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{"created":"2022-01-31T12:23:43.703928+00:00","id":"lit30208","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Stern, W.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 15: 148-149","fulltext":[{"file":"p0148.txt","language":"de","ocr_de":"148\nLitteraturbericht.\np\u00e9riode\u201c von den anderen vielfach blofs den Charakter von zuf\u00e4lligen \u00c4nderungen im Sinne der Fehlertheorie an sich tragen. Auf fr\u00fchere Untersuchungen des gleichen Problems ist nirgends Bezug genommen, und doch h\u00e4tte der Verfasser f\u00fcr die Anordnung und Behandlung seiner Versuche von Delabarre und Mentz \u2014 um nur diese zu erw\u00e4hnen \u2014 mancherlei lernen k\u00f6nnen.\t0. K\u00fclpe (W\u00fcrzburg).\nJules Payot. De la croyance. Paris, F. Alcan. XIV. 251 S. 1896.\nDie Abhandlung unterwirft das Glauben (nicht etwa nur den Glauben), seinen Gegenstand, seine Natur und seinen Mechanismus einer eingehenden Betrachtung, deren Ergebnisse, wenn auch durchaus nicht in allen Punkten einwandsfrei, von erkenntnistheoretischem, psychologischem und religi\u00f6s-moralischem Gesichtspunkt aus Interesse darbieten. Die Grundtendenz des Buches ist durch einen tiefen Gegensatz gegen den erkenntnistheoretischen Realismus und den psychologischen Intellektualismus gekennzeichnet.\nIm ersten Abschnitt wird die Frage nach dem Obj ekt des Glaubens aufgeworfen. Alles Glauben ist die Affirmation der Wahrheit oder Falschheit unserer Vorstellungen von den Dingen. Was ist aber der Gegenstand unseres Vorstellens? Keinesfalls die Wirklichkeit. Diese entschl\u00fcpft uns immer; weder in den Empfindungen noch in den Wahrnehmungen, noch in den Allgemeinbegriffen erfassen wir die Realit\u00e4t. Was uns dauernd bleibt, sind lediglich feste Beziehungen zwischen verschiedenen Sensationen, und zwar insbesondere zwischen allen \u00fcbrigen Empfindungen und einer besonderen Gruppe von Gegebenheiten, den \u201edonn\u00e9es musculaires\u201c; diese bieten uns, indem sie allein die Vorstellung des Raumes (?), des Widerstandes, der Bewegung liefern, einen festen Rahmen, auf dem wir die Gesamtheit aller anderen Empfindungen auftragen k\u00f6nnen. Muskelempfindungen sind es auch, die wir, als einzige, immer beliebig wiedererzeugen k\u00f6nnen, und auf die sich daher fast alle unsere Erinnerungen st\u00fctzen.\nAber nicht nur, dafs wir die Wirklichkeit nicht erfassen k\u00f6nnen, wie sie ist, wir wollen es auch gar nicht. Unser Erkennen ist ja kein passives Hinnehmen, sondern Kampf mit der Aufsenwelt; die vulg\u00e4re wie die wissenschaftliche Erkenntnis haben nur den Zweck de pr\u00e9voir afin de pouvoir, oder, wie Verfasser denselben Gedanken ein anderes Mal ausdr\u00fcckt: notre conna\u00eetre ne tend nullement \u00e0 savoir, mais \u00e0 disposer de. Das herrschende Gesetz unserer psychologischen Entwickelung ist nun aber, dafs die h\u00f6heren Tiere nur durch Vermittelung der Muskeln zur Aufsenwelt in Beziehung treten. Daher die fundamentale Bedeutung, welche die Bewegung unserer Muskeln und die Empfindung dieser Bewegung f\u00fcr das Erkennen hat. Jede Bewegung wiederum hat ihre Ursache in einer Willenstendenz. So spielen die Sensationen, weit entfernt, uns \u00fcber die Aufsenwelt etwas auszusagen, lediglich eine warnende Rolle, indem sie uns die Beziehungen unserer W\u00f6lbungen, W\u00fcnsche und","page":148},{"file":"p0149.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n149\nNeigungen zu unserem K\u00f6rper ausdr\u00fccken. Auch, die Allgemeinbegriffe und Worte sind nichts als mathematische Zeichen, mit denen wir im Daseinsk\u00e4mpfe arbeiten.