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{"created":"2022-01-31T14:46:35.203572+00:00","id":"lit30281","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Schwertschlager, J.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 16: 35-48","fulltext":[{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber\nsubjektive Gesiehtsempfmdungen und -erscheinungen.\nVon\nProf. Dr. J. Schwebtschlagee in Eichst\u00e4tt (Bayern).\n(Mit 1 Fig.)\n1. Ich erkrankte Mitte 1893 an Hyper\u00e4mie beider Augen, die bei einem zur Netzhautabl\u00f6sung f\u00fchrte. Ende 1894 erfolgte ein Blutaustritt mit Skotom am linken Auge. W\u00e4hrend der Ver* bandkuren1, die sehr) oft angestellt wurden, Anfangs im Zusammenhang je sieben Tage sechsmal nacheinander, beobachtete ich immer schon kurze Zeit, nachdem ich verbunden war, und die Nachwirkungen des objektiven Lichtes sich verloren hatten, eine best\u00e4ndige Erhellung des Gesichtsfeldes. Obwohl ich vollst\u00e4ndig im Dunkeln und dazu lichtdicht eingebunden war, herrschte vor mir nichts weniger als eine rabenschwarze Nacht. Vielmehr gewahrte ich stets eine ruhige d\u00e4mmerige Helligkeit. Das Gesichtsfeld ist auch sonst, ohne aktuellen Keiz und ohne Krankheit, best\u00e4ndig erhellt2 und zwar lediglich durch\n1\tDie Technik dieser Verbandkur besteht darin, dass der Patient eine ruhige R\u00fcckenlage im Bett einnimmt, w\u00e4hrend die Augen mit einer sechs Meter langen Schlauchbinde verbunden und dadurch fixirt sind. Aeusseres Licht wird durch den Verband und den Aufenthalt im vollst\u00e4ndig verdunkelten Zimmer ausgeschlossen.\n2\tDas sog. \u201eEigenlicht der Retina\u201c (vergl. Hermann: Handbuch dev Physiologie III. Bd., I. Theil, S. 2291). Wundt (Grundz\u00fcge der phys. Psychol 4. Aufl., I. Bd., S* 371) erkl\u00e4rt diesen Ausdruck f\u00fcr unzutreffend und spricht anderswo von \u201eLichtstaub\u201c der Netzhaut (ebd. II, S. 529).\n3*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36\nJ. Schwertschlager.\nWirkung des Blutdrucks in den Netzhautgef\u00e4ssen, der eine tonische Erregung der Retina hervorruft. Doch war in meinem Falle die konstante Erhellung eine so auffallende, dass sie wohl als abnorm bezeichnet werden muss.\nDas erleuchtete Gesichtsfeld erschien mir nicht als eine gleichm\u00e4ssige, unterschiedslose Fl\u00e4che, sondern mosaikartig aus lauter Lichtpunkten zusammengesetzt, welche durch dunkle Zwischenr\u00e4ume getrennt waren. Lichtpunkte und dunkle Intervalle zeigten eine ausserordentliche Kleinheit, so dass ich glaube, die bewusste Empfindung der St\u00e4bchen- und Zapfenschicht meiner Netzhaut gehabt zu haben, die ja thats\u00e4chlich nach Art einer Mosaikplatte durch getrennte empfindende Elemente, eben die St\u00e4bchen und Zapfen, gebildet wird.\n2. Auf dem gleichm\u00e4ssig schwach erhellten Gesichtsfelde traten w\u00e4hrend der Verbandzeit, aber auch sonst \u2014 im letztem Falle mit sehr abgeschw\u00e4chter Sch\u00e4rfe auf einen beliebigen objektiv gesehenen dunklen Hintergrund projizirt \u2014 in abwechselnden Intervallen grellereLichterscheinungen auf, die dem st\u00e4rker erkrankten Auge angeh\u00f6rten. Ich beobachtete einigemale eine Anzahl sich unruhig bewegender Lichtpunkte* h\u00e4ufig dagegen in eigent\u00fcmlicher Weise flackernde Lichtgarben, die stets einen helleren Kern und eine matte, nebelartige H\u00fclle zeigten; am h\u00e4ufigsten eine Art von nicht ganz geschlossenen Lichtringen oder Kringeln. Wenn die letztgenannte Erscheinung\nDie Bewegung verl\u00e4uft in der Richtung a \u2014 b. Von a gingen zwei Serien von Ringen aus und bewegten sich gesondert, wie die Pfeile angeben, bis &, um dort \u2014 ganz flach geworden \u2014 zu erl\u00f6schen.\nauftrat, so verlief sie immer in gleicher Weise. An einer Stelle des Gesichtsfeldes zeigte sich einer der nicht ganz geschlossenen","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"TJeher subjektive Gesichtsempfindungen und -erscheinungen.