Open Access
{"created":"2022-01-31T15:12:00.859884+00:00","id":"lit30283","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Hillebrand, Franz","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 16: 71-151","fulltext":[{"file":"p0071.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\nVon\nDr. Feanz Hillebeand,\nord. Professor d. Philosophie an der Universit\u00e4t in Innsbruck.\n(Mit 1 Figur.)\nI. Das Objekt der Kontroverse und der gegenw\u00e4rtige\nStand derselben.\nIn den Jahren 1859 und 1861 hat Wundt 1 eine Reihe von Untersuchungen ver\u00f6ffentlicht, welche den Einfluss von Akkom-modation und Konvergenz auf die Tiefenlokalisationen zum Gegenst\u00e4nde haben. Was die Bedeutung der Akkommodation f\u00fcr das Tiefensehen anlangt, so d\u00fcrfte Wundt wohl der Erste gewesen sein, der dieselbe einer systematischen Pr\u00fcfung unterwarf; \u00fcber die Bedeutung der Konvergenz waren zwar schon vor Wundt etliche Versuche gemacht worden, aber \u2014 soviel mir bekannt \u2014* meistens unter Bedingungen, welche eine simultane Stereoskopie und somit eine relative Lokalisation eines Objektes im Ver-h\u00e4ltniss zu einem andern nicht ausschlossen \u2014 wie das immer der Fall ist, sobald ausser dem fixirten Objekt noch ein anderes unterscheidbares Objekt im Gesichtsfeld vorhanden ist. Die Resultate Wundt\u2019s haben denn auch in die meisten physiologischen, ophthalmologischen und psychologischen Kompendien Eingang gefunden.\n1 Zuerst erschienen in der Zeitschr. f. rationelle Medizin von Henle u. JPfeuffek, III. Reihe, Bd. VII und XII; wiederabgedruckt in \u201eBeitr\u00e4ge zur Theorie der Sinneswahrnehmung\u201c, Leipzig und Heidelberg 1862.","page":71},{"file":"p0072.txt","language":"de","ocr_de":"72\nFranz Hillebrand.\nMir schienen diese Untersuchungen in mehrfacher Beziehung nicht einwandfrei zu sein. Ich habe aus diesem Grunde im Jahre 1893 die Frage nach der Bedeutung von Akkommodation und Konvergenz f\u00fcr die Tiefenlokalisation von Neuem in Angriff genommen und die Ergebnisse dieser Untersuchung im VII. Bande dieser Zeitschrift ver\u00f6ffentlicht.1 Wie ich kurz erw\u00e4hnen will, bestanden meine wesentlichsten methodischen Abweichungen von Wundt erstens darin, dass ich Binokularversuche prinzipiell ausschloss (aus Gr\u00fcnden, die ich unten noch einmal in Erinnerung bringen werde) und zweitens darin, dass ich als Fixationsobjekte nur solche Gegenst\u00e4nde w\u00e4hlte, welche nach der einen Dimension sich stets \u00fcber den ganzen erleuchteten Theil des Gesichtsfeldes erstreckten, nach den anderen Dimensionen aber schlechterdings ohne Ausdehnung waren, so dass also ein N\u00e4her- oder Fernerr\u00fccken des Objektes auf keinen Fall eine Aenderung des scheinbaren Durchmessers (und damit der scheinbaren Gr\u00f6sse) zur Folge haben konnte und daher ein Erkennen des N\u00e4her oder Ferner auf Grund dieses Kriteriums (sc. der Bildgr\u00f6ssenver\u00e4nderung) jedenfalls g\u00e4nzlich ausgeschlossen war, Ebenso war f\u00fcr. Ausschlufs parallaktischer Verschiebungen durch etwa unterscheidbare Details, sowie \u00fcberhaupt f\u00fcr den Ausschluss aller sonstigen sog. empirischen Lokalisationsmotive strenge Sorge getragen. Auf diese Weise glaubte ich von s\u00e4mtlichen Lokalisationsmotiven, die man \u00fcberhaupt als f\u00fcr die Tiefendimension maassgebend erachten konnte, nur mehr die Ak-kommodations\u00e4nderungen und die mit diesen, verm\u00f6ge der bekannten physiologischen Assoziation, verkn\u00fcpften Konvergenz\u00e4nderungen bewahrt zu haben. Der Erfolg dieser Versuche konnte von Vornherein nur in einer von den folgenden zwei Arten ausfallen: entweder wurden die Entfernungs\u00e4nderungen des Fixationsobjektes erkannt oder sie wurden nicht erkannt; ersterenfalls w\u00fcrden, wie ich damals auseinandersetzte, die Versuche nicht entschieden haben, ob die Akkommodations\u00e4nderung allein oder die gleichzeitig mit ihr stattfindende Konvergenz\u00e4nderung allein die Grundlage f\u00fcr das Erkennen der Distanz\u00e4nderung ab-gaben, eben weil die Konvergenz auch bei Ausschluss des andern Auges vom Sehakt sich dennoch mit der Akkommodation gleieh-\n* \u201eDas Verh\u00e4ltniss von Akkommodation und Konvergenz zur Tiefenlokalisation\u201c, diese Zeitschr. Bd. VII, S. 97 \u2014 151.","page":72},{"file":"p0073.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n73\nzeitig mit\u00e4ndert. Diesfalls w\u00fcrden also die Versuchsergebnisse einer doppelten Interpretation f\u00e4hig gewesen sein. W\u00fcrden ab\u00e8r die Versuche entgegengesetzt ausfallen, d. h. w\u00fcrde sich zeigen, dass Entfernungs\u00e4nderungen des Objektes nicht erkannt werden, dann war \u2014 so sagte ich mir \u2014 die Frage sowohl f\u00fcr die Ak-kommodations- als auch f\u00fcr die Konvergenz\u00e4nderungen im negan tiven Sinne entschieden.\nThats\u00e4chlieh haben nun meine damals angestellten Versuche dieses negative Resultat ergeben. Auf Grund von Ueberlegungen, auf die ich noch sp\u00e4ter eingehend zu sprechen kommen werde, glaubte ich mich darum zu dem Schl\u00fcsse berechtigt, dass eine Tiefenwahrnehmung auf Grund centripetaler Muskelempfindungen, sei es, dass diese von der Akkommodationsmuskulatur, sei es, dass sie von der \u00e4usseren Augen.-muskulatur herr\u00fchren, \u00fcberhaupt nicht existire.\nDie Ergebnisse dieser Arbeit sind inzwischen von zwei Psychologen gepr\u00fcft und bestritten worden: im Jahre 1895 von E. T. Dixon 1, und sodann erst k\u00fcrzlich von Maximilian Arber 2. Beide Herren haben meine Versuche wiederholt und deren unmittelbare Ergebnisse \u2014 von graduellen Abweichungen abgesehen \u2014 best\u00e4tigt gefunden;: keiner von ihnen hat sich aber mit meinen Schlussfolgerungen befreunden k\u00f6nnen, vielmehr halten Beide daran fest, dass man Tiefenunterschiede auf Grund centripetaler Muskelempfindungen wahrnehmen k\u00f6nne. Indessen geht Arrer in seiner Opposition viel weiter als Dixon ; nicht nur die Schlussfolgerungen h\u00e4lt er f\u00fcr verfehlt; vielmehr scheint ihm meine ganze Versuchsmethode von vornherein ungeeignet zur Erledigung der Frage, der sie dienen sollte. Hatte ich als Objekte Kanten gew\u00e4hlt, also Begrenzungslinien, die nach der Breite schlechterdings ausdehnungslos waren, so kehrt Arrer wieder zu den F\u00e4den zur\u00fcck, die er allerdings m\u00f6glichst d\u00fcnn w\u00e4hlt. Hatte ich Bin okular versuche prinzipieller Bedenken wegen von vornherein ausgeschlossen, so experimentirtj Arrer seinerseits sowohl binokular als monokular. Hatte ich grunds\u00e4tz-\n1\t\u201eOn the Relation of Accommodation and Convergence to our Sense of Depth\u201c im t,Mindil New Series Vol. IV. S. 195\u2014212.\n2\tUeber die Bedeutung der Akkommodations- und Konvergenzbewegungen f\u00fcr die Tiefenwahrnehmung\u201c in Wundt\u2019s Philos. Studien XIII. Bd. S. 116\u2014161 und S. 222\u2014304.","page":73},{"file":"p0074.txt","language":"de","ocr_de":"74\n\u25a0Franz Hillebrand.