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{"created":"2022-01-31T12:26:52.396621+00:00","id":"lit30238","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Pelman","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 15: 242-245","fulltext":[{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"242\n. Litteraturbericht.\nEd\u00f6uard Toulouse. Enqu\u00eate m\u00e9dico-psychologique sur les rapports de la sup\u00e9riorit\u00e9 intellectuelle avec la n\u00e9vropathie. I. Introduction g\u00e9n\u00e9rale. Emile Zola. Paris. Soci\u00e9t\u00e9 d\u2019\u00e9ditions scientifiques. 1896. 285 S.\nWenn Toulouse h\u00e4lt, was er uns in Aussicht stellt, dann haben wir hier den ersten Schritt zu einem grofsen Werke vor uns, den ersten Versuch, eine alte Frage auf einem neuen Wege zu l\u00f6sen, auf dem allerdings m\u00fchsamen, aber daf\u00fcr auch sicheren Wege der wissenschaftlichen Methode.\nFast ein ganzes Jahr hindurch haben Toulouse und seine f\u00fcnfzehn Mitarbeiter an einem einzigen Menschen herumgehorcht und gemessen, ihm Herz und Nieren erforscht, und fast ein ganzes Jahr hindurch hat dieser einzige Mensch aus- und stillgehalten als ein wirkliches und wahrhaftiges Opfer der Wissenschaft.\nDie Annahme, wonach Genie und Geistesst\u00f6rung miteinander in einer gewissen Beziehung stehen, reicht fast ebenso weit zur\u00fcck wie unsere Kenntnisse \u00fcberhaupt, und was \u00fcberall und zu aller Zeit f\u00fcr wahr gegolten hat, daran mufs doch irgend etwas sein.\nAber wo ist dieser Zusammenhang zu suchen?\nLombroso ist rasch mit einer Erkl\u00e4rung bei der Hand, weil von jeher so viele Genies geisteskrank gewesen seien, und er f\u00fchrt zum Beweise eine ' gr\u00f6fsere Anzahl von geisteskranken Genies auf. Aber der Begriff des Genies auf der einen und die Definition der Geistesst\u00f6rung auf der anderen Seite sind zu unbestimmt, um die auf diese Weise ge_ wonnenen Ergebnisse wissenschaftlich zu verwenden. Hier setzt Toulouse ein, und indem er die pers\u00f6nliche Untersuchung an die Stelle mangelhaft beglaubigter Anekdoten und die wissenschaftliche Erhebung der Thatsachen an dem Objekt selber an die Stelle rein theoretischer Erw\u00e4gungen setzt, sucht er eine Grundlage f\u00fcr k\u00fcnftige Schl\u00fcsse zu schaffen.\nDie n\u00e4chste Aufgabe galt der Gewinnung eines geeigneten Objektes und auch das war nicht leicht. Denn wer und was ist ein Genie? Toulous\u00e8 will auf diese viel umstrittene Frage nicht eingehen und er sucht den Ausdruck des Genies zu umgehen, indem er ihn durch den der geistigen \u00dcberlegenheit ersetzt, und auch f\u00fcr diese \u00fcberl\u00e4fst er die Entscheidung der Majorit\u00e4t, der allgemeinen Anerkennung. Er suchte sich daher den zur Zeit bekanntesten und meist genannten heraus \u2014 Emile Zola.\nEr hatte jetzt den Mann und die Methode, und es handelte sich nun darum, die letztere auf den ersteren anzuwenden. Und hier hiefs es sich zu bescheiden und in bescheidenen Grenzen zu halten, denn die Wissenschaftlichkeit in jedem Falle bis zur Sektion zu treiben, geht nicht wohl an. Eine l\u00e4ngere Untersuchung erforderte noch die Frage, \"wie man sich den Zusammenhang der h\u00f6heren Intelligenz mit der Neuropathie zu denken habe.