\n37\nHinge. Rotirend gingen dann von ihm rechts und links \u00e4hnliche solche Ringe aus, beschrieben rotirend ungef\u00e4hr eine Ellipse und erloschen zuletzt, nachdem sie am anderen Pole sich begegnet waren, w\u00e4hrend ihre Anfangs nahezu geschlossene Ringgestalt allm\u00e4hlich zu einem blossen Kreissegment reduzirt und schliefslich ganz abgeflacht wurde. Die Rotationsbewegung lief immer von rechts nach links \u00fcber das Gesichtsfeld.1 W\u00e4hrend die Lichtpunkte und Lichtgarben oft l\u00e4ngere Zeit erschienen (regelm\u00e4ssig nach dem Essen und Abends) und auf anhaltende Erregungen als ihre Ursachen zur\u00fcckgef\u00fchrt werden m\u00fcssen^ gewahrte ich die Ringe nur bei pl\u00f6tzlichen Ver\u00e4nderungen des Blutdruckes und immer auf kurze Zeit, z. B. wenn ich mich ins Bett legte oder aufstand, bei pl\u00f6tzlichen Lagever\u00e4nderungen des Kopfes, gew\u00f6hnlich auch, wenn ich ohne Brille einen Moment las und bei meiner Kurzsichtigkeit die Sehachsen stark konver-girten. Die Erscheinung der Ringe hatte eine gewflsse Aehnlich-keit mit der entoptischen Erscheinung, die dadurch hervorgerufen wird, dass durch pl\u00f6tzliche, starke Augenbewegungen der Optikus gezerrt wird. Sie unterscheidet sich aber doch wesentlich durch das Rotiren und durch ihr Auftreten in Ruhestellung des Augapfels. Zur Erscheinung der Lichtgarben habe ich nachzutragen, dass sie auch regelm\u00e4fsig auftrat, wenn andauernd heftiges Licht z. B. vom Schnee reflektirtes Sonnenlicht in das kr\u00e4nkere rechte Auge drang. \u2014 Eine Erkl\u00e4rung f\u00fcr die beschriebenen Erscheinungen kann ich nur im Allgemeinen versuchen ; f\u00fcr die eigent\u00fcmliche Form der Ringe und ihr Rotiren konnte keine sichere Ursache ausfindig gemacht werden. . Die Lichtpunkte und hellen Lichtkerne entsprechen den direkt und am st\u00e4rksten gezerrten oder sonst gereizten Stellen der Netzhaut. Pl\u00f6tzliche Ver\u00e4nderungen des Blutdruckes, besonders Erh\u00f6hungen desselben, vielleicht auch veranlasst durch einfallendes objektives Licht, bewirken an irgend einer Stelle der Netzhaut einen mechanischen Insult ; diesem entspricht die helle Lichterscheinung. Der dunklere Hof r\u00fchrt davon her, dass von der direkt gereizten Stelle aus die Reizung in allm\u00e4hlicher Abnahme nach der Umgebung ausstrahlt. \u2014 Fast immer bewegen sich die be-\n1 Die Netzhautabl\u00f6sung erfolgte am betreffenden Auge von links nach\na\nrechts.\n* ^","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38\nJ. Schwertschlager,\nsprochenen Erscheinungen. Handelt es sich um wandernde Lichtpunkte und Lichtringe, so ist die Bewegung wohl dadurch zu erkl\u00e4ren, dass der Zerrungsvorgang \u00fcber einen Theil der Netzhaut hin sich ausbreitet, oder durch Zerrung eine successive Verschiebung in der St\u00e4bchen- und Zapfenschicht hervorruft. Deswegen beschreiben die wandernden Lichtringe ungef\u00e4hr eine Ellipse, weil das der Projektionsfl\u00e4che der Netzhaut entspricht. Das Flackern der Lichtgarben ist eine Zuckung; es wechseln H\u00f6hepunkte der Erregung schnell mit reflektorischen Vorg\u00e4ngen ab, welche dazu dienen, die Erregung zu d\u00e4mpfen. \u2014 F\u00fcr die Ringform der Lichtkringel kann als wahrscheinlichste Ursache angegeben werden, dass entsprechende Netzhautpartieen ringf\u00f6rmig durch Gef\u00e4ssschlingen gezerrt werden. Die Kreisform der macula lutea oder fovea centralis hat wohl keine Bedeutung.1\n3. W\u00e4hrend ich bei der ersten Erkrankung keinerlei subjektive Farbenerscheinungen wahrnahm, sondern nur Lichter-scheinungen von dem gew\u00f6hnlichen weissen und gelblichen Ton, trat w\u00e4hrend der zweiten, Ende 1894, eine Farbenerscheinung auf. Die Hyper\u00e4mie des linken Auges war so sehr gesteigert, dass einige, allerdings nur punktgrosse Extravasate vorkamen, darunter eines direkt an der macula lutea. Dieses hatte nat\u00fcrlich ein Skotom zur Folge, welches bei ge\u00f6ffnetem Auge und Eintritt kr\u00e4ftigen Lichtes, besonders des Tageslichtes, schwarz erschien, dagegen bei geschlossenem Auge und m\u00f6glichster Abblendung alles Lichtes deutliche Farben auf wies. Den Austritt dieses Blutstr\u00f6pfchens an der macula lutea gewahrte ich ganz pl\u00f6tzlich, w\u00e4hrend ich gerade schrieb, auf das Papier projizirt als schwarzen Fleck von eigenth\u00fcmlicher Gestalt. Er erschien *mir n\u00e4mlich unzweideutig wie eine Scheibe mit schwarzem Gentrum und einem einzigen peripheren schwarzen Kreis.2 Diese\n1\tGanz abzuweisen ist jedoch diese letzte M\u00f6glichkeit nicht. Hermann \"wenigstens (1. c. I, S. 233) f\u00fchrt die Kingform einiger von ihm beschriebenen noch unerkl\u00e4rten subjektiven Lichterscheinungen auf die macula lutea zur\u00fcck. An der angegebenen Stelle (S. 228 ff.) ist mehrfach von der Beobachtung ringf\u00f6rmiger subj. Lichterscheinungen die Rede, einmal (S. 234) auch davon, dafs \u201ezahlreiche kleine helle Ringelchen ... in verschlungenen Bahnen herumlaufen\u201c. (Meine \u201eKringel\u201c waren ziemlich gross.) \u2014 Wandernde Lichtfunken beschreibt auch Purkinje (bei Wundt I, S. 371).