\nlieh nur successive Vergleiche zugelassen, so h\u00e4lt es Arrer wieder nicht f\u00fcr \u00fcberfl\u00fcssig ihnen auch noch Simultanvergleiche zuzugesellen. Ja nicht einmal der Boden der allgemeinen logischen Methodenlehre ist uns Beiden gemeinsam: w\u00e4hrend ich gemeint hatte, der Einfluss der Akkommodation (und Konvergenz) sei am Besten zu studiren, wenn man nicht allein auf diejenigen F\u00e4lle achtet, in welchen die Akkommodation mit andern notorischen Lokalisationsmotiven zusammen besteht, sondern vor Allem auf diejenigen, in welchen die Akkommodation k\u00fcnstlich isolirt wird, da es doch gar kein Interesse hat sonstige Mitursachen, von denen schon anderw\u00e4rts bekannt ist, dass sie Tiefenvorstellungen ausl\u00f6sen k\u00f6nnen, mit der Akkommodation Zusammenwirken zu lassen und so jedenfalls Ergebnisse zu schaffen, von denen es nicht sicher ist, ob sie nicht auf Rechnung jener Mitursachen allein zu setzen sind \u2014 w\u00e4hrend ich also auf Grund solcher Ueberlegungen auf m\u00f6glichste Isolirung der Akkommodation ausgegangen war, greift Arrer dieses Vorgehen schon an der Wurzel an. \u201eEs ist also,\u201c sagt er S. 303 \u201enicht nothwendig, um die Leistung nur eines Motivs kennen zu lernen, alle \u00fcbrigen auszuschliessen, ja, es ist sogar irrig, zu meinen, dass man auf diesem Wege zu besserer Erkenntniss gelangen k\u00f6nne, denn die einzelnen Motive sind niemals f\u00fcr sich allein wirksam, sondern nur in Gemeinschaft mit andern. Die Untersuchungen im Laboratorium haben es doch mit Fragen zu thun, die dem wirklichen Bewusstseinsleben entnommen sein sollen; diese Untersuchungen werden aber nothwendig werthlos werden, oder doch nur als negative Erg\u00e4nzung zu andern in Betracht kommen k\u00f6nnen, wenn darin Bedingungen geschaffen werden, die mit dem wirklichen Leben schlechterdings nichts mehr gemeinsam haben.\u201c\nIch bin nun freilich der Ansicht, dass, wenn man psychische Erscheinungen unter Bedingungen stellt, welche von den normalen Bedingungen des gew\u00f6hnlichen Lebens so weit wie nur immer abweichen, man es doch noch immer mit Fragen des \u201ewirklichen\u201c Bewusstseinslebens zu thun hat; auch glaube ich, dass sich die Naturforscher bestens bedanken w\u00fcrden, wenn man ihnen die k\u00fcnstliche Isolirung der einzelnen Theilursachen einer Erscheinung verwehren w\u00fcrde mit der Motivirung, sie schafften hier Bedingungen, \u201edie mit dem wirklichen Leben schlechterdings nichts mehr gemeinsam haben.\u201c Doch will ich sp\u00e4teren","page":74},{"file":"p0075.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n75\nkritischen Bemerkungen nicht vorgreifen; ich wollte dem Leser nur ein beil\u00e4ufiges Bild von der Divergenz der Ansichten meines Kritikers und der meinigen entwerfen, um damit die Weitl\u00e4ufigkeit der folgenden Entgegnung zu rechtfertigen.\nNeues Thatsachenmateriale \u2014 das will ich gleich jetzt bemerken \u2014 werde ich nicht beibringen. Arrer und Dixon haben bei Wiederholung meiner Versuche die unmittelbaren Ergebnisse derselben best\u00e4tigt gefunden \u2014 abgesehen von einigen graduellen Abweichungen; hier w\u00e4re also eine weitere H\u00e4ufung von Versuchen ziemlich bedeutungslos. Weiter hat besonders Arrer ein nicht unbetr\u00e4chtliches Material an neuen Versuchen beigehracht, deren Bedingungen von den meinigen nach verschiedenen Seiten hin abweichen. So scheint es mir denn f\u00f6rderlich, ehe man an weitere Variationen der Versuchsumst\u00e4nde geht, vorerst einmal nachzusehen, was sich aus den schon vorhandenen Versuchen erschlossen l\u00e4sst. Dabei wird sich die Gelegenheit finden neben der Kritik der beiden genannten Arbeiten auch in der positiven L\u00f6sung des einen oder andern, auf die Tiefenlokalisation bez\u00fcglichen Problems einen Schritt weiter zu machen. Namentlich hoffe ich in die Frage nach der Lokalisation des \u201eKernpunktes\u201c und der \u201eKernfl\u00e4che\u201c einige Kl\u00e4rung zu bringen und so den gegen\u00fcber Hering so oft erhobenen Vorwurf, dass seine Theorie nur den relativen Lokalisationen Rechnung trage, w\u00e4hrend derjenige Punkt, relativ zu welchem alle andern Ortsbestimmungen erfolgen sollen, in seiner Lokalisation ganz unbestimmt sei und somit sein ganzes Raumsystem in der Luft h\u00e4nge, als einen hlos scheinbaren und durch Missverst\u00e4ndnisse verursachten dar-zuthun.\nZun\u00e4chst aber wende ich mich zu derjenigen Kritik, welche Arrer an meiner Versuchsanordnung ge\u00fcbt hat. Sie bezieht sich haupts\u00e4chlich auf zwei Momente :\n1.\tauf die Anwendung solcher Fixationsobjekte, die beim Wechsel der Entfernung keine Aeiiderung des scheinbaren Durchmessers zulassen; und\n2.\tauf den prinzipiellen Ausschluss aller binokularen Versuche, der von mir als wesentlich behauptet von Arrer aber verworfen worden ist.\nIm Anschluss an Punkt 1 will ich auch die Frage er\u00f6rtern, ob Fixationsobjekte von der Art wie sie Arrer angewendet","page":75},{"file":"p0076.txt","language":"de","ocr_de":"76\nFranz Hillebrand.\np'\u00e4den) \u00fcberhaupt eine eindeutige Interpretation der Versuche .zulassen.\nIch habe bei meinen Versuchen Begrenzungslinien zwischen zwei Fl\u00e4chen als Objekte ben\u00fctzt. Die eine H\u00e4lfte des Gesichtsfeldes wird durch einen schwarzen Kartonschirm gebildet, dessen vertikale, das Gesichtsfeld halbirende Kante scharf geschnitten ist, so dass an ihr gar kein Detail zu sehen ist; der Schirm ist nach der Tiefe verschiebbar. Die andere H\u00e4lfte bildet eine matte weifse Glastafel, die durch zwei Lampen gleichm\u00e4ssig beleuchtet ist und ebenfalls keine Details erkennen l\u00e4sst; sie ist. weiter entfernt als der bewegliche Schirm und steht fest. Die Umgrenzung des Gesichtsfeldes ist gegeben durch einen kurzen Tubus, dessen Kontur wegen der sehr geringen Entfernung vom \u00c4uge unter allen Umst\u00e4nden stark verwaschen erscheint.1\nBei der einen Versuchsreihe wird der Schirm bei fortw\u00e4hrend fixirendem Blicke so verschoben, dass die Akkommodation ohne Schwierigkeit folgen kann. Bei der zweiten Versuchsreihe ist die Aenderung der Entfernung keine kontinuirliche sondern eine abrupte. Dabei werden zwei Schirme angewendet, ein linker und ein rechter, und zwar in der Weise, dass in dem Augenblicke, in welchem z. B. der linke Schirm aus dem Gesichtsfeld verschwindet, der rechte in dasselbe eintritt. Die vertikale Grenzlinie des zweiten Schirmes nimmt genau die Stelle ein, welche vorhin die des ersten innegehabt hatte. Die Einrichtung ist so getroffen, dass der Wechsel der Schirme mit einem pl\u00f6tzlichen Kuck erfolgen kann.\nBei der ersten Versuchsanordnung (kontinuirliche Verschiebung) konnte keiner der Beobachter die Entfernungs\u00e4nderung mit Sicherheit erkennen, selbst wenn die gr\u00f6ssten, innerhalb der individuellen Akkommodationsbreite der einzelnen Beobachter m\u00f6glichen, Exkursionen gemacht wurden. Beginn und Ende der Bewegung konnte keiner der Beobachter richtig angeben; \u00fcber die Richtung der Bewegung wmrde in der Mehrzahl der F\u00e4ll& das Urtheil ganz zur\u00fcckgehalten, wenn aber Urtheile abgegeben wurden, so sehr oft falsche.2\n1\tN\u00e4heres \u00fcber die Versuchseinrichtung findet man in der eitirten Abhandlung S. 108 ff.\n2\tGenaueres in der eitirten Abhandlung 8. 118 ff.","page":76},{"file":"p0077.