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{"created":"2022-01-31T12:38:27.707378+00:00","id":"lit30216","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Hofbauer, Ludwig","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 15: 206-212","fulltext":[{"file":"p0206.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber die Ursachen der Differenzen zwischen wirklicher und scheinbarer K\u00f6rpergr\u00f6fse.\nVon\nDr. Ludwig Hoebauee.\nEs ist eine ziemlich allgemein bekannte Erfahrung, dafs man manchmal Menschen begegnet, welche auffallend grofs zu sein scheinen und den Eindruck des Erhabenen und Imposanten erwecken.- Die erste Vermutung ist dann gew\u00f6hnlich die, dafs dieser Eindruck durch besondere Gr\u00f6fsenentwickelung der Betreffenden bedingt sei, und man ist erstaunt, wenn man sieht, dafs dieselben andere Menschen von mittlerer Gr\u00f6fse um wenig oder nichts \u00fcberragen. Ganz besonders eklatant wird bei solchen Personen dieses Plus an virtueller K\u00f6rpergr\u00f6fse, wenn man Gelegenheit hat, dieselben entkleidet, z. B. im Bade, zu betrachten; sie erscheinen dann noch bedeutend gr\u00f6fser als sonst.\nAndererseits trifft man manchmal Individuen, welche klein und unansehnlich aussehen, trotzdem sie, wie eine Messung uns lehrt, in Wirklichkeit mittlere Gr\u00f6fse erreichen.\nIn beiden F\u00e4llen verschafft uns der Mafsstab die \u00dcberzeugung, dafs diese Vergr\u00f6fserung resp. Verkleinerung der Gestalt nicht durch ein wirkliches Plus oder Minus an K\u00f6rpermafs bedingt ist, sondern blos scheinbar statthat, und beweist damit zur Evidenz, dafs die Ursache f\u00fcr diese Erscheinung in den Proportionen der einzelnen K\u00f6rperteile zueinander begr\u00fcndet sein mufs. Versucht man nunmehr sich dar\u00fcber Aufschlufs zu verschaffen, welche derselben diesen mafsgebenden EinfLufs auf die virtuelle Gr\u00f6fse aus\u00fcben, so gelangt man im Verlaufe der Beobachtungen zu der \u00dcberzeugung, dafs insbesondere das Ver-","page":206},{"file":"p0207.txt","language":"de","ocr_de":"Differenzen zwischen wirklicher und scheinbarer K\u00f6rpergr\u00f6fse 207\nh\u00e4ltnis zwischen dem Oberleib und den unteren Extremit\u00e4ten es ist, welches die scheinbare G-r\u00f6fse der Gesamtfigur gar m\u00e4chtig zu beeinflussen im st\u00e4nde ist, und zwar in folgender Weise :\nBei gegebener K\u00f6rpergr\u00f6fse erscheint die menschliche Gestalt um so gr\u00f6fser, je mehr von ersterer auf die E\u00fcfse und Schenkel entf\u00e4llt, und um so kleiner, je mehr davon dem Stamme zuerkannt ist.\nNun war dieses Verhalten schon guten Naturbeobachtern des grauen Altertums bekannt; denn in zahlreichen Werken des klassischen Griechenlands tritt uns dasselbe, wohl verwertet, entgegen.\nSo verwendet es Homer dazu, um unserem geistigen Auge mit seiner H\u00fclfe den Menelaos1 in einer Gestalt vorzuf\u00fchren, welche die K\u00f6nigsgewalt w\u00fcrdig repr\u00e4sentiert. Lessing bemerkt dazu im XXII. Kapitel des rLaokoon44 :\n\u201eSchon Homer hat es empfunden und angedeutet, dafs es ein erhabenes Ansehen giebt, welches blofs aus diesem Zusatze von Gr\u00f6fse in den Abmessungen der E\u00fcfse und Schenkel entspringet. Denn wenn Antenor die Gestalt des Ulysses mit der Gestalt des Menelaos vergleichen will, so l\u00e4fst er ihn sagen:\n\u201eWenn beide standen, ragte Menelaos mit den breiten Schultern hoch hervor.