniger hochgradige Schw\u00e4chung zu verzeichnen ist, dafs die Ausdr\u00fccke, zu deren Auffindung sinnliche St\u00fctzen wertlos sind, als reine Wortassoziationen am festesten eingepr\u00e4gt sind.\nTrotzdem werden manchmal auch in solchen F\u00e4llen sinnliche St\u00fctzen gesucht. Auf die Frage: \u201eWer hat die Welt erschaffen?\u201c antwortet er: \u201eIm Buch steht\u2019s !\u201c und ein genaueres Examen ergiebt, dafs er versucht hatte, sich an die betreffende Stelle im Katechismus zu erinnern.\nAuch die Verba \u201eSehen\u201c und \u201eH\u00f6ren\u201c, denen ja an und f\u00fcr sich nichts Sinnliches anhaftet, sondern die nur die abstrakte Bezeichnung f\u00fcr eine sinnliche Th\u00e4tigkeit darstellen, auch diese W\u00f6rter k\u00f6nnen mit H\u00fclfe sinnlicher St\u00fctzen ihm entlockt werden. Fragt man ihn n\u00e4mlich, was man mit dem Auge thue, so erh\u00e4lt man keine Antwort. Bedeckt man ihm jedoch intermittierend die Augen, sodafs er abwechselnd den Eindruck des Hellen und des Dunkeln erh\u00e4lt, so findet er das Wort \u201esehen\u201c. Analog kommt ihm das Wort \u201eh\u00f6ren\u201c, wenn man w\u00e4hrend der Frage, wozu das Ohr diene, ihm intermittierende Greh\u00f6rseindr\u00fccke zug\u00e4nglich macht.","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16\nGustav Wolff.\n2. \u00dcbergang von einem Sinn zum andern.\na) Erkennung von Gegenst\u00e4nden durch den Gesichtssinn.\nNach landl\u00e4ufiger Auffassung kommt die Vorstellung oder der Begriff eines Gegenstandes dadurch zu st\u00e4nde, dafs der geh\u00f6rte Name desselben die einzelnen ErinnerungsVorstellungen seiner sinnlichen Eigenschaften durch assoziative Reproduktion wachruft, dergestalt, dafs aus der Gesamtheit der einzelnen Teilvorstellungen die Gesamtvorstellung des Gegenstandes oder dessen Begriff resultieren soll.\nDiese Gesamtvorstellung eines Gegenstandes kommt auch dadurch zu st\u00e4nde, dafs die durch irgend einen Sinn zu st\u00e4nde gekommene Anschauung die Erinnerung an die \u00fcbrigen sinnlichen Eigenschaften, die mit dem betreffenden Sinn nicht erkannt werden k\u00f6nnen, durch Reproduktion der entsprechenden Assoziationen im Bewufstsein auftauchen l\u00e4fst.\n\"Wir haben nun bei unserem Kranken eine sehr bedeutende Schw\u00e4che in der Reproduktion sinnlicher Erinnerungs Vorstellungen gefunden, welche es dem Patienten unm\u00f6glich macht, die Eigenschaften eines ihm genannten Gegenstandes anzugeben. Dabei ist eben das Auffallende, dafs der ihm genannte Name den Kranken zwar in den Stand zu setzen scheint, sich den Gegenstand als solchen, nicht aber seine Eigenschaften vorzustellen. Wie nun ein Gegenstand vorgestellt werden soll, ohne dafs seine Eigenschaften vorgestellt werden, das ist jedenfalls sehr schwer, sich vorzustellen. Aber wir haben doch bei dem Kranken offenbar die Thatsache. Denn wie wollte er auf den Gedanken kommen, eine Pustel sich aufzudr\u00fccken, wenn er nicht den Gegenstand Blut sich vorstellte, dessen Eigenschaften er sich nicht vorstellen kann? Oder hat er nur eine Vorstellung davon, wo er nach dem Gegenstand zu suchen hat?\nJedenfalls erscheint es jetzt besonders wichtig, m\u00f6glichst genau zu untersuchen, wie sich bei dem Kranken das Verh\u00e4ltnis der sinnlichen Anschauungen bezw. der sinnlichen Assoziationen gestaltet. Wir wollen also vor allem uns dar\u00fcber unterrichten, wie der Kranke sich verh\u00e4lt und was in seinem Bewufstsein vor sich geht, wenn er einen Gegenstand erkennt nicht dadurch, dafs er dessen Namen h\u00f6rt, sondern dadurch, dafs er denselben durch irgend einen Sinn direkt wahrnimmt.","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcler krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n17\nWir haben gefunden, dafs der Kranke gesehene Gegenst\u00e4nde schreibend mit Namen zu nennen weifs. Dafs jemand den Namen eines Gegenstandes nennt, ist wohl das allgemeinste Zeichen daf\u00fcr, dafs er ihn erkannt hat. Es w\u00e4re aber immerhin m\u00f6glich, dafs die den Namen hervorbringende Bewegung nur mechanisch ausgel\u00f6st wird, ohne dafs ein wirkliches Erkennen stattfindet. Hiervon kann jedoch bei unserem Kranken nicht die Bede sein, da er von den gesehenen Gegenst\u00e4nden immer den richtigen Gebrauch macht. Er setzt sich auf den gesehenen Stuhl, er bedeckt mit dem gesehenen Hut den Kopf, er f\u00fchrt das gesehene Glas zum Munde und trinkt es aus u. s. w. Obwohl also demnach eine wirkliche Erkennung der gesehenen Gegenst\u00e4nde bei Yoit stattfindet, so kann dieselbe doch nicht in der Beproduktion der Erinnerung an die nicht sichtbaren Eigenschaften der gesehenen Gegenst\u00e4nde bestehen. Denn der Kranke ist in keinem einzigen Fall im st\u00e4nde, eine nicht optische Eigenschaft des gesehenen Gegenstandes zu reproduzieren.\nEs wird ein St\u00fcck Zucker auf den Tisch gelegt. Yoit wird gefragt, was das sei. Er antwortet, nat\u00fcrlich wie immer schreibend, \u201eZucker64. Auf die Frage: \u201ewas hat er f\u00fcr eine Farbe?44 sagt er: \u201eweifs44. Aber auf die Frage, wie der Zucker schmecke, kann er die Antwort \u201es\u00fcls44 nicht finden, sondern er sucht sich des Zuckers zu bem\u00e4chtigen, ihn in den Mund zu stecken, um sich die direkte gustatorische Anschauungs-Vorstellung zu verschaffen. Erst, wenn ihm dies gelungen ist, aber keinen Moment vorher, ist er im st\u00e4nde, das Wort \u201es\u00fcfs44 schreibend zu finden.\nEs wird ihm eine glatte, spiegelnde Glasplatte gezeigt. Vor seinen Augen wird mit dem Finger rasch auf der Platte hin und hergefahren und Yoit nun gefragt, wie die Platte sein m\u00fcsse, wenn man so leicht auf ihr hin und herfahren k\u00f6nne. Aber selbst die Frage, ob denn die Platte rauh sei, ist nicht im st\u00e4nde, ihm das Wort \u201eglatt44 zu entlocken; er will die Platte selbst betasten und mit dem Finger auf ihr herumfahren, und erst wenn er das gethan hat, findet er schreibend das Wort \u201eglatt44.\nEin Gef\u00e4fs mit heifsem Wasser wird hereingebracht; obwohl er das Wasser dampfen sieht, ist keine Fragestellung, selbst die Frage, ob das Wasser kalt sei, im st\u00e4nde, ihm das\n2\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XV.","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18\nGustav Wolff.\nWort \u201eheifs\u201c zu entlocken. Er mufs selbst den Finger in den Dampf oder an das G-ef\u00e4fs halten, und erst dann kann er die Antwort schreibend finden.\nDerartige Versuche habe ich hundertfach mit Voit angestellt und mit Sicherheit konstatiert, dafs er nie im st\u00e4nde ist, irgend eine nicht optische Eigenschaft eines durch den Gesichtssinn wahrgenommenen Gegenstandes anzugeben.\nBis jetzt kommen wir also zu dem Resultat, dafs Voit gesehene Gegenst\u00e4nde erkennt und schreibend mit dem richtigen Namen zu benennen weifs, dafs er jedoch die nichtoptischen Eigenschaften der gesehenen Gegenst\u00e4nde nicht anzugeben im st\u00e4nde ist.\nNun ist aber das Namenfinden f\u00fcr gesehene Gegenst\u00e4nde bei Voit keine Regel ohne Ausnahme, vielmehr haben sich einzelne F\u00e4lle ermitteln lassen, in denen die optische Wahrnehmung nicht ausreicht zur Namenfindung.\nDer Kranke findet z. B. niemals das Wort \u201eGas\u201c aus den Gasr\u00f6hre% den Gasschl\u00e4uchen oder der nicht brennenden Gaslampe. Nur wenn ihm gestattet wird, die letztere anzuz\u00fcnden, oder wenn dies f\u00fcr ihn besorgt wird, nur dann findet er das Wort \u201eGas\u201c. Richtet man es jedoch so ein, dafs der Gasbrenner mit blauer, nichtleuchtender Flamme brennt, so ist ihm der optische Eindruck dieser Flamme noch nicht gen\u00fcgend, um ihn den Namen finden zu lassen: nur die helle Flamme imponiert ihm hinl\u00e4nglich als Flamme, um ihn in stand zu setzen, das Wort zu sprechen. Tritt, w\u00e4hrend er die blaue Flamme ansieht, pl\u00f6tzlich einmal ein momentaner leuchtender Schein in derselben auf, wie dies bei der blauen Bunsenfiamme durch Losreifsung irgendwelcher Partikelchen manchmal der Fall ist, dann kann er sofort das Wort \u201eGas\u201c schreiben bezw. sprechen. Der optische Eindruck bedarf also einer ganz besonderen Deutlichkeit, um den Kranken in den Stand zu setzen, das Wort zu finden.\nDies zeigt sich z. B. auch, wenn man ihm eine mit Wasser halb gef\u00fcllte und zugekorkte Flasche zeigt. Obwohl er durch das farblose Glas hindurch deutlich das \"Wasser sich bewegen sieht, kann er trotzdem das Wort \u201e\"Wasser\u201c nicht finden. Nur, wenn er den Kork abnehmen darf, oder wenn er sonst im Zimmer freies Wasser sieht, findet er das Wort. Auch hier ist der optische Eindruck durch das, wenn auch farblose","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\t19\nGlas hindurch zu schwach, um ihn den Hamen finden zu lassen.\nEin sehr instruktives Beispiel f\u00fcr die Bestimmtheit, mit welcher manchmal der optische Eindruck dem Kranken gegeben sein mufs, bietet sein Verhalten gegen\u00fcber einem Regenschirm. Der unaufgespannte Schirm gen\u00fcgt nicht, nicht einmal der halbaufgespannte : nur der v\u00f6llig aufgespannte setzt ihn in stand, das Wort \u201eSchirm\u201c zu sprechen. Dabei ist der Erfolg der gleiche, ob man ihm den aufgespannten Schirm zeigt, oder ob er erst von ihm aufgespannt wird. Dafs er das ganze Wort \u201eRegenschirm\u201c ohne den optisch gegebenen Regen nicht findet, ist nach allem Gesagten leicht verst\u00e4ndlich.\nEin anderes hochinteressantes Beispiel f\u00fcr die Pr\u00e4gnanz, die oft f\u00fcr den optischen Eindruck gefordert wird, hatten wir in der Unf\u00e4higkeit des Kranken, die Farbe des Blutes anzugeben, ohne wirkliches Blut zu sehen, schon kennen gelernt. Er sah ja dabei die roten Lippen der Anwesenden und weifs doch sicher, dafs diese R\u00f6te von Blut bewirkt wird: trotzdem mufs er freies Blut sehen, um die Farbe angeben zu k\u00f6nnen.\nZeigt man dem Kranken den Wasserleitungshahn in der K\u00fcche und fragt ihn, was das sei, so sagt er \u201eWechsel\u201c. Diese Verwechselung scheint darauf zu beruhen, dafs \u201eWechsel\u201c offenbar ein terminus technicus der Bierbrauerei f\u00fcr irgend einen dem Wasserhahn \u00e4hnlich sehenden Apparat ist. Dreht man den Hahn jedoch auf und l\u00e4fst etwas Wasser ausfliefsen, so sagt er sofort \u201eWasserleitung\u201c.\nGiebt man ihm eine Haarnadel, so sagt er \u201eNadel\u201c. Auf die Fragen : \u201eist es eine Stricknadel, oder eine N\u00e4hnadel, oder eine Stecknadel?\u201c erwidert er nur \u201eNadel\u201c. Erst wenn man die Haarnadel ans Haar h\u00e4lt, sagt er \u201eHaarnadel\u201c.\nHier ist also der optische Eindruck der Haarnadel an sich noch nicht stark genug, um den ganzen Namen auszul\u00f6sen es mufs ihm dazu die Kombination der Nadel mit dem Haar als optische Anschauung gegeben sein.\nEinen auffallenden Kontrast zu der in den vorigen Beispielen hervorgetretenen Unf\u00e4higkeit, eine unvollst\u00e4ndige optische Anschauung aus der Erinnerung zu erg\u00e4nzen, werden wir sp\u00e4ter kennen lernen, wenn wir erfahren werden, wie der Kranke taktile Eindr\u00fccke durch optische Wahrnehmungen erg\u00e4nzt,\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\nGustav Wolff'.\nwobei oft ein unvollst\u00e4ndiger und fl\u00fcchtiger Gesiebtseindruck zur Erkennung gen\u00fcgt.\nJedenfalls haben wir jetzt gesehen, dafs man den Satz, der Kranke k\u00f6nne gesehene Gegenst\u00e4nde mit dem richtigen Kamen bezeichnen, doch nicht als allgemeing\u00fcltige Regel aussprechen kann, dafs vielmehr einige Ausnahmen existieren.\nb) Erkennung durch den Tastsinn.\nEs erhebt sich nunmehr die Frage: Wie verh\u00e4lt sich Voit in Bezug auf die Eigenschaften eines von ihm nicht durch den Gesichtssinn, sondern durch einen anderen Sinn, z. B. durch den Tastsinn wahrgenommenen Gegenstandes ? Kann er in diesem Falle z. B. die optischen Eigenschaften des betreffenden Gegenstandes an geben?\nDiese Frage setzt voraus, dafs Voit \u00fcberhaupt im st\u00e4nde ist, durch einen anderen Sinn, wie den Gesichtssinn, Gegenst\u00e4nde zu erkennen. Diese Vorfrage mufs daher zuerst noch beantwortet werden.\nGbashey1 sagt von dem Kranken, dafs nicht nur die optische, sondern auch die taktile Wahrnehmung ihn in den Stand setze, einen bekannten Gegenstand zu erkennen. Er k\u00f6nne also auf diesem Wege z. B. einen Schl\u00fcssel, den er, ohne ihn zu sehen, betaste, \u201eerkennen\u201c, das soll doch wohl heifsen, schreibend mit dem richtigen Kamen benennen.\nWir wiederholen diesen GBASHEYschen Versuch und finden, dafs wirklich Voit in der Regel den Kamen des betasteten Schl\u00fcssels schreibend findet. Man kann n\u00e4mlich, wie gleich hier bemerkt werden mag, das n\u00e4mliche Experiment fortw\u00e4hrend wiederholen; wofern man nur eine einzige andere Frage den Kranken inzwischen hat beantworten lassen, hat er das vorige Experiment schon wieder so g\u00e4nzlich vergessen, dafs sein Be-wufstsein wieder in Bezug auf dieses Experiment eine vollst\u00e4ndige tabula rasa darbietet. Der Tastversuch mit dem Schl\u00fcssel gelingt also in der Regel, aber nicht immer. Voit findet den Kamen z. B. niemals, wenn man ihm beim Betasten des Schl\u00fcssels die Augen verbindet. Hier mufs sich deshalb der Verdacht erheben, dafs es dem Kranken bei unverbundenen Augen vielleicht doch gelungen war, unbemerkt einen raschen\n1 No. 8, S. 673.","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n21\nBlick auf den Schl\u00fcssel zu werfen und dann auf Grund seiner optischen Wahrnehmung den Namen zu finden. Der Versuch mit unverbundenen Augen wird deshalb nochmals mit allen Kautelen wiederholt, und zwar in der Weise, dafs dem Kranken der Schl\u00fcssel in die Hosentasche gesteckt und Voit aufgefordert wird, mit der Hand in der Tasche den Schl\u00fcssel zu betasten. Kurze Zeit vergeht, und der Patient findet schreibend das Wort \u201eSchl\u00fcssel\u201c.\nEs ist also klar, dafs neben der taktilen irgend eine optische Wahrnehmung f\u00fcr unseren Kranken den Schl\u00fcssel zum \u201eSchl\u00fcssel\u201c bildet.\nIn der That: entfernt man vor dem Versuch den im Schl\u00fcsselloch der Th\u00fcr steckenden oder sonst zuf\u00e4llig irgendwie sichtbaren Schl\u00fcssel, so ist der Kranke nunmehr auch mit unverbundenen Augen nicht mehr im st\u00e4nde, das Wort \u201eSchl\u00fcssel\" schreibend zu finden.\nDieser Versuch wurde mit zahlreichen Gegenst\u00e4nden angestellt, die der normale Mensch leicht durch Tasten erkennt. Solche Gegenst\u00e4nde sind ein Taschenmesser, eine Feder, ein Bleistift, ein King. Es ist klar, dafs wohl in jedem Untersuchungszimmer solche Gegenst\u00e4nde immer zu sehen sind, und es ist daher verst\u00e4ndlich, dafs Voit diesen Defekt bisher so gr\u00fcndlich zu verbergen wufste. Er zeigt auch in der Ausnutzung der ihm zur Verf\u00fcgung stehenden optischen Anschauungen wirklich eine grofse Geschicklichkeit. Giebt man ihm z. B. einen King zu betasten und l\u00e4fst alle Anwesenden sorgf\u00e4ltig die H\u00e4nde verbergen, um dem Patienten den Anblick von Kingen zu entziehen, so gen\u00fcgt das oberste ringf\u00f6rmige Glied einer Uhrkette, um ihm zum erl\u00f6senden Wort zu verhelfen. Entzieht man aber auch dieses H\u00fclfsmittel, so ist ihm der Weg zur Wortfindung versperrt. Ja, wenn man ihm indie eine Hand den Kingfinger seiner anderen Hand legt, so ist er nicht im st\u00e4nde, seinen eigenen Trauring zu benennen.\nJa, nicht einmal den Finger kann er benennen, wenn alle Anwesenden die H\u00e4nde verbergen. Und hier hat er doch dreifache Data zur Erkennung: er kann mit der einen Hand den fraglichen Finger und dabei noch den King betasten, der betastete Finger sp\u00fcrt sein Betastetwerden und kann vollends, noch durch Bewegung zum Bewufstsein gebracht werden. Aber trotzdem mufs der Patient entweder einen eigenen","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\nGustav Wolff.\noder einen fremden Ringfinger sehen, um ihn benennen zu k\u00f6nnen.\nSehr drollig ist es, wenn man dem Kranken sein eigenes Ohr in die Hand giebt, w\u00e4hrend alle Anwesenden ihre Ohren bedecken. Ist kein Bild im Zimmer, auf dem ein Ohr zu sehen ist, so kann er das Wort nicht finden; h\u00e4ngt aber ein Portr\u00e4t an der Wand, so gen\u00fcgt ihm der Anblick selbst eines unvollst\u00e4ndig und mangelhaft zur Darstellung gekommenen Ohres vollst\u00e4ndig \u00e4zur xAufflndung des Namens.\nWie rasch der Kranke sofort ein wenn auch nur momentan sich bietendes optisches H\u00fclfsmittel erfafst und zur Auffindung des Namens verwertet, das wird besonders klar, wenn man ihm seine eigenen Finger an seine Z\u00e4hne legt und ihn fragt, was das ist. Er kann den Namen nicht finden, beobachtet aber aufs gespannteste alle Anwesenden. Und sobald jemand auch nur f\u00fcr eine Sekunde die Lippen, wenn auch noch so wenig, \u00f6ffnet, so erhascht er blitzschnell den momentanen Anblick der Z\u00e4hne, und sofort kann er schreibend das Wort \u201eZ\u00e4hneu angeben.\nSomit scheinen wir zum Resultate zu kommen, dafs der Kranke \u00fcberhaupt durch den Tastsinn keinen Gegenstand so erkennen kann, um den Namen anzugeben. Erkannt hat er ja diese Gegenst\u00e4nde alle, denn er kann sie ja suchen, aber zur Namenfindung braucht er die optische Anschauung. Allerdings, der optische Eindruck bedarf in solchen F\u00e4llen keiner so langen Dauer und keiner so pr\u00e4zisen Bestimmtheit wie in jenen Beispielen, bei denen aus der optischen Wahrnehmung allein der Name gefunden werden mufs.\nEs fragt sich nunmehr, ob bei unserem Kranken alle Tastwahrnehmungen einer optischen St\u00fctze bed\u00fcrfen, oder ob es auch F\u00e4lle giebt, in denen die Tastwahrnehmung allein zur Ausl\u00f6sung des Namens gen\u00fcgt.\nIch habe trotz langer eingehendster Untersuchung des Patienten nur wenige Beispiele gefunden, f\u00fcr welche die Tastwahrnehmung allein zur Namenfindung hinreichend war, aber diese wenigen Beispiele gen\u00fcgen nat\u00fcrlich zur prinzipiellen Beantwortung der Frage.\nEin Wort z. B., welches bei Voit durch rein taktile Eindr\u00fccke hervorgebracht werden kann, ist das Wort \u201eWind\u201c, das er hervorbringt, wenn man ihn anbl\u00e4st, auch wenn er davon","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n23\nnichts sehen oder h\u00f6ren kann. Hier gen\u00fcgt ausschliefslich die taktile Wahrnehmung, um das Wort zu finden. Da der Wind nicht gesehen werden kann, so erscheint es auf den ersten Blick vielleicht ganz begreiflich, dafs hier keine optische St\u00fctze n\u00f6tig ist, da eine solche \u00fcberhaupt nicht denkbar zu sein scheint.\nSie ist aber doch m\u00f6glich, denn wir werden sp\u00e4ter sehen, dafs das Wort \u201eWind44 bei unserem Patienten auch durch rein optische Eindr\u00fccke ausgel\u00f6st werden kann.\nJedenfalls aber ist sicher, dafs bei dem Begriffe \u201eWind\"4 die optische Sph\u00e4re eine ganz andere und viel untergeordnetere Bolle spielt wie etwa bei dem Begriffe \u201eBing44 oder \u201eSchl\u00fcssel44, dafs bei \u201eWind\u201c das taktile Element bedeutend im Vordergr\u00fcnde steht, und es ist daher begreiflich, dafs hier der taktile Eindruck keiner Unterst\u00fctzung durch den optischen bedarf.