\nUnter den verschiedenen Erkl\u00e4rungsversuchen entscheidet sich Toulouse f\u00fcr die Annahme, dafs Neuropathie und geistige \u00dcberlegenheit Verschiedene Ausdrucksweisen f\u00fcr beiden gemeinsame Bedingungen seien, in der Art, dafs das neuropathische Temperament die geistige Th\u00e4tigkeit am meisten f\u00f6rdert, wie es andererseits zu wirklichen St\u00f6rungen des Nervensysternes f\u00fchren k\u00f6nne.","page":242},{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"LitteraturbericJiL\n243\nSicherlich k\u00f6nne das Genie auch ohne solche St\u00f6rungen bestehen und vielleicht weit besser bestehen, aber in Wirklichkeit begleiten sie es oft genug. Sie lagern sich wie ein Mehltau auf das Genie und hemmen es in seinem hohen Fluge, aber unbedingt n\u00f6tig sind sie nicht. Dieses neuropathische Temperament kann angeboren oder erworben sein.\nMeist liefert die angeborene Entartung den Boden, auf dem sich unter dem Einfl\u00fcsse der \u00e4ufseren Verh\u00e4ltnisse die weiteren Zust\u00e4nde entwickeln, und da diese \u00e4ufseren Umst\u00e4nde bei dem Genie oft genug recht schlecht sind, so sind Genie und nerv\u00f6se St\u00f6rung durch hundert F\u00e4den miteinander verkn\u00fcpft.\nAufser dem neuropathischen Temperamente kann noch eine Beihe anderweitiger Bedingungen bei der Entwickelung des Genies in Frage kommen.\nZun\u00e4chst spricht man von einer direkten \u00dcbertragung von Vater auf Sohn. Aber wie die Eltern eines ber\u00fchmten Sohnes oft nur aus diesem Grunde bekannt und genannt werden, so stehen auch den S\u00f6hnen eines ber\u00fchmten Vaters ganz andere Mittel und Wege zur Ber\u00fchmtheit offen, und wenn wir alles dies in Erw\u00e4gung ziehen, so m\u00fcssen wir jedenfalls zu dem Schl\u00fcsse kommen, dafs die geistigen F\u00e4higkeiten im Grunde genommen recht selten von den Eltern auf die Kinder \u00fcbergehen.\nAuch mit der Entwickelung ist es eine eigene Sache. Entwickelt sich das Genie zu fr\u00fch, so liegt schon hierin die Gefahr eines vorzeitigen Endes, und wie viele Genies gehen nicht vorzeitig und unbeachtet zu Grunde, weil Umgebung und pers\u00f6nliche Verh\u00e4ltnisse ihnen nicht g\u00fcnstig waren! Andere kommen darum nicht zur Geltung, weil ihre Zeit noch gr\u00f6fsere Geister zeitigt, und selbst in dem Kampfe um die Palme erwachsen dem Genie Gefahren, da oft genug nicht der gr\u00f6fsere Geist, sondern die gr\u00f6fsere Geschmeidigkeit zum Erfolge f\u00fchrt.\nNach diesen Erw\u00e4gungen geht Toulouse zur Untersuchung Zolas \u00fcber.\nDiese ergiebt keine k\u00f6rperlichen Entartungszeichen, wohl aber zahlreiche Symptome einer gesteigerten nerv\u00f6sen Erregbarkeit, eines neuropathischen Temperamentes, die zuerst in seinem 20. Jahre nach geistiger \u00dcberanstrengung auftreten und seitdem unter dem Einfl\u00fcsse derselben \u00dcberanstrengung zugenommen haben.\nDas psychische Examen ist aufserordentlich ersch\u00f6pfend.\nAlles wird gemessen, festgestellt, er\u00f6rtert, und wenn Zola aus dem Examen auch nicht als ein Genie hervorgeht, da ihm die unbewufste sch\u00f6pferische Kraft des Genies fehlt, so ist er doch ein Charakter und aus einem Gufs. Es ist nicht sowohl das Mehr seiner F\u00e4higkeiten, sondern ihre gl\u00fcckliche Verbindung und Harmonie, die ihn auszeichnen. Denn wenn er es auch in manchen F\u00e4higkeiten vielen zuvorthut, so liegt seine Hauptst\u00e4rke doch in seiner Bef\u00e4higung, aus seinen F\u00e4higkeiten den gr\u00f6fsten Nutzeffekt zu erzielen.\nDarin liegt seine St\u00e4rke und die Gewifsheit seines Erfolges. Woran es ihm mangelt, ist die Phantasie. Daf\u00fcr aber handelt er nach festen Grunds\u00e4tzen und in ganz bestimmter Absicht, und so besteht er ganz und gar aus Gesundheit, Festigkeit und psychischem Gleichgewicht. Toulouse hat kaum je einen Menschen gesehen, der sich eines gleichen geistigen Gleichgewichtes erfreute.