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{"created":"2022-01-31T13:16:27.694203+00:00","id":"lit30214","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"M\u00fcnsterberg, Hugo","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 15: 184-188","fulltext":[{"file":"p0184.txt","language":"de","ocr_de":"Die verschobene Schachbrettfigur.\nVon\nHugo M\u00fcnstekbekg\nin Freiburg i. B.\nIn seinen wertvollen \u201eUntersuchungen \u00fcber die Z\u00f6llnek-sche und die LoEBsche T\u00e4uschung\u201c, die in dieser Zeitschrift erschienen, erw\u00e4hnt Prof. Heymans auch eine neue optische T\u00e4uschung (Bd. XIV, S. 118), die im wesentlichen in folgendem besteht. Werden zwei Schachbrettreihen um eine halbe Quadratbreite gegen einander verschoben, so scheint die Trennungslinie der beiden Beihen nicht mehr vertikal auf den Begrenzungslinien der einzelnen Quadrate zu stehen, sondern schr\u00e4g geneigt und zwar oben nach rechts, wenn die weifsen Quadrate der rechten Beihe um ein halbes Quadrat tiefer stehen als die weifsen der linken Seite, dagegen oben nach links, wenn die weifsen rechts h\u00f6her stehen als die weifsen links. Die beistehende Figur ist eine Wiederholung der an erw\u00e4hnter Stelle gegebenen Abbildung. Prof. Heymans nennt diese optische Illusion eine \u201eauffallende Bichtungst\u00e4uschung, welche ich der unter dem Titel Pseudoptics bei Milton Bradley, Springfield Mass, erschienenen Apparatensammlung entnehme.\u201c Er f\u00fcgt dann weiter hinzu: \u201eDie scheinbare Bechtsneigung der mittleren Vertikalen wird in den jener Sammlung beigegebenen Erl\u00e4uterungen aus Irradiationswirkungen erkl\u00e4rt.... Dafs aber diese Erkl\u00e4rung nicht richtig sein kann, scheint mir schon daraus hervorzugehen, dafs u. s. w.u\nIch f\u00fchle mich nun zun\u00e4chst verpflichtet, f\u00fcr jene anonymen Erl\u00e4uterungen die volle pers\u00f6nliche Verantwortung zu \u00fcbernehmen, so wie ich auch die betreffende optische T\u00e4uschung gefunden und verarbeitet habe. Die ganze Apparatensammlung","page":184},{"file":"p0185.txt","language":"de","ocr_de":"Die verschobene Schachbrettfigur.\n185\nist von mir ersonnen und hergestellt nnd der Text von mir verfafst. Die Aufgabe, die ich mir dabei stellte, war, einfache Vorrichtungen zu schaffen, mit denen die wichtigeren psychologischen Erscheinungen experimentell demonstriert und gepr\u00fcft werden k\u00f6nnen, damit so das Interesse an experimenteller Psychologie in weitere Kreise dringe und langsam die Schule erobere. Ich begann mit der Herstellung solchen Materials f\u00fcr das Gebiet der psychologischen Optik. Dasselbe liegt in drei Kasten vor, von denen der erste sich auf ebene Form, Gr\u00f6fse, Dichtung und Bewegung, der zweite auf Farbe, der dritte auf Perspektive und \u00e4hnliches sich bezieht; sie enthalten das Material f\u00fcr mehr als hundert Experimente. Weitere Abteilungen f\u00fcr andere psychologische und psychophysische Gebiete sollen folgen. F\u00fcr Deutschland hat der Mechaniker H. Elbs in Freiburg i. B. die bisher erschienenen Sammlungen auf Lager. Es lag mir bei der Zusammenstellung des Materials weniger daran, neue Erscheinungen zu demonstrieren, als vielmehr daran, jede Demonstration in die Form eines Experimentes zu bringen ; an die Stelle blofser Zeichnungen sind daher stets bewegliche Apparate getreten, so dafs eine unersch\u00f6pfliche Variation der Ph\u00e4nomene m\u00f6glich wird. Da sich die Sammlung in erster Linie an studentische Anf\u00e4nger, Schullehrer und Sch\u00fcler wendet, so hielt ich es aus p\u00e4dagogischen Gr\u00fcnden f\u00fcr zweckm\u00e4fsig, die Erkl\u00e4rungen so einfach als m\u00f6glich zu geben und somit zuweilen bei diskutablen Erscheinungen die einfachere Erkl\u00e4rung einer komplizierten vorzuziehen, auch wenn ich die letztere f\u00fcr etwas wahrscheinlicher zu halten geneigt war. Dieser Umstand gab dem Ganzen einen so popul\u00e4ren Charakter, dafs es mir passender schien, die Sammlung nur unter dem Kamen des Fabrikanten und Verlegers, nicht unter meinem Namen in die Welt gehen zu lassen. Nachdem nun aber die Pseudoptics nicht nur schnell ihren Weg in weitere Kreise gefunden haben, sondern auch wiederholt, wie im vorliegenden Fall, Anlafs zu","page":185},{"file":"p0186.txt","language":"de","ocr_de":"186\nHugo M\u00fcnsterberg.