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n77\nIn der zweiten Versuchsreihe (abrupter Wechsel zweier Kanten) unterlagen die Ergebnisse gr\u00f6sseren individuellen Verschiedenheiten; doch ist aus allen Beobachtungen zu erkennen gewesen, dass hier die Bedingungen f\u00fcr die Beurtheilung des Ferner und N\u00e4her entschieden g\u00fcnstigere waren als bei kon-tinuirlicher Aenderung der Distanz. So konnten Entfernungs-Unterschiede, die einer Differenz von 1 Dioptrie entsprachen, von manchen Beobachtern konstant und mit Sicherheit erkannt werden.1\nNun hat Arrer bereits die Versuchsanordnung als prinzipiell verfehlt angegriffen.\nSein Gedanke ist, kurz gesagt, der : die Lokalisation des Objektes B relativ zum Objekte A ist nur m\u00f6glich, wenn die absolute Lokalisation von A in bestimmter und anschaulicher Weise vor sich geht. \u201e. . . ich meine, wo der Beobachter, sei es aus was immer f\u00fcr einem Grunde, nicht dazu gelangt sich eine solche anschauliche Vorstellung von der Distanz eines Objektes zu bilden, er auch nicht erkennen kann, ob eine ihm sp\u00e4ter gezeigte Distanz gr\u00f6sser oder geringer ist als eine unmittelbar vorher angeschaute.\u201c 2\nIn meinen Versuchen \u2014 so geht das Argument weiter \u2014 ist nun thats\u00e4chlich kein Anhaltspunkt f\u00fcr eine absolute Lokalisation der ersten Kante in bestimmter und anschaulicher Weise gegeben: also darf man schon von vornherein nicht verlangen, dass die zweite Kante relativ zur ersten richtig lokalisirt werden kann. Meine Resultate konnten daher nur negativ ausfallen und mein Schluss, dass wir Tiefenunterschiede nicht auf Grund von Muskelempfindungen erkennen k\u00f6nnen, war also unberechtigt. Er w\u00e4re berechtigt gewesen, wenn ich f\u00fcr Umst\u00e4nde gesorgt h\u00e4tte, die eine bestimmte a b s o 1 u t e Lokalisation des ersten Objektes w\u00fcrden m\u00f6glich gemacht haben.\n\u201eWie sollte da aber,\u201c so fragt Arrer, \u201eeine relative Tiefensch\u00e4tzung m\u00f6glich sein, wenn der Beobachter \u00fcberhaupt keine bestimmte Vorstellung von der Entfernung der ersten Kante hat?\u201c (S. 285.)\nDie \u201eAkkommodationsbewegungen und -empfindungen konnten nicht schon allein zum Sch\u00e4tzen der Tiefe verhelfen, weil\n1 N\u00e4heres dar\u00fcber in der citirten Abhandlung S. 126 ff.\n\u00f6 a. a. O. S. 258 und an zahlreichen anderen Stellen.","page":77},{"file":"p0078.txt","language":"de","ocr_de":"78\nFranz Hillebrand.\nes an einer bestimmten und anschaulichen Tiefeny or Stellung fehlte, innerhalb deren sie eine eindeutige Rolle spielen konnten.\u201c (S. 292.)\nAngenommen, es kn\u00fcpften sich an die Akkommodations-bezw. Konvergenzempfindungen Tiefenvorstellungen, so seien diese Empfindungen \u2014 meint Arrer \u2014 f\u00fcr sich allein doch nicht im Stande solche Tiefenvorstellungen acossiativ wachzurufen; es geh\u00f6rten dazu noch \u201egewisse charakteristische Eigenschaften des Objektes selbst,\u201c Eigenschaften, die eben bei meiner Versuchsanordnung fehlten. \u201eEin isolirter Punkt oder eine mathematische Linie aber ist in diesem Sinne kein Objekt.\u201c (S. 296.)\nDie Ueberlegungen, welche mich zu meiner Versuchsanordnung veranlassten, enthielten, so meint Arrer, \u201epsychologisch Unm\u00f6gliches\u201c. Man m\u00fcsse n\u00e4mlich bedenken, dass jede Art von Tiefenlokalisation selbstverst\u00e4ndlich relativ zum vorstellenden Subjekt stattfinden m\u00fcsse, und dass ferner in der Vorstellung, welche lokalisirt werden soll, diejenigen Raumwerthe bereits enthalten sein m\u00fcssen, die ihre Lokalisation bedingen. \u201eWelche Raum-, vor allem Tiefenwerthe besitzt aber eine mathematische Linie auf dem mittleren L\u00e4ngsschnitte nur einer Netzhaut? Keine andern als Null. Und um dieses Null zu lokalisiren, fehlt dann jedes Motiv. Auch der bewusste Wille vermag es nicht, denn hier fehlt ihm erst recht eine Vorstellungsgrundlage.\u201c (S. 298.)\nArrer hat durch die Aussagen, welche seine Versuchspersonen \u00fcber ihr Verhalten sowohl bei binokularen als auch monokularen Beobachtungen machten, seine Behauptung von der Abh\u00e4ngigkeit der relativen Lokalisation von der absoluten auch empirisch zu rechtfertigen versucht. Ehe ich aber darauf sowie auf die oben citirten Bemerkungen kritisch eingehe, will ich einige Worte \u00fcber den Begriff der unbestimmten Lokalisation vorausschicken.\nII. Ueber den Begriff \u201eUnbestimmte Lokalisation\u201c.\nWenn im absolut leeren Gesichtsfeld etwa ein Faden von unbekannter Dicke und ohne unterscheidbare Details oder eine Kante (wie in meinen Versuchen) sichtbar wird, und wenn ein andermal ein ebensolches Objekt (Faden, Kante) in einem mit","page":78},{"file":"p0079.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n79\nallen m\u00f6glichen Objekten erf\u00fcllten Sehfeld, etwa im Studir-zimrner, erscheint, so bemerkt Jedermann, dass ihn der ganze Vorstellungskomplex im zweiten Fall sofort in Stand setzt, ein bestimmtes (ob richtiges oder unrichtiges ist hier gleichgiltig) Urtheil \u00fcber die Tiefenlage des betreffenden Objektes abzugeben, dass er aber im ersten Falle sich dazu nicht in gleichem Maasse bef\u00e4higt f\u00fchlt. Dieser unmittelbar bemerkbare Unterschied zwischen beiden Situationen ist es, den der Beobachter mit den Worten charakterisirt, das^ Objekt sei im einen Falle bestimmt zu lokalisiren, im andern nicht. Ich will dazuf\u00fcgen, dass dieses Bewusstsein der Unbestimmtheit sowohl bei monokularer als auch bei binokularer Betrachtung vorhanden sein kann, dass es aber im ersteren Falle ungleich eindringlicher ist. Wundt z. B. bat dies in beiden F\u00e4llen beobachtet und Aeeee stimmt in Betreff der monokularen Beobachtung Wundt zu,1 w\u00e4hrend er f\u00fcr die binokularen Versuche der Ansicht zuneigt, dass die absolute Lokalisation eine bestimmte sei (a. a. O. S. 232). Doch wie dem auch immer sei, uns interessirt im Augenblick nur die Frage, was der Ausdruck \u201eunbestimmt lokalisiren\u201c \u00fcberhaupt f\u00fcr einen Sinn hat. Zu sagen, ein Sebobjekt habe eine Tiefenlage, aber keine bestimmte, das w\u00e4re ein offenbarer Nonsens, dessen sich \u00fcbrigens Aeeee nicht schuldig gemacht bat. Auch das kann man vern\u00fcnftigerweise nicht sagen, dass ein solches Sebobjekt gar keine Tiefenlage habe. Aeeee meint zwar, wie ich oben erw\u00e4hnt habe, eine mathematische Linie, auf dem mittleren L\u00e4ngsschnitt eines Auges sich abbildend, habe den Tiefenwert Null und k\u00f6nne daher nicht lokalisirt werden. Ich glaube aber, dass selbst Aeeee das nicht in dem Sinne verstanden wissen wollte, dass diese Vorstellung schlechterdings gar keine Beziehung zur dritten Dimension des Sehraums habe. Denn schon das unmittelbare Urtheil, dass sie diesseits des beleuchteten Hintergrundes liege, involvirt eine solche Beziehung zur dritten Dimension. Und auch wenn man einen einzelnen Faden monokular betrachtet (was Aeeee gegen\u00fcber meinen Kantenversuchen f\u00fcr die bessere Versuchsanordnung h\u00e4lt), so mag man \u00fcber seine absolute Entfernung noch so sehr im Unklaren sein, die Beziehung zur dritten Dimension\n1 Vgl. seine Abhandlung S. 135.","page":79},{"file":"p0080.txt","language":"de","ocr_de":"80\nFranz Hillebran\u00e4.