\n16*","page":243},{"file":"p0244.txt","language":"de","ocr_de":"244\nLitteraturbericht.\nIn keinem Falle ist Zola als hysterisch oder gar als epileptisch anzusehen, und wenn er auch abnorm und neuropathisch ist, so kann man ihn doch nicht als degeneriert bezeichnen. Denn wo sind die L\u00fccken, die sein Geist neben brillanter Bef\u00e4higung an anderen Stellen aufweisen m\u00fcfste? Sie sind nirgends, und seihst seine Sonderbarkeiten st\u00f6ren sein geistiges Schaffen in keiner Weise.\nSein Nervenleiden \u2014 Zola leidet an mannigfachen nerv\u00f6sen St\u00f6rungen, an krankhaften Ideen und Impulsen \u2014 ist wahrscheinlich ein ererbtes, und die angeborene Anlage wurde durch die geistige \u00dcberanstrengung verst\u00e4rkt und ausgel\u00f6st. Aber sein geistiges K\u00f6nnen wird dadurch weder bedingt noch beg\u00fcnstigt, vielmehr ist das Umgekehrte der Fall,\nHiermit wendet sich Toulouse direkt gegen die bekannten Theorien Lombrosos \u00fcber das Wesen des Genies und auch sonst l\u00e4fst er es an scharfen kritischen Ausf\u00e4llen gegen den italienischen Forscher nicht fehlen.\nDafs Lombroso darauf schweigen w\u00fcrde, war kaum anzunehmen, und er hat denn auch nicht lange ges\u00e4umt, sich mit Toulose auseinander zu setzen. {Semaine m\u00e9d. 6. Jan. 1897.) Vielem von dem, was er an Toulouse bem\u00e4ngelt, wird man nur dann zustimmen k\u00f6nnen, wenn man unbedingt zur Fahne Lombrosos schw\u00f6rt, in manchen Punkten aber hat er \u00dfecht.\nBei einem Schriftsteller von der Eigenart Zolas, dessen Schriften so sehr den Widerhall seiner ganzen Pers\u00f6nlichkeit bilden, mufsten diese Schriften in erster Linie zur Beurteilung herangezogen werden und sie h\u00e4tten dazu Stoff in gen\u00fcgendem Mafse gegeben.\nDie Eigenheiten der ZoLASchen Schreibweise, sein best\u00e4ndiges Hinweisen auf Geruchsempfindungen, das stellenweise gradezu zu einem Schwelgen in Ger\u00fcchen herausw\u00e4chst, seine Neigung zu obsc\u00f6nen Schilderungen und sein mystischer Hang, der leblosen Materie Leben einzu-fl\u00f6fsen, sind nicht unbedenklich, und nehmen wir hierzu seine geistigen Abnormit\u00e4ten, den Zwang zu z\u00e4hlen, Schubladen und Th\u00fcren wieder und wieder zu schliefsen, Hindernisse nur mit dem rechten Fufse zu \u00fcberschreiten, die Gasst\u00e4nder auf der Strafse mit der Hand zu ber\u00fchren, und manches andere der Art mehr, dann wird man es Lombroso kaum ver\u00fcbeln k\u00f6nnen, wenn er seine Anspr\u00fcche auf Zola geltend macht und in ihm trotz alledem ein Genie und ebenso einen Hystero-Epileptischen sieht.\nUnser besonderes Interesse beansprucht die Art, wie Zola arbeitet.\nSo wie er den Plan eines Werkes gefafst hat, verschafft er sich die Kenntnis des Ortes und alles dessen, was dem sp\u00e4teren Werke zum Vorteile gereichen kann. T\u00e4glich tr\u00e4gt er die gewonnenen Ergebnisse zusammen und fortan wird alles, was nicht auf diesen besonderen Gegenstand Bezug hat, beiseite geschoben.\nDas N\u00e4chste ist alsdann der Entwurf, den er mit der Feder in der Hand ausf\u00fchrt. Zola schreibt, um zu denken, wie andere sprechen. Allm\u00e4hlich trennen sich von den allgemeinen Ideen die einzelnen Personen ab, die er nur in seinem Ged\u00e4chtnisse sucht und die daher samt und sonders eine individuelle F\u00e4rbung vermissen lassen. F\u00fcr eine jede dieser","page":244},{"file":"p0245.txt","language":"de","ocr_de":"Litter aturbericht.