\nAuch die W\u00f6rter \u201ewarm44, \u201eheifs44 und \u201ekalt\u201c kann der Kranke aus rein taktilen Eindr\u00fccken und nur aus solchen gewinnen, was ebenfalls wieder sehr begreiflich ist, da die W\u00e4rme, die Hitze und die K\u00e4lte nicht gesehen werden kann.\nHier sei einer sehr komischen Thatsache Erw\u00e4hnung ge-than, die vielleicht f\u00fcr manchen Apostel streng messender \u201eWissenschaftlichkeit44 von Interesse ist. Die Temperatur eines von dem Kranken betasteten Gegenstandes, z. B. eines mit heifsem Wasser gef\u00fcllten Gef\u00e4fses, darf n\u00e4mlich eine gewisse H\u00f6he nicht \u00fcbersteigen. Bei h\u00f6heren Temperaturen ist der Kranke nicht im st\u00e4nde, das Wort zu finden. Hier sind wir also sogar in der Lage, einen Intelligenzdeiekt mit dem Thermometer messen zu k\u00f6nnen! Die Erkl\u00e4rung ist die, dafs der Kranke den Sinneseindruck so lange auf sich wirken lassen mufs, bis er das Wort fertig geschrieben hat, und dafs das Gef\u00e4fs, wenn seine Temperatur eine bestimmte H\u00f6he \u00fcberschritten hat, zu heifs ist, um lange genug angefafst werden zu k\u00f6nnen.\nSomit giebt es also einige Begriffe, die Voit ausschliefslich auf Grund taktiler Wahrnehmung zu finden im st\u00e4nde ist. Aber es sind sehr wenige, und der Tastsinn erweist sich insbesondere als unzureichend in allen F\u00e4llen, in denen es sich um die Benennung eines Gegenstandes handelt, der nur durch seine Form zu erkennen ist; dabei spielt aber der Bewegungs-sinn wahrscheinlich eine viel gr\u00f6fsere Bolle als der Tastsinn.","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nGustav Wolff.\nWir gingen ans von der Frage, ob Voit die nicht taktilen Eigenschaften eines nur durch den Tastsinn wahrgenommenen Gegenstandes sich vorstellen bezw. angeben kann. Nun haben wir nur ein einziges Substantivum gefunden, welches Yoit durch den Tastsinn sich zug\u00e4nglich machen kann.\nWir fragen ihn also jetzt nach den nicht taktilen Eigenschaften des Windes. Auf die Frage: \u201eKann man den Wind h\u00f6ren?\u201c antwortet er: \u201eKann sein.\u201c Damit er w\u00e4hrend der Frage den sinnlichen Eindruck des Windes gegenw\u00e4rtig hat, wird er fortw\u00e4hrend angeblasen, oder es wird z. B. mit einem Kissen Wind gemacht. Trotzdem bleibt die akustische Sph\u00e4re verschlossen.\nWir pr\u00fcfen die optische Sph\u00e4re. Die Fragen: \u201eWas macht der Wind mit den Zweigen der B\u00e4ume?\u201c \u201eWas macht er mit dem Staub?\u201c u. s. w. k\u00f6nnen nicht beantwortet werden, auch wenn der taktile Eindruck des Windes dem Kranken auf die oben angegebene Weise best\u00e4ndig gegenw\u00e4rtig gehalten wird.\nAndere Sinnessph\u00e4ren k\u00f6nnen bei diesem Beispiel nicht wohl gepr\u00fcft werden.\nc) Erkennung durch den Geh\u00f6rssinn.\nWas wir f\u00fcr den Gesichts- und Tastsinn gepr\u00fcft haben, wollen wir jetzt f\u00fcr den Geh\u00f6rssinn pr\u00fcfen. Wir wollen also untersuchen: erstens, ob .Yoit auf Grund rein akustischer Eindr\u00fccke erkennen kann, und zweitens, ob er von akustisch erkannten Dingen nichtakustische Eigenschaften angeben kann.\nEs wird dem Kranken eine Taschenuhr an das Ohr gehalten und er gefragt, ob er etwas h\u00f6rt. Er bejaht. Auf die Frage: \u201eWas halte ich an Ihr Ohr?\u201c versucht der Kranke in die Tasche zu greifen und seine Uhr herauszuziehen. Ist ihm dies gelungen, so findet er sofort schreibend das Wort \u201eUhr\u201c, wird er aber am Herausziehen seiner Uhr gehindert, so sieht er sich im Zimmer um, ob er eine Wanduhr findet. Nur wenn dies der Fall ist, kann er das Wort \u201eUhr\u201c finden.\nAuch hier haben wir also wieder die n\u00e4mliche Erscheinung. Die akustische Wahrnehmung und Erkennung des Gegenstandes ist dem Kranken nicht gen\u00fcgend, um den Namen zu finden. Dafs er die Uhr erkannt hat, geht daraus hervor, dafs er sie in seiner Tasche oder an der Wand zu suchen weifs. Auch hier aber bedarf er der Unterst\u00fctzung durch direkte optische Anschauung, um den Namen zu finden.","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n25\nEr bedarf auch der optischen Anschauung, um die optischen Eigenschaften der Uhr anzugeben. Die Frage z. B. : \u201eWas dreht sich auf dem Zifferblatt?\u201c kann nicht das Wort \u201eZeiger\u201c, die Frage: \u201eWas ist auf dem Zifferblatt aufgemalt?\u201c kann nicht das Wort \u201eZahlen\u201c hervorbringen, auch wenn er w\u00e4hrend der Frage und w\u00e4hrend er sich auf die Antwort besinnt, fortw\u00e4hrend die Uhr ticken h\u00f6rt. Die akustische Anschauungsvorstellung reproduziert eben nicht oder nur in ganz ungen\u00fcgender Weise die optische Erinnerungsvorstellung. Ja, auch wenn man die akustische Anschauung mit der taktilen kombiniert, ist das Resultat dasselbe. Giebt man ihm bei verbundenen Augen eine Uhr in die Hand und h\u00e4lt eine andere an sein Ohr, so ist das Ergebnis dasselbe wie bei rein akustischer Wahrnehmung.\nSpielt man, w\u00e4hrend er mit verbundenen Augen im Zimmer sich befindet, irgend ein Instrument, z. B. Klavier, so kann er nur sagen \u201eMusik\u201c, nicht aber den Kamen des Instrumentes angeben. Selbst die T\u00f6ne der fr\u00fcher von ihm selbst gespielten Violine verm\u00f6gen nicht, ihm den Namen des Instrumentes zu entlocken. Dagegen gen\u00fcgt der leiseste optische Anhaltspunkt zur Namenfindung. L\u00e4fst man z. B., w\u00e4hrend im Nebenzimmer Violine gespielt wird, unter zahlreichen verschiedenen Gegenst\u00e4nden auch eine kleine Atrappe, die eine Violine darstellt, in durchaus unauff\u00e4lliger Weise im Untersuchungszimmer herumliegen, so kann er das Wort \u201eGeige\u201c sofort finden. Auch hier hat er also erkannt, welches Instrument gespielt wird.\nDieselbe Unf\u00e4higkeit, das Instrument zu benennen oder zu beschreiben, finden wir bei einer Trompete, einer Glocke, einer Trommel, die, ohne dafs der Kranke das Instrument sieht, zum Ert\u00f6nen gebracht sind. Bedeckt man die Trommel mit einem Tuch und trommelt unter diesem Tuch, sodafs er noch dazu die Bewegung des Trommeins wahrnimmt, so versucht er zwar, das Wort dadurch zu finden, dafs er selbst mit den Fingern auf der Tischplatte trommelt, aber auch dieser Versuch erweist sich als vergeblich. Dagegen gen\u00fcgt das nur einen kleinen Teil der Trommel sichtbar machende L\u00fcften des Tuches, um ihn das Wort finden zu lassen.\nAuch hier kann der Geh\u00f6rssinn mit dem Tastsinn kombiniert werden, ohne dafs das Resultat ver\u00e4ndert wird. Wir setzen den Kranken mit verbundenen Augen ans Klavier und","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nGustav Wolff.\nlassen ihn auf den Tasten klimpern. Auch diese Kombination vermag nicht in ihm den Kamen des Instrumentes hervorzurufen.\nGiebt man ihm bei verbundenen Augen die Violine mit Bogen in die Hand, so stimmt er das Instrument und spielt darauf, ist aber nicht im st\u00e4nde, den Kamen zu finden, der nur auf optischem Wege ihm zug\u00e4nglich wird.\nWir lassen jetzt ein allbekanntes Lied, z. B. die Wacht am Rhein, auf dem Klavier spielen. Er kann den Kamen nicht angeben. Dagegen kann er, w\u00e4hrend es gespielt wird, den Titel des Liedes im Inhaltsverzeichnis einer dasselbe enthaltenden Liedersammlung heraussuchen und dann auch aussprechen.\nWie vorauszusehen war, gab der Versuch, ob der Kranke bekanntere Melodien, die keinen Text haben, also bekannte Stellen aus Ouvert\u00fcren etc., beim H\u00f6ren erkennt, kein positives Resultat. Dagegen erkennt er einige T\u00e4nze und sagt beim Spielen eines Walzers: \u201eSchleifer\", bei Polka richtig: \u201ePolka\u201c.\nDie zwei letzten Versuche haben also Beispiele von rein akustischer Wahrnehmung ergeben, bei denen zur Reproduktion des Kamens keine weitere St\u00fctze n\u00f6tig war. Der Grund ist leicht einzusehen. Man kann zwar von einem Walzer eine optische Vorstellung haben, indem man ihn tanzen sieht, man kann eine motorische Vorstellung von ihm haben, wenn man selbst tanzt oder sich tanzend vorstellt. Aber es ist ganz unzweifelhaft, dafs bei der Vorstellung eines bestimmten Tanzes das akustische Element bedeutend \u00fcberwiegt.\nEs hat somit den Anschein, als ob das akustische Element auch bei Dingen, in deren Wesenheit dasselbe eine so dominierende Rolle spielt, doch bei der Hamenfindung zur\u00fccktritt gegen\u00fcber dem optischen. Immerhin haben sich doch Beispiele ermitteln lassen, bei denen durch die akustische Anschauung allein die Wortfindung vermittelt wird. Selbstverst\u00e4ndlich ist dies bei Vorstellungen, die \u00fcberhaupt ihrer Katur nach gar keine optische oder andere sinnliche Partialvorstellung enthalten k\u00f6nnen. Denn es giebt entschieden Gesamtvorstellungen von Dingen, die nur aus einer einzigen Partialvorstellung bestehen. Solche unisensuellen Vorstellungen sind z. B. die Vorstellung des Blitzes und des Donners. Die Vorstellung des Blitzes hat nur optischen, die des Donners nur","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n27\nakustischen Inhalt. In der That gen\u00fcgt denn auch der auf dem Klavier nachgeahmte Donner allein, dem Kranken den Namen \u201eDonner\u201c zu entlocken.\nNoch andere wortl\u00f6sende akustische Vorstellungen konnten gefunden werden.\nZeigt man ihm eine Schlaguhr und fragt ihn: \u201eWas thut die Uhr, wenn der grofse Zeiger auf Zw\u00f6lf steht?\u201c so findet er das Wort \u201eSchlagen\u201c nicht, er findet es aber sofort, sobald er das Schlagen h\u00f6rt.\nBeim Vorzeigen einer Weckeruhr sagt er sofort: \u201eDas ist eine Weckeruhr, so eine habe ich auch zu Haus.\u201c Aut die Frage: \u201eWozu braucht man die Uhr?\u201c sagt er: \u201eZum Wecken\u201c. Aber auf die Frage : \u201eWas macht der Wecker, damit man aufwacht?\u201c findet er kein Wort. Er sagt: \u201eSie macht so\u201c, macht dabei mit der Hand eine rasch hin und her gehende Bewegung, besinnt sich aufs Wort und kann es nicht finden. Erst in dem Moment, in dem man den Wecker ert\u00f6nen l\u00e4fst, sagt er das Wort \u201eKappeln\u201c.\nd) Erkennung durch den Geschmacks- und Geruchssinn.\nDen Geschmack und Geruch zu pr\u00fcfen, hat wenig Sinn, weil hier die Perzeptionsf\u00e4higkeit, wie aus den fr\u00fcheren Publikationen \u00fcber Voit bekannt ist, stark gelitten hat, so dafs schon von vornherein ganz starke Sinneseindr\u00fccke n\u00f6tig sind, um \u00fcberhaupt zur Perzeption zu gelangen. Bei verbundenen Augen hielt ich ihm den offenen Gasschlauch vor die Nase. Das Wort \u201eGas\u201c war auf diese Art nicht auszul\u00f6sen, sondern nur die Bemerkung \u201ees stinkt\u201c, ein Beweis, dafs Wahrnehmung erfolgt war.\nWas den Geschmackssinn betrifft, so komme ich auf das oben bereits erw\u00e4hnte Auffinden des Wortes \u201eS\u00fcfs\u201c sp\u00e4ter, wenn ich von den wortl\u00f6senden Vorstellungskombinationen reden werde, nochmals zur\u00fcck. Hier sei nur erw\u00e4hnt, dafs Voit, der ehemalige Brauer, das mit verbundenen Augen von ihm getrunkene Bier nicht erkennt. Dafs hieran nicht eine St\u00f6rung der Perzeption die Schuld tr\u00e4gt, wird bewiesen durch den Umstand, dafs er z. B. sehr wohl gutes Bier von schlechtem zu unterscheiden weifs, und vor allem durch folgenden Versuch :\nIch gab ihm ein Gl\u00e4schen s\u00fcfsen afrikanischen Wein (Ali-","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28\nGustav Wolff.\ncante) zu trinken. Er schmeckte ihm vorz\u00fcglich, er sagte fortw\u00e4hrend \u201egut, gut, sehr gut\u201c und besann sich unaufh\u00f6rlich auf irgend etwas, indem er zugleich wie ein Weinkenner die Zunge im Munde bewegte. Pl\u00f6tzlich blitzt es wie eine Erl\u00f6sung in ihm auf und er sagt (nat\u00fcrlich schreibend): \u201eSchmeckt wie Tokayer\u201c. Hier hatte ihm also doch endlich der Wein die Zunge gel\u00f6st und zum Wort verholfen.\nDieser Versuch wurde sp\u00e4ter mit verbundenen Augen wiederholt, aber ohne Erfolg. Dies beweist allerdings noch nicht, dafs das erste Mal der optische Eindruck mitwirkend war, denn sp\u00e4tere Versuche mit wirklichem Tokay er hatten ebenfalls ein negatives Ergebnis.\nKaffee vermag der Patient beim Trinken nicht zu benennen, sondern nur f\u00fcr gut zu erkl\u00e4ren. Beim Anblick des Getr\u00e4nkes ebenso wie bei dem einer einzelnen Kaffeebohne kommt er direkt auf den Namen.\ne) Erkennung durch den Bewegungssinn.\nDen Bewegungssinn haben wir eigentlich zum Teil mit dem Tastsinn schon gepr\u00fcft. Denn, wie gesagt, ist bei der Erkennung eines geformten Gegenstandes durch Betasten der motorische Sinn ganz hervorragend beteiligt. Unter Ausschlufs des Tastsinnes kann jedoch der Bewegungssinn vor allem gepr\u00fcft werden, wenn man dem zu Untersuchenden die Hand f\u00fchrt und ihn mit verbundenen Augen einen Buchstaben passiv schreiben l\u00e4fst. Um den Tastsinn ganz sicher auszuschliefsen, l\u00e4fst man am . besten nicht auf eine Unterlage, sondern in die leere Luft schreiben. Voit ist in solchen F\u00e4llen niemals im st\u00e4nde gewesen, einen Buchstaben zu erkennen.\nTrotzdem also zweifellos bei Voit auch eine Schw\u00e4che in der motorischen Sph\u00e4re vorhanden ist, so wird dennoch in einzelnen F\u00e4llen die Wortfindung nur mit H\u00fclfe des Bewegungssinnes erreicht. Wenn man ihm z. B. vorpfeift und ihn fragt, was man thue, so kann er das Wort \u201ePfeifen\u201c nicht finden, wenn man ihn am Pfeifen verhindert. Thut man dies nicht, so pfeift er, dann schreibt er und spricht.* \u201ePfeifen\u201c.\nDagegen findet er das Wort \u201eLachen\u201c blofs durch den Anblick einer lachenden Person, ohne dafs er dabei selbst lachen mufs.","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n29\nf) Erkennung durch kombinierte Sinnes Wahrnehmung.\nWir haben die Art und Weise untersucht, wie Voit Gegenst\u00e4nde sinnlich erkennt, und gefunden, dafs dabei die verschiedenen Sinneseindr\u00fccke eine sehr verschiedene Bolle spielen.\nDas Wichtigste und Wertvollste ist offenbar f\u00fcr den Kranken die optische Wahrnehmung. Gegenst\u00e4nde, die er sieht, weifs er in der Eegel zu benennen. Ganz anders ist dies dagegen mit den \u00fcbrigen Sinnen, in der Eegel mufs hier der optische Sinn zu H\u00fclfe gerufen werden, um den Namen zu finden. Nicht die geh\u00f6rte, sondern die gesehene Trommel l\u00f6st den Namen aus. In solchen F\u00e4llen gen\u00fcgt dann immer ein einziger Sinn f\u00fcr die Namenfindung.\nNun giebt es aber f\u00fcr Voit auch W\u00f6rter, zu deren Auffindung die Anschauung eines einzigen Sinnes nicht gen\u00fcgt, die vielmehr zu ihrer Ausl\u00f6sung des Zusammenwirkens zweier Sinnesanschauungen bed\u00fcrfen, dergestalt, dafs von zwei Sinnen keiner allein, wohl aber beide in kombinierter Wirkung das Finden des Wortes erm\u00f6glichen.\nSolche W\u00f6rter sind die Adjektiva: glatt, rauh, spitz, scharf, stumpf und \u00e4hnliche.\nWir haben oben (S. 19) gesehen, wie Voit das Wort \u201eglatt\u201c gefunden hat. Der Anblick einer glatten Fl\u00e4che gen\u00fcgte nicht, er mufste mit dem Finger darauf hin und herfahren. Nachzutragen ist nun hier, dafs auch das Hin- und Herfahren des Fingers auf der glatten Fl\u00e4che f\u00fcr Voit nicht zur Namenfindung gen\u00fcgt, sondern dafs der optische Eindruck ihm dabei zugleich gegeben sein mufs. Denn wenn ihm die Augen verbunden werden, so findet er durch das Betasten der glatten Fl\u00e4che das Wort \u201eglatt\u201c ebensowenig, wie durch den blofsen Anblick ohne gleichzeitige Betastung. Dabei ist es nicht n\u00f6tig, dafs er die n\u00e4mliche Fl\u00e4che sieht, die er betastet. Er kann vielmehr diejenige Fl\u00e4che, deren glatte Eigenschaft man von ihm genannt haben will, unter einem Tuch betasten, z. B. einen polierten Tisch unter der Tischdecke. W\u00e4hrend er den Tisch bef\u00fchlt, sucht sein Blick im Zimmer nach einer zweiten glatten Fl\u00e4che, und ist diese z. B. an einem anderen polierten M\u00f6bel gefunden, so ist damit auch das Wort \u201eglatt\u201c gefunden.\nGenau so ist es mit den W\u00f6rtern scharf, spitz etc. Er mufs das scharfe Messer, die spitze Nadel sowohl sehen als","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30\nGustav Wolff.\nbetasten, um die W\u00f6rter zu finden; das Seben oder Betasten f\u00fcr sieb allein ist nicht gen\u00fcgend: die Kombination beider SinnesWahrnehmungen mufs gegeben sein.\n3. \u00dcbergang von den Eigenschaften zum Gegenstand.\nWir haben bis jetzt erstens untersucht, was in Voit vor sich geht, wenn ihm der Name eines Gegenstandes genannt wird, durch welche H\u00fclfsmittel er sich in stand setzen kann, die ihm nicht gegenw\u00e4rtigen Eigenschaften ihm genannter Dinge zu finden. Wir haben dann zweitens uns dar\u00fcber unterrichtet, wie der Kranke von einer wahrgenommenen Eigenschaft eines Gegenstandes zu anderen Eigenschaften \u00fcbergehen kann. Nunmehr interessiert es uns, zu erfahren, ob und eventuell durch welche Mittel Yoit im st\u00e4nde ist, aus den ihm genannten Eigenschaften den Gegenstand zu finden.\nEs handelt sich hier schon um eine h\u00f6here psychische Arbeit, weil wirkliche Kombination dazu n\u00f6tig ist. Denn offenbar ist esJleicht\u00ebr, auf die Frage: \u201eWie sieht der und der Gegenstand aus?\u201c die Antwort zu finden, als auf die Frage: \u201eWelcher Gegenstand sieht so und so aus?\u201c Ein R\u00e4tsel zu l\u00f6sen, ist schwerer, als einen genannten Gegenstand sich vorzustellen.\nDie Fragen, die wir Yoit jetzt vorlegen wollen, sind R\u00e4tselfragen. Ihre Beantwortung giebt daher zugleich einen Anhalt zur Beurteilung seiner kombinatorischen F\u00e4higkeit. Aber nicht hierum ist es uns dabei eigentlich zu thun, vielmehr wollen wir ihm die L\u00f6sung der R\u00e4tsel so leicht wie m\u00f6glich machen. Der Kranke soll nur unter unserer Kontrolle zum eigenen spontanen \u00dcberlegen angeregt werden und zeigen, ob und wie er einen auf Grund eigener \u00dcberlegung gewollten Namen innerlich zu finden im st\u00e4nde ist.\nDer Kranke kann ja im Yerkehr ganz leidlich sich unterhalten, und die Worte, die er in der Spontansprache sucht, kommen ihm leichter als die von ihm verlangten. Wie er diese Worte in der Spontansprache findet (abgesehen von der in der Regel noch dazu n\u00f6tigen Schreibbewegung), kann nat\u00fcrlich nicht kontrolliert werden, weil wir seinen Gedankengang nicht gut im einzelnen kontrollieren k\u00f6nnen. Wir wissen also nicht, ob er in der Spontansprache sich zur Wortfindung vielleicht ebenfalls sinnlicher Anhaltspunkte bedient. Sicher ist,","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n31\ndafs die Unterlialtung mit ihm im dunkeln Zimmer weit schwerf\u00e4lliger und m\u00fchsamer ist als im hellen.\nSo kann er z. B. die im Fr\u00fchjahr an ihn gerichtete Frage: \u201eHaben wir jetzt Winter?\u201c im dunkeln Zimmer nur mit \u201eHein\u201c beantworten, w\u00e4hrend er im hellen Zimmer auch noch die Antwort \u201eFr\u00fchling\u201c hinzusetzt. Hier hat ihm der Anblick zuf\u00e4llig im Zimmer stehender Blumen aufs Wort verholten. Es ist dies ganz deutlich zu beobachten, auch giebt er es selbst auf dringendes Befragen zu, indem er pfiffig l\u00e4chelnd sagt: \u201eI bin net dumm.