\nliegt doch vor, dass man ihn jedenfalls vor oder in die Hinter-grundsfl\u00e4ehe, niemals aber jenseits derselben lokalisirt.\nArber gegen\u00fcber k\u00f6nnte ich auch ein argumentum ad hominem ins Feld f\u00fchren: bei meinen monokularen Kantenversuchen war es, wenn die Kanten abrupt gewechselt wurden, m\u00f6glich, bei hinreichend grossem Entfernungsunterschied mit Sicherheit anzugeben, ob die zweite Kante vor oder hinter der ersten gelegen sei. Wenn es nun wahr ist, was Arber sagt, dass ein relatives Distanzurtheil nur m\u00f6glich sei, wenn man sich mne bestimmte Vorstellung von der absoluten Entfernung der ersten Kante macht, dann darf man schliessen : wo die relative Entfernung mit Sicherheit erkannt wurde, dort musste die erste Kante auch mit Bestimmtheit lokalisirt worden sein. Ich betone aber, dass ich dieser letzteren Erw\u00e4gung nur den Werth eines argumentum ad hominem beilege.\nWas man in Wahrheit meint, wenn man von einer \u201eunbestimmten Lokalisation\u201c spricht, ist, dass die gesummten \u00e4usseren Bedingungen nicht hinreichen, um dem Sehobjekt ein bestimmtes Ortsdatum nach der dritten Dimension zu verschaffen, entweder \u00fcberhaupt oder innerhalb gegebener Grenzen. Es Hegt kein durch die \u00e4usseren Bedingungen bestimmter Zwang vor, eine mathematische Linie, die sich auf dem mittleren L\u00e4ngsschnitt einer Netzhaut abbildet im sonst leeren Gesichtsfeld in diese oder in jene Entfernung zu lokalisiren. Darin stimme ich mit Arrer \u00fcberein und auch in der Definition des Begriffes \u201ebestimmte Lokalisation\u201c sind wir einig, insofern auch Arrer dort von einer solchen spricht, wo \u201edie Entfernungs vor Stellung eine von gleichen \u00e4usseren Bedingungen bestimmte und nicht von Fall zu Fall wechselnde ist\u201c (a. a. O. S. 232).\nWo aber die \u00e4usseren Bedingungen zu einer bestimmten Tiefenlokalisation nicht hinreichen, dort ist den verschiedensten inneren Bedingungen vollkommen freier Spielraum gelassen. Die Tiefenvorstellung kann dann von einem Momente zum anderen wechseln; in jedem einzelnen Momente ist sie wohl eine bestimmte, sie ist aber keine konstante, wie dies dort der Fall ist, wo sie durch die Gesammtheit der Reizverh\u00e4ltnisse (\u00e4ufsere Bedingungen) ein f\u00fcr alle Mal gegeben ist und daher nicht wechseln kann, so lange die \u00e4usseren Bedingungen dieselben bleiben. Das ist es eigentlich, was man unter \u201eunbestimmter Lokafisation\u201c versteht. Derartige Tiefenvorstellungen sind u. A. auch der Willk\u00fcr in hohem Maasse unterworfen, eben","page":80},{"file":"p0081.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n81\n.weil die \u00e4usseren Bedingungen gar keine bestimmte Lokalisation erzwingen. Beobachtungen dieser Art kann man bei haplo-skopisehen Versuchen jeden Augenblick machen. Bietet man in einem Spiegelhaploskope den beiden parallel gerichteten Augen je ein System feiner vertikaler F\u00e4den, die sich von gleichm\u00e4ssigen weissen Hintergr\u00fcnden ohne unterscheidbare Details abheben, so kann man sich das Verschmelzungsbild weiter und n\u00e4her vorstellen, obzwTar die Augen in Ruhe waren, kein scheinbarer Durchmesser sich ver\u00e4ndert hat, kurz alle \u00e4usseren Eigenschaften der Reize dieselben geblieben sind. Verwendet man unbelegte Glasspiegel, die im durchfallenden Lichte einen Hintergrund von bekannter Entfernung (aber auch ohne Merkpunkte) sehen lassen, so kann man auf diese Weise das Verschmelzungsbild auf diesem Hintergrund \u201eprojiziren\u201c ; und wenn die Entfernung dieses Hintergrundes auf Verlangen des Beobachters in bestimmter Weise ge\u00e4ndert wird, so kann man auch das Verschmelzungsbild in jeder Weise seine Entfernung wechseln lassen. Bildet ein St\u00fcck reinen Himmels den Hintergrund, so kann man das Bild auch auf den Himmel ,,projiziren\u201c. Bei derartigen Aenderungen bemerkt man auch, dass sich die scheinbaren lateralen Abst\u00e4nde der F\u00e4den des ganzen System mit\u00e4ndern und dass die scheinbare Dicke der F\u00e4den sich dementsprechend mit\u00e4ndert, so dass sie z. B. bei einer solchen Projektion auf den gleichm\u00e4ssigen Himmel wie dicke Dr\u00e4hte aus-sehen u. dergl. m. Und doch sind alle physiologischen Momente, die nur irgend auf die Tiefenvorstellung Bezug haben k\u00f6nnen, dieselben geblieben : die Netzhautbilder haben weder ihre Gr\u00f6sse noch ihre Lage ge\u00e4ndert, an den Disparationsverh\u00e4ltnissen war nichts ge\u00e4ndert (bezw. es waren \u00fcberhaupt keine Disparationen da, wenn das ganze Fadensystem in einer zur Frontalebene parallelen Ebene erschien), die Akkommodation war dieselbe und die Konvergenz war unver\u00e4ndert.\nMan wende nicht ein, dass durch den verschiedenen Hintergrund eine Aenderung in den \u00e4usseren Verh\u00e4ltnissen eingetreten sei. Gleiehm\u00e4ssig beleuchtete Fl\u00e4chen ohne unterscheidbare Details bieten ja keinen Hintergrund, der einen physiologischen Anlafs zu einer bestimmten Tiefenlokalisation abg\u00e4be. Dasjenige, was macht, dass ich das Faden-Verschmelzungsbild in eine bestimmte Entfernung lokalisire, ist nicht das Sehen, dass der Hintergrund eine bestimmte Distanz habe, etwa 5 m\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XYJ.\t6","page":81},{"file":"p0082.txt","language":"de","ocr_de":"82\nFranz Hillebrand.\nf\u00bb\nentfernt sei, sondern bloss das Wissen, dass er diese Entfernung habe, also ein Umstand, der nicht zu den \u00e4usseren Reizbedingungen geh\u00f6rt, sondern nur durch die Phantasievorstellung von einer gewissen Entfernung f\u00fcr die Lokalisation des Faden-Verschmelzungsbildes maassgebend wird.\nEs gelingt \u00fcbrigens auch bei unver\u00e4ndertem Hintergrund das Verschmelzungsbild variabel zu lokalisiren, je nachdem man sich von demselben (willk\u00fcrlich) diese oder jene Entfernungsvorstellung machen will. Nat\u00fcrlich wird dieser Effekt-\u00fcber erleichtert, wenn man sich vorher \u00fcber die Lage des Hintergrundes im Zimmer orientiert und erst dann an das Haploskop tritt. Wesentlich ist nur, dass man w\u00e4hrend der haploskopi-schen Beobachtung durch keine \u00e4ussere Bedingung zu einer bestimmten Lokalisation des Hintergrundes gezwungen ist.\nSo viel, glaube ich, darf man also mit Sicherheit behaupten : was man gew\u00f6hnlich unbestimmte Lokalisation nennt, ist thats\u00e4chlich nichts anderes als eine Lokalisation, welche durch keine Besonderheit des \u00e4usseren Reizes bestimmt ist. Sie ist bloss von centralen Bedingungen abh\u00e4ngig und kann daher bei konstanten \u00e4usseren Reizbedingungen variabel sein, sobald nur jene centralen Bedingungen variabel sind. In jedem einzelnen Moment ist sie aber eine bestimmte; der Ausdruck \u201eunbestimmt\u201c'sollte ersetzt werden durch den Ausdruck \u201evariabel bei konstanten \u00e4usseren Bedingungen\u201c. Bleibt man aber bei dem herk\u00f6mmlichen Terminus \u201eunbestimmte Lokalisation\u201c, so solLman sich wenigstens bewusst sein, dass damit kein deskriptives, sondern ein auf Entstehungsursachen bez\u00fcgliches, also genetisches Merkmal der Empfindung gemeint ist.