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{"created":"2022-01-31T12:29:57.679233+00:00","id":"lit30230","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Crzellitzer, Arthur","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 15: 232-234","fulltext":[{"file":"p0232.txt","language":"de","ocr_de":"232\nLitter aturbericht.\nHeinrich Sachs. Die Entstehung der Raumvorstellung aus Sinnes-empfindungen. Habilitationsschrift. Breslau, Schlettersche Buchhandlung. 1897, 42 S.\nAlle Sinneswahrnehmungen teilt Sachs in einfache und komplizierte. Zur ersten Gruppe geh\u00f6ren Geschmack, Geruch, Temperatursinn und Gemeingef\u00fchle. Alle diese k\u00f6nnen zwar in verschiedenen Qualit\u00e4ten empfunden werden und bei diesen wieder Unterschiede in der Intensit\u00e4t, aber ein r\u00e4umliches oder zeitliches Verh\u00e4ltnis von verschiedenen \u201eGe-schm\u00e4cken\u201c oder Ger\u00fcchen wird weder empfunden noch im Ged\u00e4chtnis behalten. Die Vorstellung von der Aufsenwelt hat mit diesen einfachen Sinneswahrnehmungen nichts zu thun, leidet daher auch nicht bei ihrem Verlust. Gemeinsam ist auch allen diesen ein deutlicher Gef\u00fchlston. Im strikten Gegensatz dazu stehen Geh\u00f6r, Gesicht und Getast.\nBei ersterem mufs man scheiden die Wahrnehmung einzelner T\u00f6ne [was den einfachen Wahrnehmungen entspricht] von derjenigen ihres Verh\u00e4ltnisses zu einander: Harmonie resp. Melodie.\nW\u00e4hrend die (spezifische) einfache Wahrnehmung von vornherein gegeben ist, mufs diejenige ihres Verh\u00e4ltnisses erst erlernt werden, \u201eist also eine Denkorganleistung\u201c. Diese besteht nicht etwa in der blofsen Assoziation zweier einfachen Empfindungen, sondern sie ist etwas \u201eaktives\u201c im Gegensatz zum \u201epassiven Empfinden\u201c. \u201eWir stellen aktiv unseren Organismus vom Grundton z. B. auf die Oktave ein und diese Intervallempfindung bleibt als solche im Ged\u00e4chtnis\u201c. Sie ist immer gleich grofs, mag der Grundton beliebig hoch sein. Daher erkennen wir sp\u00e4ter auch jede Oktave als solche.\nEbenso wie die Oktave werden auch andere Intervalle perzipiert; wieweit die Isolierung gelingt, ist Sache der \u00dcbung. Das Organ f\u00fcr diese Intervallempfindung ist nicht der Kehlkopf; die Nachahmung ist zwar das beste H\u00fclfsmittel zur Perzeption, aber nicht absolut n\u00f6tig. Auch ein Unmusikalischer, der eine Melodie selbst zu reproduzieren nicht vermag, erkennt sie wieder. \u2014 Verfasser l\u00e4fst die Frage offen, h\u00e4lt aber f\u00fcr m\u00f6glich, dafs die Schnecke jenes Organ beherberge.\nBeim Gesicht entspricht der einfachen Sinneswahrnehmung die Helligkeitsempfindung. Den gang und g\u00e4ben Vergleich der Farben mit den T\u00f6nen h\u00e4lt Verfasser deshalb f\u00fcr falsch, weil letztere zu einander in \u201egewissem System, in geordneten Beziehungen stehen\u201c; die Farben aber sind unabh\u00e4ngig und unvergleichbar wie Ger\u00fcche. Eine einzige Farbe gen\u00fcgt zum optischen Bilde der Aufsenwelt (Photographie), also auch der total Farbenblinde hat ein solches.\nWir sehen aber aufser der Lichtempfindung noch Form, d. h. Ausdehnung in Fl\u00e4che und Tiefe.\nZur Fl\u00e4chenperzeption gen\u00fcgt ein Auge; sie beruht darauf, dafs jeder Netzhautpunkt in einem bestimmten Verh\u00e4ltnis steht zur Macula (resp. Fixierpunkt); dieses ist gegeben durch die Augenbewegung, vermittelst deren der Fixierpunkt an die Stelle jenes Punktes zu treten vermag. Dazu geh\u00f6rt ein ganz bestimmtes Innervationsverh\u00e4ltnis der Augenmuskeln. Bekanntlich sind nur die Bewegungen im horizontalen Meridian durch je einen Muskel (R. internus resp. abducens)","page":232},{"file":"p0233.