\n2\tDieselbe Gestalt schreibt Hermann (1. c. S. 228) dem \u201eDruckbild\u201c oder 4,Phosphen\u201c zu, das auf Druck mit dem Fingernagel gegen den Aug-","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber subjektive Gesichtsempfindungen und -erscheinungen.\n39\nBeschaffenheit des schwarzen Skotoms blieb w\u00e4hrend mehrerer Wochen, und mit der Aufsaugung des zersetzten Blutes schwand zuerst allm\u00e4hlich der periphere Bing, und blieb das schwarze Centrum vorderhand zur\u00fcck. Leicht erkl\u00e4rlich ist es, warum der Blutfleck bei auffallendem Licht schwarz erscheint. Er dient n\u00e4mlich als Lichtschirm, der die von den Objekten kommenden Lichtstrahlen auff\u00e4ngt, die unter ihm liegende Partie der St\u00e4bchen- und Zapfenschicht vor Beizung sch\u00fctzt und so durch den Kontrast mit den umliegenden gereizten Stellen die Empfindung \u201eschwarz^ hervorruft. Ich f\u00fcge hinzu, dass ich den Fleck nur bei Akkomodation des Auges f\u00fcr die N\u00e4he auf hellem Hintergrund wahrnahm, er mir dagegen entschwand, wenn ich das Auge auch bei hellstem Hintergr\u00fcnde f\u00fcr die Ferne einstellte. Wahrscheinlich r\u00fchrt dieses Verschwinden von einem Irradiationsvorgange her. \u2014 Nun komme ich zur Besprechung der Farbenerscheinungen bei geschlossenem Auge und abgeblendetem Licht. Geschah dies, so erschien mir in den ersten Stunden des Blutaustrittes der betreffende Fleck mit einem Kern won intensivem r\u00f6thlichen Lichte, der gegen die Peripherie zu ^gr\u00fcnlich wurde und endlich einen bl\u00e4ulichen Saum zeigte. Diese durch die Reizung der Netzhaut in Folge des Druckes des ausgetretenen Blutes entstehende Empfindung schwand jedesmal, so oft das \u00e4ussere Licht bei ge\u00f6ffnetem Auge mit seiner st\u00e4rkeren Einwirkung zur Geltung kam, und machte der Empfindung des schwarzen Skotoms Platz. Auf diesen Wechsel war das Auge so fein abgestimmt, dass in den ersten Stunden und Tagen eigent\u00fcmliche Zwischenerscheinungen von Farben stattfanden. Wenn ich n\u00e4mlich die Lider schloss, aber doch gen\u00fcgend \u00e4usseres Licht durch sie eindrang, so empfand ich immer noch Farben und kein schwarzes Skotom; aber die Farben n\u00e4herten sich dem violetten, st\u00e4rker brechbaren Ende des Spektrums, \u00e4hnlich wie der Farbenfleck \u00fcberhaupt auftrat, als die Reizung sp\u00e4ter schw\u00e4cher wurde. Der eigenth\u00fcmlichste Wechsel dieser Art bot sich mir, als ich am Tage nach dem Austritt des Blutes im Eisenbahnwaggon nach X. fuhr. Ich sass selbstver-\napfel entsteht. Es erscheint hei geschlossenem Auge im dunklen Gesichtsfeld als \u201elichte Scheibe mit dunklem Rande, der noch einmal von einem hellen ums\u00e4umt ist\"; hei offenem Auge \u201ezeichnet sich das Phosphen im ganzen dunkel im hellen Gesichtsfelde\", also wie bei mir.","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40\nX Sch\u00ee\u00fcertschlager.\nst\u00e4ndlich mit dem Gesichte gegen eine Breitseite der Abtheilung, schonte meine Augen und sah nur die Polster dieser Breitseite an. W\u00e4hrend nun der Zug eine Gitterbr\u00fccke passirte, erfolgte korrespondirend damit, dass das \u00e4ussere Licht durch die Gitterst\u00e4be der Br\u00fcckenwand unterbrochen wurde, ein best\u00e4ndiges Oscilliren meiner Skotomempfindung zwischen schwarz und r\u00f6thlich-gr\u00fcnlich-violett. Wie schon vorhin angedeutet, ver\u00e4nderte sich der Farbencharakter des Skotoms hei geschlossenem Auge im Verlaufe der Ausheilung so, dass zuerst ein blaues Centrum mit hellviolettem Rande auftrat, dann ein halbviolettes Centrum mit dunkelviolettem Rand, und schliefslich war allein eine dunkelviolette Scheibe sichtbar ohne weiteren Rand. Es wurde n\u00e4mlich die Reizung der Netzhaut schw\u00e4cher und schw\u00e4cher mit der allm\u00e4hlichen Zersetzung des Blutfleckes.