\nwissenschaftlichen Diskussionen geworden sind, f\u00fchle ich mich doch verpflichtet, die Anonymit\u00e4t aufzugeben und f\u00fcr den kurzen Text mit der angegebenen Einschr\u00e4nkung, f\u00fcr die Konstruktion und Anordnung der Vorrichtungen aber uneingeschr\u00e4nkt die Verantwortung zu \u00fcbernehmen.\n\"Was nun die von Prof. Hetmans zur Sprache gebrachte Illusion betrifft, so geh\u00f6rt dieselbe nicht zu denjenigen, die ich um der Vereinfachung willen anders erkl\u00e4rt habe, als wie ich sie an wissenschaftlicher Stelle erkl\u00e4rt haben w\u00fcrde. Ich habe mich im Gegenteil mit dieser Illusion eingehend besch\u00e4ftigt und die Erkl\u00e4rung durch Irradiation nach mannigfacher Pr\u00fcfung als die wahrscheinlichste festgehalten. \u00dcbrigens mufs ich gestehen, dafs ich die T\u00e4uschung nicht auf dem Wege theoretischer Erw\u00e4gungen gefunden habe, sondern durch Betrachtung einer amerikanischen Pferdebahnabonnementskarte, bei der kleine Quadrate f\u00fcr die einzelnen Tage abwechselnd schwarz und weifs angeordnet waren wie ein Schachbrett, dessen Beihen zu einander um halbe Quadratbreiten verschoben waren; der Gesamteindruck war ein starkes Zuneigen und Wegneigen der Beihen zu einander \u00e4hnlich den Hauptlinien der Z\u00d6LLNERschen Figur. Auch mir war der Gedanke, dafs die Lage der Begrenzungslinien f\u00fcr die T\u00e4uschung entscheidend sei, am n\u00e4chsten; ohne die Mitwirkung dieses Faktors g\u00e4nzlich bestreiten zu wollen, kam ich aber bei experimenteller Variation der Einzelheiten zu der obigen Auffassung. Die HEYMANSschen Argumente widersprechen dem nicht. Den \u201eeigentlichen Fehler\u201c meiner Erkl\u00e4rung sucht er darin, \u201edafs von den Verschiebungen, welche die Teile der mittleren Vertikale durch Irradiationswirkungen in Bezug auf einander erleiden k\u00f6nnten, nur die eine H\u00e4lfte in Betracht gezogen, die andere aber vernachl\u00e4ssigt wird.\u201c Heymans giebt zu, dafs, wenn die rechten weifsen Quadrate tiefer stehen als die linken weifsen, eine Neigung der Mittellinie nach rechts durch Irradiation entstehen k\u00f6nnte, wenn nur die Strecke AB in Betracht k\u00e4me; auf der Strecke G D m\u00fcfste dagegen aus derselben Ursache eine ebenso starke Neigung in umgekehrter Bichtung zu entstehen scheinen. Die Irradiationswirkungen auf der ganzen Linie m\u00fcfsten sich demnach entweder ausgleichen oder das Bild einer Zickzacklinie hervorrufen. Ich glaube nun, dafs hier ein Irrtum zu Grunde liegt; der wesentlichste Teil der Irradiations Wirkung ver\u00e4ndert","page":186},{"file":"p0187.txt","language":"de","ocr_de":"Die verschobene Schachbrettfigur.\n187\nCD genau so wie AB und zwischen den Verschiebungen beider Teile besteht kein Antagonismus, sondern im Gegenteil wechselseitige Unterst\u00fctzung. Hetmans sucht die Irradiationswirkung offenbar nur darin, dafs jedes linke weifse Quadrat die vertikale Grenzlinie nach rechts in das angrenzende halbe schwarze Quadrat hineinschiebt und dementsprechend jedes rechte weifse Quadrat die Vertikale nach links verschiebt. Die Wirkung mufs dann allerdings sein, dafs innerhalb A B der obere Teil nach rechts, der untere nach links, innerhalb CD der obere nach links, der untere nach rechts verschoben w\u00fcrde. Zun\u00e4chst m\u00fcfste dann aber schon f\u00fcr A B das optische Bild das sein, dafs sein oberstes Drittel vertikal rechts das unterste Drittel vertikal links und nur das mittlere Drittel als Verbindungslinie schr\u00e4g geneigt zu stehen scheint. Der Eindruck ist aber, wenn wir ein solches Einzelst\u00fcck herausnehmen, besonders an dem grofsen beweglichen Modell der Pseudoptics, gerade