\nArrer meint, die Ueberlegung, welche mich zu meiner Versuchsanordnung veranlasste, sei \u201evon vornherein g\u00e4nzlich verfehlt\u201c, sie trage \u201epsychologisch Unm\u00f6gliches\u201c in sich (S. 298). Und warum? Weil \u201ein der Vorstellung, welche lokalisirt werden soll, diejenigen Raumwerthe bereits enthalten sind und sein m\u00fcssen, die ihre Lokalisation bedingen\u201c, eine mathematische Linie aber unter den angegebenen Verh\u00e4ltnissen den Tiefenwerth Null besitze.\nDer erste Satz ist so, wie ihn Arrer ausspricht, falsch Wenn die \u201eRaumwerthe\u201c in der Vorstellung \u201eenthalten\u201c sind, dann sind sie ph\u00e4nomenale Eigenschaften der Vorstellung selbst; dann aber \u201ebedingen\u201c sie nicht den (scheinbaren) Ort des","page":82},{"file":"p0083.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n83\nVorstellungsinhaltes, sondern sie sind sein scheinbarer Ort Wenn ich sage: in einem Schallph\u00e4nomen ist dessen Intensit\u00e4t \u201eenthalten\u201c, dann kann ich mit \u201eIntensit\u00e4t\u201c nur eine bestimmte Eigenschaft dieses Schallph\u00e4nomens seihst meinen (und nicht etwa seiner Ursache), und ich darf nicht mehr sagen, das Laut oder Leise sei durch diese bestimmte Intensit\u00e4t \u201ebedingt\u201c, weil ja das Laut oder Leise eben diese Intensit\u00e4t ist. Versteht nun Arrer unter \u201eRaumwerth\u201c hier ein ph\u00e4nomenales Datum der Vorstellung selbst (d. h. also ihren scheinbaren Ort), dann ist die Behauptung, eine lokalisirte Vorstellung m\u00fcsse ihre Raum-werthe \u201ein sich enthalten\u201c zwar richtig, aber eine reine Tautologie, aus der man kein Argument machen kann.\nMeint aber Arrer unter \u201eRaumwerth\u201c eine Eigenschaft, die nicht der Vorstellung selbst, sondern ihren \u00e4usseren Bedingungen zukommt (etwa der Lage des Netzhautbildes, dem Konvergenzoder Akkommodationsgrad u. dergl.), dann ist es erstens gar nicht \u201evon vornherein\u201c verfehlt zu sagen, dass die Lokalisation einer Vorstellung auch noch von andern Momenten als blos von jenen \u00e4usseren Bedingungen abh\u00e4ngen kann, m. a. W., dass die Raumwerthe der \u00e4usseren Bedingungen der Vorstellung die Lokalisation der Vorstellung selbst nicht immer eindeutig zu bestimmen brauchen; und zweitens ist eine derartige Behauptung weit entfernt von vornherein verfehlt zu sein, vielmehr ein Ausdruck f\u00fcr zahlreiche Erfahrungen, von denen gewiss auch Arrer die eine oder andere kennen wird. Ich habe oben auf einige derselben aufmerksam gemacht. Ich will noch hinzuf\u00fcgen, dass das monokulare Invertiren perspektivischer Zeichnungen ebenfalls hierher geh\u00f6rt, wobei die blose Absicht hinreicht, dieselbe Kante oder denselben Eckpunkt nach vorn oder nach r\u00fcckw\u00e4rts zu lokalisiren, w\u00e4hrend s\u00e4mmtliche periphere physiologische Bedingungen konstant bleiben. In der Zeichnung selbst, bezw. in ihrem Netzhautbild liegt gar kein Motiv, den betreffenden Eckpunkt so oder anders zu lokalisiren. In diesem Sinne k\u00f6nnte Arrer ebenfalls sagen, er habe den Tiefenwerth Null, und um dieses Null zu lokalisiren, fehle jedes Motiv. \u201eAuch der bewusste Wille vermag es nicht, denn hier fehlt ihm erst recht eine Vorstellungsgrundlage\u201c (S. 298).\nAnmerkung. Ich verstehe \u00fcberdies die Begr\u00fcndung \u201edenn hier fehlt etc.\u201c nicht recht. Verlangt Arrer, dass diese \u201eVorstellungsgrundlage\u201c, schon ehe\nsich der Wille auf sie richtet, einen bestimmten scheinbaren Ort habe ? Das\n6*","page":83},{"file":"p0084.txt","language":"de","ocr_de":"84\tFranz Hillebrand.\n\u00ab\n\u2022\nwohl kaum; denn wenn sie schon vorher durch \u00e4ussere Bedingungen bestimmt lokalisirt war, dann hat der Wille hier \u00fcberhaupt nichts mehr zu Ihun. Oder geh\u00f6rt der bestimmte (scheinbare) Ort noch nicht zu jener \u201eVorstellungsgrundlage\u201c? Nun, dann bringt ihn eben die vom Willen geleitete Phantasie hinzu, oder \u2014 genauer ausgedr\u00fcckt \u2014 der Wille w\u00e4hlt von den verschiedenen scheinbaren Orten, welche verm\u00f6ge der unzureichenden \u00e4usseren Bedingungen alle gleich m\u00f6glich sind, einen bestimmten aus. Der Vorgang ist hier um nichts r\u00e4thselhafter als alle jene bekannten F\u00e4lle, in welchen die sog. sekund\u00e4ren oder \u201eempirischen\u201c Lokali-sationsmotive wirksam sind. Wenn ich ein ebenes Liniensystem (monokular) als perspektivische Darstellung eines dreidimensionalen Gebildes \u201eauffasse\u201c, wenn ich eine Ecke ferner, eine andere n\u00e4her lokalisire, so liegt in den gesammten \u00e4usseren Bedingungen nichts, was mich gerade zu dieser Lokalisation veranlasste. Das Bild selbst kann unendlich vieler perspektivischer Interpretationen f\u00e4hig sein. Dass gerade die eine thats\u00e4ch-lich stattfindet, das ist eine Folge centraler Bedingungen, n\u00e4mlich der Nachwirkung, welche fr\u00fchere \u00e4hnliche, aber dreidimensionale Vorstellungsgebilde nun auch auf die gegenw\u00e4rtige Vorstellung aus\u00fcben, die von Seiten der \u00e4usseren Reizbedingungen nach der dritten Dimension nicht bestimmt ist. Wer niemals eine geradlinig begrenzte und nach drei Dimensionen sich erstreckende Figur gesehen h\u00e4tte (was nat\u00fcrlich nur durch die Wirkung der Disparation m\u00f6glich ist), w\u00fcrde bei monokularer Betrachtung einer zweidimensionalen perspektivischen Zeichnung eines solchen K\u00f6rpers auch nie zu einer Lokalisation nach der Tiefe veranlasst sein. Ist also in diesem Falle die Wirkung vorhergegangener Tiefenvorstellungen auf die Lokalisation einer neuauftretenden, von Seite der \u00e4usseren Be: dingungen blos nach zwei Dimensionen bestimmten Vorstellung ausser allem Zweifel, dann sehe fch nicht ein, welche Schwierigkeiten es machen soll, zu begreifen, dass jene Bestimmtheit nach der dritten Dimension nicht unter Umst\u00e4nden auch willk\u00fcrlich herbeigef\u00fchrt werden kann. In den F\u00e4llen der \u201eempirischen Lokalisation\u201c (wie sie genannt zu werden pflegen \u2014 wozu u. a. auch die Lokalisation auf Grund der Perspektive geh\u00f6rt) ist eine vorhergegangene Tiefenvorstellung auf die neuauftretende Vorstellung wirksam, indem sie dieser letzteren, die ihrerseits durch die \u00e4usseren Reizbedingungen noch keine Tiefenbestimmtheit hat, eine solche Bestimmtheit nach der Tiefe ertheilt \u2014 und zwar geschieht das ohne Einfluss des Willens, lediglich auf Grund einer Aehnlichkeitsassociation. Wenn ich mir nun in einem anderen Falle eine bestimmte Tiefe willk\u00fcrlich vorstelle, warum sollte dann diese willk\u00fcrlich vorgestellte Tiefe nicht denselben Einflufs auf eine neue Vorstellung haben k\u00f6nnen, wenn dieselbe von Seiten der \u00e4ufseren Bedingungen noch kein bestimmtes Tiefendatum erhalten hat? Sind einmal vorhergegangene Tiefenvorstellungen auf solche nachfolgende Vorstellungen, die von Seite der \u00e4usseren Bedingungen keine bestimmte Tiefenlage erhalten, derart wirksam, dass sie diese leergelassene Variable auszuf\u00fcllen verm\u00f6gen, dann, meine ich, d\u00fcrfte es ganz gleich-giltig sein, ob dieser reproduzirte Tiefenwerth mit oder ohne Einfluss des Willens auf getreten und auf die neue Vorstellung in der angegebenen Weise wirksam ist.","page":84},{"file":"p0085.