\n4. Mir pers\u00f6nlich kamen am merkw\u00fcrdigsten unter allen Beobachtungen, welche ich bei meiner Augenkrankheit machte, gewisse S eh-H alluzin at i o nen (Visionen) vor. Ich hatte sie sehr h\u00e4ufig, jedoch nur, wenn ich den Okklusivverband trug. Sie traten immer erst zu einer Zeit ein, da sowohl die physiologischen Nachbilder des objektiven Schauens als auch lebhaftere, an eine ganz frische Vergangenheit gebundene, psychologische Erinnerungsbilder und Phantasieen aus meinen Augen und meinem Gehirne verschwunden waren. Das war niemals gleich in den ersten Stunden der Verbandkur der Fall. W\u00e4hrend der ersten Serien (jede Serie dauerte durchschnittlich sieben Tage) bekam ich Halluzinationen erst am vierten, f\u00fcnften oder sechsten Tage; w\u00e4hrend der letzten dagegen zuweilen schon am Abende des ersten Tages. Ueberhaupt neigte ich zu dieser Klasse von Erscheinungen vorzugsweise am Abende, und es war der Zwischenraum zwischen dem Mittagessen und dem Einschlafen Abends vorzugsweise g\u00fcnstig f\u00fcr subjektive Erscheinungen, wohl wegen der st\u00e4rkeren Blutwallung und der daraus entspringenden Nervenerregung, welche ja auch bei andern Krankheiten um diese Zeit beobachtet wird. Wenn der betreffende Augenblick gekommen war, so sah ich mich in meinem Bette, unterschied dessen Decken, das Brett zwischen Bett und Wand, die Zimmerw\u00e4nde, die Th\u00fcr en, den Ofen u. dgl. Das war die h\u00e4ufigste Halluzination, die ich sowohl im Zimmer der Klinik, das ich vorher schon kannte, als in meinem eigenen Schlafzimmer hatte. Ausserdem sah ich \u00f6fter, wenn ich Nachts vor dem Zurichten","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"lieber subjektive Gesichtsempfindungen und -erscheinungen.\n41\ndes Bettes auf gestanden und in mein Wohnzimmer vor die B\u00fcchergestelle getreten war, diese recht deutlich mit ihren Querbrettern und sogar mit den einzelnen B\u00fcchern, insbesondere solche mit rothem Leinwandr\u00fccken (eine Platonausgabe). Desgleichen trat mir mehrmals, wenn ich bei der beschriebenen Gelegenheit Abends auf dem Sofa meines Wohnzimmers sass, dieses sowie der mit rother Decke belegte Tisch vors Auge. (Die zuletzt beschriebene Erscheinung hatte ich auch heim Fr\u00fchst\u00fcck Morgens.) Endlich gewahrte ich einmal eine Person, die an mein Bett trat, n\u00e4mlich die von mir damals sehr ersehnte und dringend erwartete Krankenw\u00e4rterin. Gelegentlich der letzten Dunkelkur Ende Februar 1895 w\u00e4hrend meiner zweiten Erkrankung hatte ich einmal eine besonders interessante Halluzination. Ich war n\u00e4mlich durch ein Missverst\u00e4ndnis gezwungen, Nachts nach einer kleinen Unterhaltung mit Freunden das Fenster meines Wohnzimmers selbst \u00f6ffnen zu m\u00fcssen. Im Augenblicke nun, da ich die verschiedenen Vorh\u00e4nge weggezogen hatte und das Fenster \u00f6ffnete (selbstverst\u00e4ndlich w\u00e4hrend es objektiv dunkel war, und mein Gesicht in dem Verb\u00e4nde stak), sah ich durch Halluzination die an mein Wohnhaus anstossenden G\u00e4rten mit ihren Beeten und B\u00e4umen, die entsprechenden Mauern, \u00fcberhaupt die ganze Gegend, so wie sie vor den Fenstern meiner Wohnung liegt. Das Ganze stellte sich ungef\u00e4hr in dem Lichtt\u00f6ne dar, der einer recht sternhellen Sommernacht oder einer Beleuchtung im reichlichen ersten Viertel des Mondes eigen ist.\nWar es n\u00f6thig, um eine Halluzination hervorzurufen, an die betreffenden Gegenst\u00e4nde zu denken oder sich dieselben einzubilden? W\u00e4hrend meiner ersten Erkrankung, in der ich noch weniger erregt und gar nicht neurasthenisch war \u2014 ich besitze eine gute Konstitution \u2014 traten die Erscheinungen erst dann auf, wenn ich mir die betreffenden Gegenst\u00e4nde meist unwillk\u00fcrlich, aber zuweilen auch willk\u00fcrlich eingebildet hatte, wobei eine genaue Bekanntschaft mit den betreffenden Gegenst\u00e4nden stets vorausging.1 Es waren eben Gegenst\u00e4nde meines t\u00e4glichen Gebrauches oder wenigstens solche, die ich, wie in der Klinik, vor der Verbandkur genau gemustert hatte. Ich erinnere mich\n1 Eine Ausnahme siehe unten S. 43 (Vision von Kerker und Brunnen !).","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42\nJ. Schiuertschlager.