\nWenn aber beide safsen, war Ulysses der ansehnlichere.44\nDa Ulysses also das Ansehen im Sitzen gewann, welches Menelaos im Sitzen verlor, so ist das Verh\u00e4ltnis leicht zu bestimmen, welches beider Oberleib zu den F\u00fcfsen und Schenkeln gehabt. Ulysses hatte einen Zusatz von Gr\u00f6fse an den Proportionen des ersteren, Menelaos in den Proportionen des letzteren.44\nAber nicht blofs bei Homer, sondern auch in zahlreichen Werken der bildenden K\u00fcnstler des klassischen Altertums finden wir diese Erfahrung verwendet. Es mag dahingestellt bleiben, ob dieselben den Einflufs der Proportionen zwischen den einzelnen K\u00f6rperteilen durch eigene Beobachtungen kennen lernten oder dem Studium des Homer verdankten. Denn es ist allbekannt, welch\u2019 m\u00e4chtigen Einflufs die Schriften des letzteren auf die Entwickelung und Ausbildung der bildenden K\u00fcnstler\n1 Ilias, IH. 210, 211.","page":207},{"file":"p0208.txt","language":"de","ocr_de":"208\nLudwig Hofbauer,\nge\u00fcbt haben. \u201eDa1 \u00fcbrigens die homerischen Meisterst\u00fccke der Poesie \u00e4lter waren als irgend ein Meisterst\u00fcck der Kunst, da Homer die Natur eher mit einem mahlerischen Auge betrachtet hatte als ein Phidias, so ist es nicht zu verwundern, dafs die Artisten verschiedene, ihnen besonders n\u00fctzliche Bemerkungen, ehe sie Zeit hatten, sie in der Natur selbst zu machen, schon bey dem Homer gemacht fanden, wo sie dieselben begierig ergriffen, um durch Homer die Natur nachzuahmen. \u201c\nAls pr\u00e4gnantes Beispiel eines solchen Bildwerkes, an welchem diese Erkenntnis voll und ganz zur Geltung kommt, sei die Statue des Apoxyomenos von Lysippos angef\u00fchrt. Um der Figur den Stempel des \u00dcbermenschlichen und Hoheitsvollen aufzupr\u00e4gen, hat hier der K\u00fcnstler das Verh\u00e4ltnis zwischen Oberleib und Beinen so gewaltig zu Gunsten der letzteren verschoben, dafs diese Proportion 446,1 :553,8 betr\u00e4gt, w\u00e4hrend sie physiologischer Weise beim Manne nach Quetelet durch die Zahlen 97 :100 charakterisiert erscheint. Und noch sehr viele andere antike Bildwerke, insbesondere der sp\u00e4teren Zeit sind in eben solchen Verh\u00e4ltnissen aufgebaut, z. B. die medic\u00e4ische Venus, der Antinous und der Apollo vom Belvedere.2\nAber nicht blofs das klassische Griechenland, sondern auch die neue Kunst sucht durch Strecken der unteren Gliedmafsen die Gestalten zu heben. Ein eklatantes Beispiel dieser Art besitzen wir in Rafaels sixtinischer Madonna. Denn wenn hier die unteren Gliedmafsen den Rumpf nicht um so viel an Gr\u00f6fse \u00fcbertreffen wie bei den vorerw\u00e4hnten m\u00e4nnlichen Gestalten, so ist die Ursache daf\u00fcr darin zu suchen, dafs physiologischer Weise beim Weibe Ober- und Unterk\u00f6rper gleich grofs sind, was sich schon in dem alten Satze ausdr\u00fcckt: \u201eCentrum rotundi-tatis est Umbilicus, centrum longitudinis Symphysis.u\nSo allbekannt aber auch die Erfahrung ist, dafs jede \u00c4nderung der Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisse zwischen den Beinen einerseits und dem Oberleib andererseits eine Ver\u00e4nderung der scheinbaren Gr\u00f6fse der Gesamtfigur zur Folge habe; von keiner Seite ist der Versuch gemacht worden, eine Erkl\u00e4rung daf\u00fcr\n1 Lessing (1. c.).\n8 Vergl. auch Hogarth, Zergliederung der Sch\u00f6nheit, Aus dem Eng lischen \u00fcbersetzt von 0. Mylius, London. 1754. S. 68.","page":208},{"file":"p0209.txt","language":"de","ocr_de":"Differenzen zwischen wirklicher und scheinbarer K\u00f6rpergr\u00f6fse. 209\nzu geben, warum die \u00c4nderungen dieser Proportion einen so m\u00e4chtigen Einflufs auf die virtuelle G-r\u00f6fse aus\u00fcben. Bei meinen Bestrebungen, die Ursache dieser Erscheinung festzustellen, wurde in mir die Vermutung rege, dafs es sich hier um eine optische T\u00e4uschung bandle, und gewann immer mehr an Wahrscheinlichkeit. Den Beweis f\u00fcr die Richtigkeit dieser Annahme erbrachten mir zwei Schemata, welche in folgender Weise konstruiert wurden:\nEs werden zwei gleich grofse Rechtecke in nicht zu geringer Entfernung von einander gezeichnet; hierauf tr\u00e4gt man in eines derselben exzentrisch ein kleineres Rechteck ein, so dafs es auf der Grundlinie des grofsen basiert. In das zweite grofse Rechteck wird ebenfalls exzentrisch ein auf dessen Grundlinie basierendes, kleineres Rechteck eingezeichnet, welches zwar dieselbe Breite besitzt wie das erste eingetragene, sich von demselben jedoch durch seine bedeutendere H\u00f6he unterscheidet. Hierauf wird in jeder der beiden resultierenden Figuren der Zwischenraum zwischen dem grofsen und dem eingezeichneten kleineren Rechtecke schwarz angelegt.