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlolmlisation.\n85\nIch st\u00fctze meine Ansicht also nur auf zwei Punkte: erstens darauf, dass in allen F\u00e4llen, in welchen \u201eempirische Lokalisationsmotive\u201c wirksam sind, die unbestimmte Tiefenlage eines neuen Objektes durch Tiefenvorstellungen fr\u00fcherer Sehobjekte zu einer bestimmten gemacht werden kann \u2014 und zweitens darauf, dass man fr\u00fchere Tiefenvorstellungen unter Umst\u00e4nden auch willk\u00fcrlich reproduziren kann. Wollte Arrer die erste Behauptung leugnen, dann m\u00fcsste er die Wirksamkeit aller sog. empirischen Lokalisationsmotive in Abrede stellen, was er sich wohl \u00fcberlegen wird. Wollte er die zweite Behauptung leugnen, dann m\u00fcsste er behaupten, dass der Wille niemals einen Einfluss auf die Reproduktion aus\u00fcben kann. Einen dritten Ausweg kann ich nicht finden.\nIII. M\u00f6glichkeit einer \u201erelativen\u201c Lokalisation bei\nmangelnder Bestimmtheit der \u201eabsoluten\u201c.\nFragen wir uns nun, oh und in welchem Sinne man sagen kann, eine relative Lokalisation eines Objektes B in Beziehung zu A k\u00f6nne\" nur stattfinden, wenn A selbst bestimmt lokalisirt ist (wobei ich hier unter Lokalisation immer Tiefenlokalisation verstehe). Das Eine ist sicher: wenn B n\u00e4her oder ferner erscheint als A, dann muss A irgend eine bestimmte Stelle in der Tiefendimension einnehmen, so sicher als nicht ein Ding gr\u00f6sser sein kann als ein anderes, wenn nicht Beide irgend eine bestimmte Gr\u00f6sse haben, oder ein Ding w\u00e4rmer als ein anderes, wenn nicht beide irgend einen bestimmten W\u00e4rmegrad besitzend Aber darum handelt sich\u2019s in der vorliegenden Kontroverse nicht. Die Frage ist vielmehr die, ob A wenn B relativ zu ihm soll lokalisirt werden k\u00f6nnen, einen durch die \u00e4usseren Bedingungen eindeutig bestimmten (scheinbaren) Ort einnehmen m\u00fcsse. Wir haben ja geh\u00f6rt, dass Arrer nur dann von einer \u201ebestimmtenLokalisation\u201c spricht, wenn das Sehobjekt bei un-ge \u00e4nderten \u00e4usseren Bedingungen stets denselben (scheinbaren) Ort einnimmt. In diesem Sinne des Wortes behaupte ich nun, dass eine Lokalisation des zweiten Objektes relativ zum ersten auch dann stattfinden kann, wenn das erste nicht bestimmt lokalisirt wird, verwahre mich aber zugleich gegen die m\u00f6gliche Missdeutung, dass ein Sehobjekt \u00fcberhaupt einen unbestimmten scheinbaren Ort einnehmen k\u00f6nne (vgl.","page":85},{"file":"p0086.txt","language":"de","ocr_de":"86\nFranz Hillebrand.\noben S. 79). Meine obige Behauptung ist erstens widerspruchsfrei, denn sie sagt nicht, dass, wenn B relativ zu A lokalisirt wird, dieses A gar keine bestimmte Tiefenlage einzunehmen brauche \u2014 es ist aber gar nicht inkonvenient anzunehmen, dass die Tiefenlage von A durch die Gesammtheit der \u00e4 u s s e r e n Bedingungen nicht bestimmt zu sein brauche, ja dass sie beim Wechsel der inneren (psychischen) Bedingungen ebenfalls wechseln k\u00f6nne, ohne dass das B dadurch gehindert w\u00e4re eine bestimmte relative Lage zu A zu haben, ja vielleicht sogar immer dieselbe relative Lage.\nAber nicht nur denkbar und widerspruchsfrei ist diese Annahme, sie wird auch noch durch zahlreiche Beobachtungen als thats\u00e4chlich zutreffend erwiesen.\nWundt hat bei der Beschreibung seiner monokularen Versuche \u00fcber den Einfluss der Akkommodation (wobei er vertikale F\u00e4den als Objekte ben\u00fctzt) angegeben, es lasse sich \u00fcber die Entfernung des ersten Fadens \u201enicht das geringste bestimmen\u201c,1 und doch zeigt uns seine Tabelle die Grenzwerthe, jenseits welcher die relative Lage des Vergleichsfadens zum Beobachter sicher erkannt wurde. Arrer findet die Beschreibung, welche Wundt von seinen monokularen Versuchen giebt, auch f\u00fcr seine eigenen Versuche zutreffend (S. 135); ich muss also annehmen, dass auch Arrer und seine Mitbeobachter den Normalfaden nicht bestimmt lokalisiren konnten; und doch finden sich f\u00fcr jeden seiner Beobachter \u2014 gerade wie bei Wundt \u2014 Grenzwerthe, jenseits deren die relative Lokalisation des Vergleichsfadens vollkommen gelang. Arrer h\u00e4lt zwar die Behauptung aufrecht, dafs \u201eeine relative Entfernungssch\u00e4tzung kaum m\u00f6glich\u201c sei, so lange der Beobachter kein Urtheil \u00fcber die absolute Entfernung des Normalfadens habe, f\u00fcgt aber hinzu: \u201eNur wenn der Faden um so viel verschoben wird, dass eine deutliche Ver\u00e4nderung seines scheinbaren Durchmessers erkannt wird, schliesst der Beobachter auf eine Verschiebung nach der Tiefe; manchmal wird diese gesehen, weit \u00f6fters aber nur erschlossen\u201c (S. 135\u2014136).\nNun will ich sogleich bemerken, dass es f\u00fcr die Frage, ob zur relativen Lokalisation eine bestimmte absolute Entfernungsvorstellung des ersten Objektes nothwendig ist, ganz irrelevant\n1 Beitr\u00e4ge 107.","page":86},{"file":"p0087.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n87\nist, durch welche Mittel die relative Lokalisation erreicht wird. Ob uns die Zunahme der Bildgr\u00f6sse das N\u00e4herr\u00fccken erkennen l\u00e4sst, ob dies (im Falle binokularer Versuche) durch Netzhautdisparation beziehungsweise durch gekreuzte Doppelbilder oder ob es durch was immer f\u00fcr eine Ursache geschehe \u2014 sobald das N\u00e4herr\u00fccken sicher erkannt wird, die absolute Lokalisation des ersten Eindruckes aber unbestimmt ist, ist jener allgemeine Satz Arrer\u2019s, dass die relative Lokalisation von der Bestimmtheit der absoluten abh\u00e4ngig sei, widerlegt, und es bleibt dann Arrer \u00fcberlassen zu zeigen, warum jene Abh\u00e4ngigkeit, die in so vielen anderen F\u00e4llen nicht besteht, gerade f\u00fcr meine monokularen Versuche mit mathematischen Linien gefordert werden soll.\nIch will nun noch ein paar weitere Thatsachen gegen jenen Satz Arrers Vorbringen.\nWenn man die Versuchsanordnung so w\u00e4hlt, wie ich das bei meinen Akkomodationsversuchen gethan habe (vgl. oben S. 76), wo also eine vertikale Grenzlinie zwischen einer beleuchteten und einer unbeleuchteten Fl\u00e4che als Objekt ben\u00fctzt wird, und wenn man nun, statt monokular zu beobachten (wie ich es damals gethan) das Objekt binokular betrachtet und es w\u00e4hrend seiner kontinuirlichen V erschiebung fortw\u00e4hrend binokular fixirt (also Akkommodation und Konvergenz fortw\u00e4hrend anpasst), dann erkennt man die geringsten Verschiebungen durch den unmittelbaren sinnlichen Eindruck, obwohl die Ausgangsstellung durchaus nicht nach ihrer absoluten (scheinbaren) Entfernung bestimmt war : man kann sich die Kante, ehe sie verschoben wird, n\u00e4her oder ferner vorstellen (vgl. dar\u00fcber unten S. 88 f.), das \u00e4ndert nichts an der Bestimmtheit ihrer relativen Lokalisation, sobald sie sich zu bewegen beginnt. Die Ursache dieser feinen relativen Lokalisation hat schon Hering in der Disparation der Netzhautbilder gesehen (wor\u00fcber sp\u00e4ter); und in der That muss Einen Mer ungeheure Unterschied, der bei sonst gleichen Versuchsbedingungen zwischen den Ergebnissen der binokularen und monokularen Beobachtung besteht,1 zu dem Gedanken hinf\u00fchren, dass die Feinheit der binokularen Lokalisation weder auf der Konvergenz noch auf der Akkommodation beruhe. Doch ist diese letztere Frage augenblicklich ganz gleichg\u00fcltig : genug,\n1 Ueber die Unf\u00e4higkeit zu jeder relativen Lokalisation bei monokularer Beobachtung habe ich oben S. 76 berichtet.","page":87},{"file":"p0088.txt","language":"de","ocr_de":"88\nFranz Hillebrand.