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n233\nausf\u00fchrbar; f\u00fcr die Richtungen nach oben und unten sind je zwei Muskeln erforderlich (Superior + Obliquus inferior resp. Inferior -f* 0. super.), f\u00fcr jeden dazwischen liegenden Radius mithin drei. Das Innervationsverh\u00e4ltnis dieser ist nun verschieden f\u00fcr die verschiedenen Radien, aber f\u00fcr einen und denselben Radius konstant. Nur (quantitativ) w\u00e4chst, wenn im selben Radius (z. B. nach oben aufsen) der Ausschlag gr\u00f6fser wird, die Innervation eines jeden der drei beteiligten Muskeln [hier also Superior + Abducens + Obliquus inferior] aber im selben Verh\u00e4ltnis untereinander.\nJede Beziehung eines gesehenen Punktes zu einem anderen besteht also in einer diese beiden verbindenden Richtungslinie; dieser entspricht dasjenige bestimmte Innervationsverh\u00e4ltnis, das n\u00f6tig w\u00e4re, um den Pixierpunkt in einem jener Richtung parallelen Radius zu bewegen.\nJede Form ist weiter nichts \"als eine Summe solcher Richtungslinien, f\u00fcr ihre Auffassung ist also die absolute Gr\u00f6fse des Netzhautbildes v\u00f6llig gleichg\u00fcltig.\nEine Beziehung zwischen den verschiedenen Retinalpunkten und somit die M\u00f6glichkeit einer Fl\u00e4chenvorstellung ist also in dem Momente gegeben, wo das Auge Bewegungen macht. Hier weist nun Verfasser auf den bald nach der Geburt sich fixierenden Einstellreflex (nach ihm ein Rindenreflex) hin; in den Augenmuskelkernen bef\u00e4nden sich nicht blofs die motorischen Ganglienzellen f\u00fcr die einzelnen Muskeln, sondern auch die \u201eKombinationszellen resp. -fasern, die jene sowohl einseitig als gekreuzt kombinieren\u201c.\nDie Erregung dieser \u201esubkortikal en kombinativen Elemente\u201c (von denen je eine bestimmte Gruppe einem bestimmten Netzhautradius entspricht; nah benachbarte Radien haben die meisten Zellen gemein, gerade entgegengesetzte gar keine mehr [so das allm\u00e4hliche Schwinden der Erkennkarkeit gedrehter Objekte erkl\u00e4rt]), fliefst nicht nur zu den motorischen Ganglienzellen, sondern gleichzeitig zur Grofshirnrinde und zwar zu dem von Sachs so bezeichneten optisch-motorischen Felde1 und weckt hier die Richtungsempfindung. Ist einmal die Lokalisation der Netzhaut vollendet, d. h. die Verbindung zwischen Radien und Zellgruppen des optisch-motorischen Feldes, so geschieht die Auffassung einer neuen Form auch bei ruhendem Auge dadurch, dafs f\u00fcr einige der gereizten Retinalpunkte Richtungsempfindungen (auf assoziativem Wege) geweckt resp. dem Ged\u00e4chtnis einverleibt werden.\nF\u00fcr diese ganze Auffassung ist nat\u00fcrlich die M\u00f6glichkeit sehr fein abgestufter Innervationen vorausgesetzt. Dafs diese vorhanden, daf\u00fcr spricht die starke Dicke der Augenmuskelnerven im Verh\u00e4ltnis zur Kleinheit der Muskeln.\nDie gesamten bisherigen Auseinandersetzungen erkl\u00e4ren uns die Fl\u00e4chenvorstellung; der Eindruck der Tiefe entsteht nach S., \u201esobald die in beiden Augen entworfenen Bilder nicht auf identische Punkte fallen\".\n1 Weitere Umgebung des optisch sensorischen Feldes, der Regio calcarina und konvexe Fl\u00e4che von Hinterhaupt- und unteren Scheitellappen.","page":233},{"file":"p0234.txt","language":"de","ocr_de":"234\nLitteraturbericht.