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{"created":"2022-01-31T12:24:29.496320+00:00","id":"lit30203","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Stern, W.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 15: 139-141","fulltext":[{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\nAlbrecht Eau. Empfinden und Denken. Eine physiologische Untersuchung \u00fcber die Natur des menschlichen Verstandes. G-iefsen, Emil Eoth. 1896. 385 S, 8 M.\nDas Buch verspricht in seinem Titel viel und h\u00e4lt davon ziemlich wenig. Der Verfasser vertritt, in engstem Anschlufs an den zum Befor-mator der Philosophie proklamierten Ludwig Feuerbach, einen extrem sensualistisch-materialistischen Standpunkt, den er in oft erm\u00fcdender Breite, in vielfachen Wiederholungen uns plausibel zu machen sucht. \u201eDas Denken ist nicht et^va unabh\u00e4ngig vom Empfinden, sondern es ist selbst nichts weiter als ein vereinheitlichtes, aufeinander bezogenes, universelles Empfinden, ein Empfinden, in welchem die spezifischen Unterschiede der verschiedenen Sensationsgebiete aufgehoben, beziehentlich einheitlich verkn\u00fcpft sind.\u201c (S. 350.) Dieser Satz, in mannigfachen Variationen wiederkehrend, bezeichnet die Quintessenz seiner Philosophie. Dafs freilich das \u201eVereinfachen\u201c, \u201eAuf-einander-Beziehen\u201c. \u201eVerkn\u00fcpfen\u201c etc., wovon er oben spricht, selbst durchaus nicht zu untersch\u00e4tzende psychische Th\u00e4tigkeiten sind, mindestens ebenso wichtig, wie ihr Objekt, die Sensationen, das darf ein Sensualist nicht beachten.\nDie Erforschung der Natur des menschlichen Verstandes ist nach Eau nat\u00fcrlich nur auf physiologischem Wege denkbar; die psychologische Fragestellung \u2014 die man annehmen kann, ganz gleichg\u00fcltig, ob man des Verfassers Leugnung einer \u201eSeele\u201c teilt oder nicht \u2014 ist ihm \u00fcberhaupt nicht aufgegangen, dagegen ist er stolz darauf, nach \u201eexakter\u201c, \u201enaturwissenschaftlicher Methode\u201c zu verfahren. Man h\u00f6re nur folgende S\u00e4tze: \u201eIst die Seele mehr, als der logische Tr\u00e4ger aller jener Funktionen, die man als psychische von den physiologischen zu unterscheiden vorl\u00e4ufig (!) sich noch gezwungen sieht?\u201c (S. 76.) \u201eWas nun die Empfindung selbst anlangt, so m\u00fcssen wir sie als eine h\u00f6chst komplizierte, chemische Eeaktionsweise des sehr verwickelten zusammengesetzten Nerveninhalts betrachten.\u201c (S. 371.) \u201e Wundt hat die Psychologie in eine Experimentalwissenschaft, d. h. in Physiologie verwandelt; denn alles andere, was man sonst noch der Psychologie zuzurechnen pflegt, geh\u00f6rt in das (Gebiet der Logik.\u201c (S. 328.) Wo Eau selbst psychologische Erkl\u00e4rungen einmal versucht, da kommt er \u00fcber den flachsten Assoziationismus nicht hinaus.\nDa Verfasser aus Eigenem nichts Neues zur Philosophie der Sinnlichkeit beizubringen vermag \u2014 denn hier scheint ihm Feuerbach schon alles","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140\nLitteraturb er icht.