\u201c Die Blumen werden entfernt und nach schnell erzeugter Amnesie die n\u00e4mliche Frage wieder an den Kranken gerichtet. Wieder findet er die Antwort \u201eFr\u00fchling\u201c auf Grund der draufsen gesehenen B\u00e4ume. Die Gardinen werden deshalb zugezogen und die Frage wiederholt. Aber auch diesmal giebt er die Antwort \u201eFr\u00fchling\u201c. Optischen Anhalt boten ihm diesmal Blumen, die er auf einem Wandbilde sehen konnte. Das Bild wird umgekehrt, aber wieder hat er die richtige Antwort parat. Auf die Frage, wie er das gefunden habe, deutet er selbstbewufst lachend, wie ein Clown, der ein Kunstst\u00fcck vorgemacht hat, auf die Tapete und sagt : \u201eI bin net dumm!\u201c Die Tapete war eben ein gebl\u00fcmtes Muster. Enth\u00e4lt die Tapete aber keine Blumen und fehlt jeder derartige optische Anhalt, so ist das Wort Fr\u00fchling durch Feine Macht der Welt auszul\u00f6sen.\nEin anderes, sehr instruktives Beispiel, das ebenfalls sehr deutlich zeigt, wie ausgezeichnet er es versteht, sich f\u00fcr die von ihm gesuchten W\u00f6rter die n\u00f6tige sinnliche St\u00fctze zu verschaffen, ist folgendes:\nFragt man ihn: \u201eWas ist denn das, wenn\u2019s draufsen bl\u00e4st und weht, und den Staub aufwirbelt und einem den Hut vom Kopfe herunterweht, etc.\u201c, so kommt er nicht auf den Hamen. Trotzdem weifs er, wovon geredet wird; denn er geht nun ans Fenster und sucht sich den Anblick windbewegter B\u00e4ume zu verschaffen. Ist draufsen alles v\u00f6llig windstill und keine Bewegung zu sehen, so bleibt auch Voit still, sobald er jedoch ein, wenn auch noch so leises Schwanken der Bl\u00e4tter wahrnimmt, dann blitzt es ordentlich in ihm auf, dann hat er, was er braucht, dann schreibt und spricht er \u201eWind\u201c.\n\u201eWind\u201c ist also ein Wort (und es ist das einzige, das ich ermitteln konnte), welches durch zwei verschiedene Sinnes-","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nGustav Wolff.\nanschauungen vermittelt wird : durch, die taktilen (indem man den Patienten anbl\u00e4st) und durch die optische. Nat\u00fcrlich kann es, da der Wind nicht gesehen werden kann, keine optische Eigenschaft, sondern nur eine sichtbare Wirkung desselben sein.\nHier w\u00e4re interessant gewesen, dem Kranken einmal irgend oin den Sturm darstellendes Gem\u00e4lde vorzusteilen. Leider stand mir keines zur Verf\u00fcgung, es h\u00e4tte sich sonst vielleicht herausgestellt, dafs solche Kranke noch exaktere Gradmesser der Realistik in der Kunst sein k\u00f6nnten als das Pferd des Apelles.\nIV. Zusammenfassung und Folgerungen.\n\u00dcberblicken wir die auf den verschiedenen Gebieten des Erkennens bei Voit sich findenden St\u00f6rungen, so scheint eine eigent\u00fcmliche allgemeine Schw\u00e4che in der Reproduktion von Erinnerungsvorstellungen vorzuliegen. Voit ist der Mensch der direkten sinnlichen Anschauung, der da, wo der normale Mensch sich der Erinnerung bedient, der unmittelbaren Wahrnehmung bedarf. Aber gerade deshalb werfen seine St\u00f6rungen auch ein Licht auf den Vorgang des Erkennens im normalen Bewufstsein.\nEigent\u00fcmlich ist vor allem, dafs bei unserem Kranken fast allen Dingen gegen\u00fcber (wir haben nur ganz wenige Ausnahmen finden k\u00f6nnen) ein bestimmter Sinn immer eine ganz besondere Rolle spielt. Nur dieser eine Sinn kann namen-ausl\u00f6send wirken. Durch die anderen Sinne kann zwar, wie wir sahen, der Gegenstand bis zu einem gewissen Grade erkannt, aber nicht benannt werden. In der Regel, d. h. f\u00fcr die meisten Gegenst\u00e4nde, ist dieser pr\u00e4dominierende Sinn der Gesichtssinn. Dies kommt eben daher, dafs der Gesichtssinn in unseren Wahrnehmungen die Hauptrolle spielt.\nDafs bei der Vorstellung verschiedener Gegenst\u00e4nde die verschiedenen Sinne eine verschiedene Rolle spielen, ist unmittelbar einleuchtend. Die Vorstellung einer Rose enth\u00e4lt die Vorstellung von Form und Farbe, also optische und taktile Vorstellungen, sie enth\u00e4lt die Vorstellung des Duftes, also eine olfaktorische Vorstellung; sie enth\u00e4lt aber nichts Akustisches. Die Vorstellung einer Uhr enth\u00e4lt optische, taktile und akustische Elemente (Ticken, Schlagen, Wecken), aber sie enth\u00e4lt keinen olfaktorischen oder gustatorischen Bestandteil. So enthalten die meisten Gegenstandsvorstellungen sinnliche Teil-","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n33\nVorstellungen, von denen beim normalen Menschen in der Regel jede einzelne gen\u00fcgend ist, die Vorstellung des ganzen Gegenstandes, also auch, die Erinnerungsvorstellung der anderen sinnlichen Eigenschaften des betreffenden Gegenstandes zu reproduzieren. Wir erkennen die Uhr, wenn wir sie nur sehen, wenn wir sie nur betasten, wenn wir sie nur ticken oder schlagen h\u00f6ren. Nun ist es aber einleuchtend, dafs in der Vorstellung eines Gegenstandes die einzelnen sinnlichen Teil vor Stellung en keineswegs die gleiche Rolle spielen, sondern dafs hierbei einzelne Qualit\u00e4ten mehr hervortreten als andere, je nachdem sie eben das Charakteristische f\u00fcr den Gegenstand sind. Stelle ich mir ein Pferd vor, so \u00fcberwiegt in dieser Vorstellung sicherlich das optische Element. Die Tastvorstellung der Pferdeform, der Oberfl\u00e4chenbeschaffenheit etc., die akustische Vorstellung des Wieherns und Schnaubens oder des Huftritts, die motorische Vorstellung des Reitens, die olfaktorische Vorstellung des Pferdegeruches treten in meiner Gesamtvorstellung des Pferdes entschieden in den Hintergrund gegen\u00fcber der optischen Erinnerungsvorstellung von Eorm und Farbe des Pferdes. Bei anderen Vorstellungen ist dieses Verh\u00e4ltnis ein anderes, es kann sicher auch f\u00fcr den n\u00e4mlichen Gegenstand bei verschiedenen Menschen ein verschiedenes sein. Dies wird davon abh\u00e4ngen, welcher Sinn in der Vorstellungswelt bei dem betreffenden Individuum \u00fcberhaupt eine dominierende Rolle spielt, es wird aber sicher auch davon abh\u00e4ngen, welche sinnlichen Eigenschaften eines Gegenstandes dem betreffenden Individuum sich haupts\u00e4chlich aufgedr\u00e4ngt haben. So wird beim gew\u00f6hnlichen Dorfkinde in der Vorstellung der Glocke vielleicht haupts\u00e4chlich der Glockenton, also das akustische Element \u00fcberwiegen, w\u00e4hrend beim Kinde eines Glockengiefsers aller Wahrscheinlichkeit nach die optische, beim K\u00fcster dagegen die motorische Sph\u00e4re eine vorherrschende Rolle spielen mag.\nNicht bekannt ist, ob in der Regel diese eine durch die spezielle Sinnesanschauung gewonnene Vorstellung direkt die Vorstellung des Namens ausl\u00f6sen kann, oder ob zuerst die \u00fcbrigen sinnlichen Vorstellungen in der Erinnerung reproduziert werden m\u00fcssen, oder ob vielleicht unter den sinnlichen Vorstellungen eine bestimmte n\u00f6tig ist zur Namenfindung, so dafs nur diese, falls sie nicht schon die durch Anschauung gewonnene ist, als Erinnerungsvorstellung auftauchen mufs. Wir\n3\nZeitschrift fSr Psychologie XV.","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34\nGustav Wolff.\nfragen also, ob vielleicht die akustische Anschauungsvorstellung des Uhrentickens allein zur Namenfindung gen\u00fcgt, oder ob zuerst die anderen oder von diesen nur eine ganz bestimmte, besonders charakteristische, z. B. die optische Vorstellung in der Erinnerung reproduziert werden mufs, so dafs dann erst von der Gesamtheit der Vorstellungen oder nur von der optischen aus die Vorstellung des Namens vermittelt wird.\nDafs es \u00fcberhaupt F\u00e4lle giebt, in denen eine einzelne sinnliche Vorstellung zur Namenfindung gen\u00fcgt, folgt schon aus der Existenz unisensueller Gegenstandsvorstellungen, wie der Vorstellung des Donners. Wir wollen aber wissen, ob bei Gegenstandsvorstellungen, die sich aus mehreren sinnlichen Teilvorstellungen zusaramensetzen, beim normalen Menschen jede einzelne dieser Teilvorstellungen gen\u00fcgt, um den Namen zu finden.\nAuf dem Wege der Selbstbeobachtung ist es jedenfalls sehr schwer, diese Frage zu untersuchen. Ob z. B. beim H\u00f6ren des Uhrentickens die Vorstellung \u201eUhr\u201c fr\u00fcher erscheint als die Vorstellung ihres Aussehens, das ist wohl experimentell schwer zu entscheiden. Denn entweder m\u00fcfste man der Versuchsperson vorher sagen, um was es sich handelt, dann hat sie aber vielleicht die optische Vorstellung der Uhr, bevor sie das Ticken h\u00f6rt oder man mufs sie nachtr\u00e4glich fragen, was, bis der Name auftauchte, in ihrem Bewufstsein erschienen war; nachher l\u00e4fst sich dies aber noch weniger exakt pr\u00fcfen als w\u00e4hrend des Versuchs.\nImmerhin erscheint es mir doch wahrscheinlich, dafs in diesem Punkt der Geh\u00f6rssinn sich anders verh\u00e4lt als der Tastsinn, denn ich selbst finde, und meine Versuchspersonen gaben \u00fcbereinstimmend an, dafs man wohl beim Betasten der Uhr, nicht aber beim Tickenh\u00f6ren die Uhr sich optisch vorstellt, bevor man sie erkennt. In anderen F\u00e4llen wurde anders geurteilt. Beim H\u00f6ren eines zuklappenden Taschenmessers oder eines Portemonnaies scheint man sich den Gegenstand allerdings auch optisch vorzustellen, bevor man ihn erkennt. Jedenfalls sind aber solche Selbstbeobachtungen immer etwas sehr Unsicheres.\nBei unserem Kranken sind nun die Erinnerungsvorstellungen ausgeschaltet, das wechselvolle Spiel der Assoziationen, dessen schwere Beherrschbarkeit solche auf Selbstbeobachtung","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n35\ngegr\u00fcndeten Experimente so schwierig macht, ist aufgehoben, und es kann daher bei ihm genau gepr\u00fcft werden, welche Vorstellungen zur Namenfindung n\u00f6tig sind.\nWenn Voit beim Anblick der Uhr das Wort findet, beim Betasten aber ebensowenig wie beim H\u00f6ren des Tickens, so beweist dies doch offenbar, dafs bei diesem Gegenstand wenigstens f\u00fcr Voit die optische Vorstellung eine pr\u00e4valierende Bolle spielt, dafs die optische Vorstellung durch die taktile oder akustische zuerst ausgel\u00f6st werden mufste, bevor der Name gefunden werden kann, dafs der Kranke jedoch nicht im st\u00e4nde ist, die optische Erinnerungsvorstellung zu reproduzieren und deswegen versuchen mufs, sich die betreffende Wahrnehmung zu verschaffen, um also auf dem direkten Wege der Anschauung dasjenige zu erreichen, was er auf dem indirekten Wege der Erinnerung nicht erreichen kann, um in der Aufsenwelt zu suchen, was ihm seine Innenwelt nicht zu geben vermag.\nNicht also die Gesamtheit der Vorstellungen, aus denen ein Begriff sich zusammensetzt, sondern eine einzelne dieser Vorstellungen ist es, welche bei Voit den Namen ausl\u00f6st. Gerade aber der Umstand, dafs diese namenausl\u00f6sende Hauptvorstellung nicht f\u00fcr alle Gegenst\u00e4nde der n\u00e4mlichen Sinnessph\u00e4re entnommen ist, sondern, je nach der Natur des Gegenstandes, bald dieser, bald jener Sinnessph\u00e4re angeh\u00f6rt, l\u00e4fst es als \u00e4ufserst zweifelhaft erscheinen, ob wir berechtigt sind, nicht nur die Schw\u00e4che in der Reproduktion dieser \u201eonomatopo\u00f6tischen4' Hauptvorstellung, sondern auch ihre Notwendigkeit zur Wortbildung als krankhaft aufzufassen ; es mufs vielmehr als wahrscheinlich, mindestens aber als m\u00f6glich angesehen werden, dafs auch beim normalen Menschen zur Ausl\u00f6sung wenigstens vieler W\u00f6rter eine bestimmte Hauptvorstellung da sein mufs, die, wenn sie nicht unmittelbar in der Anschauung gegeben ist, in der Erinnerung reproduziert wird.\nGegen diese Annahme liefsen sich von den bei Voit gefundenen Thatsachen nur zwei anf\u00fchren. Die erste Thatsache ist die, dafs wir ein Wort ermittelt haben, n\u00e4mlich das Wort \u201eWindw, welches sowohl allein durch den Tastsinn als auch allein durch den Gesichtssinn von unserem Kranken gefunden wird. Die zweite Thatsache ist die, dafs es Worte giebt, die nur durch das Zusammenwirken zweier Sinne dem Kranken zug\u00e4nglich werden. Aber auch diese beiden Thatsachen liefsen\n8*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36\nGustav Wolff.\nsich noch mit der Hypothese, dafs auch im normalen Vorstellungsleben besondere Hauptvorstellungen die Wortbildung vermitteln, vielleicht in Einklang bringen. Man k\u00f6nnte die M\u00f6glichkeit ins Auge fassen, dafs bei Dingen, f\u00fcr deren Wesen die Eigenschaften zweier verschiedener Sinnessph\u00e4ren gleich charakteristisch sind, diese beiden Sinne entweder jeder f\u00fcr sich oder beide in Kombination namenausl\u00f6sende Kraft besitzen k\u00f6nnen.\nV. Voits Schreibnotwendigkeit und ihr Verh\u00e4ltnis\nzu den sonstigen Defekten.\nWir haben eine bei Voit allenthalben zu Tage tretende Erscheinung gefunden, n\u00e4mlich die, dafs er ohne die Handhabe einer sinnlichen Anschauung keine Vorstellung sich erzeugen kann, und wir fragen uns nun, ob es m\u00f6glich ist, den l\u00e4ngst bekannten und beschriebenen Defekt des Kranken hier einzureihen. Dies scheint der Fall zu sein; denn offenbar bedient er sich beim Schreiben der von ihm gesuchten W\u00f6rter ebenfalls einer sinnlichen St\u00fctze, um die n\u00f6tigen Vorstellungen zu gewinnen. Es gelingt ihm, sich die Vorstellung des Wortes zu erzeugen, indem er sie schreibend sucht.\nHier dr\u00e4ngt sich uns nun vor allem die Frage auf, welche Schriftvorstellung es ist, die er sich erzeugen mufs, am den gesuchten Namen zu finden: die motorische oder die optische Denn die Schreibbewegung k\u00f6nnte ja auch bei unserem Kranken den Zweck haben, ihm zur optischen Vorstellung des geschriebenen Wortes zu verhelfen.\nDafs wirklich die Schreibbewegung die Reproduktion einer Schriftbildvorstellung zu erleichtern vermag, kann man wohl am deutlichsten an sich beobachten, wenn man z. B. eine geometrische Ableitung im Kopfe durchzudenken sucht. Dafs dies viel leichter ist, wenn man die Figur dazu zeichnet, weifs jeder; aber auch blofs die mit dem Finger im Dunkeln ausgef\u00fchrte Zeichnung der Linien erleichtert sehr bedeutend die Reproduktion der optischen Vorstellung der betreffenden Figur.\nWer stenographiert, wird leicht die Beobachtung machen, dafs er die Vorstellung des stenographischen Schriftbildes, z. B. f\u00fcr ein sehr kompliziertes Fremdwort, sich wesentlich erleichtert durch die mit dem Finger ausgef\u00fchrte Schreibbewegung. (F\u00fcr die gew\u00f6hnliche Schrift wird dies der viel gr\u00f6fseren Einfach-","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n37\nheit wegen niemand an sieb, zu konstatieren in der Lage sein.) leb babe f\u00fcr meine Person den Eindruck, dafs in solchen F\u00e4llen die motorische Vorstellung die optische vermittelt.\nNun finden sich bei Voit einige Thatsachen, die zun\u00e4chst vielleicht darauf hinzudeuten scheinen, dafs ihm die Schreibbewegung vor allem zur Verdeutlichung der optischen Schriftvorstellung dient. Erstlich ist ja, wie wir sahen, bei unserem Kranken die Wahrnehmungsf\u00e4higkeit aus motorischen Vorstellungen nicht gesteigert, sondern herabgesetzt. Der normale Mensch kann einen Buchstaben, den er, von fremder Hand gef\u00fchrt, passiv schreibt, in der Hegel erkennen: Voit kann dies niemals. Nur beil\u00e4ufig sei hier erw\u00e4hnt, dafs er auch niemals den ihm von fremder Hand auf die Haut geschriebenen Buchstaben erkennt.\nFerner haben wir zu konstatieren, dafs Voit mit der linken Hand niemals Spiegelschrift schreibt.\nDiese Thatsache k\u00f6nnte den Anschein erwecken, dafs ihm vor allem eine optische Schrift vor Stellung dabei vorschwebe, da die \u00fcber das Zustandekommen der Spiegelschrift bekannten Thatsachen wohl eher die Annahme zu unterst\u00fctzen scheinen, dafs eine ausschliefslich motorische Vorstellung die linke Hand zu einer Bewegung f\u00fchren werde, welche der gewohnten rechtsh\u00e4ndigen symmetrisch ist, und ich gestehe, dafs gerade das Fehlen der Spiegelschrift bei Voits linksh\u00e4ndigem Schreiben mich fr\u00fcher zu der Vermutung hinneigen liefs, dafs die optische Vorstellung im Vordergr\u00fcnde stehe. Ein genaueres Studium der Frage hat mich jedoch dazu gef\u00fchrt, die motorische \"Vorstellung als das Haupts\u00e4chliche zu betrachten.\nEs ist wahr, die linke Hand der meisten Menschen, wenn sie gleichzeitig mit der rechten schreibt, macht in der Hegel die symmetrische Bewegung, schreibt also in Spiegel\u201c Schrift, und sie kann dies auch dann thun, wenn der Schreiber bei verschlossenen Augen seine rechte Hand passiv f\u00fchren l\u00e4fst. Dies beweist aber nur, dafs die linke Hand die Neigung hat, die zu einer rechtsh\u00e4ndigen Bewegung symmetrische Bewegung zu vollziehen. Aber die Bewegungsvorstellung eines ganzen Buchstabens \u00fcbertr\u00e4gt die Bewegung von einer Hand auf die andere nicht als symmetrische, sondern als gleichlaufende. L\u00e4fst man eine Versuchsperson mit der einen Hand passiv einen Buchstaben schreiben und sie alsdann mit der anderen.","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38\nGustav Wolff.\naktiv die Bewegung wiederholen, so schreibt sie, auch wenn sie den Buchstaben gar nicht erkannt hat, nach meinen Erfahrungen ausnahmslos mit der anderen Hand den betreffenden Buchstaben gleichsinnig, d. h. nur dann in Spiegelschrift, wenn er urspr\u00fcnglich schon in Spiegelschrift geschrieben war. L\u00e4fst man ferner eine Versuchsperson mit der linken Hand passiv einen Buchstaben schreiben, den sie nicht kennt, so erkennt sie ihn leichter, wenn er nicht in Spiegelschrift geschrieben wird. Nun findet sich aber vollends bei Voit eine Thatsache, die mir das Zur\u00fccktreten optischer Schriftvorstellungen bei seinen Wortfindungen sehr wahrscheinlich macht.\nJedermann kann an sich die Beobachtung machen, dafs er unter bestimmten Umst\u00e4nden auch mit der rechten Hand in Spiegelschrift schreibt. Legt man sich das Papier auf die Stirne und schreibt man v\u00f6llig unbefangen ein Wort mit der rechten Hand darauf, so wird man bei Betrachtung des Geschriebenen, vielleicht mit grofser \u00dcberraschung, wahrnehmen, dafs man in Spiegelschrift geschrieben hat.\nWer diesen Vorgang unter genauer Selbstbeobachtung verfolgt, wird erkennen, dafs er sich beim Schreiben auf der Stirne das Schriftbild optisch vorstellt, als w\u00e4re es z. B. auf die Innenfl\u00e4che des Stirnbeins geschrieben. Die schreibende Hand bef\u00e4hrt nun dieses Schriftbild von aufsen und f\u00fchrt infolgedessen selbstverst\u00e4ndlich die Schreibbewegung in Spiegelschrift aus, w\u00e4hrend die optische Anschauung sich dabei das Schriftbild richtig vorstellt. Auf diese Weise k\u00f6nnen wir in verschiedenen Stellungen zum Schreiben in Spiegelschrift kommen, z. B. auch, wenn wir das Papier auf eine der beiden Wangen legen, oder wenn wir auf die Unterseite der Tischplatte schreiben. Voit nun schreibt in allen solchen F\u00e4llen immer richtig, niemals in Spiegelschrift, verh\u00e4lt sich hierin also anders wie die meisten Menschen, und die n\u00e4chstliegende Erkl\u00e4rung f\u00fcr dieses eigent\u00fcmliche Verhalten ist wohl die, dafs bei ihm die motorische Vorstellung im Vordergr\u00fcnde steht, wenn auch die optische vielleicht nicht ganz fehlt. Dafs das letztere der Eall ist, darauf scheint eine Thatsache hinzudeuten. Voit findet beim Schreiben auf die Stirne den Namen schwerer, als beim Schreiben auf andere K\u00f6rperteile, z. \u00df. auf den Oberschenkel. Manchmal passiert es ihm, dafs er ein auf die Stirne geschriebenes Wort nicht sagen kann. Weil er eben auf die Stirne","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n39\nnicht in Spiegelschrift schreibt, m\u00fcfste die optische Schriftvorstellung, wenn sie von der motorischen ausgel\u00f6st wird, eine spiegelbildliche sein, wie dies jeder an sich erproben kann, wenn er sich mit seiner eigenen Hand auf seine Stirne einen Buchstaben passiv schreiben l\u00e4fst. Zur Ausschliefsung der Tastwahrnehmung, welche an dieser Stelle ebenfalls die Vorstellung der Spiegelschrift vermitteln w\u00fcrde, wird dabei eine feste Schreibunterlage (Papierblatt) auf die Stirne gelegt. Dient nun die optische Vorstellung, wenn sie von der motorischen ausgel\u00f6st wird, dazu, die Schriftvorstellung zu verdeutlichen, so erscheint es verst\u00e4ndlich, dafs dies schwieriger ist, wenn die optische Vorstellung im Spiegelbild gegeben wird.