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{"created":"2022-01-31T12:25:48.508546+00:00","id":"lit30282","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Ehrenfels, Christian","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 16: 49-70","fulltext":[{"file":"p0049.txt","language":"de","ocr_de":"Die Intensit\u00e4t der Gef\u00fchle.\nEine Entgegnung auf Fe an z Brentanos neue\nIntensit\u00e4tslehre.\nVon\nCheistian Eheeneels.\nFranz Brentano hat in einem auf dem M\u00fcnchener Psychologenkongress 1896 gehaltenen Vortrag \u201eZur Lehre von der Empfindung\u201c 1 eine neue Auffassung der Intensit\u00e4t zu begr\u00fcnden versucht, welche nicht nur durch K\u00fchnheit und Originalit\u00e4t der Konzeption \u00fcberrascht, sondern Jedem, der das instinktive Widerstreben gegen v\u00f6llig Neuartiges und Ungewohntes als ein in der Wissenschaft unberechtigtes Motiv zur\u00fcckzuweisen vermag* durch das Gewicht ihrer Argumente, durch die innere Logik ihrer Konsequenzen und durch die Einheitlichkeit der Erkl\u00e4rung, die sie, wenn richtig, einer F\u00fclle von Erscheinungen ertheilen w\u00fcrde, den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen muss. Die Sinnespsychologie \u2014 denn dieser gelten vor Allem Br.\u2019s Ausf\u00fchrungen \u2014 wird durch seine Lehren die beabsichtigte gr\u00fcndliche Umgestaltung entweder thats\u00e4chlich erfahren, oder sich ihrer durch eine weitgehende Kl\u00e4rung der angeregten Probleme zu erwehren haben, \u2014- eine Kl\u00e4rung, wie sie der Entwickelung der Wissenschaft jedenfalls nur zu grossem Vortheil gereichen kann. \u2014 Nicht hierauf jedoch sollen diese Untersuchungen Bezug nehmen.\n1 Bericht \u00fcber den III. internationalen Kongress f\u00fcr Psychologie* M\u00fcnchen, Lehmann, 1897.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XVI.\n4","page":49},{"file":"p0050.txt","language":"de","ocr_de":"50\nChristian Ehrenfels.\nBe. glaubt seine bei physischen Inhalten durch zahlreiche Argumente motivirte Erkl\u00e4rung der Intensit\u00e4t als eines \u201eMaasses von Dichtigkeit\u201c auch auf das Gebiet der psychischen Akte \u00fcbertragen zu k\u00f6nnen, und er\u00f6ffnet \u2014 allerdings nur in Andeutungen \u2014 eine weitgehende Perspektive auf die Konsequenzen seiner Auffassung. Dass diese hier noch tiefer greifen w\u00fcrden als in den Grenzen der Sinnespsychologie, l\u00e4sst sich wohl schon bei fl\u00fcchtigem LJeberblick vermuthen; und hier ist es auch, wo die vorliegenden Untersuchungen Stellung zu nehmen beabsichtigen.\nDem Vorgehen Br.\u2019s entsprechend, wird es zweckm\u00e4ssig sein, von einer kurzen Darstellung seiner zun\u00e4chst nur auf Empfindungsinhalte sich beziehenden Intensit\u00e4tstheorie auszugehen. Br. setzt hierbei als grundlegend die Lehre von der verschiedenen Merklichkeit thats\u00e4chlich vorhandener Empfindungsdifferenzen voraus, und leitet seine Darlegungen durch den Versuch ein, die Mischempfindungen oder \u201emultiplen Qualit\u00e4ten\u201c aus einem unbemerkten Nebeneinander von einfachen Empfindungsinhalten zu erkl\u00e4ren. \u201eWenn bei irgend einer Empfindung der subjektive Baum des Gesichtssinnes schachbrettartig mit unmerklich kleinen roten und blauen Feldern erf\u00fcllt w\u00fcrde, so w\u00fcrde man............in Bezug auf das Ganze nicht mehr be-\nmerken, als dass es an beiden Farben gleichm\u00e4ssig theilhabe, und es w\u00fcrde so als ein mittleres Violett erscheinen\u201c.1 Nach diesem Prinzip werden nicht nur Mischfarben, sondern auch Akkorde (Mischkl\u00e4nge) und alle verwandten Erscheinungen der \u00fcbrigen * Sinne gedeutet ; und nach diesem Schema wird auch die Intensit\u00e4t erkl\u00e4rt \u2014 nur dass hier statt des unbemerkten Nebeneinanders verschiedener Qualit\u00e4ten das unbemerkte Nebeneinander erf\u00fcllter und leerer Sinnesfelder angenommen wird. (Leere Felder sind bei allen Sinnesr\u00e4umen m\u00f6glich, nur nicht beim Sehraum, wo die ungereizten Stellen schwarz er-\u2018 scheinen. Hieraus folgt, so lange nur das Ganze der Farbenerscheinung betrachtet wird, der Mangel aller Intensit\u00e4tsunterschiede auf diesem Gebiete, welcher \u2014 wie Br. besonders hervorhebt \u2014 von Hering schon fr\u00fcher, auf Grund direkter Analyse,\n1 a. a. O. S. 8. (Die Seitenangaben sind nach der Separatausgabe notirt.)","page":50},{"file":"p0051.txt","language":"de","ocr_de":"Die Intensit\u00e4t der Gef\u00fchle.\nbl\nbehauptet wurde.) Eine maximal intensive Empfindung ist daher nach Be. eine Empfindung, welche ihren Sinnesraum in. der Ausdehnung, in welcher sie als ausgedehnt erscheint, l\u00fcckem los erf\u00fcllt. Minder intensiv sind alle Empfindungen, welche innerhalb jener r\u00e4umlichen Grenzen unbemerkte L\u00fccken ein-schliessen. Je gr\u00f6sser die von unbemerkten L\u00fccken eingenommene Gesammtfl\u00e4che im Verh\u00e4ltniss zu der von erf\u00fcllten Feldern eingenommenen, desto kleiner die Intensit\u00e4t. Umgekehrt ist also nach Br. die Intensit\u00e4t eines sinnlichen Inhaltes das Maass der Dichtigkeit in der scheinbar kontinuir-lichen Erf\u00fcllung eines Sinnesraumes.\nDiese Auffassung von Intensit\u00e4t nun glaubt Br. direkt auf das Gebiet des Psychischen \u2014 zun\u00e4chst des Empfindens, iim Gegensatz zum Empfundenen \u2014 \u00fcbertragen zu k\u00f6nnen. H\u00f6ren w7ir ihn selbst:\n\u201eDa n\u00e4mlich jedem Theil des erf\u00fcllten Sinnesraumes ein darauf bez\u00fcglicher Theil unseres Empfindens entspricht, so entspricht auch jedem leeren Theil desselben eine theilweise Privation von Empfindung. Ist jene leere Stelle eine unmerklich kleine L\u00fccke, so ist auch die entsprechende theilweise Privation von Empfindung ein unmerklicher Entfall. Jeder sieht, wohin das in weiterer Konsequenz f\u00fchrt. Wenn die kleinen L\u00fccken, im einzelnen unmerklich, im ganzen merklich werden, so wird dasselbe bez\u00fcglich der entsprechenden theilweisen Privationen von Empfindung gelten. Und wie das Verh\u00e4ltniss zwischen Voll und Leer, so wird auch das zwischen Aktualit\u00e4t und Privation von Empfindung sein. Ein und derselbe Bruch bezeichnet das Maass der Verwirklichung auf dem einen wie auf dem anderen Gebiete ; d. h. sie bestehen genau in gleicher St\u00e4rke.\u201c (S. 13.)\nHieraus folgt, dass bei sinnlichen Inhalten die Intensit\u00e4t des Empfindens oder Vorstellens immer gleich sein m\u00fcsse der Intensit\u00e4t des Empfundenen oder Vorgestellten, w\u00e4hrend \u00fcberall dort, wo das Vorgestellte nichts von sinnlicher Qualit\u00e4t und Kontinuit\u00e4t enth\u00e4lt, also bei allen Begriffen, das Vorstellen \u00fcberhaupt gar keine Intensit\u00e4t haben k\u00f6nne. \u2014 Was aber vom Vorstellen, das gilt ebenso von jeder anderen \u201eintentionalen Beziehung\u201c. Auch allen Urtheilen, sowie allen Akten der \u201eGe-m\u00fcthsth\u00e4tigkeit\u201c (unter welchem Terminus Br. Gef\u00fchle und Begehrungen zusammenfasst) wird daher, wo sie (wie etwa ein\nVorsatz, ein Entschluss) auf begrifflich Vorgestelltes sich richten*\n4*","page":51},{"file":"p0052.txt","language":"de","ocr_de":"52\nChristian Ehr enfels.