\nSagbare gesagt zu haben \u2014 so sieht er seine Hauptaufgabe in der Kritik, mit der er \u00e4ltere und neuere, physiologische und philosophische Anschauungen bedenkt. Durch diese breit angelegte litterarische Betrachtungsweise wird das Buch recht eigentlich ungenie\u00dfbar; Joh. M\u00fcller, Volkmann, Lotze, Kant, Helmholtz und viele andere werden seitenweise exzerpiert, ihre allbekannten Ansichten werden uns noch einmal h\u00f6chst ausf\u00fchrlich geschildert und dann immer wieder mit denselben Gr\u00fcnden \u2014 und denselben Unterstellungen bek\u00e4mpft. Ich sage: Unterstellungen; denn Verfasser hat leider die bequeme, aber h\u00f6chst peinlich ber\u00fchrende Methode, Auffassungen, die er nicht teilt, in den meisten F\u00e4llen aus Ursachen herzuleiten, welche mit der Wissenschaft nichts zu thun haben; mit besonderer Vorliebe nimmt er pers\u00f6nliche oder theologische Motive an. Helmholtz bekennt sich nach ihm zur Lehre von den spezifischen Energien nur deshalb, weil er in pers\u00f6nlichen Beziehungen zu Joh. M\u00fcller stand; wie \u00fcberhaupt jene Lehre nur so viel Anh\u00e4nger gewinnen konnte, weil ihr Begr\u00fcnder die einflufsreiche Professur in Berlin bekleidete. Die Abneigung gegen \u201eUniversit\u00e4tsprofessoren\u201c und \u201eKathederphilosophen\u201c kommt \u2014 nach ber\u00fchmtem Muster \u2014 \u00f6fter zum Durchbruch. Die ganze \u201espekulative Philosophie\u201c (zu der Rau alles rechnet, was nicht sensualistisch ist) wird aus religi\u00f6sen Beweggr\u00fcnden erkl\u00e4rt, jeder wissenschaftliche Wert ihr abgesprochen. Geradezu schn\u00f6de ist die Art, wie Lotze behandelt wird ; dieselbe verdient hier festgenagelt zu werden. (S. 96.) Rau will die, wie er meint, inkonsequente Handlungsweise dieses Forschers erkl\u00e4ren, dafs er drei Jahre, nachdem er die \u201eLebenskraft\u201c sieghaft bek\u00e4mpft, eine \u201eSeele\u201c angenommen habe, und sagt: \u201eDas N\u00e4chstliegende w\u00e4re, anzunehmen, dafs Lotze die Existenz der Seele nur behaupte, um eine Art naturwissenschaftlicher Garantie f\u00fcr den Unsterblichkeitsglauben, der einen so wichtigen Punkt in den verschiedenen religi\u00f6sen Bekenntnisformen der Menschen einnimmt, zu geben. Allein so plump packte der vorsichtige Lotze, der die wissenschaftliche \u00dcberlegenheit und N\u00fcchternheit ganz vortrefflich zu wahren und mit dem Scheine einer gr\u00fcndlichen, objektiven Kritik zu umgeben verstand, seinen Gegenstand nicht an. Die Existenz der Seele sollte aus rein wissenschaftlichen Gr\u00fcnden hervorgehen ; gegen die Idee der Unsterblichkeit konnte man sich dann k\u00fchl und skeptisch verhalten........\u201c\nUnd an anderer Stelle wirft er Lotze gar \u201eSelbstkastration\u201c vor!\nDie Hauptausf\u00fchrungen des Verfassers richten sich gegen Joh. M\u00fcllers Gesetz der spezifischen Sinnesenergien. Was er dagegen vorbringt, ist zum Teil zu acceptieren, nur \u2014 rennt er offene Th\u00fcr en damit ein. Es ist n\u00e4mlich nicht richtig, dafs das Gesetz in der M\u00fcLLERSchen Form noch heute die gesamte physiologische Betrachtung beherrscht (h\u00f6chstens stimmt dies f\u00fcr die \u00e4ltere Physiologengeneration, die schon stark im Aussterben begriffen ist und f\u00fcr die allerdings auch die von Rau mit Recht ger\u00fcgte Vernachl\u00e4ssigung des Entwickelungsgedankens gilt). Es ist ferner nicht richtig, dafs mit der Aufgabe der erkenntnistheoretischen, idealistischen Folgerungen M\u00fcllers auch das Gesetz selbst aufgegeben werden m\u00fcsse. Es bleibt dann n\u00e4mlich noch der psychophysische Bestandteil desselben, welcher etwa lauten w\u00fcrde: jede Sinnes-","page":140},{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"Litter a tu rberich t.