\nIch halte es aber nach dem fr\u00fcher Gesagten, wenn auch nicht f\u00fcr sicher, so doch f\u00fcr wahrscheinlich, dafs bei Voit das motorische Element im Vordergr\u00fcnde steht, und dafs es in erster Reihe die Vorstellung der Schreibbewegung ist, welche ihm den Weg zur Wortfindung er\u00f6ffnet. Es sei hier an einen von Westphal1 beschriebenen Kranken erinnert, der ein geschriebenes Wort nur dann lesen konnte, wenn er der Schrift mit dem Finger nachfuhr. Hier gen\u00fcgte also zur Wortfindung nicht einmal die unmittelbare optische Anschauung, diese konnte vielmehr nur als sinnliche St\u00fctze zur Erzeugung der motorischen Vorstellung benutzt werden. Bei Voit, der alles Geschriebene lesen kann, ist das Verh\u00e4ltnis etwas anders. Es wird ihm leichter, die motorische Vorstellung sich zu erzeugen als die optische, weil er zur Erzeugung der motorischen Vorstellung die Ausf\u00fchrung der Bewegung als sinnliche St\u00fctze benutzen kann. Man k\u00f6nnte ja sonst etwa meinen: die Vorstellung der Schreibbewegung m\u00fcsse schon ganz allein gen\u00fcgen, um das Wort, gewissermafsen, lesen zu k\u00f6nnen. Aber der Defekt bei Voit ist eben derart, dafs er sich das motorische Schriftbild nicht ohne die Ausf\u00fchrung der Bewegung vorstellen kann. Nat\u00fcrlich mufs er vor Ausf\u00fchrung der Bewegung entsprechende Vorstellungen haben, aber diese brauchen nicht derart zu sein, dafs er durch Selbstbeobachtung sich ein deutliches Schriftbild vorstellen kann. Kinder, die noch nicht leise, sondern nur erst laut lesen k\u00f6nnen, erhalten auch durch die\n1 Zeitschrift f\u00fcr Ethnologie, Bd. VI, Anhang (Verhandlungen der Berliner Gesellschaft f\u00fcr Anthropologie), S. 96.","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40\nGustav Wolff\\\nSchrift die n\u00f6tigen motorischen Impulse, um die richtigen Sprachbewegungen machen zu k\u00f6nnen, ohne deswegen im st\u00e4nde zu sein, aus diesen motorischen Vorstellungen das Wort zu finden. Die dabei statthabende Vermittelung durch akustische Vorstellungen \u00e4ndert an der Sache nichts. Es w\u00e4re denkbar, wenn ich es auch bei unserem Patienten f\u00fcr unm\u00f6glich halte, dafs er durch \u00dcbung lernen k\u00f6nnte, vermittelst konzentrierter Selbstbeobachtung aus der in ihm aufsteigenden motorischen Vorstellung, ohne Zuh\u00fclfenahme der Bewegungsausf\u00fchrung, das Wort zu finden. Jedenfalls ist das Verh\u00e4ltnis jetzt eben so, dafs die in ihm aufsteigenden motorischen Impulse zwar gen\u00fcgen, das Wort zu schreiben, dafs aber erst die ausgef\u00fchrte Bewegung ihm eine wirkliche W ortvorstellung verschafft. Dafs er die richtige Schreibbewegung immer gleich findet, ist vielleicht weniger verwunderlich, wenn wir bedenken, dafs \u00fcberhaupt Bewegungsdirektionen f\u00fcr ihn so h\u00e4ufig die erste Etappe beim Erkennen bilden. H\u00f6rt er eine \u00d6hr ticken, so greift er in die Tasche, um seine eigene Uhr herauszuziehen. Dasjenige, was ihm beim Tickenh\u00f6ren zuerst vermittelt wird, scheint also eine zweckm\u00e4fsige Bewegungsdirektion zu sein.\nHier dr\u00e4ngt sich uns nat\u00fcrlich die \u00dcberlegung auf, dafs sich die Sprechbewegung zur Wortvorstellung ebenso verh\u00e4lt, wie die Schreibbewegung zur Schriftvorstellung, und es erscheint auffallend, dafs Voit nicht sprechend das Wort findet, auch wenn er die Klangvorstellung des Wortes nicht reproduzieren kann. Der Kranke ist ja nicht im st\u00e4nde (was \u00fcbrigens auch ein Beweis gegen die Gr\u00dfASHEYsche Theorie w\u00e4re), ein Wort in Buchstaben zu diktieren. Dafs er zwar das Schriftwort mit H\u00fclfe der Schreib be wegung, nicht aber das Sprach wort mit H\u00fclfe der Sprechbewegung findet, m\u00fcssen wir eben als eine, allerdings auffallende Thatsache hinnehmen, f\u00fcr die eine Erkl\u00e4rung schwer zu finden sein wird. M\u00f6glicherweise spielt, wie dies oben angedeutet wurde, die optische Vorstellung doch auch noch insofern eine gewisse Kolle, als sie vielleicht schliefslich nach Ausf\u00fchrung der Bewegung ebenfalls noch reproduziert wird und in Kombinatinn mit der motorischen die Vorstellung des geschriebenen Wortes besonders deutlich macht, und es erschiene unter dieser Voraussetzung vielleicht nicht ganz unverst\u00e4ndlich, dafs die analoge Verdeutlichung der Vorstellung des gesprochenen Wortes durch Zusammenwirken der motorischen","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n41\nund akustischen Vorstellung nicht gelingt, weil offenbar \u00fcberhaupt die Sph\u00e4re der akustischen Erinnerungsvorstellungen st\u00e4rker gelitten hat, als die der optischen Sph\u00e4re, die ihm selbst zur Erkennung von Instrumenten gr\u00f6fsere Dienste leistet als die akustische.\nAber wir bewegen uns hier auf einem etwas allzu unsicheren Boden, und ich verzichte lieber darauf, f\u00fcr alle bei Voit sich findenden Abnormit\u00e4ten eine spezielle Deutung zu versuchen. Heute, wo die Psychologie noch so sehr iu den Kinderschuhen steckt, ist es noch nicht m\u00f6glich, derartige F\u00e4lle im einzelnen zu erkl\u00e4ren. Wenn man einmal angefangen haben wird, solche Patienten exakt zu untersuchen, dann wird auch die Psychologie endlich ein wirklich wissenschaftliches That-sachenmaterial gewinnen, welches zu sicheren Schl\u00fcssen verwertet werden kann.\nB* Der Fall Weifs.\nDie Lokalisationsfrage habe ich in der bisherigen rein psychologischen Untersuchung absichtlich vermieden. Ganz unber\u00fchrt lassen m\u00f6chte ich sie aber doch nicht. Doch will ich diese Frage lieber kurz besprechen im Anschlufs an einen anderen Fall, der in einigen Punkten eine gewisse Analogie zu Voit bietet und bei dem das Gehirn uns vorliegt. Es ist dies ein Patient, der im Jahre 1892 in der W\u00fcrzburger psychiatrischen Klinik zur Beobachtung und zur Autopsie kam, und ich bin meinem verehrten Chef, Herrn Prof. Kiegeb, zu grofsem Danke verpflichtet f\u00fcr die Liebensw\u00fcrdigkeit, mit der er mir die von ihm verfafste Krankengeschichte der Klinik und das konservierte Hirn des Patienten zur Verf\u00fcgung gestellt hat.\nI.\nKrankengeschichte des Weifs.\nMichael Josef Welfs, ein 76j\u00e4hriger Pfr\u00fcndner des Juliusspitals, fr\u00fcher Drechsler, hat in der Nacht vom 16. zum 17. Februar 1892 einen","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42\nGustav Wolff.\napoplektischen Anfall erlitten, der den vorher ganz normalen Mann \u201emit einem Schlag\" und \u201e\u00fcber Nacht\" in einen h\u00f6chst abnormen verwandelt hat. Er war noch am Tage vorher ganz munter gewesen, hatte der W\u00e4rterin gerade in den letzten Tagen noch viel aus seiner Jugendzeit erz\u00e4hlt, ohne das mindeste Auffallende zu zeigen. Am anderen Morgen wurden sofort die hochgradigen Abnormit\u00e4ten entdeckt, welche im nachstehenden eingehend geschildert werden. Diese blieben ganz unver\u00e4ndert bestehen bis jetzt, zweite H\u00e4lfte des M\u00e4rz und erste des April 1892, in welchem Zeitraum die methodische Intelligenz-Pr\u00fcfung durchgef\u00fchrt worden ist, deren Ergebnisse im nachstehenden geschildert werden.\nWelches die Ver\u00e4nderungen im Hirn sind, die den abnormen Zustand herbeigef\u00fchrt haben, dar\u00fcber will ich mich hier nicht in Vermutungen einlassen, sondern ruhig die Sektion abwarten, welche bei \u00abdem hohen Alter voraussichtlich in nicht sehr ferner Zeit zu machen sein wird. Dafs auch hier, wie gew\u00f6hnlich bei derartigen St\u00f6rungen, die Apoplexie in der linken G-rofshirn-Hemisph\u00e4re stattgefunden hat, daf\u00fcr spricht folgender Zustand des Bewegungs-Apparats :\nDie Gesichts-Muskulatur und die Zunge ist in v\u00f6llig normalem Zustand. Artikulationsst\u00f6rungen im gew\u00f6hnlichen Sinne sind durchaus keine vorhanden, wovon nachher an seinem Ort noch eingehend die Bede sein wird. Der Kopf wird gew\u00f6hnlich nach links gewendet; es gelingt aber leicht den Kranken zu veranlassen, ihn auch nach rechts zu drehen. Man k\u00f6nnte mit Bezug auf den Kopf vielleicht mit einiger Berechtigung von einem \u00dcberwiegen der linksdrehenden Innervations-Einfl\u00fcsse sprechen. Eine entsprechende konjugierte Deviation der Augen ist dagegen sicher nicht vorhanden; der Blick ist v\u00f6llig frei.\nAlle vier Extremit\u00e4ten werden steif und ungeschickt gebraucht. An den Beinen ist auch kein Unterschied zwischen rechts und links zu bemerken. Die Patellar-Beflexe sind beiderseits gleich. Bauchhaut- und Cremasterreflexe sind \u00fcberhaupt nicht hervorzurufen, die Plantarreflexe sind beiderseits gleich lebhaft, dagegen ist der rechte Arm entschieden st\u00e4rker betroffenals derlinke. Im rechten Schulter-Ellbogen'-und Handgelenk sowie in den Fingern sind deutlichere Beugekontrakturen als links vorhanden, so dafs in Bezug auf die oberen Extremit\u00e4ten von einer rechtsseitigen Hemiparese mit Beugekontraktur gesprochen werden kann.\nBemerkenswert ist noch folgender Umstand: Gew\u00f6hnlich gebraucht der Kranke auch die noch beweglichere linke Hand nicht und l\u00e4fst sich speziell das Essen geben. Veranlafst man ihn aber einmal durch spezielle Stimulierung dazu, mit der linken Hand etwas zum Munde zu f\u00fchren, so f\u00e4hrt er regelm\u00e4fsig bedeutend zu viel nach rechts, sodafs z. B. das Glas an die rechte Wange statt an den Mund kommt. Leider lassen sich diese Versuche nicht weiter variiren, da der Kranke \u00e4ufserst unlustig dazu ist und nur selten einmal dazu zu bringen ist, h\u00f6chstens ein Schnaps-Gl\u00e4schen, dessen Geruch ihn anzieht, in dieser Weise zum Mund zu f\u00fchren. Bei allen anderen Versuchen aber, ihn Bewegungen ausf\u00fchren zu lassen, zeigte er sich, unter heftigen \u00c4ufserungen seiner Unlust und seines Wunsches in Buhe gelassen zu werden, v\u00f6llig abgeneigt.","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n43\nBeschreibung des Zustandes in Bezug auf die Sinnesth\u00e4tigkeit\nund die Intelligenz.\nA. Perzeption. a. Optische.\nWeifs ist v\u00f6llig blind auf beiden Augen. Er hat dabei, objektiv betrachtet, ganz normale Augen, einschliefslich des Augenhintergrundes, und eine ausgezeichnete normale reflektorische Pupillenbewegung. \u00dcber die Akkommodationsbewegung der Pupillen l\u00e4fst sich nichts Bestimmtes sagen, da er absolut nicht dazu zu bringen ist, auf Kommando abwechselnd in die N\u00e4he und in die Ferne zu blicken. Methodischer Pr\u00fcfung ist diese Bewegung deshalb nicht zug\u00e4nglich, und aus gelegentlicher Beobachtung l\u00e4fst sich nichts Bestimmtes behaupten, zumal da in der Eegel infolge gleichzeitiger Bewegungen des Kopfes und der Lider verschiedene Beleuchtungsverh\u00e4ltnisse eintreten, welche auf die \u00e4ufserst lebhafte, reflektorische Bewegung einwirken. Da aber der Kranke einen ganz normalen Blick hat und stets die Augen lebhaft hin- und hergehen l\u00e4fst, so ist es so gut wie selbstverst\u00e4ndlich, dafs auch die, damit synergische, Pupillenbewegung normal von statten geht. Die reflektorische Pupillenbewegung ist so lebhaft, dafs man sie fast f\u00fcr abnorm gesteigert erkl\u00e4ren sollte in Anbetracht des hohen Alters, da der Vergleich mit vielen anderen alten Leuten, die in der Pfr\u00fcnde stets in grofser Anzahl zur Verf\u00fcgung stehen, mich immer lehrt, dafs normale alte Leute eine sehr wenig ausgiebige Pupillenreaktion haben.1 Bei Weifs wird die Pupille bei schwacher Beleuchtung stets maximal weit im starken Gegensatz zu der gew\u00f6hnlichen Alters-Myosis, die auch im Dunkel wenig den erweiternden Einfl\u00fcssen nachzugeben pflegt ; und bei starker Beleuchtung wird sie bei Weifs auch minimal eng. Der 75j\u00e4hrige Mann verh\u00e4lt sich also darin so wie in der Eegel nur Kinder und jugendliche Individuen. Ob dies aber eine auch schon vor dem Schlaganfall vorhanden gewesene, individuelle Eigent\u00fcmlichkeit ist oder ob man berechtigt w\u00e4re, von dem Wegfall einer cerebralen Hemmung auf die Pupillenbewegung zu sprechen, diefs wage ich nicht bestimmt zu entscheiden, da ich die Pupillenreaktion vor dem Schlaganfall nicht gepr\u00fcft hatte. Ich kann nur sagen, dafs mir die erstere Annahme deshalb wahrscheinlicher ist, weil ein derartiges Verhalten der Pupille bei einem normalen Menschen seines Alters als sehr selten bezeichnet werden m\u00fcfste. Jedenfalls ist aber dadurch bewiesen, dafs eine gute \u00dcbertragung des Lichtreizes auf den Okulomotoriuszweig des Sphinkter iridis stattfindet.\nDagegen erscheint nun die Leitung optischer Eeize auf alle anderen Bahnen v\u00f6llig abgeschnitten. Es gelingt in keiner Weise durch \"Vermittlung der Augen eine andere Eeaktion als die der Pupille hervorzu-\n1 Vgl. auch M\u00f6bius, Notiz \u00fcber das Verhalten der Pupille bei alten Leuten. (Centralblatt f Nervenheilkde. 1883. S. 337).","page":43},{"file":"p0044.txt","language":"de","ocr_de":"44\nGustav Wolff.\nrufen. Wenigstens gilt dieser Satz f\u00fcr alle gew\u00f6hnlichen optischen Mittel. Nur wenn man im Freien direktes Sonnenlicht an einem hellen Fr\u00fchlingstage in die Augen fallen liefs, schien ein wenig Zwinkern zuweilen einzutreten. Es war aber dabei immerhin m\u00f6glich, dafs nicht das Licht sondern die W\u00e4rme wirksam war. Innerhalb der Helligkeits-Grenzen eines v\u00f6llig verdunkelten Zimmers und der des diffusen Tageslichtes oder einer hellen Gasflamme konnte man durchaus keine Unterschiede im Verhalten des Kranken finden. F\u00fchrt man seinen Kopf in die n\u00e4chste N\u00e4he einer Gasflamme, so nimmt er sich, w\u00e4hrend die Pupillen sich lebhaft kontrahieren, nicht im mindesten vor ihr in Acht, sondern w\u00fcrde einfach mit dem Kopf hineinfahren. Erst in allern\u00e4chster N\u00e4he wird ersichtlich, dafs er die W\u00e4rme wahrnimmt, wie wir unter y finden werden, dafs f\u00fcr Temperaturunterschiede die Perzeption wohl erhalten ist.\nF\u00e4hrt man mit einem Messer oder \u00e4hnlichem gef\u00e4hrlichen Gegenstand rasch gegen eines seiner Augen, so macht dies nicht den mindesten Eindruck auf ihn. Dagegen erfolgt Lidschlufs augenblicklich, sobald man die Cilien noch so leise ber\u00fchrt, und dann sagt er auch immer: \u201eWas ist denn da?\u201c \u201eWas machen Sie denn?\u201c oder \u00e4hnliches.\nDafs an seiner optischen Perzeptionslosigkeit in Bezug auf das Messer nicht allgemeiner Stumpfsinn schuld ist, kann jederzeit dadurch bewiesen werden, dafs er sofort lebhaft protestiert, wenn man auch nur ganz leise und mit wenig Betonung vor ihm die Worte ausspricht: \u201eJetzt wollen wir dem Weifs die Augen ausstechen.\u201c \u2014 Dieser Versuch wurde zwar nichVoft angestellt, eben weil er ihn sehr aufregte; aber jedesmal mit dem ausnahmslosen Resultat, dafs er dadurch in heftige Aufregung geriet, und man M\u00fche hatte, ihn zu beruhigen durch die Versicherung, dafs es nicht ernst gemeint sei. Von derartigem wird sp\u00e4ter unter B (Apperzeption) noch vielfach die Rede sein, was alles aufs deutlichste beweist, dafs Weifs sich nicht etwa deshalb gegen optische Eindr\u00fccke reaktionslos verh\u00e4lt, weil er \u00fcberhaupt in einem bl\u00f6dsinnigen Zustand sich bef\u00e4nde. Es giebt allerdings Hirnkranke, die auf alles sich v\u00f6llig reaktionslos verhalten; f\u00fcr diese ist es dann aber auch ganz gleichg\u00fcltig, wenn man vor ihnen spricht, man wolle ihnen dies und das Schreckliche anthun.\nBei objektiver und genauer Untersuchung ergiebt sich also, dafs Weifs auf beiden Augen stockblind ist. Merkw\u00fcrdigerweise macht er aber, bei blofs oberfl\u00e4chlicher Betrachtung durchaus nicht den Eindruck eines Blinden. Er blickt munter umher, blickt besonders dahin, wo er eine Stimme h\u00f6rt, da er, wie nachher zu schildern ist, akustisch ganz normal empfindet. Seine Umgebung, W\u00e4rter u. s. w. wollten daher anfangs auch nie recht glauben, dafs er vollkommen blind sei. Am allermerkw\u00fcrdigsten ist aber, dafs er selbst mit gr\u00f6fster Energie behauptet, nicht blind zu sein, vielmehr alles ganz gut zu sehen. Sagt man vor ihm: Weifs ist blind ; so protestiert er mit gr\u00f6fster Entschiedenheit dagegen. Fragt man ihn dann auf seine Behauptung hin, dafs er alles sehe: was er denn jetzt vor sich sehe? so braucht er in der Regel Ausfl\u00fcchte wie: \u201ePlagen Sie mich nicht! Ich bin gar zu schwach! Ich mufs mich Tag und Nacht plagen.\u201c Man k\u00f6nnte nun manchmal denken, er finde nur die Worte nicht,","page":44},{"file":"p0045.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\t45\nda wir sp\u00e4ter sehen werden, dafs er in der Wortfindung die gr\u00f6fsten Schwierigkeiten hat auch f\u00fcr Eindr\u00fccke aus anderen Sinnesgebieten, die er sicher perzipiert. Allein abgesehen von den vorhin schon angef\u00fchrten Versuchsergebnissen, dafs optische Eindr\u00fccke auch absolut keinen reflektorischen Lidschlufs, kein Wegwenden des Kopfes, \u00fcberhaupt gar keine Reaktion erzeugen, so wird auch bei dem Versuch, sich durch die Sprache mit ihm \u00fcber sein Sehen zu verst\u00e4ndigen, sofort klar, dafs er in dieser Beziehung eben einfach in einer v\u00f6llig eingebildeten Welt lebt. Sagt man ihm irgend etwas auch noch so Falsches vor, was vor ihm stehen soll, z. B. ein Mann mit einem langen schwarzen Bart, ein Tier, ein Frauenzimmer, so bejaht er alles mit der Versicherung, dafs er es ganz deutlich sehe. Aufgefordert, darnach zu deuten, zu greifen, thut er dies aber nicht. Sein ganzes Sehen beruht lediglich auf Einbildung. Wer nicht schon erlebt h\u00e4tte, wie Hypnotisierte sich auch alle m\u00f6glichen optischen Eindr\u00fccke auf Suggestionseinfl\u00fcsse hin einbilden, der k\u00f6nnte vollends das sonderbare Benehmen des Kranken gar nicht fassen. Aber auch so ist es ziemlich unm\u00f6glich, sich in diesen unerh\u00f6rten Hirnzustand hineinzudenken: denn Hypnotisierte sehen doch wirklich, wenn ihre Eindr\u00fccke auch gef\u00e4lscht sind. Seine faktische Hirnblindheit aber verbunden mit der festen Behauptung zu sehen ist ganz unbegreiflich. In der Regel behauptet er auch zu sehen, wenn man ihm die Augen zumacht. Manchmal merkt er aber, dafs jetzt die Augen geschlossen sind und sagte dabei einmal: \u201eWenn Sie mir die Augen zumachen, dann machen Sie mich d\u00fcster.\u201c\nDagegen ist nach allem Bisherigen selbstverst\u00e4ndlich, dafs es f\u00fcr seine Reden v\u00f6llig gleichg\u00fcltig ist, ob im Zimmer helles Licht oder tiefste Dunkelheit herrscht. In beiden F\u00e4llen versichert er mit gleicher Bestimmtheit, dafs er alles sehe. Der Versuch, vor ihm ganz leise zu sagen : Er ist stockblind, wurde Hunderte von Malen gemacht. Kein einziges Mal verfehlte er, dagegen zu protestieren.