\nMit der wissenschaftlichen Erkenntnis steht es nicht anders, als mit der vulg\u00e4ren; auch sie erfafst nicht die Wirklichkeit. Denn diese ist qualitativ, und Qualit\u00e4ten sind nicht aufeinander zur\u00fcckf\u00fchrbar. Wir wollen aber aus N\u00fctzlichkeitszwecken vereinfachen, vereinheitlichen. Und da Qualit\u00e4ten dies nicht zulassen, so suchen wir Beziehungen herzustellen zu etwas, das rein quantitativ abstufbar ist. Das sind wieder die donn\u00e9es musculaires, und insbesondere deren wichtigste, die Bewegung. So ist die ganze Physik ein gewaltiges System der Substitutionen; nur soll man nicht glauben, mit diesen die Dinge erkl\u00e4rt zu haben. Die Bewegung, auf welche die Physik alles zur\u00fcckf\u00fchrt, zu etwas Realem machen, hiefse lehren, dafs unsere Muskeln das Mals aller Dinge seien. Auch die Psychologie ist eine lediglich praktische Wissenschaft; sie will \u201edomestiquer\u201c nicht \u201eexpliquer\u201c, nicht in die Natur ihres Gegenstandes eindringen. (?)\nDie Best\u00e4tigung unseres Glaubens, unserer Vermutungen, ist wiederum lediglich durch Muskelbewegung m\u00f6glich. Besteht doch jede Bewahrheitung darin, die repr\u00e4sentativen Elemente im Bewufstsein durch solche zu ersetzen, die m\u00f6glichst wenig Repr\u00e4sentatives an sich haben. Das sind die immer wieder neu erzeugbaren Bewegungsempfindungen. (Yer\u201c fasser geht so weit, zu behaupten, dafs das Auge ohne Bewegungsf\u00e4higkeit kaum wichtiger als der Geruchssinn w\u00e4re).\nDer zweite Abschnitt behandelt die Natur des Glaubens. Die intellektualistische Erkl\u00e4rung desselben durch rein assoziative Vorg\u00e4nge wird abgelehnt. Sein Grund liegt vielmehr im Wollen, in der psychischen Aktivit\u00e4t. Croire c\u2019est se retenir d\u2019agir; der Unterschied zwischen Glauben und Wollen ist nur ein gradueller. Das Glauben ist urspr\u00fcnglich eine impulsive Kraft, welche nach allen Richtungen sich auszubreiten strebt. Aber w\u00e4hrend der Wille auf Widerst\u00e4nde st\u00f6fst, trifft der Glaube nicht immer und sofort auf un\u00fcbersteigliche Hindernisse. Die Kraft zum Glauben geht aller Erfahrung voraus. Der Glaube eines n\u00e4chtlichen Waldwanderers ist nicht theoretische \u00dcberlegung, betreffend R\u00e4uber und wilde Tiere, sondern fortw\u00e4hrende Thatbereitschaft. Freilich fehlt der Intellekt beim Glauben nicht, doch kommt er meist erst nach, indem er Gr\u00fcnde f\u00fcr den Glauben sucht; auch sind ja die intellektuellen Bestandteile des Glaubens, Vorstellungen und Urteile, in hohem Grade von unseren Neigungen und Wollungen abh\u00e4ngig. La croyance n\u2019est pas plus un ph\u00e9nom\u00e8ne intellectuel qu\u2019un ph\u00e9nom\u00e8ne sensible: elle est, \u00e0 la fois, un ph\u00e9nom\u00e8ne intellectuel, sensible et volontaire, et disons m\u00eame: corporel.\u201c (S. 173.)\nEin n\u00e4heres Eingehen auf die weiteren Ausf\u00fchrungen des Verfassers, welche die Freiwilligkeit des Glaubens, die Erziehung zum Glauben, seinen metaphysischen Voluntarismus und seine religi\u00f6sen Folgerungen behandeln, darf ich mir an dieser Stelle wohl versagen.\nW. Stern (Breslau).","page":149}],"identifier":"lit30208","issued":"1897","language":"de","pages":"148-149","startpages":"148","title":"Jules Payot: De la croyance. Paris, F. Alcan. XIV. 251 S. 1896","type":"Journal Article","volume":"15"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:23:43.703934+00:00"}