der, dafs nicht das mittlere, sondern viel mehr das obere und untere Drittel schr\u00e4ge stehen. Die Hauptwirkung der Irradiation liegt hier offenbar darin, dafs das weifse Quadrat nicht blofs seine rechtwinklige Form \u00fcber die Mittellinie hinausschiebt, sondern sich scheinbar mit spitzem Winkel in das schwarze Doppelquadrat hineinbohrt. Dort wo das weifse an das schwarze Feld so angrenzt, dafs das benachbarte weifse Feld die Irradiationswirkung aufhebt, bleibt alles unver\u00e4ndert, dort wo die Ber\u00fchrungsstelle von schwarzen Feldern rings umgeben ist, erreicht die Verschiebung der Konturen ihr Maximum. In dieser Weise mufs nun offenbar zwischen CD genau so wie zwischen AB jede einzige Verschiebung dieselbe Bichtung haben; die rechten wie die linken weifsen Quadrate m\u00fcssen \u00fcbereinstimmend dahin wirken, dafs jeder Teil der mittleren Vertikale, der zwischen schwarz und weifs liegt, oben nach rechts und unten nach links verschoben erscheint. Apperzipieren wir die ganze Linie als eine Grade, so m\u00fcssen diese Teil Wirkungen sich zu einer Neigung der gesamten Linie summieren. \u00dcbrigens bleibt, besonders bei gr\u00f6fseren Dimensionen, f\u00fcr manche Beobachter eine entschiedene Tendenz zur Zickzackauffassung bestehen, und wohl niemand apperzipiert die geneigte Lage der Linie so leicht wie etwa bei der Z\u00d6LLNEBschen T\u00e4uschung; die Linie bleibt unruhig und scheint bei wechselndem Fixierpunkt sich bald hier bald","page":187},{"file":"p0188.txt","language":"de","ocr_de":"188\nHugo M\u00fcnsterberg.\ndort zu kr\u00fcmmen. Andererseits tritt die Illusion sehr deutlich, wenn auch noch unruhiger, selbst dann auf, wenn die Verschiebung der beiden Streifen nicht um die Breite eines halben Quadrats, sondern vielleicht nur um ein F\u00fcnftel erfolgt, sodafs die weifsen Quadrate rechts den weifsen links gegen\u00fcberstehen und nur um ein F\u00fcnftel oder weniger unten an die schwarzen links grenzen. Nach den HEYMANSschen Erkl\u00e4rungen m\u00fcfste die Illusion hier nahezu verschwinden; wenn sie trotzdem be-harrt, so liegt es daran, dafs die charakterisierte Irradiationswirkung jetzt die \u00fcberragende weifse Ecke geradezu hakenf\u00f6rmig erscheinen l\u00e4fst und diese starke Umbiegung der kurzen Endst\u00fccke sich teilweise auf die zwischenliegenden Teile \u00fcbertr\u00e4gt, nur ist eben die Hakenform zu stark von der Graden abweichend und die Wirkung daher keine ganz gleichm\u00e4fsige.\nDurch alles dieses erledigt sich aber auch der andere HEYMANSsche Einwand, dafs, wenn in der Figur alle weifsen Quadrate durch schwarze, alle schwarzen durch weifse ersetzt werden, alle Irradiationswirkungen sich umkehren m\u00fcfsten, w\u00e4hrend die Figur thats\u00e4chlich dann nur verschoben ist. Sobald es klar ist, dafs der Irradiationseffekt der weifsen an schwarz anstofsenden H\u00e4lften nicht der ist, die Mittellinie bald nach rechts, bald nach links zu verschieben, sondern der, be1 Tieferstellung der rechten weifsen Felder gegen\u00fcber den linken jeden einzigen Teil der Mittellinie nach rechts oben umzubiegen, so versteht es sich von selbst, dafs eine Umtauschung der Felder an dem Gesamteindruck nichts \u00e4ndern kann.\nMir liegt es fern, damit irgendwie im allgemeinen zu den HEYMANSschen und Lippsschen Erkl\u00e4rungen der optischen T\u00e4uschungen Stellung zu nehmen, und selbst f\u00fcr das verschobene Schachbrett bestreite ich nicht, dafs ein Teil der entstehenden Illusionen sich in der Sprache jener Theorien beschreiben l\u00e4fst. Nur daran halte ich fest, dafs die Gesamtheit der bei diesen Verschiebungen zu beobachtenden Illusionen die urspr\u00fcnglich vorgeschlagene Irradiationserkl\u00e4rung n\u00f6tig macht.","page":188}],"identifier":"lit30214","issued":"1897","language":"de","pages":"184-188","startpages":"184","title":"Die verschobene Schachbrettfigur","type":"Journal Article","volume":"15"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:16:27.694209+00:00"}