\njegliche Intensit\u00e4t schlechterdings abgesprochen, -\u2014 eine solche ihnen dagegen zuerkannt, wo sie \u2014 wie z. B. die \u201eAffekte\u201c \u2014 sinnliche Ph\u00e4nomene zum Inhalt haben, ~ Soweit Brentano.\nEs ist klar, dass seine hiermit versuchte Deduktion die fr\u00fcher entwickelte Auffassung von der sinnlichen Intensit\u00e4t zur Voraussetzung hat und nur Anh\u00e4nger derselben \u00fcberzeugen kann. Da aber jedenfalls die wissenschaftliche Bedeutung der letztgenannten Theorie feststeht, mag sie nun richtig oder falsch sein, so verlangte sicher auch Br.\u2019s Deduktion eine eingehende Ber\u00fccksichtigung, sobald nur einmal festgestellt w\u00e4re, dass ihre Ergebnisse sich mit der direkten Empirie in Einklang bringen lassen. Ob dies der Fall, soll nun m\u00f6glichst vorurtheilsfrei untersucht werden.\n; Be. selbst verweilt am l\u00e4ngsten bei den Konsequenzen seiner Theorie auf dem Gebiete der vorstellenden Th\u00e4tigkeit und betont namentlich die Uebereinstimmung seiner Deduktion mit Ergebnissen, zu denen lange vor ihm und auf ganz verschiedenem Wege bereits ein anderer Psychologe \u2014* H. Lotze -\u2014 gelangt war. Aber \u2014 wenn fr\u00fcher ein \u00e4hnlicher Konsens (mit Herino, bez\u00fcglich der Farbenintensit\u00e4ten) sicherlich als ein ber\u00fccksichtigen swerther Hinweis gelten konnte \u2014 hier vermag mindestens ich ihm kein besonderes Gewicht beizulegen. Das Vorstellen scheint mir n\u00e4mlich ein viel zu unvollkommen merkliches Ph\u00e4nomen zu sein, als dass ich Aussagen \u00fcber das Maass seiner Intensit\u00e4t eine nennenswerthe Bedeutung , beizulegen verm\u00f6chte. Es ist allerdings richtig: wir k\u00f6nnen der Annahme eines vom Vorstellungsinhalte unterschiedenen Vorstellungsaktes nicht entrathen, haupts\u00e4chlich deswegen, weil wir sonst keinen psychologischen Unterschied zwischen der Vorstellung eines Gegenstandes A und der Vorstellung von seiner Vorstellung anzugeben verm\u00f6chten. Direkt dagegen konnte ich wenigstens mich noch nie von der Existenz jenes Ph\u00e4nomenes \u00fcberzeugen; und wenn andere \u00fcber dessen Intensit\u00e4t bestimmte Aussagen machen* so glaube ich diese, sofern sie auf Beobachtung beruhen sollen, mit gutem Hecht als ein Ergebniss der psychologischen Phantasie betrachten zu d\u00fcrfen. W\u00fcrden wir uns ja doch einer weitgehenden T\u00e4uschung hingeben, wenn wir uns verhehlen wollten, dass die Unvollkommenheit des Instrumentes der Selbstbeobachtung uns auch in der deskriptiven Psychologie schier bei der H\u00e4lfte aller Probleme auf Konstruktion oder mindestens veiv","page":52},{"file":"p0053.txt","language":"de","ocr_de":"Die Intensit\u00e4t der Gef\u00fchle.\nmittelte Erkenntnisse einsehr\u00e4nkt! \u2014 Nur soviel kann also in Betreff des Vorstellens Br. zugestanden werden, dass die direkte Empirie, obzwar keinen Beweis f\u00fcr, doch ebensowenig eine Instanz gegen seine Theorie zu bieten vermag. \u2014 Dem stebt allerdings die Auffassung der Phantasievorstellungen als solcher mit geringerer Intensit\u00e4t des Vorstellens (bei \u00fcbrigens gleichbleibendem Inhalt) gegen\u00fcber,1 welche eine direkte Gegeninstanz gegen Br. b\u00f6te. Allein so viel auch vom Standpunkt wissenschaftlicher Opportunit\u00e4t aus f\u00fcr diese Annahme sprechen mag \u2014 als ein Zeugniss der direkten Erfahrung m\u00f6chte ich sie doch nicht anzuf\u00fchren wagen.\nEin Gleiches gilt von der Identifikation des Ueberzeugungs-oder Sicherheitsgrades beim Urtheil mit einer Intensit\u00e4t des Urtheilsaktes.2 Sie ist eine zweckm\u00e4ssige, sie mag eine richtige Annahme sein \u2014 auf die direkte Empirie wird sie sich nicht mit mehr und nicht mit weniger Recht berufen k\u00f6nnen, als Br., wenn er den auf Begriffliches gerichteten Urtheilsakten \u2022alle Intensit\u00e4t abspricht.\nIn Betreff der auf Begriffliches gerichteten Akte des \u2022W\u00fcnschens und Wo liens, allgemein das Begehrens endlich -(und alle Begehrungen sind, als auf ein Sein oder Werden, Nichtsein oder Vergehen, auf Begriffliches gerichtet) glaube ich\n\u2014\ttrotz des allgemeinen Widerspruches \u2014 das Zeugniss Br.\u2019s sogar auf Grund direkter Erfahrung best\u00e4tigen zu k\u00f6nnen ; allerdings nur \u2014 was dieser Best\u00e4tigung wieder ihren Werth nimmt\n\u2014\tindem ich hier die Existenz eines eigenen psychischen Aktes \u00fcberhaupt leugne.3 \u2014 Dass ferner die auf Sinnliches gerichteten \u201eAffekte\u201c eine Intensit\u00e4t besitzen, wird Niemand bestreiten.\nUnd so k\u00f6nnten wir wohl zusammenfassend sagen, dass durch direkte Empirie die Auffassung Br.\u2019s nirgends widerlegt werde \u2014 wenn wir nur jene Konsequenzen in Betracht z\u00f6gen, auf welche er in seinem kurzen Vortrage ausdr\u00fccklich hinweist.\n1\tIn \u00e4lterer Zeit durch Herbart vertreten, in neuerer durch Meinong, \u201eUeber Begriff und Eigenschaften der Empfindung\u201c, Vierteljahr sehr. f. wissensch. Phil. XIII, 1, S. 9 ff.\n2\tVgl. A, Meinong, \u201eUeber J. v. Kries\u2019 Untersuchung des M\u00f6glichkeit#-begriff es\u201c, G\u00f6ttinger gelehrte Anzeigen 1890.\n3\tVgl. den 1. Bd. 3. T. meines \u201eSyst\u00e8mes der Werththeorie\u201c.","page":53},{"file":"p0054.txt","language":"de","ocr_de":"Christian Ehrenfels.\n54\nAllein es ist einleuchtend, dass ansser den genannten noch andere %u ber\u00fccksichtigen sind \u2014 Konsequenzen, welche \u2014 mindestens scheinbar \u2014 der inneren Erfahrung auf das Entschiedenste entgegentreten, und die Be. \u2014 wir wollen es ihm nicht verargen \u2014 in seiner skizzenhaften Darstellung mit Stillschweigen \u00fcbergeht. \u2014 Was n\u00e4mlich in Bezug auf die vorstellende Th\u00e4tigkeit de-duzirt wird, dass sie, auf einen sinnlichen Inhalt gerichtet, eine der Intensit\u00e4t dieses letzteren gleiche Intensit\u00e4t auch selbst aufweisen m\u00fcsse, \u2014 muss im Sinne Be.\u2019s auf alle psychischen Akte \u00fcbertragen werden; d. h. also zun\u00e4chst auf Urtheile, und dann (da es keine Begehrungen mit sinnlichen Inhalten giebt) auf Gef\u00fchle. Weiter muss, wie bei allen auf Begriffliches gerichteten Akten, auch bei derartigen Gef\u00fchlen'die Intensit\u00e4t schlechterdings geleugnet werden. Es ist leicht abzusehen, welch\u2019 schwere Verwicklungen mit dem Zeugnisse der direkten Erfahrung diese drei Forderungen der Lehre Be.\u2019s nach sich ziehen.\nAm deutlichsten wird dies wohl gleich beim Urtheil. \u2014 Be. glaubt sich gegen die Lehre wenden zu m\u00fcssen, welche die Unterschiede im Ueberzeugungsgrad der Urtheile als Intensit\u00e4tsunterschiede deutet, und wir k\u00f6nnen seine Opposition begreifen, denn wirklich ist auf dem Gebiete des Urtheiles ein eigentliches Intensit\u00e4tsmoment nicht mit Bestimmtheit zu bemerken. Wie sollten wir aber, bei solchem Bigorismus, uns der Auffassung anbequemen k\u00f6nnen, die er in einem Athem uns zumutet! \u2014 Nicht nur Intensit\u00e4tsunterschiede behauptet er auf dem Gebiete des Urtheils, sondern sogar den Unterschied zwischen intensiven und schlechterdings intensit\u00e4tslosen Akten. Wenn ich mir eine begriffliche Vorstellung von dem Tintenfass bilde, das vor mir auf dem Tische steht, und, die Augen sehliessend, die Existenz dieses Tintenfasses affirmire, so soll dieses Urtheil keine Intensit\u00e4t haben. Oefflie ich dagegen die Augen und affirmire das gesehene Tintenfass \u2014 oder genauer das, was mir von dem Tintenfass in sinnlicher Anschauung vorliegt \u2014 so hat dieses Urtheil nun Intensit\u00e4t, ja sogar den h\u00f6chstdenkbaren Grad von Intensit\u00e4t \u2014 da ja die Farbenerscheinung den Sinnesraum l\u00fcckenlos erf\u00fcllt! \u2014 H\u00f6re ich dagegen einen ranschwellenden Ton, den ich zugleich affirmire, so schwillt, mit dem Ton parallel, auch mein Urtheilen an!