\nDieser eigentlich unfafsbare Zustand kann vielleicht ein klein wenig begreiflicher erscheinen, wenn man ber\u00fccksichtigt, dafs sein Blick ganz normal ist, und wenn man sich vorstellt, dafs die daraus resultierenden Innervationsempfindungen erhalten sind und in ihm den Glauben erwecken, dafs er sehe. Da aber dies bei jedem Blindgewordenen der Fall ist, so bleibt eben gerade dies das Problem: wie es m\u00f6glich ist, dafs er den Mangel an optischen Eindr\u00fccken konsequent leugnet. Man k\u00f6nnte auch noch die vorhin erw\u00e4hnte Thatsache heranziehen, dafs er manchmal bei Verschlufs der Augen zugegeben hat, nichts zu sehen, weil hierbei ja eine Ver\u00e4nderung an seinem eigenen K\u00f6rper, nicht in der Aufsenwelt vorgegangen ist, welche ihm auch noch auf anderem als optischem Wege zugeleitet wird. Leider kann ich aber durchaus nicht sagen, dafs dieses Versuchsresultat ein konstantes gewesen w\u00e4re. H\u00e4ufig war kein Unterschied in seinen Behauptungen, ob ihm die Augen offen oder geschlossen gehalten wurden.","page":45},{"file":"p0046.txt","language":"de","ocr_de":"46\nGustav Wolff.\n\u00df. Akustische.\nHier ist, was die blofse Perzeption betrifft, alles normal. Dafs er vieles Akustische, speziell Vorgesprochenes, nicht versteht, geh\u00f6rt nicht hierher, sondern ist sp\u00e4ter zu behandeln.\nDas Gleiche gilt f\u00fcr die \u00fcbrigen drei Sinne (y, cf, #), \u00fcber welche nichts Abnormes mitzuteilen ist. Ebenso f\u00fcr das Gemeingef\u00fchl (\u00a3). Es zeigt sich bei Ber\u00fchrungen oder W\u00e4rme- \u2022 und K\u00e4ltereizungen ein eklatanter Gegensatz zu seinem Verhalten gegen Lichtreize. Auf alle Beize dieser Art f\u00fchrt er die lebhaftesten Bewegungen aus, wendet sich stets dem Beiz entgegen. Auch k\u00f6rperliches Unbehagen (also Gemeingef\u00fchle), wie Urindrang, thermische Unbehaglichkeit, unbequeme Lage etc. oder Behagen (bequeme Lage, thermisches Wohlgef\u00fchl etc.) empfindet er immer sehr lebhaft.\nEine methodische Pr\u00fcfung der Perzeptionsf\u00e4higkeit f\u00fcr Eindr\u00fccke, die ihm aus eigenen Bewegungen zufliefsen (y), ist nicht m\u00f6glich, da er die dahin zielenden Fragen und Aufforderungen einfach nicht beachtet, sondern in der nachher zu schildernden Weise stets an sie seine Bedens-arten kn\u00fcpft. Es liegt aber nichts vor, was zur Annahme einer St\u00f6rung auf diesem Gebiet veranlassen k\u00f6nnte, da diejenigen Bewegungen, die er \u00fcberhaupt noch ausf\u00fchrt, ganz wohlgeordnete und normale sind, was nicht der Fall sein k\u00f6nnte, wenn seine Perzeptionen aus Muskeln und Gelenken nicht in Ordnung w\u00e4ren, abgesehen von dem oben geschilderten zu starken Nach-Bechts-Greifen, das er aber auch immer nachtr\u00e4glich korrigiert.\nB. Apperzeption.\nIn meiner fr\u00fcheren Abhandlung1 habe ich unter dieser Bubrik bei Seybold im allgemeinen wenig Abnormes zu konstatieren gehabt. Bei ihm war das haupts\u00e4chlich Merkw\u00fcrdige, dafs ihm f\u00fcr gewisse bestimmte Einzelheiten das Verst\u00e4ndnis v\u00f6llig verloren gegangen war, w\u00e4hrend er im allgemeinen alle Eindr\u00fccke mit lebhaftem Verst\u00e4ndnis auffafste. Aus diesem Grunde konnte ich auch diese allgemeine Bubrik B (Apperzeption) dort kurz erledigen und das Hauptinteresse fiel bei Seybold auf die Spezialkapitel F (Identifikation) und G (Wortfindung f\u00fcr \u00e4ufsere Eindr\u00fccke).\nDies ist nun bei Weifs wesentlich anders. Vor allem fehlt bei ihm ja das ganze Gebiet der optischen Eindr\u00fccke, von deren Apperzeption keine Bede sein kann, da ja schon jede Perzeption hier v\u00f6llig aufgehoben ist; und damit fallen gerade die Einzelheiten weg, deren Untersuchung bei Seybold die merkw\u00fcrdigsten Besultate lieferte (in Bezug auf Buchstaben, Zahlen u. dergl.). W\u00e4re Weifs nun aber weiter nichts als hirn-blind, so k\u00f6nnten doch noch die Eindr\u00fccke aller anderen Sinne, f\u00fcr welche, wie schon konstatiert, es durchaus nicht an der Perzeption fehlt, von ihm auch mit Verst\u00e4ndnis apperzipiert werden. Dies ist nun\n1 Vergl. Beschreibung der Intelligenzst\u00f6rungen infolge einer Hirnverletzung nebst einem Entwurf zu einer allgemein anwendbaren Methode der Intelligenzpr\u00fcfung. ( Verh. d. physik.-med. Ges. zu W\u00fcrzburg. Neue Folge. Bd. XXII. W\u00fcrzburg, Stahel.)","page":46},{"file":"p0047.txt","language":"de","ocr_de":"fiber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n47\naber durchaus nicht der Fall, sondern auch durch die anderen Sinne wird sehr h\u00e4ufig wenig mehr in seinem Hirn erregt als eine unbestimmte Reaktion, welche nichts von Verst\u00e4ndnis des Eindrucks verr\u00e4t. Hierdurch k\u00f6nnte man aber weiter zu der Annahme verleitet werden: Weifs sei eben infolge seiner Apoplexie ein \u00fcberhaupt v\u00f6llig stumpfsinniger Mensch geworden, der sich etwa verhielte wie ein Paralytiker im Endstadium, auf welchen man ja so h\u00e4ufig auch alles M\u00f6gliche einwirken lassen kann und der sich dann zwar von einem v\u00f6llig Bewufstlosen oder Toten noch durch einige Reaktionen unterscheidet, bei dem aber durchaus nichts mehr davon zu entdecken ist, dafs die Reaktionen auch passende, dem Eindruck entsprechende sind. Ein solcher Kranker zeigt dann seinen \u00e4ufserst reduzierten Hirnzustand gleichm\u00e4fsig in allem und jedenfalls auch in seinen, etwa noch zur \u00c4ufserung kommenden, spontanen Reden, wenn diese nicht \u00fcberhaupt ganz fehlen. Von einem derartigen Zustand ist nun aber bei Weifs durchaus keine Rede. Er ist im G-egenteil in mancher Hinsicht noch ein ganz energischer Kopf, der das, was er apperzipiert, mit solcher Energie apperzipiert, dafs die Annahme ausgeschlossen ist, er sei \u00fcberhaupt durchweg dasjenige geworden, was man am k\u00fcrzesten mit dem Wort: \u201ebl\u00f6dsinnig\u201c bezeichnen kann.\nAber diese seine geistige Energie zeigt sich in einer \u00e4ufserst merkw\u00fcrdigen Weise immer nur bei gewissen Anl\u00e4ssen, bei anderen nicht; und zwar zeigt er dieses zwiesp\u00e4ltige Verhalten sowohl gegen\u00fcber von nicht sprachlichen als von sprachlichen Beeinflussungen. Eine Probe seiner energischen Ablehnung eines vor ihm gesprochenen Satzes war schon oben mitzuteilen gewesen anl\u00e4fslich der Konstatierung, dafs er jedesmal lebhaft gegen die Behauptung protestiert, er sei blind. Ebenso verh\u00e4lt er sich nun auch gegen\u00fcber von vielen anderen S\u00e4tzen; und um so auffallender ist der Kontrast, dafs er in Bezug auf anderes stets sich mit einer kaum glaublichen Gleichg\u00fcltigkeit verh\u00e4lt. Und umgekehrt: Wenn man eben noch bei einer Reihe von Versuchen, wie den sofort zu schildernden, gefunden hat, dafs Weifs alles: die auffallendsten Ber\u00fchrungen, die sonderbarsten Ger\u00e4usche und die verkehrtesten Reden mit gr\u00f6fster Gleichg\u00fcltigkeit hingenommen hat, sodafs man sich sagt: der Mann ist \u00fcberhaupt f\u00fcr alles v\u00f6llig stumpf; so ist man aufs h\u00f6chste erstaunt, auf einmal auch wieder die sachgem\u00e4fsesten Reaktionen von ihm zu bekommen.\nUm ein richtiges Bild von seinem Geisteszustand zu geben, so ist gleich hier folgendes zu sagen. Der Ablauf seiner Gedanken giebt sich in der Regel f\u00fcr den Beobachter sehr deutlich zu erkennen deswegen, weil er immer einen grofsen Sprechtrieb zeigt. Das Nachfolgende k\u00f6nnte nicht richtig dargestellt werden, ohne dafs schon hier eine Schilderung gegeben w\u00fcrde von seinem Verhalten unter gew\u00f6hnlichen Umst\u00e4nden, wenn er nicht durch Anreden oder anderes von aufsen beeinflufst wird. In diesem sich selbst \u00fcberlassenen Zustand spricht er sehr viel und lang, aber im wesentlichen haben seine Reden immer den gleichen Inhalt: es ist ein ewiges Jammern, wovon folgende Proben hier schon wiedergegeben werden sollen, obgleich sie eigentlich erst unter E 1 (\u00c4ufserung rein innerer Assoziationen durch spontanes Sprechen) geh\u00f6ren.","page":47},{"file":"p0048.txt","language":"de","ocr_de":"48\nGustav Wolff.\nSeine best\u00e4ndig wiederkehrenden Jammerreden sind folgende: \u201eO Jesus Maria! Ich habe mich gar zu arg geplagt Tag und Nacht. Ich bin ja zu schwach, ich werde alle Tage schw\u00e4cher. Sie haben mich schon garstig geplagt. Ich komme auch wieder zu Kr\u00e4ften. 0 wenn ich nur im Himmel w\u00e4r\u2019. 0 meine armen Kinder. Die haben sich gar zu arg geplagt\u201c u. s. f. Wenn es gerade gut geht, so laufen alle diese Reden korrekt, ohne Danebensprechen ab. Zuweilen kommen aber auch falsche Worte. Hiermit werde ich mich aber erst unter E 1 eingehender befassen. Das eben Mitgeteilte soll dem Leser vorl\u00e4ufig nur eine deutliche Vorstellung davon geben, wie das laute Denken bei Weifs gew\u00f6hnlich abl\u00e4uft, wobei zu betonen ist, dafs diese Reden in ihrem ewigen Einerlei h\u00e4ufig auch fliefsen, wenn der Kranke zu Bett liegt, ohne dafs ihm scheinbar irgend jemand zuh\u00f6rt, z. B. auch nachts, wenn er gerade wacht.\nDie Untersuchung hat sich nun haupts\u00e4chlich darauf zu richten, ob und wie sein Redeflufs unterbrochen wird durch Einwirkungen von aufsen. Dafs er alles nicht Optische zum Mindesten perzipiert, dies beweist er durch Bewegungen, mit denen er sich dem Eindruck zuwendet oder durch Unterbrechungen seiner Reden mit Worten wie: \u201eWas ist denn da? Was ist denn los? Das h\u00f6r5 ich\u201c u. dergl. Spurlos, so wie die optischen Eindr\u00fccke, geht kein sonstiger Eindruck an ihm vor\u00fcber, der \u00fcberhaupt einen normalen Menschen zu erregen stark genug ist.\nIn Bezug auf die blofse Perzeption erscheint Weifs also normal empfindlich. Sollen wir aber von \u201eApperzeption\u201c reden k\u00f6nnen, so mufs sein Verhalten nicht nur \u00fcberhaupt, sondern speziell so durch den Eindruck abge\u00e4ndert werden, dafs es zu dem Eindruck pafst, sei es, dafs er dem Eindruck eine dazu passende andere Bewegung oder eine entsprechende sprachliche Reaktion folgen l\u00e4fst. Dies kann wohl als Minimalforderung bezeichnet werden, soll \u00fcberhaupt von einem Apperzeptionsakt noch die Rede sein k\u00f6nnen. Dafs er stets das am besten zutreffende Wort sagt, n\u00e4mlich die eigentliche richtige Bezeichnung f\u00fcr den Gegenstand oder Vorgang; dies wird damit noch lange nicht gefordert, sondern man begn\u00fcgt sich, wenn nur \u00fcberhaupt irgendwie eine, wenn auch minimale, geistige Verarbeitung ersichtlich ist. Letzteres braucht z. B. durchaus nicht der Fall zu sein bei der blofsen Nachahmung, womit ich mich unter D noch eingehend besch\u00e4ftigen werde. Durch ihr normales Vonstattengehen wird in Bezug auf die rezeptive Seite des Vorgangs lediglich das Erhaltensein deutlicher Perzeption bewiesen. Ob dabei Apperzeption vorhanden, bleibt dann immer noch eine speziell zu entscheidende Frage.\nIch gebe nun zuerst einige Beispiele davon, wie Weifs sich gegen\u00fcber von \u00e4ufseren Einfl\u00fcssen der verschiedensten Art verh\u00e4lt, wobei ich die sprachlichen vorl\u00e4ufig ausschliefse.\nK\u00e4lte veranlafst ihn gew\u00f6hnlich zu einer passenden Aufserung. Die Unterhaltungen mit ihm wurden h\u00e4ufig im Freien gef\u00fchrt, w\u00e4hrend er auf einem Lehnstuhl safs. Dabei dokumentierte er seine grofse Empfindlichkeit gegen K\u00e4lte h\u00e4ufig durch passende Handlungen oder","page":48},{"file":"p0049.txt","language":"de","ocr_de":"fiber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n49\nReden, indem er z. B. auf einen Zugwind richtig reagierte durch Anziehen seiner Decke oder durch die Worte: \u201eEs friert mich, es ist kalt.\u201c Entsprechend w\u00fcrde er sich zweifellos auch immer verhalten gegen\u00fcber von schmerzhaften \u00e4ufseren Eindr\u00fccken, etwa heftigem Kneipen, was nur ein- oder zweimal experimentiert und dann nicht mehr wiederholt wurde, weil es ihn zu sehr angriff. Die gleichen positiven Resultate sind immer zu erzielen hei Geschmacks- und Geruchseindr\u00fccken.\nSehr h\u00e4ufig wurde folgender Versuch mit ihm angestellt, bei dem am Ende auch ein positiver Gewinn f\u00fcr ihn abfiel: Er ist, wie alle Pfr\u00fcndner, ein grofser Schnapsfreund, und die Frage, ob er ein Schn\u00e4ps-chen wolle, wird stets freudig und mit vollem Verst\u00e4ndnis bejaht. Macht man unter Begleitung von Worten das Experiment, ihm ein Schnapsgl\u00e4schen in die Hand zu geben, so geht es ziemlich leicht ihn zu veranlassen, seinen Inhalt selbst in den Mund zu bringen. Auf dem oben (S. 44) geschilderten Umwege \u00fcber die rechte Wange gelangt das Gl\u00e4schen mittelst der linken Hand allm\u00e4hlich in den Mund und wird ausgetrunken. Schwieriger ist es, dieses Resultat ohne Worte zu erreichen. Denn in diesem Falle versteht er in der Regel das in seine Finger gesteckte Glas nicht und weifs nichts damit anzufangen. Dagegen erzielt man auch hier wieder ein besseres Resultat, wenn man es in die N\u00e4he seiner Nase bringt. Der Geruch zieht seine Hand dann in der Regel zum Mund. Der Unterschied zwischen diesem mehr subjektiven Geruchseindruck und dem objektiveren Tasteindruck ist jedesmal evident. Dementsprechend ist es nun auch ganz unm\u00f6glich ihm zu suggerieren, Wasser sei Schnaps, und ihn dazu zu bewegen, ersteres zu trinken. Bei jedem solchen Vexierversuch, wenn unter den gleichen Bedingungen ihm Wasser in den Mund gebracht wurde, spuckt er es mit Entr\u00fcstung aus und sagt voll Verachtung: \u201eDas schlechte Zeug will ich nicht\u201c, w\u00e4hrend er f\u00fcr den Schnaps stets einige passende Worte der Anerkennung findet.1\nEbenso verh\u00e4lt es sich, wenn schlechte Ger\u00fcche seiner Nase gen\u00e4hert werden, und assa foetida weist er z. B. mit einem energischen \u201eEs stinkt\u201c ab.\n\u00dcber k\u00f6rperliche Leiden kann er beredt klagen: \u201eUh- habe gar zu sehr Leibschneiden.\u201c \u2014 \u201eGeben Sie mir etwas, was dem Magen gut thut.\u201c \u2014 \u201eIch bin so schwach, dafs mich ein H\u00fchnle tot tritt;\u201c \u2014 derartige Reden, in welchen er Eindr\u00fccken seines Gemeingef\u00fchls Ausdruck verleiht, f\u00fchrt er unz\u00e4hligemale in durchaus passender Weise.\nDiesen positiven Ergebnissen gegen\u00fcber sind nun folgende Beispiele merkw\u00fcrdig negativen Verhaltens zu berichten, und zwar bei Versuchen, die sehr auffallende Eindr\u00fccke auf ihn wirken liefsen und bei denen man deshalb glauben sollte, sie m\u00fcfsten ihn angreifen. Es wird ein nackter Mann vor ihn gestellt, den er ja nicht sehen kann. Seine H\u00e4nde\n1 Um den Schein zu vermeiden, als ob ich in meiner Klinik mit starkem Alkohol allzu freigebig umgehe, bemerke ich ausdr\u00fccklich, dafs ich dieses Experiment nur h\u00f6chstens alle drei Tage angestellt habe, w\u00e4hrend der alte Pfr\u00fcndner fr\u00fcher jedenfalls an t\u00e4glichen Schnapskonsum gew\u00f6hnt war.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XV.\n4","page":49},{"file":"p0050.txt","language":"de","ocr_de":"50\nGustav Wolff.\nwerden an dessen Rumpf herumgef\u00fchrt, er betastet den K\u00f6rper, folgt seinen Umrissen, perzipiert also zweifellos; wundert sieb aber nicht \u00fcber die Nacktheit und verh\u00e4lt sich auf Vorsprechen : \u201eDer hat dicke Kleider\u201c und dergl. absolut nicht protestierend. Ferner: Man bringt ein lebendes Huhn, das keinen Laut von sich giebt, ganz still und pl\u00f6tzlich an seien H\u00e4nde, sein G-esicht, steckt dessen Schnabel in seinen Mund, kurz macht alles nur Denkbare, was einen gew\u00f6hnlichen Blinden in die h\u00f6chste Aufregung versetzen m\u00fcfste. Dies l\u00e4fst ihn alles so kalt, wie wenn man seine Haut mit dem gew\u00f6hnlichsten Gegenst\u00e4nde in Ber\u00fchrung gebracht h\u00e4tte. Dafs er aber die Ber\u00fchrung als solche perzipiert, dies beweist er ganz deutlich z. B. dadurch, dafs er das Huhn gelegentlich, als es an seine Lippen gebracht wurde, k\u00fcfste, was er auch sonst h\u00e4ufig thut, wenn irgend etwas an seine Lippen kommt, ohne dafs irgend eine vern\u00fcnftige Beziehung zwischen der Beschaffenheit des ber\u00fchrenden Gegenstandes und seinem Trieb zum K\u00fcssen best\u00fcnde, sondern so dafs vielmehr diese Reaktion als eine sinnlose, vom \u00e4ufseren Gegenstand unabh\u00e4ngige, nur durch die Ber\u00fchrung der Lippen \u00fcberhaupt hervorgerufene aufzufassen ist. Nachdem das Huhn bei allen bisher geschilderten Versuchen, solange man es in der Hand hielt, sich lautlos verhalten hatte, wurde es dann auf den Boden freigelassen, wo es sofort unter lautem Gackern herumflatterte. Sobald Weifs die Stimme h\u00f6rte, sagte er: \u201eWas ist denn das? ein H\u00fchnle?\u201c Als man es nun sofort wieder an sein Gesicht brachte, wobei es sich wieder still verhielt, zeigte er absolut keine Spur von Verst\u00e4ndnis daf\u00fcr, dafs dieser K\u00f6rper zu dem Laut geh\u00f6rt, den er vorhin richtig apperzipiert hatte. Ganz das gleiche Verhalten zeigte Weifs gegen\u00fcber von einem lebenden Frosch, der absichtlich als Kaltbl\u00fcter mit klebriger Haut f\u00fcr den Versuch gew\u00e4hlt wurde, da ein pl\u00f6tzlicher derartiger Eindruck die meisten Menschen stark zu affizieren pflegt. Weifs duldete ohne jede Spur von Affiziertsein, dafs der Frosch an seine Wange gelegt wurde, dafs die Froschzehen zwischen seine Lippen kamen u. s. f. Ich ahmte nun mit meiner Stimme das Quacken eines Frosches nach. Darauf sagte er: \u201eFrosch\u201c, und als nun der Frosch zuf\u00e4llig selbst quackte, sagte er darauf: \u201eFr\u00f6sche\u201c. Es war aber ganz deutlich, dafs es f\u00fcr ihn v\u00f6llig gleichg\u00fcltig war, ob er den wirklichen Frosch h\u00f6rte oder meine sehr mangelhaften, ziemlich schematischen Quacklaute; und besonders brachte er auch hierbei die Stimme und den ihn ber\u00fchrenden K\u00f6rper absolut nicht in Zusammenhang. Ganz das gleiche Versuchsresultat ergab sich mit einer Katze. Auch hier machte die Ber\u00fchrung gar keinen Eindruck ; sobald sie aber miaute, sagte Weifs: \u201eThut sie weg, ich mag sie nicht.\u201c \u2014 Bringt man seine Hand pl\u00f6tzlich in Wasser, das weder besonders kalt noch warm ist, so macht auch dies gar keinen Eindruck. Ob man ihm abwechselnd die Hand in Wasser taucht und wieder herauszieht, ist ihm so gleichg\u00fcltig, als wenn man seine Hand einfach in der Luft hin- und herbewegt.\nMan k\u00f6nnte nun denken, irgendwelche Motive verhindern ihn, darauf zu reagieren; er habe z. B. das Bewufstsein, dafs er diese Versuche ruhig mit sich anstellen lassen, dafs er nicht gegen die \u00e4rztlichen Manipulationen protestieren d\u00fcrfe u. dergl. Von all\u2019 diesem kann","page":50},{"file":"p0051.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n51\naber nicht im entferntesten die Rede sein. Wir werden sofort sehen, dafs bei denjenigen Eindr\u00fccken, welche er apperzipiert, von einer derartigen passiven, unterw\u00fcrfigen Toleranz durchaus nichts zu bemerken ist. Dafs es sich um \u00e4rztliche Untersuchungen handelt, daran denkt er in der Regel durchaus nicht, sondern redet mich viel h\u00e4ufiger mit: Herr Lehrer \u2014 als mit: Herr Doktor an, was wohl mit meinem schulmeisterlichen Ausfragen in Zusammenhang stehen mag. Manchmal sagt er aber auch : Hochw\u00fcrden, Excellenz, guter Freund und alles m\u00f6gliche andere. Bei dem Versuch mit dem Frosch half es auch nichts, wenn man ihm sagte, w\u00e4hrend er den Frosch an Mund und Wangen hatte: \u201ePfui, lassen Sie sich das nicht gefallen. Das ist ja ein Frosch.