\nniemals durch Einbilden beliebiger fremder Objekte Halluzination gehabt zu haben, vielmehr wusste ich die halluzinirten Dinge in dem betreffenden Augenblicke, sei es durch das Geh\u00f6r, den Tastsinn oder sei es sonstwie, in meiner N\u00e4he und zwar in meiner Sehn\u00e4he. Bei den Verbandkuren meiner zweiten Erkrankung kamen die Halluzinationen relativ fr\u00fcher als w\u00e4hrend der ersten Erkrankung und meistens, soweit mein Bewusstsein reicht, ohne dafs ich in demselben Augenblicke direkt und ausdr\u00fccklich an sie gedacht und ihre Einbildung durch die Phantasie hervorgerufen hatte. Ich blieb dann auch f\u00fcr halbe Tage oder noch l\u00e4nger in einem mir oft recht l\u00e4stigen Zustand der Halluzination, wobei zwar die Gegenst\u00e4nde etwas wechselten, aber der allgemeine Zustand andauerte. Die mich wirklich besuchenden Personen u. s. w. schienen dann f\u00f6rmlich aus einer andern, bessern Welt in meine halluzinirte hineinzusprechen und hineinzuhandeln. (Ueberhaupt ergiebt sich mir als Resultat meiner Krankheit und ihrer Kur, dass dem normalen Menschen das objektive Sehen und das objektive Licht ganz hervorragend jenes Gef\u00fchl der Wirklichkeit des Lebens und der Lebenslust verleihen, in dem allein wir uns wohl befinden). Seltener gelang es mir, Gegenst\u00e4nde durch willk\u00fcrliche, so und so lang fortgesetzte Einbildung vermittels der Phantasie in die halluzinirte Erscheinung treten zu lassen ; am leichtesten noch Theile des eigenen Leibes z. B. die Hand.1\nIch gewahrte die halluzinirten Bilder so, wie ich die wirklichen Objekte mit meinen Augen wirklich gesehen h\u00e4tte und sonst sah z. B. entsprechend meiner Kurzsichtigkeit in geringerer als der normalen Sch\u00e4rfe der Umrisse. Damit h\u00e4ngt zusammen, dass ich nicht etwa w\u00e4hrend der Halluzination Gegenst\u00e4nde hinter meinem K\u00fccken oder gar in einem andern Zimmer sah, vielmehr spielte sich Alles ab genau wie beim wirklichen Sehen. Und das war f\u00fcr mich das Frappirendste. Ich hatte immer geglaubt, Halluzinationen, wie sie bei Wahnsinnigen ja h\u00e4ufig\n1 Auch die mehr willk\u00fcrlich erzeugten Visionen betrafen lediglich Gegenst\u00e4nde meiner wirklichen Umgehung. \u2014 Aus der Literatur sind mehrere Beispiele von ber\u00fchmten Gelehrten und Aerzten bekannt, welche in gesundem Zustande Seh-Halluzinationen ganz willk\u00fcrlich an sich hervor-rufen konnten: so der Aristoteliker C\u00e4salpinus, der grosse Physiolog Johannes M\u00fcller.","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber subjektive G-esichtsemjifindungen und -erscheinungen.\n43\nsind, m\u00fcssten den Charakter von Traumbildern oder dgl. an sich tragen, so dass ein normales Bewusstsein an ihnen jeder Zeit das Geister- und Schattenhafte konstatiren k\u00f6nnte. Allein dem war bei mir nicht so. Ich sah die betreffenden Objekte als wirkliche, genau so \u2014 ich wiederhole es \u2014 mit demselben Eindr\u00fccke, den wirkliche Gegenst\u00e4nde beim wirklichen Schauen auf das Ich machen. Ich wusste zwar als vern\u00fcnftiger und kritischer Mann, dass ich in diesem Momente Halluzinationen hatte, nicht wirkliche Sinneseindr\u00fccke, aber trotz dieser Evidenz sah ich und sah wirklich und konnte die objektiv vorhandene T\u00e4uschung nicht loswerden. Nur zwei Punkte machten die Illusion etwas eigenth\u00fcmlich : Die Konturen der Objekte schwankten stets nach einiger Zeit hin und her, verschwannnen in einander, und die Beleuchtung, mit der ich bei Halluzinationen sah, war eine matte; ich sah, wie man etwa bei dem Scheine eines kr\u00e4ftigen Nachtlichtes sieht oder beim Scheine des Mondes, der nicht ganz voll ist. Dass es sich um Halluzinationen handelte und nicht um ein objektives Schauen, etwa durch die locker angelegte Binde hindurch, brauche ich wohl nicht eigens zu beweisen. Ueberdies \u00fcberzeugte ich mich durch den Tastsinn, dass die gesehenen Grenzen der Objekte, des Wandbrettes, der Querf\u00e4cher von B\u00fcchergestellen, des Sofatisches u. s. f. mit den wirklichen nicht genau, sondern h\u00f6chstens ann\u00e4hernd stimmten; die vorhin erw\u00e4hnte roth gebundene Platonausgabe befand sich zwar auf dem B\u00fccherbrette (was ich jedenfalls aus der Erinnerung wusste), aber weiter unten. Dem Gesagten m\u00f6chte ich beif\u00fcgen, dass ich ganz selten Halluzinationen hatte von Objekten, die mich nicht in dieser Weise umgaben und auch vorher nie in Beziehung zu mir getreten waren. So glaubte ich in einem aus Quadern gemauerten Kerker zu liegen, oder von vier steil aufsteigenden, im Quadrat gebauten Mauern eines Brunnens umgeben zu sein.1 Diese Erscheinungen zeigten sich jedoch viel unbestimmter als die andern und liessen sich nie lange festhalten.