----------Mir scheinen","page":54},{"file":"p0055.txt","language":"de","ocr_de":"Die Intensit\u00e4t der Gef\u00fchle.\n55\ndiese Konsequenzen zu gen\u00fcgen, um Br.\u2019s Theorie von den psychischen Intensit\u00e4ten f\u00fcr widerlegt erachten zu d\u00fcrfen.\nAnders stellt sich das Problem bez\u00fcglich der zweiten Konsequenz. Die Intensit\u00e4t sinnlicher Gef\u00fchle wird Niemand bestreiten* Was aber sogleich Widerspruch weckt, ist die Behauptung ihres Parallelismus mit der Intensit\u00e4t des zugeh\u00f6rigen Inhaltes* \u2014 Ein Beispiel m\u00f6ge dies erl\u00e4utern: Ich beziehe eine dicht am Wildbach gelegene Sommerwohnung. Im Anfang erfreut mich das dr\u00f6hnende Tosen, bald wird es mir unangenehm, nach kurzer Zeit unausstehlich; nach einer Woche jedoch habe ich mich daran gew\u00f6hnt; es ist mir gleichg\u00fcltig geworden, -r-Hier beschreibt die Intensit\u00e4t des Gef\u00fchles eine lange Kurve von der Lust in raschem Abfall durch den Indifferenzpunkt zur Unlust, deren Maximum ebenfalls bald erreicht ist, \u2014 und von dort wieder in allm\u00e4hlichem Auf steigen zur Indifferenzlinie zur\u00fcck \u2014 und w\u00e4hrend dieser ganzen Bewegung bleibt die Intensit\u00e4t des sinnlichen Gef\u00fchlsinhaltes \u2014 das Tosen des Baches \u2014 gleich, oder \u00e4ndert sich doch nur unmerklich. \u2014 Wie l\u00e4sst sich diese Erfahrungstatsache mit Br.\u2019s Forderung in Einklang bringen? \u2014 Falls man etwa glauben sollte, dass hier Assoziationen, \u00fcberhaupt psychische Begleiterscheinungen st\u00f6rend mitspielen, so vergleiche man Gef\u00fchle wie die sehr intensive Unlust \u00fcber einen ganz schwachen Geruch faulender Fische und die ganz schwache Unlust \u00fcber den penetranten Geruch eines frisch getheerten Schiffsraumes, und \u00e4hnliche, nach Belieben zu vermehrende F\u00e4lle ! \u2014 Nein! Wenn die innere Erfahrung \u00fcberhaupt Einsichten giebt, so ist es evident, dass ein Parallelismus zwischen der Intensit\u00e4t sinnlicher Gef\u00fchle und derjenigen ihrer Inhalte nicht besteht. \u2014\nOder sollte Br. doch noch ein Weg offen stehen, sich mit dieser Thatsache abzufinden ? \u2014 Der Versuch liesse sich vielleicht unternehmen. \u2014 Br. verlangt von seinem Standpunkte aus die Gleichheit der Intensit\u00e4t jedes psychischen Aktes mit derjenigen seines Inhaltes. Nun steht es allerdings fest, dass jeder gef\u00fchlte Inhalt zugleich vorgestellt werden m\u00fcsse. Folgt aber daraus weiter, dass das Gef\u00fchl, sobald es sich \u00fcberhaupt auf einen empfundenen Inhalt richtet, sich auf diesen Inhalt auch l\u00fcckenlos, in seiner ganzen Ausdehnung richten m\u00fcsse? \u2014 K\u00f6nnten wir nicht, wie zwischen erf\u00fcllten und leeren Sinnesfeldern, so \u2014\u25a0 innerhalb der erf\u00fcllten Sinnesfelder \u2014 wieder zwischen erf\u00fcllten und leeren Gef\u00fchlsfeldern unterscheiden, in der Weise, dass wir","page":55},{"file":"p0056.txt","language":"de","ocr_de":"Christian Ehrenfels.\nuns manche Theile des sinnlichen Inhaltes als nur empfunden, andere als empfunden und zugleich gef\u00fchlt d\u00e4chten? \u2014 Und ^k\u00f6nnten hier nicht ebenfalls die gef\u00fchlsleeren L\u00fccken des Sinnesraumes unbemerkt bleiben? \u2014 Einen Widerspruch enthalten diese Annahmen nicht. Wenn dieses aber zugestanden wird, so ist in der Unterscheidung zwischen bloss empfundenem Inhalt einer- und zugleich empfundenem und gef\u00fchltem Inhalt .andererseits die M\u00f6glichkeit geboten, Be.\u2019s Theorie mit dem Zeugniss der Erfahrung in Einklang zu bringen.\nDie M\u00f6glichkeit wohl. Ob aber auch nur die geringste Wahrscheinlichkeit f\u00fcr eine derartige Erkl\u00e4rung der Thatsaehen sich behaupten l\u00e4sst, das kann bei einer n\u00e4heren Betrachtung nicht zweifelhaft erscheinen. Untersuchen wir dieses an einem Beispiel: Jemand f\u00fchle lebhafte Unlust an einem schwach bitteren, schwache Unlust an einem stark s\u00fcssen Geschmack Hier ist \u2014 mach Be. \u2014 das Empfindungsph\u00e4nomen beim Bitteren stark, dasjenige beim S\u00fcssen nur schwach oder gar nicht durchl\u00f6chert anzunehmen; im ersten Falle w\u00e4re etwa nur */%, ini zweiten w\u00e4ren 9/10 des Sinnesraumes erf\u00fcllt. Im ersten Fall sei der ganze erf\u00fcllte Sinnesraum auch Inhalt des Unlustgef\u00fchles, f\u00fcr welches sich somit ebenfalls die Intensit\u00e4t 1/10 ergiebt. Nun ist diese Unlust aber viel st\u00e4rker (approximativ zehnmal so stark) als die Unlust am S\u00fcssen; deren Inhalt kann somit nur 1/100 des ganzen und 1/qq des erf\u00fcllten Sinnesraumes erf\u00fcllen. Das heisst also mit anderen Worten: W\u00e4hrend sich beim Bitteren die Unlust auf den ganzen erf\u00fcllten Sinnesraum bezieht, sucht sie sich beim S\u00fcssen unter je 90 von S\u00fcssigkeit erf\u00fcllten Raumtheilen nur je einen gleichsam heraus, w\u00e4hrend sie die \u00fcbrigen 89, welche sich von jenen durch nichts anderes als durch zuf\u00e4llige \u00f6rtliche Bestimmtheit unterscheiden, vernachl\u00e4ssigt \u2014 aus welchem Grunde ist unerfindlich. \u2014 Aber noch mehr. Unsere Unlust \u2014 als w\u00e4re sie vernunftbegabt und von der Absicht geleitet, uns zu t\u00e4uschen -\u2014 sucht sich jenes eine Neunzigstel obendrein in so raffinirter Vertheilung \u00fcber den ganzen Sinnesraum aus, dass uns die L\u00fccken unbemerkt bleiben, und der falsche Schein entsteht, als sei uns .das ganze sinnliche Ph\u00e4nomen unangenehm \u2014 w\u00e4hrend uns\nthats\u00e4chlich 89/\u00f60 davon vollkommen gleichg\u00fcltig sind! ----\u2014\nIch glaube kaum annehmen zu d\u00fcrfen, dass Be. selbst zu einer solchen Vertheidigung seiner Theorie Zuflucht nehmen w\u00fcrde.1\n1 Dennoch wollte ich diesen Versuch nicht \u00fcbergehen, da er mir von","page":56},{"file":"p0057.txt","language":"de","ocr_de":"Die Intensit\u00e4t der Gef\u00fchle\u25a0.