\ndass man Aenderungen der Entfernung mit ausserordentlicher Sicherheit sehen und erkennen kann, ohne dass die Lokalisation f\u00fcr die Ausgangsstellung eine unver\u00e4nderliche zu sein braucht\nEine weitere Beobachtung habe ich schon in der Abhandlung \u00fcber Akkommodation und Konvergenz nebenher erw\u00e4hnt.1 Ich habe das durch die Konturen des Tubus begrenzte Gesichtsfeld durch einen schwarzen Schirm vollst\u00e4ndig abgeschlossen. In dem Schirm war ein AiJBE\u00dfT\u2019sches Diaphragma angebracht und hinter dem Schirm stand die gleichm\u00e4ssig beleuchtete Milchglastafel. Bei einem bestimmten Stand des Diaphragmas sieht der Beobachter also ein helles Quadrat mit scharfen B\u00e4ndern, ist aber nat\u00fcrlich nicht im Stande dieses Quadrat der Tiefe nach bestimmt zu lokalisiren. Auch weiss der Beobachter nicht, dafs der Experimentator die Gr\u00f6sse dieses Quadrates ad libitum ver\u00e4ndern kann. Wenn nun das Diaphragma vergr\u00f6ssert oder verkleinert wurde bei konstanter Stellung des Schirmes, so fiel das Urtheil des Beobachters mit aller Bestimmtheit auf N\u00e4herung bezw. Entfernung aus, woraus man ersieht, dsas hier die Bildgr\u00f6sse entscheidend war. Mit aller sinnlichen Deutlichkeit meint man das Quadrat (das aber thats\u00e4chlich seine Entfernung nicht \u00e4ndert) sich n\u00e4hern bezw. entfernen zu sehen, obzwar seine Ursprungslage den Beobachter nicht zu einer bestimmten Lokalisation n\u00f6thigt.\nEine andere hierher geh\u00f6rige Erscheinung habe ich bei einer fr\u00fcheren Gelegenheit einmal beschrieben.2 Ich habe damals zu anderen Zwecken eine haploskopische Vorrichtung ben\u00fctzt, die im Wesentlichen mit dem Wheat stone\u2019sehen Spiegelstereoskop identisch war, jedoch mit einigen Modifikationen, die Herino angegeben hat.3 Die beiderseitigen Objekte bildeten in meinen Versuchen je drei vertikale Kokonf\u00e4den; dieselben konnten den bez\u00fcglichen Spiegeln nach Belieben gen\u00e4hert oder von ihnen entfernt werden. Ausserdem war die Einrichtung getroffen, dafs die Spiegel mitsammt dem zugeh\u00f6rigen Fadensystemen um je eine Achse so drehbar waren, dass die Augen zu jeder beliebigen\n1\tDiese Zeitschr. Bd. VII, S. 121 f.\n2\t\u201eDie Stabilit\u00e4t der Raumwerthe auf der Netzhaut\u201c, diese Zeitschrift Bd. V, S. 42 f.\n3\tUeber die genauere Einrichtung vgl. die vorhin citirte Abhandlung, diese Zeitschr. Bd. V, S. 38, sowie die Tafel am Schl\u00fcsse der Abhandlung.","page":88},{"file":"p0089.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n89\nKonvergenz gen\u00f6thigt werden konnten. Stellt man nun die zwei Fadensysteme so ein, dass das Verschmelzungsbild in einer zur Frontalebene parallelen Ebene liegt und w\u00e4hlt man dabei z. B. parallele Augenstellung (also Konvergenz = 0), so f\u00fchlt man sieh zu keiner eindeutigen, bestimmten Lokalisation des Verschmelzungsbildes gen\u00f6thigt; man kann sich dasselbe innerhalb gewisser Grenzen als n\u00e4her oder ferner gelegen vorstellen, die Lokalisation ist also in dem oben (vgl. S. 80) angegebenen Sinne eine unbestimmte zu nennen. Dreht man nun die Spiegel und damit zugleich auch die Fadensysteme so um ihre bez\u00fcglichen Achsen, dass die Augen, um das Verschmelzungsbild zu erhalten, zu immer st\u00e4rkerer Konvergenz \u00fcbergehen m\u00fcssen, w\u00e4hrend man die ganze Zeit hindurch die betreffenden Mittelf\u00e4den fixirt, so entsteht mit aller sinnlichen Deutlichkeit der Eindruck, dass das Verschmelzungsbild an den Beobachter heranr\u00fcckt und zugleich werden die lateralen Distanzen, die die einzelnen F\u00e4den zu einander haben, immer kleiner und kleiner Man muss den Versuch selbst machen, wenn man sich davon \u00fcberzeugen will, dass die scheinbare Bewegung der F\u00e4den gegen den Beobachter zu mit jenem Grade sinnlicher Anschaulichkeit erfolgt, wie er beim Sehen von Bewegungen nur \u00fcberhaupt erreicht werden kann.1 An diesem Versuche ist aber noch ein zweites Moment von Interesse. Wenn man mit der Drehung der Spiegel (und damit auch der Fadensysteme) aufh\u00f6rt und damit auch das N\u00e4herr\u00fccken des Verschmelzungshildes sein Ende erreicht hat, und wenn man nun auf die Endstellung als solche seine Aufmerksamkeit richtet, so bemerkt man, dass nunmehr diese Endstellung gerade so wie die Anfangsstellung zu keiner bestimmten Tiefenlokalisation n\u00f6thigt; ja man hat durchaus nicht den Eindruck, dass die scheinbare Endstellung von der Anfangsstellung so weit abweicht, als die w\u00e4hrend der Konvergenz\u00e4nderung gesehene N\u00e4herung des Verschmelzungsbildes es verlangen w\u00fcrde. Ich erinnere mich des sonderbaren Eindruckes, den dieser Versuch beim ersten Male macht. Die sinnlich anschauliche N\u00e4herung der F\u00e4den, glaubt man, m\u00fcsse ' zu einer Endstellung f\u00fchren, die in ebenso zwingender Weise ab-\n1 Meiner Ansicht nach beruht diese Anschaulichkeit auf den Wirkungen der Disparation der Netzhautstellen. Doch oh darauf oder auf einem anderen Umstande, das ist f\u00fcr unsere augenblickliche Frage gleichgiltig.","page":89},{"file":"p0090.txt","language":"de","ocr_de":"90\nFranz jRillebrand.\nsolut lokalisirt sein m\u00fcsste und deren absolute Entfernung von der Entfernung der Anfangsstellung doch in dem Maass differiren m\u00fcsste, als dies dem scheinbaren Ausmaasse der inzwischen mit aller Deutlichkeit gesehenen Ann\u00e4herungsbewegung entspricht. Aber der Versuch zeigt eben das Gegentheil. Man darf also keineswegs behaupten, \u201edass ohne anschauliche Vorstellung von der absoluten Entfernung des Objektes auch relative Verschiebungen nicht erfolgreich beurtheilt werden k\u00f6nnen.\u201c 1\nIndessen hat Arrer einige experimentelle Beweise f\u00fcr die von ihm so entschieden betonte Abh\u00e4ngigkeit der relativen von der absoluten Lokalisation zu erbringen versucht, auf die ich nunmehr zu sprechen komme.\nUeber die Versuchsanordnung Arrer\u2019s ist Genaueres in seiner Abhandlung (S. 132 ff.) zu finden. Hier erw\u00e4hne ich nur, dass als Objekte zwei F\u00e4den von je 0,22 mm dienten. Die Aufh\u00e4ngepunkte beider F\u00e4den waren schon vor Beginn jedes Versuches in der jedesmal gew\u00fcnschten Weise eingestellt und ihre Entfernungen gemessen, ferner das Pendeln der F\u00e4den durch eine sinnreiche Einrichtung (Lothe aus Stahl und kleine Magnete) vermieden. Hatte der Beobachter auf den Normalfaden eingestellt (monokular oder binokular), so schloss er die Augen und w\u00e4hrenddessen wurde der Normalfaden aus dem Gesichtsfelde entfernt und der Vergleichsfaden eingestellt; nunmehr wurde der Beobachter aufgefordert die Augen wieder zu \u00f6ffnen, er sah dann bloss den Vergleichsfaden. Die besonderen Werthe f\u00fcr die Ann\u00e4herungs- und Entfernungsschwellen f\u00fcr monokulare und binokulare Versuche sind in den betreffenden Tabellen nachzulesen. Die monokularen Schwellenwerthe sind um Vieles kleiner als ich sie bei meinen Kantenversuchen gefunden habe; binokulare Versuche habe ich aus prinzipiellen Gr\u00fcnden nicht gemacht \u2014 wor\u00fcber sp\u00e4ter.