\nOb der Sitz der \u201eHalluzination\u201c genannten Erregungen bei mir in .einem Auge oder in beiden oder im Gehirne anzu-\n1 Eine Aehnlichkeit mit dem Zimmer, in dem ich lag, war auch hier nicht zu verkennen.","page":43},{"file":"p0044.txt","language":"de","ocr_de":"44\nJ. Schwertschlager.\nnehmen war, dar\u00fcber konnte ich keine bestimmte Ueberzeugung gewinnen. Ich m\u00f6chte mich jedoch daf\u00fcr entscheiden, dass ich sie in dem linken, besseren Auge allein hatte. Denn sonderbarer Weise sah ich sehr oft w\u00e4hrend solcher Visionen auf der Wand des halluzinirten Zimmers die subjektiven Erscheinungen des rechten Auges projizirt gleich Schattenbildern vor\u00fcberziehen. H\u00f6chstens waren dann die Erscheinungen des rechten Auges ged\u00e4mpft oder in gewissem Sinne negativ geworden, d. h. statt wallender Lichtnebel sah ich dunklere Wolken im Gesichtsfelde. Doch blieben die hellsten der subjektiven Lichteffekte auch bei Halluzinationen hell.1\nAls wahrscheinlichste Erkl\u00e4rung dieser Halluzinationen, die bei den meisten in Okklusivverband befindlichen Personen ein-treten und sich h\u00e4ufig sogar bis zum zeitweiligen Wahnsinn steigern, nehme ich folgendes an : Der Anstoss zur Halluzination erfolgt durch ein relativ \u00fcberm\u00e4chtiges, im Gehirn sich ausl\u00f6sendes Phantasiebild. Bei mir gen\u00fcgten in der Regel keine freiwilligen oder auch nur ferner liegenden Vorstellungen: es mussten die \u00fcbrigen Sinne, besonders Tast- und Geh\u00f6rsinn mit der evidenten Ueberzeugung von der Wirklichkeit und Anwesenheit bestimmter Objekte Zusammenwirken, um die betreffende Vision zu veranlassen. (Ich schreibe dies meiner n\u00fcchternen Denkweise und meiner Selbstbeherrschung zu, die verkehrte Vorstellungen nicht aufkommen Hessen. Bei Geisteskranken, deren Selbstbewusstsein und geistige Energie meist sehr geschw\u00e4cht sind, k\u00f6nnen alle m\u00f6glichen, unwillk\u00fcrlich auftauchenden und willk\u00fcrlich erzeugten Phantasievorstellungen zu Halluzinationen werden.) Die im Gehirn erzeugte Phantasievorstellung wirkt r\u00fcckl\u00e4ufig durch die Fasern des Optikus auf das Auge, und in der St\u00e4bchen- und Zapfenschicht der Netzhaut erfolgt eine reelle Erregung, die in Folge dessen ein reelles, von einem objektiven physisch gar nicht unterscheidbares Gesichtsbild produzirt. Das\n1 Ich. nehme also an, dass meine Visionen schliesslich auf Erregung der Netzhaut eines Auges beruhten. Man beschr\u00e4nkt allerdings gew\u00f6hnlich die Halluzinationen auf Erregungen der centralen Sinnesfl\u00e4che im Gehirn, aber auch Wundt (1. c. II, S. 529) muss zugeben, dass unter Umst\u00e4nden die Reizung durch die Optikusfasern auf die Netzhaut \u00fcbergeht. Sonst k\u00f6nnten keine Nachbilder von Gesichtsphantasmen entstehen, oder die Visionen sich nicht mit den Augen bewegen, wie es oft vorgekommen ist.","page":44},{"file":"p0045.txt","language":"de","ocr_de":"Defter subjektive Gesichtsempfindungen und \u25a0erscheinungen.\n45\nhalluzinirte Objekt erscheint matt beleuchtet, weil die Netzhauterregung hier in der That eine relativ schwache ist. Da bei objektivem Schauen \u00e4hnlich schwache Erregungen etwa von einem Nachtlicht oder tr\u00fcbem Mondlicht hervorgerufen werden, sah ich bei der Halluzination die Gegenst\u00e4nde in der geschilderten Beleuchtung; Farben konnte ich wahrnehmen, aber nur unvollkommen. Ein Wahnsinniger dagegen, der an Gesichts- und Geh\u00f6rshalluzinationen leidet, sieht und h\u00f6rt vielleicht im grellen Licht mit bunten Farben und entschiedenen, lauten T\u00f6nen. Zum Schl\u00fcsse will ich noch einmal hervorheben: Bei Halluzinationen