\u201c Einmal that er auf diese Rede die sonderbare Aufserung: \u201eWenn er nur brav ist\u201c \u2014 welche ich erst sp\u00e4ter im Zusammenhang mit \u00e4hnlichen \u00c4ufserungen verst\u00e4ndlich machen kann.\nTrotz alledem kann es nun aber sehr wohl einmal Vorkommen, dafs er einen \u00e4ufseren Eindruck, und zwar auch einen recht gleichg\u00fcltigen Tasteindruck, richtig apperzipiert. Unter hunderten von negativen Versuchen sagt er auch einmal, wenn ihm ein Geldst\u00fcck unter Vermeidung aller sprachlichen Hinweise und alles akustisch wahrnehmbaren Ger\u00e4usches in die Hand gelegt wird, frischweg: Geld, w\u00e4hrend in den anderen F\u00e4llen alles Hinweisen und Stimulieren nichts hilft. Ein einziges derartiges positives Versuchsresultat macht aber Schematisierungen unm\u00f6glich, wie etwa diese: Weifs sei der Apperzeption von taktilen Eindr\u00fccken v\u00f6llig beraubt. H\u00f6chstens soviel kann man behaupten, dafs es auf taktilem Wege noch viel schwerer ist als auf akustischem, seine Aufmerksamkeit zu erregen, wof\u00fcr die vorhin geschilderten Versuche mit den lebenden Tieren die besten Beispiele abgeben. Aber der Gegensatz, dafs er manchmal apperzipiert und manchmal mit aller M\u00fche nicht zur Apperzeption zu bringen ist, besteht gerade so gut auch innerhalb des Gebietes akustischer Eindr\u00fccke. Es kommt ab und zu einmal vor, dafs er auf den Schall einer Glocke ganz richtig sagt: \u201eEs l\u00e4utet\u201c, und doch ist er dann im n\u00e4chsten Augenblick oder zu anderen Zeiten auf keine Weise zu irgend einer passenden Reaktion auf diesen Eindruck zu bringen. Ebenso darf man auch das oben \u00fcber die Wirkung von Tierstimmen Gesagte absolut nicht dahin schematisieren: dafs er derartige Laute immer apperzipierte. Ebenso oft kam es auch vor, dafs auf alles Vormiauen oder Vorbellen er einfach die Laute nachahmte, ohne dafs ich ihn zu irgend einer anderen Reaktion brachte, welche eine passende Ideenassoziation bekundete. Eines der wichtigsten Experimente in dieser Hinsicht war folgendes:\nWeifs war auf der Pfr\u00fcnde des Juliusspitals unter Aufsicht einer W\u00e4rterin gestanden, aus deren Umgebung er nach seinem Schlaganfall in Folge seiner Versetzung in die psychiatrische Klinik entfernt wurde. Experimenti causa brachte ich eines Tages drei Wochen nach dem Anfall die W\u00e4rterin in seine N\u00e4he und liefs sie pl\u00f6tzlich Guten Tag sagen. Augenblicklich erkannte er ihre Stimme und brach in die Worte aus: \u201e0 meine gute Mutter\u201c, die absolut beweisend sind, da \u201eMutter\u201c der im Spital ausnahmslos gebrauchte terminus technicus f\u00fcr W\u00e4rterin ist.\n4*","page":51},{"file":"p0052.txt","language":"de","ocr_de":"52\nGustav Wolff.\nNachdem ich diesen Versuch einmal angestellt hatte, wiederholte ich ihn sechs Wochen nach dem Schlaganfall. Hierbei erkannte er die W\u00e4rterin durchaus nicht. Man k\u00f6nnte nun denken, er habe sie in den dazwischen liegenden drei Wochen vollends yergessen. Dies w\u00e4re aber ganz falsch, denn der Versuch wurde sp\u00e4ter noch verschiedenemale wiederholt, und dabei erkannte er sie zuweilen, zuweilen nicht. G-anz bestimmt stand diefs aber nicht in Abh\u00e4ngigkeit von der verflossenen Zeit, sondern hing offenbar nur ab von seiner jeweiligen zuf\u00e4lligen Verfassung.\nBis jetzt war nun immer das Gebiet der sprachlichen Beeinflussungen noch bei Seite gelassen. Nur von der Stimme und dem \u201eTone\u201c war die Bede. \u00dcber deren Wirkung werden nachher noch merkw\u00fcrdige Beobachtungen mitgeteilt werden. Auch die Betrachtung der sprachlichen Beeinflussungen wird auffallende Gegens\u00e4tze aufzeigen. Ich lasse sie aber vorderhand immer noch bei Seite, um die Sache nicht noch mehr zu verwickeln und teile vorl\u00e4ufig nur weitere solche Beobachtungen mit, die sich auf nicht sprachliche Beeinflussungen beziehen und geeignet sind, klarer zu machen, auf was es ankommt: Ob Weifs apperzipiert oder nicht.\nNachdem das Bisherige wohl schon hinl\u00e4nglich klar gemacht, dafs man mit schematischen Vorstellungen, die sich lediglich auf die Unterschiede der \u00e4ufseren Sinnesorgane bez\u00f6gen, nicht ausk\u00e4me zur Erkl\u00e4rung der Schwankungen der Apperzeptionsth\u00e4tigkeit ; dafs man also nicht etwa sagen kanni sowie er Optisches \u00fcberhaupt nicht perzipiert, so apperzipiert er nichts Taktiles, dagegen Akustisches, Olfaktorisches und Gustatorisches \u2014 nachdem ich solche falschen Schemata, zu welchen ich anfangs auch zeitweise geneigt war, bald bei Seite hatte lassen m\u00fcssen, habe ich vor allem mir das Dilemma gestellt: H\u00e4ngen alle diese Schwankungen nur ab von Stimmungen und Verfassungen des Kranken, die, wesentlich durch innere Gr\u00fcnde bedingt, sich unserer Analyse entziehen? oder lassen sich mehr \u00e4ufsere Umst\u00e4nde nachweisen, welche bestimmend sind daf\u00fcr ; ob Apperzeption stattfindet oder nicht?\nUm hier\u00fcber ins Klare zu kommen, mufs man viele Stunden lang mit dem Kranken zusammensitzen, und zwar auch so, dafs er sich einfach im gleichen Zimmer befindet, ohne dais man sich scheinbar um ihn k\u00fcmmert. Ich habe ihn in meinem Untersuchungszimmer ganze Nachmittage sitzen lassen, w\u00e4hrend ich mit anderen Arbeiten besch\u00e4ftigt war, und nur, wenn er etwas Bemerkenswertes kundgab, Notizen gemacht. Nur dadurch bekommt man ein vollst\u00e4ndiges Bild von seinem Geisteszustand, der sich bei den blofs schulmeisterlichen Versuchen nur einseitig enth\u00fcllt. Von den zahlreichen Beobachtungen die ich unter diesen Verh\u00e4ltnissen gemacht und aufgezeichnet habe, f\u00fchre ich im nachstehenden die bezeichnenden Beispiele an. Er sitzt auf dem Lehnstuhl und sagt pl\u00f6tzlich: \u201eJesses, mein Schlappen.\u201c Es zeigt sich, dafs ihm sein Schlappschuh vom Fufs gefallen ist. Er hat also auf diesen Vorgang so richtig reagiert wie ein normaler Mensch. Ich ziehe ihm den Schuh an und suche sofort experimenti causa seine Aufmerksamkeit auf den Schuh zu lenken, ich frage ihn in heftig stimulierender, eindringlicher Weise, indem ich seinen Schuh lebhaft am Fufs hin- und herbewege: Vas ist das? Ist","page":52},{"file":"p0053.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n53\ndas Ihr Schuh? etc. ; es gelingt mir absolut nicht, eine passende Bewegung oder sprachliche \u00c4ufserung bei ihm zu erzielen. Ein anderes Mal sitzt er ruhig da und ruft pl\u00f6tzlich : Mein Ohr, Indem er an ein Ohr greift. Er mufs dort irgend eine Sensation gehabt haben, auf die er in ganz normaler Weise reagierte. Der gleiche Y ersuch wie vorhin beim Schuh f\u00e4llt sofort wieder v\u00f6llig negativ aus.\nIn diesen Beispielen, die ich durch zahlreiche v\u00f6llig gleichbedeutende vermehren k\u00f6nnte, scheint mir der charakteristische Gegensatz zu liegen, von dessen richtiger Erfassung das Verst\u00e4ndnis des Zustands abh\u00e4ngt. Betrachten wir ihn etwas n\u00e4her, so zeigt sich offenbar, dafs Weifs sich allem gegen\u00fcber, was ihn unmittelbar von aufsen angreift, verh\u00e4lt-m\u00e4fsig normal verh\u00e4lt, und dafs er nur den an und f\u00fcr sich gleichg\u00fcltigen Eindr\u00fccken gegen\u00fcber \u00e4ufserst unaufmerksam ist. Diese Unaufmerksamkeit erstreckte sich allerdings sogar auf Frosch, Huhn, Katze, nackten Mann, also auf sehr starke Beispiele. Sein Benehmen h\u00e4tte sich aber zweifellos sofort stark ge\u00e4ndert, wenn man ihn etwa von der Katze h\u00e4tte beifsen oder kratzen lassen. Bei Weiss w\u00e4re es auch ganz undenkbar, dafs er etwa wie ein Paralytiker seinen Urin tr\u00e4nke u. dgl. th\u00e4te, w\u00e4hrend umgekehrt der Paralytiker zu Zeiten, wo man sich derartiger Dinge jederzeit von ihm zu versehen hat, noch ganz richtig auf eine Menge indifferenter \u00e4ufserer Eindr\u00fccke reagieren, sie auf Verlangen sprachlich richtig bezeichnen oder sonstwie sich passend zu ihnen verhalten kann.\nDer Gegensatz, der sich bei Weiss in Bezug auf die Apperzeption \u00e4ufserer Eindr\u00fccke zeigt, ist der gleiche, auf den ich schon bei Seybold, dort haupts\u00e4chlich hinsichtlich des Ged\u00e4chtnisses, des Behaltens von Sinneseindr\u00fccken nachdr\u00fccklich hinzuweisen hatte. Was ich dort gesagt habe, ist auch f\u00fcr das Verst\u00e4ndnis von Weifs so wichtig, dafs ich den betreffenden Passus (Seybold S. 97) hier noch einmal w\u00f6rtlich ab-drucken will.\n\u201eWenn auch bei den, gleichgiltige Dinge betreffenden, Versuchen alles sofort immer wieder vergessen wurde, so stehen dem doch gegen\u00fcber Beobachtungen aus dem gew\u00f6hnlichen Verkehr mit ihm, wobei er manches, was ihn interessiert hatte, recht gut behalten konnte.\u201c \u2014 Ferner: \u201eEin Kranker k\u00f6nnte zwar spontan bei manchen Gelegenheiten sich korrekt in alten Erinnerungen bewegen, w\u00e4re aber der oder jener ihm neuerdings entgegentretenden Erscheinung gegen\u00fcber ganz unf\u00e4hig, sie mit solchen alten Erinnerungen in richtige Verbindung zu bringen, von deren Erhaltensein er doch bei anderer Gelegenheit deutlich Zeugnis ablegt.\nAuch in diesem Fall, wo es also blofs an der Apperzeption bei gewissen Gelegenheiten fehlt, k\u00f6nnte man f\u00e4lschlicherweise glauben, die betreffenden Erinnerungen seien total ausgel\u00f6scht, w\u00e4hrend that-s\u00e4chlich nur die Mittel zu ihrer Hervorrufung ungeeignete waren. Wenn Seybold als blofses Versuchsobjekt dient, wobei er sich ad hoc ohne jedes eigene Interesse gelehrig zeigen soll, so beh\u00e4lt er mit seinem kranken Hirn nichts. Eindr\u00fccke aber, die im gew\u00f6hnlichen Lauf der Dinge auf ihn wirken, beh\u00e4lt er meistens. Die Krankheit hat also in Bezug auf das Ged\u00e4chtnis vor allem die F\u00e4higkeit bei ihm aufgehoben, die man als","page":53},{"file":"p0054.txt","language":"de","ocr_de":"54\nGustav Wolff.\ndie des gelehrigen Sch\u00fclers bezeichnen k\u00f6nnte: jeder Zeit mit gen\u00fcgender Aufmerksamkeit und lebhafter Apperzeptionsth\u00e4tigkeit auch allem dem entgegen zu kommen, was blofs durch einen fremden Willen (den des Lehrers, Experimentators etc.) an einen herangebracht wird\u201c. \u2014\nBei Weifs ist hief\u00fcr auch ganz bezeichnend, dafs er in der Regel gerade dann, wenn ich meine schulmeisterliche Th\u00e4tigkeit mit ihm beginne, mich \u201eHerr Lehrer\u201c nennt (wie vorhin schon angef\u00fchrt) und zwar in einem Ton und mit begleitenden Geberden und Worten, die sehr deutlich verraten, wie gerne er dieser Schule entlaufen m\u00f6chte. Eine ganz aulserordentliche Unlust zur Apperzeption der, experimenti causa an ihn herangebrachten, Eindr\u00fccke ist bei Weifs das vorz\u00fcglich Charakteristische. Dagegen kann er \u00fcber alles, was er \u00fcberhaupt in den Kreis seiner Betrachtungen einl\u00e4fst, jederzeit die passendsten Reden f\u00fchren. Er sagt nicht nur : Es ist kalt \u2014 sondern wenn man ihn zu beschwichtigen sucht, sagt er auch: \u201eSie k\u00f6nnen es ertragen, aber ich nicht. Ich alter Mann.\u201c \u2014 Ferner: \u201eIch bin so schwach, dafs mich ein H\u00fchnle tot macht.\u201c Oder wenn er auf bestimmte Fragen versagt, so weifs er immer dazu passende Bemerkungen zu machen, z. B.: \u201eHerr Lehrer, ich kann nicht mehr. Ich bin gar zu schwach. Sonst th\u00e4t ich Antwort geben. Je mehr dafs ich sag, je schlechter geht\u2019s.\u201c Solche wohlkonstruierte S\u00e4tze, wie den eben w\u00f6rtlich angef\u00fchrten, sprach er sehr h\u00e4ufig ohne jede Schwierigkeit aus zur gleichen Zeit, wo er z. B. mit dem Schall einer G-locke (also einem akustischen Eindruck, f\u00fcr welchen er uns noch am zug\u00e4nglichsten ist) gar nichts anzufangen wufste. \u00dcber diese seine Beredt-samkeit wird unter E 1 noch weiteres mitzuteilen sein.\nIch gehe nun \u00fcber zu der Apperzeption von sprachlichen Beeinflussungen, also von dem, was ihm vorgesprochen wird.\nBisher war in Bezug auf akustisch Vernehmbares nur die Rede gewesen von Sch\u00e4llen und Ger\u00e4uschen \u00fcberhaupt; dann noch von Tierstimmen, bei welch\u2019 letzteren es sich gezeigt hatte, dafs sie noch besonders gut von ihm apperzipiert wurden. Beim \u00dcbergang zu der Untersuchung der Apperzeptionsth\u00e4tigkeit gegen\u00fcber von dem Inhalt von sprachlich formulierten S\u00e4tzen will ich nun zuerst eine merkw\u00fcrdige Thatsache konstatieren, die sich bezieht auf dasjenige, was man als den \u201eTon\u201c der Rede zu bezeichnen hat. \u201eC\u2019est le ton qui fait la musique\u201c, dieses, allerdings etwas vieldeutige, franz\u00f6sische Sprichwort brauche ich f\u00fcr meinen Privatgebrauch als Formel zur Bezeichnung des hier in Rede Stehenden. Es kommt ja bekanntlich nicht blofs darauf an, was man sagt, sonAern auch wie man es sagt, und dieses \u201eWie\u201c wird abgesehen von den begleitenden Geberden eben als \u201eTon\u201c bezeichnet. Man spricht in bittendem, klagendem, fragendem, drohendem, ironischem, s\u00fcfsem, bittrem, herbem, freundlichem und unz\u00e4hligen anderen T\u00f6nen. F\u00fcr diese T\u00f6ne hat nun Weifs ein ganz auffallend feines Verst\u00e4ndnis. Ich sage z. B. zu einem Assistenten in bedauerndem Ton vor ihm: \u201eDiesen Versuch h\u00e4tte ich eigentlich anders einrichten sollen.\u201c Weifs kann unm\u00f6glich den Sinn dieser Rede irgendwie richtig verstehen. Aber er f\u00fchlt sofort heraus, dafs ich \u00fcber etwas Bedauern ge\u00e4ufsert habe und sagt: \u201e0 das","page":54},{"file":"p0055.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n55\nmacht nichts\u201c oder eine \u00e4hnliche Phrase. Diese Beobachtungen, die ich an Weifs t\u00e4glich machen konnte, erinnerten mich lebhaft an folgende Stelle, die ich vor f\u00fcnf Jahren \u00fcber Seybold niedergeschrieben hatte:\nS. 19. \u201eSo konnte man sich h\u00e4ufig t\u00e4uschen, wenn man voraussetzte, der, sonst so unglaublich vergefsliche, Patient sei \u00fcberhaupt durchweg aufser st\u00e4nde, einen l\u00e4ngeren, vor seinen Ohren gesprochenen, Satz zu erfassen and zu behalten. Vielmehr zeigte es sich auch hier, dafs der Inhalt mancher Rede, die ihn lebhaft zu interessieren und mit den ihn haupts\u00e4chlich besch\u00e4ftigenden Gedankeng\u00e4ngen in unmittelbare Verkn\u00fcpfung zu treten geeignet war, von ihm in \u00fcberraschender Weise festgehalten wurde. Und zwar erfafst er etwas Derartiges in einer Weise, die man vielleicht am besten als \u201eintuitiv\u201c bezeichnen k\u00f6nnte, wobei Mifsverst\u00e4ndnisse nicht ausgeschlossen waren, ein ann\u00e4hernd richtiges Erfassen der Rede aber nie fehlte!\nAn der betreffenden Stelle wird dies dann noch durch ein charakteristisches Beispiel erl\u00e4utert. Bei Weifs, wo sich diese Beobachtung noch viel mehr als bei Seybold aufdr\u00e4ngte, glaube ich nun eben auf das, was ich vorhin als das Erfassen des \u201eTons\u201c der Rede charakterisierte, das Hauptgewicht legen zu sollen.\nEs kam zuweilen vor, dafs jemand in der Umgebung nach einer seiner Reden lachte. Hief\u00fcr zeigte er sich jedesmal sehr empfindlich und reagierte darauf durch Reden wie: \u201e0 lachen Sie nur nicht! Ich bin geplagt genug\u201c und dergl.\nHier ist ferner noch gleich zu erw\u00e4hnen, dafs Weifs ausnahmslos sich ablehnend verhielt, wenn ihm in einer fremden Sprache etwas vorgesprochen oder vorgelesen wurde. Wenn wir nachher sofort sehen werden, dafs er gegen\u00fcber von gewissen, noch so unsinnigen, deutschen S\u00e4tzen die gr\u00f6fste Gleichg\u00fcltigkeit zeigte, so ist es nicht selbstverst\u00e4ndlich, sondern recht bemerkenswert, dafs er ausnahmslos auf einen fremdsprachlichen Satz bemerkte: \u201eJa, das verstehe ich nicht!\u201c\nIn Bezug auf den Inhalt der vor ihm gef\u00fchrten Reden ist nun ein merkw\u00fcrdiger Gegensatz in seiner Apperzeptionsth\u00e4tigkeit zu konstatieren, der bald in den Vordergrund des Interesses bei allen, mit ihm angestellten, Untersuchungen trat; der deshalb auch am allerh\u00e4ufigsten gepr\u00fcft wurde und der mich auch veranlafst hat, Weifs zum Gegenstand dieser eingehenden Beschreibung zu machen, da sich in ihm etwas Neues, bei anderen Hirnkrank en zwar wahrscheinlich auch vielfach Vorkommendes, aber meines Wissens bis jetzt noch nie ausdr\u00fccklich und eingehend Beschriebenes enth\u00fcllt. Die Grenze zwischen dem, was er aus vorgesprochenen S\u00e4tzen apperzipiert und was nicht, ist n\u00e4mlich mit ziemlicher Genauigkeit so zu legen : Er apperzipiert im wesentlichen alle Reden, deren Inhalt sich bezieht entweder auf sein eigenes Wohl und Wehe oder auf Dinge und Vorg\u00e4nge, die nicht sinnlich wahrnehmbar sind, ganz be sonders solche aus moralischem Gebiete. Dagegen apperzipiert er mit einer ganz merkw\u00fcrdigen und \u00fcberraschenden Ausnahmslosigkeit nicht solche S\u00e4tze, die sich mit sinnlich wahrnehmbaren Dingen und Vorg\u00e4ngen befassen, ohne sein eigenes Wohl oder Wehe zu betreffen.\nW\u00e4re nun hier nicht das merkw\u00fcrdige positive Verhalten gegen-","page":55},{"file":"p0056.txt","language":"de","ocr_de":"56\nGustav Wolff.\n\u00fcber von\tden\tS\u00e4tzen moralischen\tnnd verwandten Inhalts, so w\u00e4re\neigentlich\tnichts Neues vorhanden\tim Vergleich\tzu seinem Verhalten\ngegen\u00fcber von nicht sprachlichen Beeinflussungen. Wenn ich sage: Ich werde\tdem\tWeils die Augen ausschneiden, so\tprotestiert er lebhaft.\nWenn ich\taber\tsage: Der Weifs hat\tgelbe Augen,\tso ist ihm das v\u00f6llig\ngleichg\u00fcltig. \u2014 Wenn ich sage: Ich will Ihren Kopf bequemer legen, so spricht er den sch\u00f6nen Satz: \u201eSo, Sie sind gescheit, merkw\u00fcrdig gescheit. Dann kann ich besser liegen.\u201c Wenn ich sage: Ich will Ihnen einen Schnaps holen, so braucht er die passendsten Redewendungen. Wenn ich aber sage: Nicht wahr, Schnaps thut man essen? so giebt er dies bereitwillig zu.\nUm so auffallender ist nun seine lebhafte geistige Beteiligung an S\u00e4tzen moralischen Inhalts. \u00dcber diesen Gegensatz werden im folgenden eine Anzahl von genau notierten Beispielen als Belege mitgeteilt:\nIch sage: Die Katzen haben Federn. Er: Jawohl. Ebenso bei: Die V\u00f6gel haben Haare. Bei den Katzen f\u00fcgt er h\u00e4ufig hinzu: Die habe ich nie leiden k\u00f6nnen. Setzt man solche Reden in schulmeisterlicher Weise l\u00e4ngere Zeit fort, so sagt er auch: Jetzt kommt die Katze schon wieder. Oder wenn ich auf einen Hund inquiriere : Herr Lehrer, jetzt lassen Sie mich aber in Ruhe mit Ihrem dummen Hund. Ich : Der Hund hat zwei K\u00f6pfe. Er : Da sage ich nichts dagegen. Ich : Der Hund ist falsch. Er, sofort lebhaft protestierend : Der Hund ist ein getreues Tierle. Ich: Ein Hund ist so grofs wie ein Pferd. Er: Da steckt mancher drunter.\nIch sage: Alle Menschen m\u00fcssen sterben. Er: Ja, das ist wahr. Ich: Alle Menschen sind gr\u00fcn. Er: Das geht mich nichts an. Ich: Alle Menschen laufen nackt herum. Er : Das geht mich nichts mehr an. So ein guter Vater, der sein bisle Kraft daran gewendet hat. Ich: Haben Sie denn Ihre Kinder auch gut erzogen? Er: Ja, sehr gut.