\nm\nVielleicht eher zu einer anderen, welche sich nicht so weit in ein Gespinnst von ad hoc konstruierten Hilfshypothesen zu verirren braucht. \u2014\nEs unterliegt keinem Zweifel, d\u00e4fs wir in Betracht der Objekte unserer\" Gef\u00fchle mitunter T\u00e4uschungen unterworfen sind. So glauben wir etwa \u00fcber eine intensive Lichterscheinung Unlust zu f\u00fchlen, w\u00e4hrend sich die Unlust that-s\u00e4chlich nur auf die begleitenden Vitalempfindungen im Auge richtet, oder deuten die Unlust \u00fcber die einen Geschmack begleitenden Ekelempfindungen als Unlust, die sich direkt auf den Geschmack richte \u2014 u. dgl. m. Solche Beobachtungen haben zu der Ansicht gef\u00fchrt, dass es \u00fcberhaupt nur eine Klasse von Empfindungs-, ja schlechthin von Vorstellungsinhalten gebe, auf welche sich Lust und Unlust direkt als auf intentionale Objekte beziehen k\u00f6nnen, w\u00e4hrend ausserdem \u00fcberall das Verh\u00e4ltniss zwischen den Gef\u00fchlen und demjenigen, was wir als ihre \u201eObjekte\u201c bezeichnen, nicht ein intentionales, sondern lediglich dasjenige kausaler Verkn\u00fcpfung sei. (Je nach den verschiedenen Standpunkten wird die Vorstellung des \u201eObjektes\u201c, resp. ihr physiologisches Substrat, als direkte oder indirekte Ursache des Gef\u00fchles, resp. seines physiologischen Substrates, oder werden beide, Vorstellung und Gef\u00fchl, als gemeinsame Wirkungen ein und derselben rein physiologischen Ursache aufgefasst.) Jene ausschliesslich zu Gef\u00fchlsobjekten pr\u00e4destinirte Klasse von Empfindungsinhalten muss allerdings zu Gunsten dieser Theorie gleichsam erst neu kreiert werden. Es w\u00e4re dies aber ohne zu grosse Willklirlichkeit wohl m\u00f6glich, da hierzu das durch die psychologische Analyse noch so wenig differenzirte und geordnete Chaos der Vital- und Gemeinempfindungen eine gen\u00fcgende empirische Grundlage b\u00f6te. \u2014 Einem Einwande aber h\u00e4tte diese Lehre sofort an der Schwelle zu begegnen: \u201eWenn das Band der intentionalen Beziehung zwischen dem Gef\u00fchl und demjenigen, was wir als sein Objekt bezeichnen, gel\u00f6st wird, und die (vielleicht physiologisch vermittelte) Kausalbeziehung zwischen beiden nicht in die Wahrnehmung f\u00e4llt \u2014 wie ist es dann zu erkl\u00e4ren, dass wir die Objekte ihren Gef\u00fchlen, oder diese jenen\neinigen scharfsinnigen Sch\u00fclern des Meisters in m\u00fcndlicher Diskussion wiederholt vorgebracht wurde \u2014 woraus zu schliessen, dass er sich in Verfolgung des Bn.\u2019schen Gedankenganges leicht auch anderen ergeben k\u00f6nnte.","page":57},{"file":"p0058.txt","language":"de","ocr_de":"58\nChristian Ehrenfels,\nz\u00fczuordnen verm\u00f6gen? -\u2014 Wie erkenne ich dann z. B. mit Bestimmtheit, dass mir an dem vor mir stehenden Gem\u00e4lde Komposition und Zeichnung gef\u00e4llt, das Kolorit dagegen missf\u00e4llt \u2014 oder an jenem Antlitz die Form Verh\u00e4ltnisse gefallen, der Ausdruck hingegen unsympathisch ist?\u201c \u2014 Der Einwand scheint bedenklich, kann jedoch zur\u00fcckgewiesen werden. Jene Erkenntnisse k\u00f6nnen wir leicht durch Anwendung der Differenzmethode bei einer Art psychologischen Experimentirens gewinnen, welches sich meist durch die Schwankungen unseres Bewusstseinsinhaltes gleichsam von selbst, ohne eigens hierauf gerichteten Willensakt ergiebt. Wir konzentriren unsere Aufmerksamkeit auf einen (trennbaren oder nicht trennbaren) Theil des gegebenen Vorstellungskomplexes (z. B. beim Bilde auf Komposition und Zeichnung) und beobachten ein Wachsen der Lust \u2014 umgekehrt eine Verminderung der Lust oder eine Beimengung oder ein Wachsen von Unlust, sobald wir die Aufmerksamkeit auf einen anderen Theil lenken (z. B. beim Bilde auf das Kolorit) \u2014 und wir wissen genug, um aussagen zu k\u00f6nnen, dass jener erste Theil uns gef\u00e4llt, jener zweite uns missf\u00e4llt. \u2014 Allerdings sind bei solchem Verfahren Irrt\u00fcmer (in Folge unbemerkter Fluktuationen im Bewusstseinsinhalt) nicht streng ausgeschlossen. Aber, weit entfernt, diesen Umstand als Gegeninstanz gelten zu lassen, kann ihn die \u201ekausale Gef\u00fchlstheorie\u201c sogar als ein Argument gegen\u00fcber der \u201eintentionalen\u201c in Anspruch nehmen. Denn thats\u00e4chlich kommen Irrth\u00fcmer \u00fcber die \u201eObjekte\u201c unserer Gef\u00fchle, und nicht allzuselten, vor. (Bo glauben wir uns etwa direkt an dem Klang einer Stimme, an dem Anblick eines Geb\u00e4udes zu erfreuen, w\u00e4hrend das Erfreuliche doch nur die Assoziationen sind, die sich an jene Inhalte anschliessen ; so glaubt der \u201eWohlth\u00e4tigkeitsmeier\u201c ein mitleidiges Herz zu besitzen, w\u00e4hrend er sich in Wahrheit doch nur einer grossen Eitelkeit r\u00fchmen d\u00fcrfte \u2014 u. dgl. m.) Vom Standpunkte der \u201ekausalen\u201c Theorie aus ist dies nicht weiter verwunderlich; die \u201eintentionale\u201c Theorie dagegen k\u00f6nnte es nur schwer plausibel machen. Mindestens sind analoge Irrth\u00fcmer dort, wo die intentionale Beziehung feststeht \u2014 auf dem Gebiete des Urtheiles \u2014 schlechterdings unerweislich. Dass man \u00e8twas f\u00fcr wahr halten, sich aber darin irren sollte, was man f\u00fcr wahr h\u00e4lt, scheint direkt absurd. \u2014 So haben wir denn allen Grund, jener \u201ekausalen Gef\u00fchlstheorie\u201c ernstlich n\u00e4her zu treten, \u2014 von welcher es auch sofort einleuchtet, wie Bk, sie zu Gunsten","page":58},{"file":"p0059.txt","language":"de","ocr_de":"Die Intensit\u00e4t der Gef\u00fchle.\n59\nseiner Auffassung verwerten k\u00f6nnte. \u2014 Wenn das Gef\u00fchl sich thats\u00e4chlich nicht auf Farben, T\u00f6ne, Ger\u00fcche, Geschm\u00e4cke u. s. w., sondern nur auf die eine Klasse der Empfindungsinhalte des \u201eGef\u00fchlssinnes\u201c intentional bezieht, so sind alle vorgebrachten Beispiele der Diskrepanz zwischen der Intensit\u00e4t des Gef\u00fchles und derjenigen seines sogenannten Objektes belanglos, und haben wir, um Br.\u2019s deduktive Forderung empirisch zu pr\u00fcfen, ledig-lieh die Intensit\u00e4t der \u201eGef\u00fchlsempfindungen\u201c mit derjenigen der Gef\u00fchle zu vergleichen. Hier aber ergiebt die direkte Empirie, wenn auch keine Best\u00e4tigung, so doch ebensowenig eine Gegeninstanz, da die \u201eGef\u00fchlsempfindungen\u201c von den sie begleitenden, ja vielleicht wirklich, jedenfalls scheinbar gleich lokalisirten Druck-, Temperatur-, Muskel-, Vitalempfindungen (wenn solche neben jenen noch anzunehmen sind) auf der einen, und von den gar nicht lokalisirten Gef\u00fchlsakten seihst auf der anderen Seite viel zu schwer zu unterscheiden sind, als dass \u00fcber das Verh\u00e4ltniss ihrer Intensit\u00e4ten zu denjenigen der Gef\u00fchle Bestimmtes ausgesagt werden k\u00f6nnte. \u2014 So h\u00e4tte Br. in der Annahme jener \u201ekausalen\u201c Gef\u00fchlstheorie (auf welche er freilich in seinem Vortrag mit keinem Worte hingewiesen hat)1 einen Weg often, um der zweiten ihm als Einwand entgegengehaltenen Konsequenz seiner Auffassung wirksam zu begegnen.\nAuch die dritte Konsequenz \u2014 die Intensit\u00e4tslosigkeit und daher der Mangel aller Gr\u00f6ssenunterschiede bei dem auf Begriffliches gerichteten Gef\u00fchlen \u2014 k\u00f6nnte nur auf die hezeichnete Weise mit den Thatsachen der Erfahrung in Einklang gebracht werden. Denn das werden wir uns wohl nicht nehmen lassen, dass der Schmerz \u00fcber den Tod eines nahen Verwandten im echtesten und eigentlichsten Sinne st\u00e4rker sei als die leichte Gem\u00fcthswelle, welche aufgeworfen werden kann, wenn wir etwa unachtsam einen sch\u00f6nen K\u00e4fer zertreten. Demgegen\u00fcber vermag Br. die Intensit\u00e4tslosigkeit der \u201eh\u00f6heren\u201c Gef\u00fchle nur aufrecht zu erhalten, wenn er ihre Existenz \u00fcberhaupt leugnet, und dasjenige, was wir Schmerz \u00fcber eine Todesnachricht, Freude \u00fcber eine Erkenntniss nennen, als sinnlicheGef\u00fchle betrachtet, welche nicht intentional, sondern nur kausal mit den betreffenden begrifflichen Vorstellungen und den darauf gegr\u00fcndeten Urtheilen\n1 Dagegen wohl in einer m\u00fcndlichen Aeusserung, dem Verfasser gegen-","page":59},{"file":"p0060.txt","language":"de","ocr_de":"60\nChristian EhrenfeU.