glaubt man nicht etwa zu sehen und zu h\u00f6ren, sondern man 'sieht und h\u00f6rt wirklich d. h. man hat die entsprechenden Sinnesbilder und Sinneserregungen in Auge und Ohr. Trotz der Evidenz, mit der ich wusste, dass meine Augen nicht mit objektivem Lichte schauten, sah ich doch, weil es sich eben um keine T\u00e4uschung des Verstandes und um keine imagin\u00e4ren und lediglich zu korrigirenden Phantasiebilder handelte. So allein erkl\u00e4rt es sich auch, dass gebildete und in allen \u00fcbrigen Beziehungen geistig hochstehende Wahnsinnige mit aller Bestimmtheit versichern, sie h\u00f6rten spottende Nachreden und andere, aus ihrem Verfolgungswahn zu erkl\u00e4rende T\u00f6ne und S\u00e4tze wirklich; sie k\u00f6nnten nicht anders. Was sie mit ihren Ohren h\u00f6rten, das sei nicht in Abrede zu stellen.1\nHier habe ich eine weitere Beobachtung anzuf\u00fcgen: Ich glaubte, w\u00e4hrend beide Augen durch den Verband fixirt waren,\n1 Ich glaube sehr betonen zu m\u00fcssen, wie ich es oben that, dass wenigstens meine Visionen auf wirklicher Netzhauterregung beruhten, nicht blosse gesteigerte Erinnerungsbilder oder Vorstellungen waren. Ich konnte niemals ein allm\u00e4hliches Ansteigen der Vorstellung bis zur Halluzination bemerken, vielmehr war die Vision stets pl\u00f6tzlich, wie mit einem Sprunge da, n\u00e4mlich im Momente, da vom Hirne aus die Erregung die Beizschwelle der Netzhaut \u00fcberschritten hatte. Die Vision selber zeigte ein An- und Abschwellen, zwischen ihr und der Vorstellung aber gab es keine kontinuirliche Verbindung. So nach dem Zeugnisse meines Selbstbewusstseins. Die Halluzination brachte stets mit sich einen eigenen Gef\u00fchlston, ich m\u00f6chte ihn den der Wirklichkeit nennen. Den konnte ich nicht los werden, obwohl ich wusste, dass objektives Sehen ausgeschlossen war. Er ist mir ein Beweis daf\u00fcr, dass die Netzhaut selber erregt war und ihren nat\u00fcrlichen Aktus setzte so gut, wie wenn objektives Licht sie getroffen h\u00e4tte.","page":45},{"file":"p0046.txt","language":"de","ocr_de":"46\nJ. Schwertschlager.\ndie Lider \u00f6ffnen und sehliessen zu k\u00f6nnen und vermeinte das Letztere oft zu thun, namentlich um subjektive Erscheinungen oder Halluzinationen zum Verschwinden zu bringen und den Schlaf herbeizuf\u00fchren. Diese Meinung war irrig; denn wenn der Verband abgenommen wurde, wie dies regelm\u00e4ssig einmal des Tages geschah, zeigte es sich, dass die Augenlider durch Sekret dicht verklebt waren, und man hatte oft Viertelstunden n\u00f6thig, um dasselbe abzuwaschen. Uebrigens h\u00e4tte die Binde allein gen\u00fcgt, um eine Bewegung der Lider zu verhindern. Ich hatte nun stets nicht bloss das Gef\u00fchl, die Augenlider zuerst ge\u00f6ffnet, dann geschlossen zu halten, sondern ich empfand auch eine entsprechende, wiewohl geringe Abnahme der Helligkeit vieler subjektiver Ph\u00e4nomene, besonders des Eigenlichtes der Augen, Diese Erscheinung wird in \u00e4hnlicher Weise zu erkl\u00e4ren sein wie die Halluzinationen selber, d. h. durch die Annahme, dass eine, wenn auch irrige, Vorstellung r\u00fcckl\u00e4ufig die Nervenspannung und die Netzhautreizung herabsetzte.\n5. Ich hatte l\u00e4ngere Zeit die Aufgabe, im dunklen Zimmer mit verbundenen Augen auf und abzugehen. Nat\u00fcrlich wollte ich nicht anstossen, aber auch nicht \u00e4ngstlich mit den H\u00e4nden an den W\u00e4nden forttappen, weil ich sonst meinen Geist mit nichts anderm h\u00e4tte besch\u00e4ftigen k\u00f6nnen. Es mussten deswegen in dieser Beziehung die anderen Sinne vikarirend f\u00fcr das Gesicht eintreten, und zwar in der Weise, dass ein leichtes und schnelles Gehen, ein bequemes Bemerken der Zimmerw\u00e4nde und ein rasches Umdrehen erm\u00f6glicht wurden. Die Richtung nun, nach der ich das Zimmer in seiner weitesten Ausdehnung durchmass, fand ich sehr leicht, indem meine in leichten Hausschuhen steckenden F\u00fcfse den L\u00e4uferteppich abf\u00fchlten, der in dieser Richtung auf dem Boden lag. Ich ging auf dem L\u00e4ufer auf und ab, wobei die F\u00fcsse jede Abweichung sofort bemerkten und korrigirten. Auch andere Mittel wirkten g\u00fcnstig ein : Uhren, die an gewissen Pl\u00e4tzen ihr Ticktack ert\u00f6nen liessen, sowie das sich allm\u00e4hlich einstellende Richtungsgef\u00fchl; aber sie kamen mit dem erstgenannten verglichen weniger in Betracht. Besonders fiel mir die Art und Weise auf, wie ich die Zimmergrenzen beim Auf- und Abschreiten bemerkte. Ich ging zwischen den beiden Zimmerschmalseiten; die eine war durch eine Th\u00fcr durchbrochen. Am schnellsten und Verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig aus gr\u00f6sster Entfernung, etwa 1/2 m, wurde ich die Wand gewahr durch eine","page":46},{"file":"p0047.