\nIch: Ich denke, Weifs, wir m\u00fcssen sterben. Er: 0 wenn ich nur im Himmel w\u00e4re.\nIch: Nicht wahr, Lumpen sind brave Menschen?\nEr: Nein, das sind schlechte Kerle, die mag ich nicht.\nIch : Was schwatzt denn der Kress (ein neben ihm liegender Paralytiker, der den ganzen Tag unanst\u00e4ndige Reden f\u00fchrt und \u00fcber den sich Weifs immer sehr \u00e4rgert) den ganzen Tag? Er: Nichts als Lumperei.\nIch: Was heifst das: die letzten Lebenstage? Er: Da mufs man sterben.\nIch: Wollen Sie einen Schnaps? Er: Ja, er mufs aber rein sein.\nIch: Nicht wahr, Schnaps thut man essen? Er: Ja, das habe ich schon oft gethan.\nIch: Die B\u00e4ume sind blau? Er: 0 ja, das habe ich schon oft gesehen.\nIch: Der Teufel hat die B\u00e4ume geschaffen? Er: 0 nein! Die sind eine Sch\u00f6pfung Gottes zu unserer Geniefsung.\nIch: Weifs! Sie haben gr\u00fcne Haare. Er: Ja, das ist wahr.\nIch: Der Schnee ist ganz schwarz. Er: Das habe ich oft gesehen.","page":56},{"file":"p0057.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n57\nIch: Das Gras ist weifs. Er: 0 ja, da haben Sie Becht.\nIch: Die braven Lente soll man verachten. Er: Nein, das gerade nicht.\nIch: Wenn einer ein recht langer Mensch ist \u2014 (Er f\u00e4llt ein nnd sagt: Nun ja, nur zugesprochen, was ist dann?) Dann sagt man, er sei ein Zwerg. Er : 0 ja, \u2019s ist recht gesprochen.\nIch: Wenn einer recht klein ist, dann heifst man ihn einen Biesen. Er: Ja das ist wahr, das hat mein Lehrer seihst gesagt.\nIch: Ein schlechter Kerl ist ein Ehrenmann. Er: Nein, das ist ein garstiger Mensch.\nIch: Weifs, Sie haben die Nase auf dem Buckel. Er: Ja, ja.\nIch: Weifs, Sie haben gestohlen. Er: 0 nein, das lafs ich nicht auf mich kommen (in grofser Erregung). Nein, nein, da sag ich: das hat der Weifs noch nicht gethan. \u2014\nDer Kontrast, der in allen diesen Beispielen immer wiederkehrt, war so merkw\u00fcrdig, dafs selbst ein ganz ungebildeter anderer Kranker, der h\u00e4ufig Zeuge dieser, unz\u00e4hlige Male wiederholten, Versuche war, den Ausspruch that: Das ist merkw\u00fcrdig. Im Moralischen ist er gut. Da hat er das Temperament.\nIch: Das Wasser thut man essen. Er: 0 ja.\nIch: Die braven Leute soll man einsperren. Er: Jetzt bin ich schon so lang auf der Welt, aber so ein Geschw\u00e4tz ist mir noch nie vorgekommen.\nUber den Paralytiker, von dem vorhin die Bede war, und dessen Beden legte Weifs stets grofse sittliche Entr\u00fcstung an den Tag. Als er einmal im Garten safs, h\u00f6rte er dessen Stimme nur von ferne, erkannte sie sofort und brach in ganz zutreffende Beden aus: Jetzt f\u00e4ngt der garstige Mensch schon wieder mit seinen Lumpereien an u. s. f.\nIch: Auf dem Main kann man laufen. Er: Jawohl und springen.\nIch: Weifs war im Zuchthaus. Er: Es ist schrecklich, wenn man so verspottet wird.\nIch: Der Teufel ist im Himmel. Er: Nein, da ist der Stinker nicht. 0 nein, der ist in der H\u00f6lle.\nIch: Gott ist in der H\u00f6lle. Er: Nein, das d\u00fcrfen Sie nicht sagen.\nIch: Wer brav ist, kommt in die H\u00f6lle. Er: Nein, gerade nicht.\nIch: Mit dem Mund thut man sich schneuzen. Er: Ja, so thut man\u2019s.\nDiese Versuche, wie solche viele hundert Male mit ihm angestellt wurden, haben also immer mit einer erstaunlichen Begelm\u00e4fsigkeit ergeben, dafs dieser merkw\u00fcrdige Gegensatz besteht.\nZur Erg\u00e4nzung des Thats\u00e4chlichen will ich noch folgendes hinzuf\u00fcgen. Man konnte auch auf dem Gebiete der konkreten sinnlichen Vorstellungen an eine Grenze kommen, wo er wieder richtig reagierte. Diese Grenze l\u00e4fst sich am besten so bezeichnen, dafs ein Satz anfing komisch zu wirken. Z. B. : Ich: Die Kartoffeln wachsen auf den B\u00e4umen. Er: Jawohl. Ich: Die Bratw\u00fcrste wachsen auf den B\u00e4umen. Er lacht und merkt deutlich den Unsinn. Ebenso: Die \u00c4pfel wachsen an den Beben, toleriert er, dagegen: Auf den \u00c4ckern wachsen Schafsk\u00f6pfe, lehnt er unter Lachen als Unsinn ab.","page":57},{"file":"p0058.txt","language":"de","ocr_de":"58\nGustav Wolff.\nDemgegen\u00fcber ist ausdr\u00fccklich zu konstatieren, dafs die Versuche, richtige Beaktionen auf S\u00e4tze \u00e4sthetischen Inhalts hervorzurufen, immer fehlschlugen.\nIch: Eine sch\u00f6ne Musik ist garstig, die mag niemand h\u00f6ren, die V\u00f6gel singen w\u00fcst u. dergl. erregte so wenig Protest als: Die Katzen haben Federn u. dergl.\nC. Ged\u00e4chtnis.\nIn der Abhandlung \u00fcber Seybold habe ich gesagt (S. 11):\n,.Wenn vorhin ein erhaltener Ged\u00e4chtnisschatz als wesentliche Bedingung der Apperzeptionsth\u00e4tigkeit erkannt wurde, so ist nun andere^ seits auch klar, dafs, wenn wir uns zur Untersuchung des Ged\u00e4chtnisses wenden, bei allem, was sich dabei als erhalten manifestieren wird, ein Akt der Apperzeption erst eine solche \u00c4usserung erm\u00f6glicht. Ein blofses latentes Ged\u00e4chtnis k\u00f6nnen wir nicht direkt pr\u00fcfen. Wir k\u00f6nnen nur sehen, ob Patient einen neuen Eindruck, auf den wir ihn reagieren lassen, apperzipiert und damit auch beweist, dafs die zugeh\u00f6rigen Erinnerungen aus fr\u00fcherer Zeit erhalten sind. Jedoch ist daran festzuhalten, dafs sich Ged\u00e4chtnis und Apperzeption theoretisch wohl trennen lassen, und dafs ebenso auch ihr einseitiger Verlust bei Hirnkrankheit wohl denkbar ist, was man sich noch durch folgende zweierlei Beispiele klar machen m\u00f6ge, die in der Wirklichkeit Vorkommen k\u00f6nnten: einerseits lebhafte Apperzeptionsth\u00e4tigkeit bei v\u00f6lliger Unf\u00e4higkeit an etwas Bekanntes anzukn\u00fcpfen; wenn man z. B. einem es lebhaft zu begreifen W\u00fcnschenden ein absolut fremdes, absonderliches und nie dagewesenes Ding zeigte. Andererseits vorhandene Erinnerungen an die angekn\u00fcpft werden k\u00f6nnte, bei blofsem Verlust eben dieser Ankn\u00fcpfungsf\u00e4higkeit; so wenn z. B. ein Kranker zwar spontan bei manchen Gelegenheiten sich korrekt in alten Erinnerungen bewegen w\u00fcrde, aber der oder jener ihm neuerdings begegnenden Erscheinung gegen\u00fcber ganz unf\u00e4hig w\u00e4re, sie mit solchen alten Erinnerungen in richtige Verbindung zu bringen, von deren Erhaltensein er doch bei anderer Gelegenheit deutlich Zeugnis ablegt.\u201c\nDiese Betrachtung ist auch f\u00fcr das Verst\u00e4ndnis von Weiss wichtig. Und zwar entspricht Weiss recht befriedigend dem zweiten, dort als m\u00f6glich angenommenen Fall. In Bezug auf fr\u00fchere Beminiscenzen im allgemeinen k\u00f6nnte man vielleicht behaupten, dafs er ein ganz normales Ged\u00e4chtnis hat; nur gelingt es eben sehr selten, es aus seiner Latenz zu wecken. Es ergaben sich hier auch zuf\u00e4llige pers\u00f6nliche Schwierigkeiten. Wie wir unter B (Apperzeption) gesehen, apperzipiert er, abgesehen von den dort charakterisierten S\u00e4tzen Beden, die sich auf allgemein Bekanntes beziehen, nicht. Man w\u00e4re also bei der Pr\u00fcfung seines Ged\u00e4chtnisinhalts angewiesen auf pers\u00f6nliche Erlebnisse seines individuellen Daseins, auf welchem Gebiet schon mehr Apperzeption von ihm zu erwarten ist. Hier ergiebt sich aber der Milsstand, dafs ich selbst nichts von seinem Vorleben weifs und der, v\u00f6llig von seinen fr\u00fcheren Umgebungen isolierte, Pfr\u00fcndner auch niemanden hier hat, der Auskunft \u00fcber seine fr\u00fcheren Verh\u00e4ltnisse geben k\u00f6nnte. Es bleibt nur","page":58},{"file":"p0059.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n59\ndie W\u00e4rterin, die zuf\u00e4llig noch einiges behalten hatte von dem, was er ihr in der Zeit vor dem Schlaganfall aus seinem fr\u00fcheren Leben erz\u00e4hlt hatte.\nAufserdem kamen ja auch noch etwaige gemeinsame Erlebnisse der W\u00e4rterin und des Pfr\u00fcndners in Frage. Da sie ihn aber vor dem Schlaganfall nur kurze Zeit unter ihrer Obhut gehabt hatte und da auf der Pfr\u00fcnde sich \u00fcberdies nichts zu ereignen pflegt, so war auch diese Quelle sehr wenig ergiebig. Doch liefs sich einiges Positive konstatieren, wenn die W\u00e4rterin mit Weiss in Konversation gebracht wurde. Sie erinnerte ihn z. B., dafs er ihr erz\u00e4hlt hatte von einem Acker, den er draufsen besessen hatte, auf dem ein Baum gestanden sei. Dies erfafste er lebhaft, setzte selbst hinzu: Ja, ein Birnbaum. Ebenso war es mit einigen Einzelheiten bez\u00fcglich seiner Kinder.\nIm ganzen bekam ich den Eindruck, dafs das Ged\u00e4chtnis f\u00fcr sein fr\u00fcheres Leben nicht erheblich gest\u00f6rt ist, und speziell trat dies auch in seinen Monologen hervor, worauf noch unter E zur\u00fcckzukommen sein wird.\nDas Ged\u00e4chtnis f\u00fcr frische Eindr\u00fccke, in Bezug auf welches Seybold so enorme Defekte gezeigt hat, ist bei Weifs ebenfalls nicht auffallend gest\u00f6rt. Was er \u00fcberhaupt einmal apperzipiert hat, das beh\u00e4lt er auch. Ja man kann sogar an manchen Beispielen erst nachtr\u00e4glich erkennen, dafs ein Wort auf ihn gewirkt hatte, dessen Wirkung gleichzeitig nicht so deutlich war. So an dem Beispiel, das schon unter B mitgeteilt ist, dafs er sp\u00e4ter sagte: Jetzt kommen Sie schon wieder mit Ihrem dummen Hund. Wenn er vorher nichts dagegen einzuwenden gehabt hatte, dafs ein Hund so grofs wie ein Pferd sei, so konnte man dabei immer denken, der ganze Satz sei \u00fcberhaupt spurlos an ihm vor\u00fcbergegangen. Dafs dies aber nicht der Fall gewesen, bewies er eben dadurch, dafs er h\u00e4ufig erst am Tage darauf oder noch sp\u00e4ter, wenn ich wieder auf den Hund zur\u00fcckkam, die erw\u00e4hnte Aufserung that. Er hatte also den Hund nicht nur apperzipiert, sondern auch behalten; nur der betreffende Satz \u00fcber den Hund war ihm v\u00f6llig gleichg\u00fcltig gewesen.\nBei den Versuchen \u00fcber Nachahmung, die wie unter D beschrieben werden wird, im allgemeinen recht befriedigend ausfielen, hat sich nie gezeigt, dafs es n\u00f6tig w\u00e4re, m\u00f6glichst kurze Zeit, z. B. zwischen dem Vorgesprochenen und seinem Nachsprechen, vergehen zu lassen. Hierin unterscheidet Weifs sich also sehr von Seybold, der in solchen F\u00e4llen immer alles augenblicklich vergessen hatte. Methodischer Pr\u00fcfung war aber dieses Verhalten nicht zug\u00e4nglich, sondern es konnte nur bei g\u00fcnstigen Gelegenheiten beobachtet werden. Denn ich hatte Weifs bei Nachahmungs-Versuchen nie so in der Hand, dafs ich sein Abschweifen h\u00e4tte verhindern k\u00f6nnen; und wenn er einmal in seine eigenen Beden verfallen war, wie sie unter E noch eingehender geschildert werden, dann hatte er, bildlich gesprochen, den Zaum zwischen die Z\u00e4hne genommen und k\u00fcmmerte sich nicht mehr um mich.\nAls Ergebnis des Eindrucks im ganzen kann man \u00fcber sein Ged\u00e4chtnis den Satz aufstellen: dafs Weifs darin jedenfalls am wenigsten","page":59},{"file":"p0060.txt","language":"de","ocr_de":"60\nGustav Wolff.\nDefekte zeigt; dafs fr\u00fchere Reminiscenzen bei ihm durchaus nicht ausgel\u00f6scht erscheinen, und dafs er neue Eindr\u00fccke, soweit er sie \u00fcberhaupt apperzipiert, auch gut beh\u00e4lt. Dieser Eindruck mufste allm\u00e4hlich sich aus einer Menge von kleinen Z\u00fcgen herausbilden, von welchen ich noch das Beispiel anf\u00fchre, dafs er h\u00e4ufig ganz richtig unterschied zwischen der Bitte: \u201eGeben Sie mir noch ein Schn\u00e4psle!\u201c wenn er vielleicht eine halbe Stunde zuvor eines bekommen hatte \u2014 und der: \u201eGeben Sie mir ein Schn\u00e4psle!\u201c wenn er an dem Tage noch keines erhalten hatte. Und wenn bei Seybold die fast unglaublichen Versuchs-Resultate zu schildern waren, dafs er auf widrige Ger\u00fcche und dergl., obgleich er sie als solche jedesmal lebhaft apperzipierte, doch sofort immer wieder s.v. v. \u201ehereinfiel\u201c, dafs bei ihm das Sprichwort nicht mehr galt: Gebrannte Kinder scheuen das Feuer; so ist hiervon bei Weifs durchaus nichts zu bemerken, sondern er beh\u00e4lt z. B. den unangenehmen Eindruck, den es ihm gemacht hatte, dafs man ihm Wasser f\u00fcr Schnaps unterschob, sehr wohl noch l\u00e4ngere Zeit.\nD. Unmittelbare Nachahmung.\n1. Nachsprechen.\nEinfache, durch Buchstaben vertretene Laute.\nBekannte unseres Alphabets.\nWeifs \"spricht im allgemeinen alle gew\u00f6hnlichen Buchstabenlaute tadellos nach. Nur manchmal giebt es St\u00f6rungen, indem er an einem Laut h\u00e4ngen bleibt oder an den vorgesprochenen etwas Nichther-geh\u00f6riges anh\u00e4ngt. Sagt man z. B. vor: e, so sagt er: de; auf: u \u2014 ud; o \u2014 od, aber durchaus nicht ausnahmslos; sondern gew\u00f6hnlich spricht er die Laute ganz richtig nach. Sagt man g und hatte vorher b gesagt, so sagt er auch jetzt noch be, bleibt an diesem Laut h\u00e4ngen.\n\u00fc und i unterscheidet er in seiner Reproduktion richtig; spricht auch die Diphthongen ei und eu ganz korrekt nach. Auf i sagt er einmal: Jess, dann kn\u00fcpft er sofort: Maria daran. Ebenso sagt er einmal auf \u00fc: j\u00fcd, auf u: ud und dann sofort: gut.\nAuch merkte man ihm oft deutlich die Schwierigkeit an, den Laut zu finden; er sagte dann: \u201ejetzt kommt\u2019s wieder nicht\u201c und \u00e4hnliches, was deutlich verriet, dafs er die Findung des Lautes nicht so in der Gewalt hatte wie ein normaler Mensch. Ferner fragte er h\u00e4ufig auch nach richtigen Leistungen in zweifelndem Tone: Ist das recht? Sein Artikulationsmechanismus ist jedenfalls ganz in Ordnung; es besteht aber die, f\u00fcr Aphasie charakteristische, Neigung: bildlich gesprochen, eine, der richtigen benachbarte, Taste zu greifen.\nLaute aus fremden Sprachen.\nDieser Versuch, der sich in der Regel mit dem englischen th, franz\u00f6sischen g und Nasallauten befafst, betrifft eine Finesse, die bei dem alten, ungebildeten Pfr\u00fcndner auch in gesunden Tagen nicht h\u00e4tte in Betracht kommen k\u00f6nnen.","page":60},{"file":"p0061.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen,\n61\nBuchstabenkombinationen. Silben. W orte. Bekannte deutsche.\nIch spreche vor:\tWeifs spricht nach:\nPfarrer Kirche Sessel Bank Eisenbahn G-esellschaft Beruf\nDampfschiff Dampfschiffahrt Pfr\u00fcndner Pulverdampf Pferd Mauer Uhr\nStuhl Bett Haus Hand Bild Plufs Brod Apfel T\u00f6pfe Pferdebahn Merkw\u00fcrdigkeit\nUnbekannte\nroi\ntabula\nabstraction\ntransscendental\nMetaphysik\nirrational\n(wiederum): Metaphysik noch einmal:\t\u201e\nNachsprechen\nAller Anfang ist schwer Die Kunst ist lang\nBei l\u00e4ngeren S\u00e4tzen geht es verwirrt.\nPachste.\nKirse.\nSessel.\nBank.\nEisenbahn, die Gesellschaft.\nBer-hirof.\nDampfschiff.\nSpampfschiff auf.\nPf\u00fcnner.\nPulverdamen.\nSchetta.\nMauer.\nMohr (NB. deutliche Nachwirkung des vorigen!).\nStuhl.\nBepp.\nStaus.\nzuerst: Ma \u2014 dann richtig.\nHels (NB. Nachwirkung!).\nFlufs.\nBrod.\nApfel.\nT\u00f6ffe.\nHerdetag.\nNachm\u00fcdigkeit.\nFremdw\u00f6rter.\noa.\nkekile.\npassion.\ndodanzdenfendal.\nMekafisis.\nirrationmas.\nAlataktik.\nMasektik.\nkurzer S\u00e4tze :\nAlles ist schwer.\nDie Kunst ist klaan.\nnoch schlechter, da er sich immer","page":61},{"file":"p0062.txt","language":"de","ocr_de":"62\nGustav Wolff.\n2. Nachsingen. 3. Nachpfeifen. 4. Nachahmen aller m\u00f6glichen Mundlaute geht im allgemeinen ganz befriedigend. Er bildet einen Brummlaut gut nach, ebenso Schnalzlaute; er singt auch so gut eine Melodie nach, als man es \u00fcberhaupt von dem alten Manne erwarten kann, so dafs man sagen kann, er h\u00e4tte es vor dem Schlaganfall wohl auch nicht besser gemacht.\nBeim Nachpfeifen f\u00fchrt er den Akt des Pfeifens als solchen gut aus, pfeift aber das Vorgepfiffene total falsch nach, erheblich schlechter, als er das Vorgesungene nachsingt.\n5.\tMienen, Geberden etc. nachahmen,\n6.\tNachschreiben,\n7.\tNachzeichnen,\nist alles der Blindheit wegen nicht zu pr\u00fcfen.\nDas Gesamtergebnis in D: Unmittelbare Nachahmung ist also: dafs Weifs, abgesehen von dem durch die Blindheit unm\u00f6glich Gemachten, sich nur im Nachsprechen von Schwierigem mangelhaft zeigt, dafs sich darin seine aphasischen St\u00f6rungen verraten. Sonst besitzt er aber eine gute Nachahmungsf\u00e4higkeit.\nE. \u00c4ufserung durch rein innere Assoziationen ablaufender, intellektueller Vorg\u00e4nge.\n, ~\t1. Sprechen.\nHersagen gel\u00e4ufiger Reihen.\nDas Alphabet kann er nicht hersagen. Er verwirrt sich sofort, sagt: a b c d 1 g o.\nBeim Vater-Unser kommt er h\u00e4ufig daraus. Man kann aber als Gesamt-Ergebnis vieler Versuche behaupten: dafs er im ganzen noch im st\u00e4nde ist, diese gel\u00e4ufigste aller Reihen herzusagen. Manchmal geht es sogar tadellos. Wenn dagegen einmal eine Entgleisung stattgefunden hat, dann findet er sich auch, bis auf weiteres, nie mehr zurecht. \u2014 Die Reihe der Wochen-Tage sagt er tadellos, ebenso die Reihe der Monats-Namen, bei denen er nur am Schlufs, bei den Namen auf -ber, etwas ins Stocken ger\u00e4t. Dagegen geht nicht die, \u00fcberhaupt viel weniger gel\u00e4ufige, Reihe der zehn Gebote. Ein Lied oder Gedicht, dessen gel\u00e4ufiges Hersagen f\u00fcr die gesunden Tage als sicher vorausgesetzt werden d\u00fcrfte, l\u00e4fst sich nicht auffinden. Die Zahlen-Reihe sagt er vorw\u00e4rts ohne Stocken, ist aber durchaus nicht dazu zu bringen sie r\u00fcckw\u00e4rts aufzusagen und ebensowenig dazu, nur die geraden: 2 \u2014 4 \u2014 6 etc. und die ungeraden: 1 \u2014 3 \u2014 5 aufzuz\u00e4hlen.\nHieher zu E rechne ich auch solche einfachste Rechen-Aufgaben wie die einfachsten Additionen und die Fragen aus dem kleinen Einmaleins, deren Beantwortung absolut keiner Kombinations-Th\u00e4tigkeit bedarf, sondern ohne weiteres im Ged\u00e4chtnis parat liegt.\n\"Es bestehen allerdings in diesem Punkt Unterschiede, auf die ich schon wiederholt aufmerksam gemacht habe, z. B. : sechs mal sechs ist","page":62},{"file":"p0063.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n63\nsechsunddreifsig, zwei mal zwei ist vier, haftet einfach wie ein Reim im Ged\u00e4chtnis, zn dessen sprachlicher Reproduktion es gar keines Besinnens bedarf. Dagegen liegt z. B. 7 X 8, 9 X 6 gewissermafsen in einer abgelegeneren Gegend des Einmaleins; und sowohl die Selbstbeobachtung als die Beobachtung anderer zeigt, dafs hiebei eine Art von Pr\u00fcfen und Herumtasten im Zahlen-Raum stattfindet. Der gleiche Gegensatz besteht bei den Additionen. Die rein ged\u00e4chtnism\u00e4fsigen Elemente sind aber jedenfalls beim Addieren noch viel mehr als in dem kleinen Einmaleins blofs auf wenige F\u00e4lle beschr\u00e4nkt; es d\u00fcrfte sich im wesentlichen beim Addieren nur um die einstelligen Zahlen handeln, und schon bei so einfachen Beispielen wie 12 plus 7 lehrt die Selbst-Beobachtung, dafs es sich hier nicht um stets parat liegende Wort-Assoziationen handelt, sondern um eineKombinations-Th\u00e4tigkeit, allerdings bescheidensten Grades. Von dem Subtrahieren und Dividieren habe ich den Eindruck, dafs hier \u00fcberhaupt nichts ohne Kombination zu st\u00e4nde kommt, und dafs hiebei immer die Probe durch die entgegengesetzte Operation des Addierens oder Multiplizierens im stillen gemacht wird. Dafs man auch diese Operationen in mehr oder weniger ausgedehntem Mafse rein ged\u00e4chtnifsm\u00e4fsig erlernen k\u00f6nnte, das versteht sich allerdings von selbst. Mir scheint nur, dafs man es gew\u00f6hnlich nicht gethan hat, weil man es nicht n\u00f6tig hat. Eigens eingelernt k\u00f6nnte es wohl jedem Menschen werden, und der Unterschied m\u00fcfste sich dann zeigen in einer Abk\u00fcrzung der zum L\u00f6sen der Aufgabe erforderlichen Zeit. Dieser zeitliche Unterschied m\u00fcfste sich auch bei allen Menschen herausstellen in dem Gegensatz zwischen den einfachsten Additionen und Multiplikationen einerseits, den Subtraktionen und Divisionen andrerseits. Es ist mir aber nicht bekannt, ob diese, j edenf'alls \u00fcberaus schwierigen, Zeitmessungen schon angestellt worden sind.