\nverkn\u00fcpft sind. \u2014 Bei dieser Deutung h\u00e4tte er sogar die popul\u00e4re Auffassung vielfach f\u00fcr sich, welche ja bekanntlich jene \u201eh\u00f6heren\u201c Gef\u00fchle h\u00e4ufig zu lokalisiren, so z. B. den Liebes-gram in das Herz zu verlegen pflegt u. dgl. m. Thats\u00e4chlich lokalisirt w\u00e4re hier allerdings nicht das Gef\u00fchl selbst, wohl aber sein intentionales Objekt, welches mit jenem leicht verwechselt werden kann.\nUnd so k\u00f6nnte denn Br, auf dem Gebiete des Gef\u00fchles, ebensogut wie auf demjenigen des Vorstellens und \u2014 wie mindestens mich bed\u00fcnkt \u2014 auch des Begehrens seine Theorie mit dem Zeugnisse der inneren Erfahrung in Einklang bringen, oder er brauchte diesem wenigstens nirgends in zweifelloser Weise zu widerstreiten. Dar\u00fcber darf jedoch nicht der flagrante Gegensatz vergessen werden, in welchem seine Lehre auf dem Urtheilsgebiet zu dem empirisch konstatirbaren Thatbestande tritt. Dieser Gegensatz allein gen\u00fcgte, um die Deduktion \u00fcber die Intensit\u00e4t des Psychischen aus der Theorie von den physischen Intensit\u00e4ten f\u00fcr verfehlt zu erkl\u00e4ren; und nur die Frage wird noch zu beantworten sein, ob der Zusammenhang beider Auffassungen von Br. wirklich als ein nothwendiger erwiesen sei. Man begreift leicht, dass nun die negative Beantwortung dieser Frage als die f\u00fcr Br, g\u00fcnstigere betrachtet werden mufs, da die positive den offenbaren Widerstreit gegen die Erfahrung auf dem Urtheilsgebiete als eine entscheidende Instanz auch gegen die Theorie von den sinnlichen Intensit\u00e4ten erscheinen liesse.\nDiese Bef\u00fcrchtung wird sich jedoch bei n\u00e4herer Betrachtung bald als unbegr\u00fcndet erweisen. \u2014 So sehr im \u00fcbrigen die Pr\u00e4zision und Folgerichtigkeit von Br.\u2019s Gedankengang anerkannt werden m\u00fcssen \u2014- an der fraglichen Deduktion scheint mir auch Jeder Gedankenschritt den Widerspruch gleichsam herauszufordern. Es soll dies im Einzelnen verfolgt werden.\n\u201eDa n\u00e4mlich jedem Theil des erf\u00fcllten Sinnesraumes ein darauf bez\u00fcglicher Theil unseres Empfindens entspricht, so entspricht auch jedem leeren Theil desselben eine theilweise Privation von Empfindung. Ist jene leere Stelle eine unmerklich kleine L\u00fccke,, so ist auch die entsprechende theilweise Privation von Empfindung ein unmerklicher Entfall.\u201c\nIn diese beiden S\u00e4tze fasst Brentano (der \u2014 nebenbei gesagt \u2014 uns mit seinem Vortrag ein wahrhaftes Meisterst\u00fcck gedrungenen und doch klaren Stiles liefert) seinen Gedankengang","page":60},{"file":"p0061.txt","language":"de","ocr_de":"Die Intensit\u00e4t der Gef\u00fchle.\n61\nzusammen. Und wenn er fortf\u00e4hrt: \u201eJeder sieht, wohin das in weiterer Konsequenz f\u00fchrt . .\t1 so m\u00fcssen wir ihm unbedingt\nliecht geben. Nicht so aber in Betreff des Inhaltes jener beiden S\u00e4tze. \u2014 Jedem Theil des erf\u00fcllten Sinnesraumes soll \u2014 nach B\u00df. \u2014 ein \u201edarauf bez\u00fcglicher Theil unseres Empfindens\u201c entsprechen, jedem leeren Theil des Sinnesraumes daher eine \u201etheil-weise Privation\u201c von Empfindung! \u2014 Wie selbstverst\u00e4ndlich werden diese Behauptungen eingef\u00fchrt. Man merkt leicht, worauf sie sich st\u00fctzen. Der empfundene Inhalt und das Empfinden selbst sind Korrelate. Das eine ist ohne das andere undenkbar. Daher muss jedem Theil des Empfundenen auch ein Theil des Empfindens entsprechen. \u2014 Aber \u2014 k\u00f6nnen wir diese letzte Konsequenz zugeben? \u2014 Verfallen wir nicht, wenn wir es thun, einer grob - materialistischen Missdeutung jener allersubtilsten Realrelation der intentionalen Beziehung? \u2014 Freilich \u2014 wenn wir uns das Verh\u00e4ltniss zwischen Empfinden und Empfundenem wie dasjenige etwa zwischen einer Leinwand und der aufge-tragenen Farbe denken, ist jener Satz selbstverst\u00e4ndlich. Aber wer wollte mit solchen Gleichnissen der Sache selbst n\u00e4her zu kommen glauben? \u2014 Zudem ergeben nicht einmal sie ausnahmslos jene Konsequenz. Die Sprache selbst weist uns mit dem Ausdruck \u201eVorstellungsinhalt\u201c einen ganz anderen Weg. Kann man nicht aus einer Weinflasche einen Theil des Inhaltes entfernen, ohne den entsprechenden Theil der Flasche mitnehmen zu m\u00fcssen? \u2014 \u201eJawohl, es bleibt aber dann in der Flasche ein leerer Raum, ein St\u00fcck Gef\u00e4ss ohne Inhalt, Empfinden ohne Empfundenes zur\u00fcck \u2014 was eben wegen der Korrelativit\u00e4t unm\u00f6glich ist.\u201c \u2014 Gut! Denken wir uns statt der Flasche eine elastische Gummiblase \u2014 und das Gleichniss ist perfekt. \u2014 \u201eAber die Gummiblase wird d\u00fcnner, wenn sie sich ausdehnt . . .\u201c \u2014 und unser Empfinden b\u00fcsst an Deutlichkeit ein, wenn sein Inhalt sich vermehrt.-------Nein! \u2014 Mit derlei Vergleichen l\u00e4sst\nsich der Witz \u00fcben, aber keine Erkenntniss gewinnen. Wir m\u00fcssen die Sache selbst ins Auge fassen. Allerdings eine schwierige Aufgabe! Ist doch jene intentionale Beziehung der Knoten, an welchem sich im letzten Grunde das ganze metaphysische R\u00e4tsel sch\u00fcrzt! . . . Ich getraue mich daher nicht, B\u00df.\u2019s Satze zu widersprechen; ich getraue mich aber wohl zu\n1 Vergl. das Zitat S. 205.","page":61},{"file":"p0062.txt","language":"de","ocr_de":"62\nChristian Ehrenfels.\nbehaupten, dass er von vorneherein ebensowenig einleuchtet als sein kontradiktorisches Gegentheil, und dass darum die Deduktion, welche sich auf ihn st\u00fctzt, selbst wenn sie im Uebrigen einwandfrei w\u00e4re, f\u00fcr ihr Ergebniss h\u00f6chstens die Wahrscheinlichkeit 1/2 beanspruchen d\u00fcrfte.\nAber selbst dies kann nicht zugestanden werden. \u2014 Angenommen, es w\u00fcrde wirklich \u201ejedem Theil des erf\u00fcllten Sinnesraumes ein darauf bez\u00fcglicher Theil des Empfindens\u201c entsprechen ; was w\u00e4re dann die nothwendige Folge? \u2014 Es m\u00fcsste, so wie das Empfundene, auch das Empfinden ein Kontinuum darstellen (wenn auch nicht ein \u201econtinuum per seu wie der Raum selbst, doch ein \u201econtinuum per accidens\u201c, \u00e4hnlich wie die Farbe oder jede r\u00e4umlich erscheinende Qualit\u00e4t). Nun kann es keinem Zweifel unterliegen, dafs wir unser Vorstellen nicht als ein kon-tinuirlich ausgedehntes bemerken \u2014 ebensowenig wie unser Urtheilen, Begehren oder auch F\u00fchlen, sobald wir es von seinem Inhalt zu unterscheiden wissen. (Das Zeitkontinuum, in welchem uns allerdings das Psychische gegeben ist, kann hier nat\u00fcrlich nicht herangezogen werden.) Wenn nun unser Empfinden in Wirklichkeit ein kontinuirlich ausgedehntes ist, wir es aber nicht als Kontinuum bemerken, so kann nur zweierlei folgen. Entweder wir bemerken dann auch keine Zu- oder Abnahme des Empfindens, wenn diese auch in Wirklichkeit Statt hat, \u2014 oder aber wir bemerken die Zu- und Abnahme, aber nicht als Ver-gr\u00f6sserung oder Verkleinerung des -\u2014 unbemerkten \u2014 Kontinuums. Im ersten Fall k\u00f6nnten wir beim Empfinden, und allgemein beim Psychischen, \u00fcberhaupt keinerlei Intensit\u00e4t, mindestens keinerlei Intensit\u00e4tsunterschiede bemerken. Im zweiten Fall aber? \u2014 B\u00df.