\nAuch hier findet dann eine reflektorische Einstellung statt (n\u00e4mlich Konvergenz), die vom suhkortikalen Zentrum aus an das Grofshirn gemeldet wird und hier die Tiefenempfindung ausl\u00f6st. Die durch ein Auge vermittelte Tiefenempfindung schiebt S. als nur scheinbare v\u00f6llig beiseite.\nBeim G-etast liegen die Dinge komplizierter, insofern als die peripheren Muskelempfindungen, das Spannungsgef\u00fchl der Haut und vor allem die Gelenkempfindungen hinzukommen, ferner die M\u00f6glichkeit f\u00fcr die einzelnen Glieder, sich gegenseitig zu betasten. Daf\u00fcr wird immer der gerade ber\u00fchrte Fleck und nicht der Gegenstand als ganzer perzipiert. Das Wesentliche aber sind auch hier die Innervationen, die als Bichtungs-empfindungen bewufst werden. (Beweis ; wer mit der rechten Hand schreiben kann, kann es mit jedem Gliede, z. B. Fufs [Wernicke]). Dieselben sind unabh\u00e4ngig von denen des Gesichts, weil auch Blindgeborene eine Tast-Baumvorstellung gewinnen; falls aber gesehen wird, werden sie mit den taktilen identifiziert. Das Organ f\u00fcr diese letzteren Bichtungs-empfindungen ist das H\u00f6hlengrau in der Hals- resp. Lendenanschwellung des B\u00fcckenmarks.\nEben weil die Baumvorstellung auf \u201eeiner von \u00e4ufseren Zuf\u00e4lligkeiten ganz unabh\u00e4ngigen Th\u00e4tigkeit einer bestimmten nerv\u00f6sen Organisation unseres eigenen K\u00f6rpers\u201c beruht, erscheinen uns die Gesetze des Baumes als a priori gegeben, als selbstverst\u00e4ndliche Axiome.\nBefereut hielt es f\u00fcr erspriefslich, die soeben skizzierte geistvolle Theorie nicht durch Einw\u00e4nde zu unterbrechen, zumal eine w\u00fcrdigende Kritik ungef\u00e4hr noch einmal so viel Baum als das Beferat selbst beansprucht h\u00e4tte. Nur einige angreifbare Punkte seien hier bezeichnet. So will dem Beferenten die Beziehung zwischen zwei T\u00f6nen (z. B. Oktave) durchaus nicht als eine \u201eaktive Einstellung des Organismus\u201c einleuchten; ich vermag hier sehr wohl eine physikalische Ursache in der Thatsache zu erblicken, dafs jede gespannte Saite aufser ihrem Eigenton, sobald Knotenbildung eintritt, auch noch die Oktave etc. angiebt. Vielleicht giebt es in der Schnecke saiten\u00e4hnliche Gebilde, bei denen gleiches der Fall ist. Diese akustische \u201eaktive\u201c Einstellung betont aber S. eben mit besonderer W\u00e4rme und benutzt sie als Basis und Analogie f\u00fcr die optische aktive Einstellung. Auch bei dieser sind verschiedene Einw\u00e4nde denkbar. Der wesentlichste scheint mir, dafs die alte Schwierigkeit nur verschoben, nicht gel\u00f6st wird: die \u201eMerkzeichen\u201c der Betinalpunkte im Gehirn sind wir los, aber daf\u00fcr hat uns Sachs neue beschert, ohne es klar auszusprechen, n\u00e4mlich Merkzeichen f\u00fcr die Betinalradien in Gestalt der etwas \u201emystischen\u201c Bichtungsempfindungen. In diesem nur nativistisch erkl\u00e4rbaren Konnex zwischen Betinalradius und einer bestimmten Art von Empfindung steckt eine Schwierigkeit, \u00fcber die auch so \u00fcberzeugte Empiristen nicht hinweghelfen wie Sachs in seiner \u00e4ufserst anregend und in formvollendetem, niemals dunklem Stil geschriebenen Monographie.\tArthur Crzellitzer (Strafsburg i. E.).","page":234}],"identifier":"lit30230","issued":"1897","language":"de","pages":"232-234","startpages":"232","title":"Heinrich Sachs: Die Entstehung der Raumvorstellung aus Sinnesempfindungen. Habilitationsschrift. Breslau, Schlettersche Buchhandlung. 1897. 42 S.","type":"Journal Article","volume":"15"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:29:57.679238+00:00"}