\n245\nPersonen legt er besondere Akten an (dossier), die ihre Personalbeschreibung und sonstigen Eigenschaften enthalten und die er im Verlaufe seiner Arbeit stets aufs neue zu Pate zieht. Auch auf den Namen wird ein besonderer Wert gelegt, und er sucht ihn mit Sorgfalt aus dem Adrefsbuche aus. Endlich ist er soweit in seiner Arbeit vorgeschritten, um n\u00e4her auf die einzelnen Kapitel einzugehen, und erst wenn er auch dies gethan, giebt er sich an das Schreiben seines Werkes.\nNunmehr aber, steht der Plan seines Werkes so fest und unverr\u00fcckbar vor seinen Augen, dafs er von nun an in einem Zuge arbeitet, ohne das Geschriebene nachzulesen und ohne an Stil und Inhalt das Mindeste zu \u00e4ndern. Dabei ist er Sklave seiner Ordnungsliebe und diese Ordnungsliebe erleichtert ihm seine Arbeit.\nTag f\u00fcr Tag sitzt er zur gewohnten Stunde an seinem Arbeitstisch und arbeitet ohne Unterbrechung etwa 3 Stunden. Hat er diese Arbeit gethan, dann ist das Werk den Pest des Tages f\u00fcr ihn nicht mehr vorhanden, er denkt nicht mehr daran und nie hat er davon getr\u00e4umt.\nIch hoffe, dafs es mir gelungen ist, meiner \u00dcberzeugung von dem besonderen Werte des vorliegenden Buches den entsprechenden Ausdruck zu geben, und wir werden den in Aussicht gestellten ferneren Untersuchungen mit Spannung entgegen sehen.\tPelman.\nBombarda (Lissabon). Un fait d\u2019anarchisme. Berne neurologique. A\u00df- 4. No. 19. 15 Octobre 1896.\nDie wahrhaft \u201er\u00fchrende\u201c Geschichte, die der Verfasser vortr\u00e4gt, dient ihm zum Beweise, dafs man Anarchist und K\u00f6nigsm\u00f6rder sein kann, ohne an Geisteskrankheit zu leiden, dafs P\u00e9gis also mit Unrecht die Einsperrung der Anarchisten in Irrenh\u00e4user bef\u00fcrwortet. \u2014 Die Aufstellung eines typischen Anarchistenwahnes, den man auf physische und psychische Degeneration und auf die Analogie mit dem Verbrechertum zur\u00fcckf\u00fchre, sei ebenso ungerechtfertigt, da man nicht einmal die Grenzen zwischen einem physiologischen und pathologischen Gehirnzustande festzustellen vermag. Der betreffende L., ein unverschuldet herabgekommener, sonst unbescholtener Landmann, tr\u00e4gt allerdings ererbte k\u00f6rperliche Stigmata.\nSein Vater war ein Trinker. Er selbst hat einen abnormen, skaphoke-phalen, asymmetrischen, dolichokephalen Sch\u00e4del, sein linkes Ohr zeigt einen stark ausgesprochenen DARwixschen H\u00f6cker, das rechte an derselben Stelle einen tiefen Einschnitt im Knorpel; die Weisheitsz\u00e4hne sind nie erschienen. (L. ist ca. 36 Jahre alt.) Die linke Pupille ist enger als die rechte; das Gesichtsfeld differiert zwischen 45 und 70\u00b0. Das Dynamometer zeigt an der rechten Hand 45\u2019, an der linken 38 . Sonst ergiebt die genaue physikalische Untersuchung, aufser einem leichten Zittern der H\u00e4nde, betreffs der Peflexe und der Sensibilit\u00e4t nichts Erhebliches, so dafs auch von der M\u00f6glichkeit einer Paralyse abgesehen wurde. \u2014 Von Charakter sanftm\u00fctig, h\u00fclfreich, vertr\u00e4glich, wegen seines Fleilses ein beliebter Arbeiter, als Soldat gehorsam, als Gatte und A ater von drei Kindern pflichtgetreu, ist sein Geist zwar ungebildet (er lernte erst als Soldat lesen und schreiben), aber folgerichtig im Denken. Die exzentrische","page":245}],"identifier":"lit30238","issued":"1897","language":"de","pages":"242-245","startpages":"242","title":"Edouard Toulouse: Enqu\u00eate m\u00e9dico-psychologique sur les rapports de la sup\u00e9riorit\u00e9 intellectuelle avec la n\u00e9vropathie. I. Introduction gen\u00e9rale. Emile Zola. Paris. Soci\u00e9t\u00e9 d'\u00e9ditions scientifiques. 1896. 285 S.","type":"Journal Article","volume":"15"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:26:52.396627+00:00"}