\u2019s Erkl\u00e4rung der Intensit\u00e4t enth\u00e4lt, wenn wir sie im Wesentlichen erfassen, die Antwort schon eingeschlossen. So wie, wenn etwa in dem Tonraum unbemerkte L\u00fccken entstehen und wir in Folge dessen kein Kleinerwerden des erf\u00fcllten Kontinuums, wohl aber ein Wenigerwerden der Tonph\u00e4nomene bemerken, wir dann (nach B\u00df.) den Schein einer geringeren Intensit\u00e4t des Tones empfangen, so m\u00fcssten wir auch beim Psychischen, sobald wir ein Mehr- oder Wenigerwerden des Ph\u00e4no-menes, nicht aber ein Gr\u00f6sser- oder Kleinerwerden des erf\u00fcllten Kontinuums bemerken, den Schein von Intensit\u00e4tsschwankungen gegeben haben. Da aber das psychische Kontinuum nicht nur dann, wenn in dem zugeh\u00f6rigen physischen unbe-","page":62},{"file":"p0063.txt","language":"de","ocr_de":"Die Intensit\u00e4t der Gef\u00fchle.\n63\nmerkte L\u00fccken entstehen, sondern immer und \u00fcberall unbemerkt bleibt, so m\u00fcsste sich die Intensit\u00e4t des Psychischen nicht, wie Be, will, parallel mit der Dichtigkeit oder Intensit\u00e4t des zugeh\u00f6rigen physischen Ph\u00e4nomenes, sondern parallel mit seiner thats\u00e4chlichen Extensit\u00e4t ver\u00e4ndern. 1\nDies also w\u00e4ren die einzig berechtigten Folgerungen, wenn wir schon den h\u00f6chst unsicheren ersten Schritt von Bb.\u2019s Deduktion mitmachen wollten: Entweder Mangel aller Intensit\u00e4tsunterschiede beim Psychischen, oder Intensit\u00e4tsunterschiede parallel der Extensit\u00e4t der sinnlichen Inhalte. \u2014 Ehe wir diese Folgerungen pr\u00fcfen, wollen wir jedoch noch untersuchen, zu welchen Ergebnissen wir gelangen w\u00fcrden, wenn wir \u2014 mit der Legitimation der absoluten Ungewissheit \u2014 uns schon bei jenem ersten Schritte von Be. entfernten. \u2014 Es ist klar, dass, wenn das Empfinden durch Vermehrung oder Verringerung seines Inhaltes nicht selbst vermehrt oder verringert wird, dann keinerlei Gesetzm\u00e4ssigkeit zwischen der Intensit\u00e4t dieses und jenes, allgemein des psychischen Aktes und seines Inhaltes behauptet werden kann. Dennoch liegt es in der Tendenz von Bb.\u2019s Lehre, auch f\u00fcr diesen Fall bestimmte Schlussfolgerungen zu ziehen. Denn ein wesentliches Argument, welches Be. f\u00fcr seine Auffassungsweise geltend macht, ist die Kl\u00e4rung, die nach ihm der Intensit\u00e4tsbegriff \u00fcberhaupt erfahren w\u00fcrde, und deren er \u2014 dies m\u00fcssen wir ihm zugestehen \u2014 bedarf.2 Diese Kl\u00e4rung ist aber werthlos, wenn sie nicht auf alle Intensit\u00e4t bezogen werden kann. Sollte sich also das Erkl\u00e4rungsprinzip f\u00fcr sinnliche Intensit\u00e4ten als auf das Gebiet des Psychischen un\u00fcbertragbar erweisen, so m\u00fcsste es hier doch, um nicht einer seiner wesentlichsten St\u00fctzen verlustig zu werden, die Zul\u00e4ssigkeit des Intensit\u00e4tsbegriffes \u00fcberhaupt bestreiten \u2014 oder mit anderen Worten die Intensit\u00e4ts-losigkeit alles. Psychischen verlangen. *\n1\tAuf Grund eines \u00e4hnlichen Gedankenganges begegnete in m\u00fcndlicher Diskussion H. Dr. B. Urbach aus Prag meinem Einwande, Bn.\u2019s Intensit\u00e4tslehre k\u00f6nne es nicht erkl\u00e4ren, wieso man allgemein zur Annahme gekommen sein sollte, dass die sinnlichen Intensit\u00e4ten, z. B. der T\u00f6ne, allerdings nicht der psychologischen, wohl aber der logischen M\u00f6glichkeit nach ins Unendliche gesteigert werden k\u00f6nnten.\n2\tMan vergleiche A. Meinong-\u2019s Beitr\u00e4ge zu diesem Problem, \u201eUeber die Bedeutung des Weber\u2019schen Gesetzes\u201c, Zeitsehr. f. Psychol. Bd. XI.","page":63},{"file":"p0064.txt","language":"de","ocr_de":"64\nChristian Ehrenfels.\nSomit k\u00f6nnen wir znsammenfassend als Ergebniss unserer Untersuchung \u00fcber Br.\u2019s Deduktion Folgendes feststellen: Die Deduktion als solche ist verfehlt; somit kann der Widerstreit ihres Ergebnisses mit der direkten Empirie nicht als ein Gegenbeweis gegen ihre Ausgangspr\u00e4misse \u2014 die Theorie von den sinnlichen Intensit\u00e4ten \u2014 betrachtet werden. Wohl aber lassen sich vom Standpunkte jener Theorie aus bestimmte Forderungen f\u00fcr die Intensit\u00e4t des Psychischen \u2014 wenn auch nur in der JForm von Alternativen\u2014 aussprechen; Forderungen, deren Ueber-einstimmung oder Widerstreit mit der Erfahrung ein Argument f\u00fcr oder gegen die Theorie von den sinnlichen Intensit\u00e4ten abzugeben vermag. Wenn n\u00e4mlich Br.\u2019s Voraussetzung richtig sein sollte, dass das psychische Ph\u00e4nomen mit seinem Inhalte, w\u00e4chst und abnimmt, so m\u00fcssten entweder die Intensit\u00e4tsunterschiede der psychischen Ph\u00e4nomene proportional sein der Extensit\u00e4t ihrem Inhalte, oder aber uns g\u00e4nzlich unbemerkt bleiben, d. h. f\u00fcr uns so gut wie nicht vorhanden sein. Sollte aber jene Voraussetzung Br.\u2019s unrichtig sein, so d\u00fcrfte, falls seiner Theorie die Tragweite zuerkannt werden sollte, die sie beansprucht und zu ihrer vollen Rechtfertigung auch bedarf, eine Intensit\u00e4t auf dem Gebiete des Psychischen \u00fcberhaupt nicht nachzuweisen sein.\nPr\u00fcfen wir nun diese neuen Forderungen an der Erfahrung, so ist, mindestens bez\u00fcglich der ersten Alternative, das Ergebniss sofort als ein negatives zu erkennen. Alles was sich schon fr\u00fcher gegen die Unterscheidung von intensiven und intensit\u00e4tslosen Akten (im Hinblick auf das Urtheilsgebiet) Vorbringen liess, bleibt, nur krasser, in Kraft. (So m\u00fcsste z. B. unser Anerkennen eines vor unseren Augen befindlichen Elefanten viele tausendmal intensiver sein als eines auf seiner Haut bemerkbaren Flohes \u2014 u. dgl. m.) Zudem aber w\u00e4ren nun auch unsere Wahrnehmungen \u00fcber die Intensit\u00e4t der Gef\u00fchle selbst durch Kreierung jener eigeneft Klasse der Gef\u00fchlsempfindungen nicht mehr mit der Theorie in Einklang zu bringen. Denn es ist klar, dass wir h\u00e4ufig einen sehr intensiven Schmerz an einem r\u00e4umlich sehr eng begrenzten Ph\u00e4nomen f\u00fchlen (wie z. B. an der Ber\u00fchrung mit einer gl\u00fchenden Nadelspitze), hingegen eine nur sehr schwache Unlust an einem r\u00e4umlich weit ausgebreiteten Ph\u00e4nomen (z. B. bei einer etwas zu intensiven W\u00e4rmeempfindung aus dem ganzen K\u00f6rper); und doch w\u00fcrde die Proportionalit\u00e4t zwischen der Intensit\u00e4t des Gef\u00fchles und der Extensit\u00e4t des In-","page":64},{"file":"p0065.txt","language":"de","ocr_de":"Die Intensit\u00e4t der Gef\u00fchle.\n65\nhalts das genaue Gegentheil fordern. Es kann also yon der An-\u00bb n\u00e4hme jener ersten Alternative nicht die Rede sein.