\nVergleicht man nunmehr diese Figuren miteinander, so erscheint diejenige derselben, in welche das h\u00f6here Rechteck eingetragen wurde, auch in toto bedeutend h\u00f6her als die andere \u2014 wohl ohne Zweifel infolge einer optischen T\u00e4uschung. Das ist aber wohl ein gen\u00fcgender Beweis daf\u00fcr, dafs auch die Ver\u00e4nderungen der scheinbaren Grofse der menschlichen Figur, welche den Verschiebungen der Proportion zwischen Beinen und Stamm ihre Entstehung verdanken, durch optische T\u00e4uschung bedingt sind.\nAllerdings gelten diese Schemata blofs f\u00fcr die Ansicht en face und jene F\u00e4lle von Profilansicht, bei welchen die Beine voreinander gesetzt sind, so dafs der Beschauer beide sieht. Die Verl\u00e4ngerung der Beine auf Kosten des Rumpfes hat aber auch dann eine scheinbare Vergr\u00f6fserung der Gestalt bei Profilansicht zur Folge, wenn die F\u00fcfse nebeneinander gesetzt sind, so dafs nur einer derselben in Erscheinung tritt. Doch auch f\u00fcr diesen Fall l\u00e4fst sich leicht der Beweis erbringen, dafs es sich um eine optische T\u00e4uschung handelt, und zwar an der Hand von Figuren, die folgendermafsen erhalten werden:\nAuf ein schmales, hohes Rechteck wird ein breites Parallelogramm aufgesetzt. In nicht zu geringer Entfernung davon\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XV.\t14","page":209},{"file":"p0210.txt","language":"de","ocr_de":"210\nLudwig Hofbauer.\nwird ein zweites, schmales Rechteck gezeichnet, welches zwar gleiche Breite hat wie das der ersten Figur, jedoch in Bezug auf seine H\u00f6he gegen dasselbe bedeutend zur\u00fccksteht. Auf dieses wird nun ein Parallelogramm aufgesetzt, welches genau ebenso breit ist wie das der ersten Figur, jedoch um so viel an H\u00f6he das letztere \u00fcbertrifft, als das schmale Rechteck, auf welchem es basiert, hinter dem entsprechenden der ersten Figur zur\u00fcckbleibt. Dadurch wird die Gesamth\u00f6he der beiden Zeichnungen, die nunmehr schwarz angelegt werden, vollkommen gleich.\nTrotzdem scheinen dieselben in betreff ihrer H\u00f6henausdehnung ganz betr\u00e4chtlich zu differieren, und zwar in der Weise, dafs die Figur mit dem h\u00f6heren Grundrechteck bedeutend gr\u00f6fser als die andere zu sein scheint.\nDieses Yersuchsresultat berechtigt uns aber wohl dazu, auch bei Profilansicht eine optische T\u00e4uschung als Ursache f\u00fcr den Umstand anzusprechen, dafs bei Yergr\u00f6fserung der Beine auf Kosten des Oberleibes die menschliche Gestalt h\u00f6her erscheint, und umgekehrt.\nJedoch nicht blofs das Verh\u00e4ltnis zwischen der Gr\u00f6fse der F\u00fcfse und Schenkel einerseits und der des Rumpfes andererseits \u00fcbt einen Einfiufs auf die virtuelle Gr\u00f6fse aus, sondern auch das Yerh\u00e4ltnis zwischen Hals und Rumpf. Der Einfiufs des letzteren auf die Gesamth\u00f6he thut sich in der Weise kund, dafs die Figur umsomehr an Gr\u00f6fse zu gewinnen scheint, je mehr davon auf den Hals entf\u00e4llt, je weniger mithin f\u00fcr den Rumpf \u00fcbrig bleibt, und umgekehrt.\nLeichtbegreiflicher Weise unterst\u00fctzt dieses Verhalten beim Zusammentreffen mit einer gleichsinnigen Verschiebung der Proportion zwischen unteren Extremit\u00e4ten und Rumpf die durch diese letztere hervorgebrachte virtuelle Gr\u00f6fsenver\u00e4n-derung in bedeutendem Mafse.