\nBei Weifs war nun in allen diesen Richtungen nichts Sonderliches zu erzielen. Denn er war allen Rechen-Aufgabemgegen\u00fcber \u00e4ufserst unlustig. Manchmal gelang es, auf die einfache Frage: Was ist 6 X \u00df? Was ist 2 X 2? die richtige Antwort von ihm zu erhalten. Aber in der Regel kamen folgende Reden: \u201ePlagen Sie mich nicht so! Ich bin ein armer alter Mann\u201c und dergl.\nIn diesen Abschnitt E geh\u00f6ren nun noch solche Fragen, deren Beantwortung durchaus keiner Kombinations-Th\u00e4tigkeit bedarf. Da er mich zuweilen: \u201eHerr Professor!\u201c anredete, so war zu versuchen, ob er auf die einfache Frage: \u201eWer bin ich?\u201c auch die richtige Antwort vorbringe. Auf diese Frage antwortete er aber zum Beispiel: \u201eWer Sie sind? Ja, da hab ich; Jesus Maria Josef. \u2014 Josef Weifs. \u2014 Sie sind ein grofser Herr.\u201c\nDie Frage wiederholt: \u201eWas bin ich\u201c? sagt er:\n\u201eSie sind ein grofser Farm\u201c.\nFrage: \u201eWas mache ich mit Ihnen?\u201c\nAntwort: \u201eWie ich m\u00f6ch? Was steht Ihnen zu Diensten\u201c.\nFrage: \u201eWie heilst der Papst? \u201c\nAntwort: \u201eJa das ist e grofser. Er ist \u2014 Allm\u00e4chtiger Gott, ich war ganz zu Dir. Gar zu viel hab ich ; \u2014\u201c\nNach solchen Fragen wird er immer sehr unlustig und sagte z. B.:","page":63},{"file":"p0064.txt","language":"de","ocr_de":"64\nGustav Wolff.\nHerr Lehrer, ich kann nicht mehr; sonst th\u00e4t ich Antwort gehen. Je mehr dafs ich sag, je loser hab\u2019 ich\u2019s. (L\u00f6ser ist fr\u00e4nkischer Provinzialismus f\u00fcr schlechter). \u2014\nEr sagt: \u201eDer Name des Herrn sei gebenedeit.\u201c Ich kn\u00fcpfte daran die Frage: \u201eWas heilst das: Gebenedeit? \u201c Er f\u00e4hrt fort mit den Worten des Gebets: \u201eGebenedeit ist die Frucht deines Leibes\u201c. Als ich wiederholt in ihn dringe: \u201eWas versteht man unter gebenedeit?\u201c sagt er: \u201eIch bin gar zu schwach\u201c.\nAus dem Mitgeteilten ist deutlich ersichtlich, dafs er grofse Schwierigkeiten hat, auch solche Wortreihen richtig auszusprechen, die ihm von fr\u00fcher her gel\u00e4ufig sein m\u00fcfsten. Dies kann man also bezeichnen als ein direkt aphasisches Symptom, wobei man jedoch unter \u201eaphasisch\u201c nur eine Erschwerung, nicht eine v\u00f6llige Unm\u00f6glichkeit verstehen darf. So erg\u00e4nzt er z. B. zu dem Vorgesagten Pontius richtig Pilatus ; nicht aber zu Sodom : Gomorrha. \u2014\nIm Anschlufs hieran gebe ich noch einige weitere Proben seiner aphasischen Sprechweise.\nFrage: \u201eWas macht die Hand?\u201c (\u00dcber die er h\u00e4ufig klagt). Antwort: \u201eSie hat mir e bisle gut gemacht.\u201c Frage: \u201eK\u00f6nnen Sie das Wasser gut lassen?\u201c Antwort: \u201eJa! das bringe ich noch fertig.\u201c Dies ist nur scheinbar eine sachgem\u00e4fse Antwort; thats\u00e4chlich ist es eine inhaltsleere Phrase. Denn auf die weitere Frage: \u201eWo l\u00e4fst man das Wasser?\u201c sagt er: \u201eJa, sie hat mir einen Schoppen gegeben\u201c. Man sieht also, ^dafs es sich lediglich um ein Spiel mit Worten handelt. Frage: \u201eWo sind Sie hier?\u201c Antwort: \u201eJa, das ist gescheit. Ich bin zu schwach; ich werd\u2019 alle Tage schw\u00e4cher. Sie haben mich schon garstig gek\u00e4usert. Ich komm\u2019 auch wieder zu Kr\u00e4ften. 0 machen Sie\u2019s kurz. Ich bleib\u2019 bei Ihnen, so lang\u2019 als mich der himmlische Yater. \u2014 Ich hab\u2019s gar zu sehr arg. Heut\u2019 war ich so matt, dafs ich nicht einmal mehr. \u2014 So schwach war ich. \u2014 Ich l\u00fcge nicht, ich sag\u2019 die Wahrheit. O wenn ich nur im Himmel w\u00e4r\u2019!\u201c .\u2014\nFrage: \u201eHaben Sie denn Ihre Kinder auch gut erzogen? Antwort: \u201eBesser wie Sie. Was brauch\u2019 ich da zu plaudern. Unser Herrgott wird\u2019s schon machen. Das ist mir alles zu dumm. Ich d\u00fcrft\u2019 Tausend plaudern, so ist alles vergebens. Ich kenn\u2019 die Leut\u2019 inwendig und auswendig. Ich armer Yater mufs mich so bitterlich qu\u00e4len. Ich brater (NB!) Vater. Wenn Sie heute kommen und sagen: Weifs! Sie sind unschuldig. Gucke Sie, ich sag\u2019 s\u2019ist sch\u00f6n geredt\u201c. \u2014\nAuch aus dieser Probe ist das gleiche ersichtlich, was sich immer wieder zeigt: d\u00e4fs n\u00e4mlich seine Sprechmaschine in einerWeise abl\u00e4uft, die von aufsen sehr wenig beeinflufst wird.\n2.\tSingen: Singt auf Aufforderung den Vers: Grofser Gott wir loben Dich, \u2014 in der richtigen Melodie (auch ohne Vorsingen). Man kann deshalb sagen, dafs er die F\u00e4higkeit, selbst eine Melodie zu finden, nicht verloren hat.\n3.\tZum Pfeifen, ohne dafs ihm vorgepfiffen wird, auf blofses Kommando, ist er dagegen nie zu bringen (im Gegensatz zu D 3).\n4.\tAndere Mund-Laute, die als Nachahmungs - Bewegungen in D","page":64},{"file":"p0065.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\t65\ngut zu pr\u00fcfen waren, k\u00f6nnen hier unter E, wo sie als spontan erzeugt in Betracht k\u00e4men, in der Regel \u00fcberhaupt nicht Gegenstand methodischer Pr\u00fcfung sein. Es w\u00fcrde sich, streng genommen, hier darum handeln, lediglich zu beobachten, ob diese Laute auch produziert werden, wenn er blofs einen sprachlichen Anstofs oder Hinweis darauf erhielte; oder dafs er sie gelegentlich spontan produzierte. Hiervon konnte aber bei Weifs keine Rede sein.\n5.\tMienen und Geberden etc.: In dieser Beziehung besteht ein starker Unterschied gegen\u00fcber von D 5, wo zu sagen war: dafs dieses alles der Blindheit wegen nicht zu pr\u00fcfen war. Hier in E ist dagegen zu konstatieren: dafs in dieser Richtung keine Abnormit\u00e4ten bei Weifs bestehen. Soweit es die motorischen St\u00f6rungen erlauben, findet bei ihm in Mienen und Geberden alles korrekten Ausdruck. Er zeigt z. B. immer ein kluges Gesicht, ein verst\u00e4ndnisvolles L\u00e4cheln ; st\u00f6fst Seufzer aus, die zur Situation passen, ebenso dr\u00fcckt er Freude, Bedauern und dergleichen aus. Von dem, was man bei manchen Hirnkranken als Paramimie bezeichnen kann, war bei Weifs niemals etwas zu beobachten.\n6.\tSchreiben: Auch hier w\u00fcrde, im Gegensatz zu D 6, die Blindheit an und f\u00fcr sich kein absolutes Hindernis abgeben. Trotzdem ist Weifs aber niemals zu bewegen, wenn man ihm einen Griffel in die Hand giebt und diesen auf eine Tafel setzt, Schreibbewegungen auszuf\u00fchren.\nEs d\u00fcrfte deshalb wohl Agraphie m\u00f6glicherweise zu behaupten sein, wenn auch der Einwand nicht ganz auszuschliefsen ist: es sei dies kein spezieller Defekt, sondern nur Zeichen allgemeiner Unlust und Unaufgelegtheit. Diesem Einwand gegen\u00fcber w\u00e4re jedoch immer darauf hinzuweisen, dafs er ja z. B. in E 1 und 2 durchaus nicht so unaufgelegt sich gezeigt hat.\n7.\tZeichnen: Giebt man ihm den Stift in die Hand und setzt ihn auf die Tafel mit der Aufforderung etwas zu zeichnen : ein Kreuz und dergleichen ; so verh\u00e4lt er sich hiergegen ebenso negativ wie- bei E 6 (Schreiben).\nF. I. Identifikation unter Ausschlufs der Sprache.\nDieser Abschnitt enth\u00e4lt nur solche Proben, bei welchen von Weifs durchaus kein Resultat zu erhalten war. Seine wichtigste Unterabteilung: Die Identifikation f\u00fcr optische Eindr\u00fccke \u2014 war von vornherein v\u00f6llig ausgeschlossen wegen der Blindheit; und zu Identifikationen durch die anderen Sinne war er auch nicht zu bringen. Jeden Versuch in dieser Richtung beantwortete er nur mit Reden, die seine Unlust ausdr\u00fcckten.\nDas gleiche gilt f\u00fcr F. II: Identifikation von Sinnes-Eindr\u00fccken mit zugeh\u00f6rigen Worten. Auch abgesehen von allem Optischen, war er nie dazu zu bringen, in korrekter Weise zu bejahen oder zu verneinen, wenn man einen akustischen oder anderen Eindruck auf ihn wirken liefs und zugleich ein Wort aussprach. Dafs dem so sein mufste, dies ist implicite schon enthalten in dem, was oben \\inter B (Apperzeption im allgemeinen) mitgeteilt worden ist; wo ja eben dieses das h\u00f6chst Auffallende war, dafs derselbe Mensch, der f\u00fcr Reden nicht sinnlichen\n5\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XV.","page":65},{"file":"p0066.txt","language":"de","ocr_de":"66\nGustav Wolff.\nInhalts noch ein so gutes Verst\u00e4ndnis zeigte, f\u00fcr alles, was mit Sinnes-Eindr\u00fccken zusammenhing, so \u00fcberaus unzug\u00e4nglich war.\nGanz das gleiche gilt f\u00fcr den ganzen Abschnitt:\nG,\nwo er seihst Worte finden soll. Man pfeift ihm z. B. vor und fragt: \u201eWas ist das, was ich jetzt thue?\u201c Er pfeift sofort nach (wie dies schon in D konstatiert ist); ist aber niemals dazu zu bringen, das Wort: Pfeifen auszusprechen.\nEbenso, wenn man vor ihm ein Gebet spricht; so ist er nicht dazu zu bringen das Wort: Beten auszusprechen, wenn man ihn auch noch so sehr dazu stimuliert. Dafs er aber auf anderem Wege das Wort: Beten finden kann, l\u00e4fst sich sofort dadurch beweisen, dafs man auf die (im Sinne von E gestellte) Frage: \u201eWas thut man in der Kirche?\u201c die Antwort erh\u00e4lt: \u201eDa betet man ein Vater-Unser.\u201c\nH. Kombination.\nMethodische Pr\u00fcfung war auch hier durchaus nicht m\u00f6glich, und es ist deshalb demjenigen, was unter B (Apperzeption) mitgeteilt worden ist, insofern auch in seinen dort wiedergegebenen Eeden sich richtige Kombinationen vielfach ge\u00e4ufsert haben, nichts mehr hinzuzuf\u00fcgen.\nSchlufs.\nNachdem Mitte April 1892 die, sehr h\u00e4ufig wiederholten, Untersuchungen, deren Ergebnisse im vorstehenden mitgeteilt sind, abgeschlossen waren, lebte Weifs noch bis zum 18. Mai 1892 in einem som-nolenten Zustand, in welchem nichts mehr festzustellen gewesen w\u00e4re. Schliefslich starb er an einem Lungen-Infarkt, dessen Diagnose durch die Sektion best\u00e4tigt wurde.\nn.\nDie Defekte im Grofshirn des Weifs,\nDie Kinde des Grofshirns zeigt sehr ausgedehnte Defekte.\nAuf der rechten Hemisph\u00e4re ist der ganze Gyrus frontalis superior erweicht. Nach vorn erstreckt sich diese L\u00e4sion auf den Gyrus fornicatus. Einen ganz kleinen Substanzverlust zeigen die vordere und hintere Zentralwindung etwa in der Mitte. Der Defekt wird gr\u00f6fser im Lobulus parietalis superior, und erstreckt sich von da auf den Occipitallappen, vor allem den Cuneus stark besch\u00e4digend.","page":66},{"file":"p0067.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\n67\nDie linke Hemisph\u00e4re zeigt im Stirnteil keine Besch\u00e4digung. Etwa in der Mitte der vordem und hintern Zentralwindungen findet sich ein kleiner Defekt, der sich in gr\u00f6fserer Ausdehnung nach hinten fortsetzt, den Gyrus supramarginalis, Lobulus parietalis superior und inferior und Gyrus angularis ergreifen! und sich auf den Hinterhauptslappen fortsetzend, dessen Rinde im Bereich der drei Occipitalwindungen sowie des Ouneus v\u00f6llig zerst\u00f6rt ist.\nC. Beziehungen zwischen Toit und Weifs.\nDafs die F\u00e4lle Toit und Weifs mehrere Vergleichspunkte bieten, ist ohne weiteres ersichtlich. Bei beiden Kranken fin let sich eine sehr bedeutende Schw\u00e4che in der Reproduktion von ErinnerungsVorstellungen. Die sinnlichen Eigenschaften von Gegenst\u00e4nden kann weder der eine noch der andere reproduzieren. Dafs der Schnee schwarz ist, l\u00e4fst sich Weifs eben so ruhig weismachen, als Toit. Der Letztere besitzt jedoch vor Weiss den grofsen Vorzug, derartige Behauptungen durch die Kontrolle der sinnlichen Wahrnehmung auf ihre Richtigkeit pr\u00fcfen zu k\u00f6nnen, was bei Weiss wegen seiner absoluten zentralen Blindheit ausgeschlossen ist.\nWenn nun aber auch alle optische Wahrnehmung bet Weifs offenbar fehlte, so erscheint es mir nach der vorliegenden Krankengeschichte doch noch nicht als ganz sicher, iifh auch alle optischen Erinnerungsvorstellungen bei dem Kranken gefehlt haben. Denn wenn er z. B. auf die Behauptung : \u201eDer Hund ist falsch!^ die Antwort gab : \u201eDer Hund ist ein getreue Tierle\u201c, so m\u00f6chte ich kaum behaupten, dafs er diesen Sit5 aussprach ohne optische Erinnerungsvorstellung. Ich gebe die M\u00f6glichkeit zu, dafs der Satz \u201eder Hund ist treu\u201c, als reine Sprachformel so festsitzen k\u00f6nne, dafs er ohne jede optisch 3 Vorstellung ausgesprochen wird; aber der Satz \u201eder Hund is ein getreues Tierle\u201c, sieht eigentlich aus wie ein selbst\u00e4ndig geformter und deutet daher auf eine optische Vorstellung. Min m\u00fcfste denn h\u00f6chstens an die M\u00f6glichkeit denken, Weifs sei in einer nur in solchen S\u00e4tzen sprechenden Umgebung aufgewachsen, so dafs derartige Wendungen als reine Sprachformeln sich befestigen konnten.\n5*","page":67},{"file":"p0068.txt","language":"de","ocr_de":"03\tGustav Wolff.\nVon den \u00fcbrigen Sinnen ist bei Weifs der Tastsinn besonders ungeeignet zur Erkennung von Gegenst\u00e4nden. Bei Voit batten wir einen \u00e4hnlichen Defekt konstatiert, aber es ist nicht derselbe. Denn Weifs erkennt allem Anscheine nach \u00fcberhaupt durch den Tastsinn so gut wie nichts, abgesehen von Schmerz- und Temperaturunterschieden, Voit erkennt jedoch die betasteten Gegenst\u00e4nde, kann sie aber nicht benennen, wahrscheinlich weil er die optische Erinnerung hierzu n\u00f6tig h\u00e4tte. In den seltenen F\u00e4llen, in denen Weifs durch den Tastsinn einen Gegenstand erkannte (Geld, Schlappen), konnte er ihn auch benennen.\nHier erhebt sich die Frage, ob die Schw\u00e4che, die Weiss im Erkennen aus taktilen Eindr\u00fccken zeigt, auf eine Unf\u00e4higkeit, die taktilen Eindr\u00fccke zu einer optischen Vorstellung zusammenzusetzen, also auf die L\u00e4sion im Occipitallappen zur\u00fcckzuf\u00fchren ist. Wie oben er\u00f6rtert, halte ich es f\u00fcr wahrscheinlich, dafs ein betasteter Gegenstand optisch vorgestellt werden mufs, um erkannt zu werden, dafs jedoch beim Geh\u00f6rssinn diese Notwendigkeit nicht vorliegt, Weifs erkennt nun ein Huhn, einen Frosch, eine Katze, rein akustisch, rein taktil aber nicht, obwohl er offenbar die F\u00e4higkeit hat, die Tasteindr\u00fccke zu perzipieren.\nWir stehen damit vor der Alternative, ob wir die Schw\u00e4che, welche Weifs in der Tastsph\u00e4re zeigt, als eine der Seelenblindheit analoge betrachten und als anatomische Ursache derselben die Defekte im Vorderhirn ansehen, oder ob wir auch hier die Schw\u00e4che in der optischen Vorstellungsf\u00e4higkffit verantwortlich machen wollen. Eine Entscheidung scheint mir vorl\u00e4ufig nicht m\u00f6glich zu sein.\t*\nEine geradezu \u00fcberraschende \u00dcbereinstimmung zeigen beide Kranke noch in einer besonders interessanten Beziehung. Es ist dies das verschiedene Verhalten in der Reproduktion rein sinnlicher Vorstellungen einerseits und unsinnlicher Vorstellungen andererseits. Dieser Gegensatz ist ausgesprochener bei Weifs, er ist aber, wie wir gesehen haben, auch bei Voit vorhanden, da es ihm auf nichtsinnlichem Gebiert entschieden leichter f\u00e4llt, Worte zu finden. Richtige Urteile zu bilden wird ihm leichter auf abstraktem wie auf konkretem Gebiet, offenbar weil zur Bildung abstrakter Urteile konkrete sinnliche Vorstellungen nicht n\u00f6tig sind.\ts","page":68},{"file":"p0069.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen.\t69\nIch vermeid\u00a9 es, auf speziellere Theoretisierungen, so nahe sie auch liegen, mich einzulassen und m\u00f6chte nur kurz noch die anatomische Frage ber\u00fchren.\nDafs wir den Defekt, den Weifs in der taktilen Sph\u00e4re bietet, sowohl auf die L\u00e4sion im Scheitel- als im Hinterhauptshirn zur\u00fcckf\u00fchren k\u00f6nnen, haben wir bereits er\u00f6rtert.\nDie totale Blindheit und wohl auch die Schw\u00e4che in der Koproduktion optischer ErinnerungsVorstellungen ist durch die Defekte im Hinterhirn hinl\u00e4nglich erkl\u00e4rt.\nZur Erkl\u00e4rung der uns zwar hier weniger interessierenden motorischen St\u00f6rungen des Weifs haben wir in den, wenn auch geringen Defekten der Zentral win d\u00fcngen eine anatomische Unterlage, doch mufs ich mir Vorbehalten, auf diesen Punkt an anderer Stelle noch einmal zur\u00fcckzukommen, wenn ich Gelegenheit nehmen werde, \u00fcber die im E\u00fcckenmark des Weils gefundenen Ver\u00e4nderungen zu berichten.\nOb der hochgradige Defekt im rechten Stirnhirn des Weils irgend welche Intelligenzst\u00f6rungen verursacht hat, kann auf Grund unserer heutigen Kenntnisse \u00fcber die Funktion der einzelnen Hirnteile nicht angegeben werden.\nWenn wir zuletzt noch die Frage kurz streifen wollen, welche Ver\u00e4nderungen wir wohl am Hirn des Voit zu erwarten haben, so brauche ich \u00fcber die Schwierigkeit, die sich hier der lokaldiagnostischen Frage entgegenstellt, kein Wort zu verlieren. Die Vielseitigkeit der Symptome, die allgemeine gleichartige Eeproduktionsschw\u00e4che auf allen Sinnesgebieten k\u00f6nnte mehr auf eine rein funktionelle St\u00f6rung hinweisen, deren organische Grundlage man mit dem vielsagenden Wort \u201emolekular\u201c bezeichnen k\u00f6nnte. Denn, wollten wir als Herdsymptome die psychischen St\u00f6rungen aufiassen, so st\u00e4nden wir vor dem Dilemma: entweder einen gleichartig wirkenden Herd in allen Sinnessph\u00e4ren zu fordern, was gewifs sehr wenig Wahrscheinlichkeit f\u00fcr sich h\u00e4tte, oder einen einzigen Herd in einem erst zu postulierenden Organe annehmen zu m\u00fcssen, welches die Aufgabe hat, in der zweckm\u00e4fsigen Auswahl und V er-wertung der Assoziationen eine aktive Eolle zu spielen. Wer als ein folgsames Kind seiner mechanistischen Zeit die geistigen Vorg\u00e4nge lediglich aus dem passiven Spiele der Assoziationen glaubt ableiten zu k\u00f6nnen, der wird vor der Annahme eines derartigen Organes nat\u00fcrlich zur\u00fcckschrecken, w\u00e4hrend der-","page":69},{"file":"p0070.txt","language":"de","ocr_de":"Gustav Wolff.\njenige\u00bb welcher neben bezw. \u00fcber den passiven Assoziationen eine leitende und kontrollierende Aktivit\u00e4t erblickt, gegen die Annahme eines dieser Funktion dienenden Organes nicht viel einwenden wird. In der That w\u00e4re das zu fordernde Organ kein anderes, als das von Wundt angenommene und in das Stirnhirn verlegte \u201eApperzeption sorg an\u201c, und die Annahme seiner Verletzung w\u00fcrde die bei Voit sich findenden St\u00f6rungen der Hauptsache nach erkl\u00e4ren.","page":70}],"identifier":"lit30198","issued":"1897","language":"de","pages":"1-70","startpages":"1","title":"\u00dcber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen","type":"Journal Article","volume":"15"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:28:30.259858+00:00"}