\nDie beiden Anderen aber stimmen darin \u00fcberein, dass sie bemerkbare Intensit\u00e4tsunterschiede des Psychischen \u00fcberhaupt nicht zulassen. \u2014- Auf dem Gebiete des Vorstellens k\u00f6nnte dem in keiner Weise widersprochen werden, ebensowenig auf demjenigen des Urtheils (wenn man sich des Vortheils einer Deutung der Ueberzeugungsgrade als Intensit\u00e4tsunterschiede begiebt) und \u2014 wie ich meine \u2014 des Begehrens. Wohl aber w\u00e4ren die unbestreitbaren Intensit\u00e4tsunterschiede der Gef\u00fchle eine ebenso unbestreitbare Gegeninstanz; und B\u00df.\u2019s Auffassung k\u00f6nnte nur durch eine radikale Umstellung der Begriffe noch gehalten werden, welche zwar gerade von seinem allgemein psychologischen Standpunkt aus in h\u00f6chstem Maass verbl\u00fcffen w\u00fcrde, die aber doch durch Annahme eines eigenen Gef\u00fchlssinnes bis zu gewissem Grad als vorbereitet erscheint. Man m\u00fcsste n\u00e4mlich, um die Intensit\u00e4tslosigkeit des Psychischen durchf\u00fchren zu k\u00f6nnen, die Gef\u00fchle der Lust und Unlust nicht als unr\u00e4umliche psychische Akte, gerichtet auf ein r\u00e4umlich-sinnliches Ph\u00e4nomen \u201eGef\u00fchlsempfindungsinhalt\u201c, sondern direkt als sinnliche Ph\u00e4nomene auffassen (deren Intensit\u00e4t dann ebenso gut wie die der K\u00e4lte, W\u00e4rme, des Druckes u. s.w. als \u201eDichtigkeit in der Raumerf\u00fcllung\u201c zu deuten w\u00e4re). \u2014 Die psychologische Tradition h\u00e4tte man dann zwar gegen sich, nicht aber die Popularpsycho-logie, der bekanntlich die Ausdrucksweise ' \u201eich empfinde Schmerz im Finger, im Bein, im Kopfe .... u. s. w.u so gel\u00e4ufig und eingelebt ist, dass man bei \u201epsychologisch korrekter\u201c Bezeichnung immer mit dem Sprachgebrauch in Kollision zu gerathen Gefahr l\u00e4uft. F\u00fcr den gemeinen Mann w\u00e4re es somit nicht nur keine Zumutung, sondern sogar die Dispens von einer als l\u00e4stig und pedantisch empfundenen wissenschaftlichen Forderung, wenn man ihm erlauben w\u00fcrde, Lust oder Unlust gerade so an bestimmten Stellen seines Leibes zu \u201ef\u00fchlen\u201c oder zu \u201eempfinden\u201c (denn diese beiden Ausdr\u00fccke w\u00e4ren nun synonym), wie Druck und Zug, W\u00e4rme und K\u00e4lte. Auch die eigens \u201ekreierte\u201c Klasse von Gef\u00fchlsempfindungen k\u00f6nnte entfallen, da an Stelle ihrer Inhalte nun sofort die r\u00e4umlichen Ph\u00e4nomene Lust und Unlust r\u00fccken w\u00fcrden. Aus der L\u00f6sung des intentionalen Bandes zwischen dem Gef\u00fchl und seinem \u201eObjekt\u201c aber w\u00fcrden der neuen Auffassung ebenfalls keine Schwierigkeiten erwachsen, welche nicht jene fr\u00fchere von\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XVI.\t\u00b0","page":65},{"file":"p0066.txt","language":"de","ocr_de":"Christian Ehrenfels.\nder Beschr\u00e4nkung der Gef\u00fchle auf die Inhalte des \u201eGef\u00fchlssinnes\u201c schon \u00fcberwunden h\u00e4tte. \u2014 Brauchen wir uns also fhats\u00e4chlich vor jener revolution\u00e4ren Konsequenz nicht zu scheuen? \u2014\nDie wissenschaftlich gebr\u00e4uchliche Auffassung scheint doch auch Schwerwiegendes f\u00fcr sich geltend machen zu k\u00f6nnen. Es ist n\u00e4mlich klar, dass, so wie wir ein Urtheil vorstellen k\u00f6nnen, ohne es zu urtheilen, eine Ueberzeugung, ohne von ihr \u00fcberzeugt zu sein (wie z. B. wenn wir jemandem versichern: \u201eder Glaube \u00e4n Hexen und Zauberer ist falsch\u201c) \u2014 wir auch ein Gef\u00fchl vorzustellen verm\u00f6gen, ohne es zu f\u00fchlen, einen Schmerz, der uns \u201enicht weh thut\u201c (wie z. B. wenn wir uns an der Erinnerung \u00fcberstandener Leiden erfreuen). Alle diese Thatsachen kann die wissenschaftliche Auffassung nach einem Schema erkl\u00e4ren: \u2014 in dem ersten Fall haben wir den betreffenden psychischen Akt real in uns gegeben, in dem anderen nur als Vorstellungsinhalt -\u2014 Diese Erkl\u00e4rung versagt aber, wie selbstverst\u00e4ndlich, sobald man das gef\u00fchlte Gef\u00fchl \u2014 also den Schmerz, der weh-, die Lust, welche wohlthut \u2014 selbst nur als \u201eEmpfinden\u201c, also Vorstellen von r\u00e4umlichen Inhalten, \u201eLust und Unlust\u201c, auffasst. W\u00e4re die Konsequenz dieser Auffassung nicht die, dass nun auch der bloss vorgestellte Schmerz weh-, die bloss vorgestellte Lust wohlthun m\u00fcfste ? \u2014 Die Schwierigkeit ist vorhanden, l\u00e4sst sich aber leicht beseitigen. Wir brauchen nur den Unterschied zwischen einem gef\u00fchlten und einem bloss vorgestellten Gef\u00fchl analog zu fassen wie den zwischen einer \u201egehabten\u201c und einer bloss vorgestellten Empfindung, z. B. also wie den Unterschied zwischen einer empfundenen W\u00e4rme, einer gesehenen Farbe und einer vorgestellten W\u00e4rme-, einer vorgestellten Farbenempfindung. Die bloss vorgestellte W\u00e4rmeempfindung macht uns, verglichen mit der empfundenen W\u00e4rme, ebensowenig warm, als der bloss vorgestellte Schmerz uns, verglichen mit dem \u201eempfundenen\u201c, wehthut. Und hiermit w\u00e4re dem thats\u00e4chlichen Unterschied Rechnung getragen.\nEin anderer Einwand dagegen droht verh\u00e4ngnissvoll zu werden. \u2014 Wenn wir das Roth als ein physisches Ph\u00e4nomen betrachten, so verbinden wir hiermit die Meinung, dafs seine Existenz unabh\u00e4ngig von irgend einer Vorstellung m\u00f6glich sei, d. h. also, dass es ein reales r\u00e4umliches Roth geben k\u00f6nne,","page":66},{"file":"p0067.txt","language":"de","ocr_de":"Die Intensit\u00e4t der Gef\u00fchle.\n6\u00cf\nwelches schlechterdings keinem psychischen Wesen als Vorstellungsinhalt, als gesehenes Roth, gegenw\u00e4rtig sek (Dass es ein solches Roth auch thats\u00e4chlich gebe, kann dabei \u2014 aus bekannten Gr\u00fcnden \u2014 recht wohl bestritten werden.) Gleiche Konsequenzen m\u00fcssen wir bei allen \u00fcbrigen \u201ephysischen Ph\u00e4nomenen\u201c anerkennen, und m\u00fcssten es somit auch, nach der in Rede stehenden Auffassung, bei Lust und Unlust. Wir m\u00fcssten also die M\u00f6glichkeit einer realen, r\u00e4umlichen Unlust zugeben, welche keinem psychischen Wesen gegenw\u00e4rtig ist, einer realen Unlust, welche von Niemandem empfunden wird, eines realen Schmerzes, welcher Niemandem wehthut. \u2014 W\u00e4re das nicht der Gipfel der Absurdit\u00e4t? \u2014 Ist durch diese Folgerung nicht die herk\u00f6mmliche wissenschaftliche Auffassung der Lust und Unlust auf das Deutlichste erwiesen? \u2014\nMan sollte es thats\u00e4chlich meinen; \u2014 wenn nur jene Kon* Sequenzen \u00fcberall dort auch festst\u00fcnden, wo man niemals anders denn von Empfindungsinhalten und physischen Ph\u00e4nomenen zu sprechen gewohnt war! Wir wollen hierbei nicht Derjenigen gedenken, welche eine ungesehene Farbe f\u00fcr ein ebensolches Unding erkl\u00e4ren wie eine ausdehnungslose Kugel oder einen W\u00fcrfel ohne Grenzen. Wir geben die M\u00f6glichkeit einer ungesehenen Farbe, eines ungeh\u00f6rten Tones anstandslos zu. Wir m\u00fcssten aber ebenso die M\u00f6glichkeit einer ungeschmeckten S\u00fcssigkeit, eines ungerochenen Duftes zugeben, einer realen