\nAber auch dieser Einflufs der relativen L\u00e4nge des Halses war schon den bildenden K\u00fcnstlern des klassischen Altertums bekannt; als eklatantes Beispiel sei der belvedersche Apollo genannt, von dem Hogabth1 diesbez\u00fcglich bemerkt:\n\u201eUun finden wir, dafs diese (der Hals nebst den F\u00fcfsen und Schenkeln) nicht nur gewisse Zus\u00e4tze leiden k\u00f6nnen, ohne\n1 1. c. S. 70.","page":210},{"file":"p0211.txt","language":"de","ocr_de":"Differenzen zwischen wirklicher und scheinbarer K\u00f6rpergr\u00f6fse.\t211\ndafs sie eine unangenehme Wirkung verursachen, sondern dafs auch die menschliche Form dadurch eine Gr\u00f6fse, die letzte Vollkommenheit in Ansehung des Verh\u00e4ltnisses, bek\u00f6mmt, welche offenbar an dem Apollo ausgedr\u00fcckt ist, und noch ferner durch Untersuchung der Zeichnungen des Parmigiano, in welchen diese Besonderheiten im \u00dcbermafse zu sehen sind, bekr\u00e4ftigt werden kann. Doch sagen um deswegen alle \u00e4chte Kenner, dafs in seinen Werken eine nicht auszudr\u00fcckende Gr\u00f6fse des Geschmackes herrschet, ob sie gleich \u00fcbrigens sehr unrichtig sind.\u201c\nEbenso l\u00e4fst Albrecht D\u00fcrer1 bei den Gestalten, die er im Hochwuchs darstellen will, den Hals l\u00e4nger werden, indem er die Schulter tiefer setzt, mithin auf Kosten des Kumpfes. Auch in betreff dieser Proportion zwischen Hals und Stamm l\u00e4fst sich unschwer der Beweis erbringen, dafs ihre Ver\u00e4nderungen ebenso wie die des Verh\u00e4ltnisses zwischen Kumpf und unteren Extremit\u00e4ten ihren Einflufs auf die virtuelle Gr\u00f6fse einer optischen T\u00e4uschung verdanken und zwar an der Hand der durch folgende Konstruktion erhaltenen Figuren:\nMan zeichne ein Parallelogramm, dessen Breitendurchmesser den H\u00f6hendurchmesser bedeutend \u00fcbertrifft, und in nicht zu geringer Entfernung davon ein zweites, welches bei gleicher Breite sich von dem ersten durch seine bedeutendere H\u00f6he unterscheidet. Auf jedes dieser beiden Parallelogramme wird ein schmales Kechteck von gleicher Breite aufgesetzt. Von diesen beiden \u00fcbertrifft das auf das niedrigere Parallelogramm aufgesetzte um ebenso viel an H\u00f6he das auf das h\u00f6here Parallelogramm aufgesetzte Kechteck, als ersteres gr\u00f6fser ist als das niedrigere Parallogramm, so dafs die Gesamth\u00f6he der beiden Figuren, die nunmehr schwarz angelegt werden, vollkommen gleich ist.\nTrotzdem erscheint bei Vergleich derselben die Figur mit dem h\u00f6heren, aufgesetzten Kechteck um ein Betr\u00e4chtliches h\u00f6her als die andere, welche ein h\u00f6heres Parallelogramm zur Basis hat, was aber beweist, dafs auch die durch Verl\u00e4ngerung des Halses bedingte, virtuelle Vergr\u00f6fserung der menschlichen Figur Wirkung einer optischen T\u00e4uschung ist.\nAus all dem Erw\u00e4hnten l\u00e4fst sich aber wohl mit Sicherheit der Schlufs ziehen:\n1 \u201eVier B\u00fccher von menschlicher Proportion.\u201c\n14*","page":211},{"file":"p0212.txt","language":"de","ocr_de":"212\nLudwig Hofbauer.\nDie Differenzen zwischen scheinbarer und wirklicher Grr\u00f6fse der menschlichen Figur, welche durch \u00c4nderungen der Proportionen zwischen der Grr\u00f6fse des Rumpfes einerseits und der des Halses und der unteren Extremit\u00e4ten andererseits bedingt sind, haben ihre Ursache in optischen T\u00e4uschungen, welchen man bei Betrachtung der betreffenden menschlichen Gestalten anheimf\u00e4llt.","page":212}],"identifier":"lit30216","issued":"1897","language":"de","pages":"206-212","startpages":"206","title":"\u00dcber die Ursachen der Differenzen zwischen wirklicher und scheinbarer K\u00f6rpergr\u00f6\u00dfe","type":"Journal Article","volume":"15"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:38:27.707384+00:00"}