\n141\nnervenfaser hat nur eine bestimmte Art der Funktion und vermittelt uns demgem\u00e4fs nur eine bestimmte Art der Empfindung. Ob diese Spezifizit\u00e4t das Prim\u00e4re oder ein ontogenetisch oder phylogenetisch bedingter Erfolg der Reizverschiedenheiten sei, ist dann eine weitere Frage, die nicht nur Rau und der von ihm zitierte Meyer, sondern auch schon sehr viele andere im Sinne der zweiten Eventualit\u00e4t beantwortet haben. Damit ist aber das M\u00fcLLERSche Gesetz nicht beseitigt, sondern nur erkl\u00e4rt. Und deswegen ist es auch durchaus unberechtigt, wenn Rau behauptet, Helmholtz habe in dem Augenblick das Gesetz der spezifischen Energien verlassen, da er die Perzeption der Verschiedenheit von Tonh\u00f6hen auf die physikalischen Gesetze des Mitschwingens zur\u00fcckf\u00fchrte. Im Gegenteil, hier ist das Gesetz, das bei M\u00fcller sich nur auf die Sinnesmodalit\u00e4ten bezieht, auf die Abstufung der Qualit\u00e4ten innerhalb einer Modalit\u00e4t \u00fcbertragen und dadurch unermefslich erweitert worden. \u2014 \u00dcbrigens sind die RA\u00fcschen Ausf\u00fchrungen \u00fcber die spezifischen Sinnesenergien, selbst dort, wo sie Richtiges enthalten, \u00fcberfl\u00fcssig gemacht durch die vortrefflichen theoretischen Untersuchungen, welche Weinmann in seiner 1895 erschienenen Monographie \u00fcber das Thema bietet.\nJene Anschauung, welche die Spezifizit\u00e4t der Empfindungen aus der Verschiedenheit der Reize abzuleiten sucht, f\u00fchrt nach Rau notwendig zu einer naiv-realistischen Erkenntnistheorie, indem die Empfindungen Abbilder der Reize sein m\u00fcfsten, welche so, wie wir sie empfinden, objektiv existieren. Die HELMHOLTzsche Zeichentheorie wird abgelehnt.\nDas Buch schliefst mit einer Apotheose des Gesichtssinnes und Feuerbachs.\tW. Stern (Breslau).\nA. Forel. Un aper\u00e7u de psychologie compar\u00e9e. L'ann\u00e9e psychologique. II. S. 18\u201444. 1896.\nBei der Beobachtung des Tierlebens begehen die Forscher meist den Fehler des \u201eAnthropismus\u201c, d. h. sie legen den Handlungen des Tieres die geistigen Vorg\u00e4nge entsprechender Art bei Menschen zu Grunde. Dazu giebt haupts\u00e4chlich die Vermischung des Instinktes mit den plastischen d. h anpassungs- und ver\u00e4nderungsf\u00e4higen Vernunfthandlungen Anlafs. Wir beobachten nur Handlungen, nicht den Mechanismus der Neurokyme noch die geistigen Vorg\u00e4nge, es ist daher besser an Stelle der vergleichenden Psychologie eine vergleichende Biologie zu setzen; eine partielle Ausnahme sollte man nur bei den h\u00f6chsten S\u00e4ugern machen. Die Grundfrage ist hier die Scheidung von Instinkt und Vernunft.\nAuf zwei Arten wirkt das Nervensystem: 1. automatisch, d. h. nach ganz bestimmten Gesetzen, in fester Ordnung, nach Einwirkung bestimmter Reize; 2. in plastischer, d. h. anpassungsf\u00e4higer Art, die wir Vernunft nennen, und die sich den unvorhergesehenen, pl\u00f6tzlichen Ereignissen anpafst. Zwischen beiden Arten giebt es \u00dcberg\u00e4nge. Diese beiden Formen des Geschehens stehen dauernd im Streit miteinander. Urspr\u00fcnglich haben wir es stets mit den plastischen Formen zu thun, die automatischen sind erst Fixationszust\u00e4nde der ersteren, die beim","page":141}],"identifier":"lit30203","issued":"1897","language":"de","pages":"139-141","startpages":"139","title":"Albrecht Rau: Empfinden und Denken. Eine physiologische Untersuchung \u00fcber die Natur des menschlichen Verstandes. Gie\u00dfen, Emil Roth. 1896. 385 S.","type":"Journal Article","volume":"15"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:24:29.496326+00:00"}