K\u00e4lte, welche Nieman\u00bb dem kalt, einer realen W\u00e4rme (nat\u00fcrlich nicht \u201eSchwingungen von Molek\u00fclen\u201c sondern r\u00e4umliches W\u00e4rmeph\u00e4nomen), welche Niemandem warm macht. Ja wir m\u00fcfsten zugeben, dass jene von der Psychologie noch nicht analysierten Ph\u00e4nomene, welche wir beim Zahnschmerz in den Zahn, beim Bauchgrimmen in den Bauch lokalisiren \u2014 dass Alles was uns an Muskel-, an Gemein-und Vitalempfindungsinhalt r\u00e4umlich gegeben ist \u2014 ein Gruseln im R\u00fccken, ein Krabbeln in der Zehe \u2014 als Realit\u00e4t existiren k\u00f6nnte, ohne irgend Jemandes Empfindungsinhalt zu sein. \u2014 Ist diese Absurdit\u00e4t viel geringer als die eines ungef\u00fchlten, realen Schmerzes? \u2014\nDiese Hinweise sollen nur zeigen, dass es gef\u00e4hrlich ist, aus metaphysischen Annahmen psychologische Konsequenzen zu ziehen. Sie zeigen \u00fcberdies, wie ich glaube, dass die Konzeption der \u201eintentionalen Beziehung\u201c, die Scheidung zwischen physi-\n5*","page":67},{"file":"p0068.txt","language":"de","ocr_de":"Christian Ehrenfels.\nSehern Ph\u00e4nomen und psychischem Akt, den metaphysischen Knoten nicht aufl\u00f6st, sondern vielmehr durchschneidet. Gleichwohl bleibt jene Scheidung \u2014 trotz der anerkennenswerten Bem\u00fchungen der Positivisten und Ph\u00e4nomenalsten \u2014 die klarste und brauchbarste Einkleidung des metaphysischen B\u00e4thsels, welche Bisher noch geboten wurde. Darum m\u00fcssen wir an ihr fest-halten, so lange, als nichts Besseres gefunden wird. Nur allerdings ist es ein Unterschied, ob wir an jener Konzeption fest-halten als an der letzten, endg\u00fcltigen L\u00f6sung des Probl\u00e8mes \u2014 kurz, als W a h r h e i t \u2014 oder nur als der tauglichsten, zweck-m\u00e4fsigsten vorl\u00e4ufigen F i k t i o n. Im ersten Falle wird Niemand die Absurdit\u00e4t eines realen, ungef\u00fchlten Schmerzes hinnehmen k\u00f6nnen; \u2014 wie er sich aber dann mit dem realen, nicht empfundenen B\u00fcckengruseln und Aehnlichem wird abfinden k\u00f6nnen, bleibt mir unerfindlich. Im letzten Falle dagegen k\u00f6nnten wohl wissenschaftliche Opportunit\u00e4tsr\u00fccksichten daf\u00fcr sprechen, sowie das Grimmen im Bauche, das Bohren im Zahn, auch Lust und Unlust ,,als physische Ph\u00e4nomene aufzufassen\u201c. \u2014\nOb nur B\u00df.\u2019s Intensit\u00e4tslehre ein hinreichendes Motiv f\u00fcr jene Umdeutung abgiebt? \u2014 Ihr Urheber selbst w\u00fcrde sich, zur Anerkennung der Alternative gezwungen, wohl eher negativ entscheiden.1\nHiermit sind diese Untersuchungen an ihrem nat\u00fcrlichen Ziele angelangt. Die Konsequenzen von B\u00df. s Intensit\u00e4tstheorie wurden bis an jenen Punkt verfolgt, wo nur der wissenschaftliche Takt jedes Einzelnen entscheiden kann. In Bezug auf die Intensit\u00e4t der Gef\u00fchle und deren Verh\u00e4ltniss zu Demjenigen, was wir ihre Objekte nennen, ergaben sich hierbei einige Ausblicke, welche auch f\u00fcr sich genommen von Interesse sein d\u00fcrften.\nEs soll zum Schl\u00fcsse nur noch vor einer Ueberspannung von B\u00df.\u2019s Erkl\u00e4rungsprinzip gewarnt werden, zu der vielleicht eine Stelle in dessen Vortrag verleiten k\u00f6nnte. B\u00df. verweist n\u00e4mlich (S. 16) auf einen Ausspruch des Mathematikers Gauss, wonach als Gr\u00f6fse nur Dasjenige zu betrachten sei, worin [(,,wie in der Zahl die Einheiten, im Schuh die Zolle\u201c) gleiche Theile unter-\n1 Vgl, B\u00df.\u2019s \u201ePsychologie vom empirischen Standpunkt\u201c.","page":68},{"file":"p0069.txt","language":"de","ocr_de":"Die Intensit\u00e4t der Gef\u00fchle.\n6\u00d6\n-schieden werden k\u00f6nnten, \u2014 und scheint dieser Ansicht b\u00e8\u00eez'tf* pflichten, indem er (S. 17) zu zeigen versucht, dass auch nach seiner Auffassung die Intensit\u00e4t als eine \u201eaus Theilen sich zusammensetzende44 Gr\u00f6sse betrachtet werden m\u00fcsse. Dies k\u00f6nnte nun den Irrthum nahelegen, als habe Br. mit seiner Intensit\u00e4t^ theorie das Mittel angegeben, um den Begriff der untheilbareii Gr\u00f6sse \u00fcberhaupt als \u00fcberfl\u00fcssig aus der Welt zu schaffen. Dieser Folgerung aber m\u00fcfsten wir \u2014 trotz aller schuldigen Ehrfurcht vor der Autorit\u00e4t eines Gauss *\u2014 auf das Entschiedenste entgegentreten. \u2014 Man mag der Intensit\u00e4tstheorie Br.\u2019s auf dem Gebiete des Physischen und des Psychischen volle G\u00fcltigkeit einr\u00e4umen \u2014 auf Delationen, allgemein fundirte Inhalte1 wird sie doch niemand \u00fcbertragen zu k\u00f6nnen glauben. So zweifellos es aber verschieden grosse Aehnlichkeiten, Verschiedenheiten (wohl zu unterscheiden von Unterschieden !)2 Geschwindigkeiten, Beschleunigungen giebt, so zweifellos giebt es auch untheilbare Gr\u00f6ssen im eigentlichen Sinne des Wortes. (Dass^ jene Gr\u00f6ssen durch Zahlenverh\u00e4ltnisse pr\u00e4zisirt werden k\u00f6nnen* ist kein Beweis f\u00fcr ihre Theilbarkeit, ebensowenig wie der Umstand, dass viele unter ihnen auf theilbare Gr\u00f6ssen fundirt sind.) Ja, genau besehen, beruft sich Br. bei seinem Erkl\u00e4rungsversuch der Intensit\u00e4t selbst in letzter Linie auf eine Gr\u00f6sse jener weiteren Kategorie. \u201eDie Intensit\u00e4t ist eine Gr\u00f6sse, so gewiss sie d\u00e4s Maass der Dichtigkeit der sinnlichen Erscheinung ist\u201c (S. 17). Das Maass der Dichtigkeit kann allerdings durch eine Zahlengr\u00f6sse \u2014 einen Bruch \u2014 ausgedr\u00fcckt werden. Aber Dasjenige, was durch dieses Maass gemessen wird, die Gr\u00f6sse der Dichtigkeit selbst, ist eine untheilbare Gr\u00f6sse, da sich nicht eine gr\u00f6ssere Dichtigkeit, sondern nur das Dichte (d. h. Dasjenige, was Dichtigkeit hat) aus kleineren Theilen zusammensetzen l\u00e4sst. Dies, geht schon daraus hervor, dass die Dichtigkeit, so wie Br. sie. auffasst, in der vollkommenen Erf\u00fclltheit ihr un\u00fcberschreitbares Maximum besitzt, w\u00e4hrend jede Gr\u00f6sse, welche sich aus Theilen\n1\tYgl. A. Meinong, \u201eZur Psychologie der Komplexionen und Kelationenfi. Zeitschr. f. Psychol. Bd. II. S. 245 ff.\n2\tYgl. hier\u00fcber und \u00fcber die folgenden Bestimmungen A. Meinong, \u201elieber die Bedeutung des WEBEit\u2019schen Gesetzes\u201c, Zeitschr. f. Psychol. Bd. XI, und meine dort zitirte Abhandlung \u201eZur Philosophie der Mathematik\u201c, Vierteljahrsschr. f. wissenseh. Phil. XY. 3.","page":69},{"file":"p0070.txt","language":"de","ocr_de":"70\nChristian Ehrenfels.\nzusammensetzen l\u00e4sst, durch Hinzuf\u00fcgung von Theilen auch Yer-gr\u00f6ssert und somit \u00fcber jedes endliche Maass hinaus gesteigert werden kann.\nDas Aeusserste, was Br.\u2019s Intensit\u00e4tstheorie nach der be-zeichneten Richtung leisten k\u00f6nnte, w\u00e4re die Eliminirung des Begriffes der untheilbaren Gr\u00f6sse aus dem Gebiete des Realen.","page":70}],"identifier":"lit30282","issued":"1898","language":"de","pages":"49-70","startpages":"49","title":"Die Intensit\u00e4t der Gef\u00fchle: Eine Entgegnung auf Franz Brentano's neue Intensit\u00e4tslehre","type":"Journal Article","volume":"16"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:25:48.508552+00:00"}