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber subjektive Gesichtsempfindungen und -erscheinungen.\n47\neigenth\u00fcmliehe Abd\u00e4mpfung der Schritte, also vermittels des Geh\u00f6rs. Kam ich noch etwas n\u00e4her, mindestens auf 1ji m, so bemerkte ich einen eigenth\u00fcmlichen Luftdruck, und zwar gegen den, wenn auch mit einer Binde grossentheils verh\u00fcllten Vorder-kopf. Dieser Lhnstand war mir auch schon fr\u00fcher beim Gehen in ganz dunklen R\u00e4umen aufgefallen : man wird offenbar in der N\u00e4he einer Wand, besonders wenn sie glatt ist, und man sich gegen dieselbe bewegt, fast ausschliesslich von Lufttheilchen getroffen, die von der Wand zur\u00fcckprallend mehr oder minder im rechten Winkel auf das Gesicht aufstossen. Das Organ, mit dem man diesen eigenth\u00fcmlichen Luftdruck bemerkt, liegt in der Stirnhaut 3, welche bekanntlich den feinsten Drucksinn von allen Stellen der K\u00f6rperoberfl\u00e4che besitzt. Nun verstehe ich auch, warum gerade die Stirnhaut den feinsten Drucksinn aufweist. Hierdurch ist n\u00e4mlich der Mensch bef\u00e4higt, seinen Kopf und besonders seinen Gehirnsch\u00e4del, die so wichtige und gegen Ersch\u00fctterung so empfindliche Organe bergen, vor dem Anstossen zu bewahren. \u2014 Was ich sonst noch wahrnahm, brachte mir beim schnellen Auf- und Abgehen keinen praktischen Nutzen, aber es bietet theoretisches Interesse. Wenn ich mich n\u00e4mlich noch mehr, vielleicht bis auf 10 cm der Th\u00fcre langsam n\u00e4herte, so f\u00fchlte ich zuerst, dass die W\u00e4rme meiner Gesichtshaut von der Th\u00fcre auf mich zur\u00fcckstrahlte, dann endlich aus h\u00f6chstens 1 oder 3/2 cm Entfernung roch ich (ich habe einen sehr feinen Geruch) den trockenen Oelfarbenanstrich der Th\u00fcre. F\u00fcr das Gesicht konnten also in meinem Falle vikarirend eintreten: das Geh\u00f6r, der Tastsinn (Raumsinn), Drucksinn, Temperatursinn, der Geruch.\n1 In einem Artikel der Philosophischen Studien von Wundt, 1895, 4. Heft: \u201eStudien zur Blinden-Psychologie\u201c konstatirt Heller ganz analog meinen eigenen Beobachtungen: \u201eDie Wahrnehmung des durch die Schall-reflexion modifizirten Schrittger\u00e4usches veranlasst denselben (den Blinden), seine Aufmerksamkeit vorbereitend auf die Tastsensationen zu richten. Treten alsbald die charakteristischen Druckempfindungen in der Stirngegend auf, so weiss der Blinde mit Bestimmtheit, dass sich ein Hinderniss in der Bewegungsrichtung findet\u201c. \u2014 Ich brauche wohl nicht besonders zu bemerken, dass ich meine eigene Beobachtung fr\u00fcher gemacht und auch niedergeschrieben habe, bevor ich Obiges las. Auch bleibt noch merkw\u00fcrdig, wie ich trotz des dichten auch die Stirne einh\u00fcllenden Verbandes und der geringen Gew\u00f6hnung auf das Druckph\u00e4nomen aufmerksam wurde.","page":47},{"file":"p0048.txt","language":"de","ocr_de":"48\nJ. Schwertschlager.\nDer vorstehende Bericht bietet wohl wenig neue, aber doch interessante und wichtige Erscheinungen. Sie wiederholt zu beobachten ist von Wichtigkeit. Da von den meisten bislang noch keine sichere wissenschaftliche Erkl\u00e4rung feststeht, habe ich mehrfach versucht, mir eine solche zurechtzulegen. Dies hat niemals auf die Erz\u00e4hlung der Thatsachen selbst Einfluss ge\u00fcbt. Als ich sie erlebte, befand ich mich gar nicht in der Gem\u00fcths-stimmung, nach Ursachen und Erkl\u00e4rungen zu suchen. Ich hatte pers\u00f6nlich an dem Thats\u00e4chlichen genug.","page":48}],"identifier":"lit30281","issued":"1898","language":"de","pages":"35-48","startpages":"35","title":"Ueber subjektive Gesichtsempfindungen und -erscheinungen","type":"Journal Article","volume":"16"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:46:35.203577+00:00"}