\nUns interessiren jetzt vor Allem diejenigen Aeusserungen der ARRER\u2019schen Versuchspersonen, in welchen dieser Beweise f\u00fcr die Abh\u00e4ngigkeit der relativen von der absoluten Lokalisation erblicken will, und zwar beziehen sich die folgenden Angaben immer auf Bin okular versuche. Eine der Versuchspersonen (Herr Dr. Thi\u00e9ry) antwortete auf die Frage, worauf er sein relatives Tiefenurtheil gr\u00fcnde, bald, er erkenne den Tiefen-\n1 Arrer a. a. O. S. 260.","page":90},{"file":"p0091.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\t9}\nunterschied aus der \u201eDeutlichkeit und Dicke des Fadens\u201c, bald aber, die Ursache sei nicht angebbar, aber die Sicherheit des Urtheils \u201edurch sinnliche Evidenz des Eindrucks verb\u00fcrgt\u201c, dann setzte er wieder zu allen diesen Antworten ein \u201evielleicht\u201c hinzu. Diese erstmaligen Versuche ergaben aber \u201eunbrauchbare Resultate\u201c und \u00fcberdies waren auch die Angaben des Beobachters \u00fcber die Art seines Verfahrens \u2014 wie man sieht \u2014 sehr schwankend und liessen keine bestimmte Deutung zu. Gr\u00f6sseres Gewicht legt Arrer den Ausk\u00fcnften desselben Beobachters bei, nachdem sich bei demselben allm\u00e4hlich eine bestimmte Praxis festgesetzt hatte und seine Versuche nunmehr viel bessere Resultate lieferten. Thi\u00e9ry\u2019s Angaben muss ich hier ausf\u00fchrlich mittheilen (a. a. O. S. 223 ff.). In der Zeit, in welcher die Normaldistanz gegeben ist, bem\u00fcht sich Herr Dr. Thi\u00e9ry, sich vor Allem \u201eeine Vorstellung von der Entfernung des Fadens zu bilden\u201c, nebenbei achtet er auch auf die Dicke und Deutlichkeit desselben. \u201eSofort ersichtlich\u201c sei es, dass der Normalfaden zwischen Hintergrund und Blickrohr \u201eso zu sagen in der Luft schwebe\u201c. Die scheinbare Entfernung sei dabei eine bestimmte, sie ver\u00e4ndere sich bei mehrmaligem Hineinblicken in das Blickrohr nicht. Diese Entfernung, gab Herr Thiery an, m\u00fcsse er \u201ein der Vorstellung behalten, wenn er mit dem Gef\u00fchle objektiver Sicherheit ein Urtheil \u00fcber die Vergleichsdistanz haben sollte.\u201c Um nun die Normaldistanz leichter im Ged\u00e4chtniss zu behalten, bediente sich der Beobachter des folgenden Kunstgriffes : er \u201ekonstruirte sich in der Phantasie ein Dreieck, dessen Basis in seinen Augen lag, dessen Seiten die sichtbaren Enden des Tubus tangirten und durch dessen Spitze der herabh\u00e4ngende Faden ging. Diese Vorstellung war es jetzt, die Herr Thi\u00e9ry in der Pause w\u00e4hrend der Verr\u00fcckung des Fadens im Ged\u00e4chtniss festzuhalten suchte.\u201c Trat dann der Vergleichsfaden ins Gesichtsfeld, so erkannte der Beobachter seine relative Lage entweder sofort oder er gab sein Urtheil erst nach einiger Zeit ab. Letzterenfalls war er weniger sicher und wurde um so unsicherer, je l\u00e4nger er mit dem Urtheil z\u00f6gerte.\nDie Methode, den absoluten Abstand des Normalfadens mittelst phantasirter Figuren im Ged\u00e4chtniss festzuhalten, kehrte auch bei den \u00fcbrigen vier Beobachtern wieder, nur dass jeder in seiner Weise diese oder jene Figur in das Gesichtsfeld hinein-phantasirte.","page":91},{"file":"p0092.txt","language":"de","ocr_de":"92\nFranz Hillebrand.\nDie Probe aufs Exempel war in gewisser Weise dadurch gegeben, dass drei weitere Versuchspersonen (die Herren Dr. Kiesow, Ussow und Taylor) derartige Hilfsmittel der absoluten Lokalisation, wie es die beschriebenen Phantasiefiguren waren, nicht anwendeten, dadurch aber auch zu einem \u201everzweifelten Durcheinander falscher Urtheile\u201c gelangten (a. a. O. S. 258 ft.). Herr Ussow wurde gefragt, ob er das Urtheil \u00fcber die relative Entfernung des zweiten Fadens aus der Vergleichung der beiden, ihm succesive dargebotenen Entfernungen erhalte oder sonstwie. Die Antwort lautete: er versuche zwar so zu verfahren, eigentlich gelinge es ihm aber nie; er sehe den Normalfaden zwar in einer bestimmten Entfernung, nach Verschluss der Augen werde aber das Bild \u201eimmer verwaschener\u201c, er habe dann keine rechte Vorstellung mehr von der Entfernung desselben und \u201eam allerwenigsten wenn er die Vergleichsdistanz zum Anschauen bekomme\u201c (S. 259). Und \u00e4hnlich erkl\u00e4rte Herr Dr. Kiesow, \u201ewenn er den Faden in der Vergleichsdistanz sehe, so wisse er eigentlich nicht mehr, wie weit der erste in der Normaldistanz war.\u201c Schliesslich motivirte Herr Taylor die Schwierigkeit des Entfernungsvergleiches mit der \u201eUnbestimmtheit\u201c beider Distanzen.1 Sobald aber Arrer dem letzterw\u00e4hnten Beobachter mitgetheilt hatte, wie die ersten f\u00fcnf Beobachter mittels Phantasiefiguren die Normaldistanz im Ged\u00e4chtniss zu behalten wussten und nun auch Herr Taylor von diesem Verfahren Gebrauch machte, gelang auch die relative Beurtheilung der Entfernung viel sicherer und bei bedeutend kleineren objektiven Entfernungsdifferenzen.2 Bei grossen Distanzen des Normalfadens oder auch bei l\u00e4ngerer Verz\u00f6gerung des Urtheils scheinen auch andere Kriterien (besonders die Fadendicke) massgebend gewesen zu sein. Bei rasch erfolgendem Urtheil \u2014 und gerade dann war die Lokalisation\n1\tS. 259. Beil\u00e4ufig gesagt verstehe ich nicht recht, wie Arrer glauben konnte, er m\u00fcsse aus dieser AntwTort entnehmen, \u201edass sich Herr Taylor doch irgendwie eine bestimmtere Vorstellung von der Normaldistanz im Ged\u00e4chtniss aufbewahre.\u201c Aus der Erkl\u00e4rung eines Beobachters, er k\u00f6nne etwas nicht bestimmt lokalisiren, schliesst man gew\u00f6hnlich nicht, dass er es doch \u201ebestimmter\u201c lokalisiren k\u00f6nne. Doch das mag ein Lapsus sein, den ich darum nicht weiter urgiren will.\n2\tArrer hat die Ergebnisse beider Versuchsarten (ohne und mit Hilfsfigur) in der Tabelle S. 260 zusammengestellt.","page":92},{"file":"p0093.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\t93\nam sichersten \u2014 fiel aber jedenfalls jener durch Phantasiefiguren erzielten Lokalisation des Normalfaden die Hauptrolle zu.\nEs fragt sich nun, wie bei so erfolgter absoluter Lokalisation des Normalfadens die relative Lokalisation des Vergleichsfadens zu Stande kam. Uns interessiren nat\u00fcrlich vor Allem die F\u00e4lle, in welchen das Urtheil \u00fcber die relative Lage des Vergleichsfadens sofort und ohne Z\u00f6gern abgegeben wurde, nicht nur weil die Urtheile in diesen F\u00e4llen \u201ein der weit \u00fcberwiegenden Zahl\u201c richtig waren, sondern auch weil jedes solche Urtheil \u201eals unmittelbar gewiss, der Eindruck als sinnlich evident\u201c bezeichnet wurde (S. 239), w\u00e4hrend bei l\u00e4ngerer Verz\u00f6gerung weder das eine noch das andere der Fall war. In jenen ersteren, f\u00fcr die Frage wichtigeren F\u00e4llen konnten die Beobachter zwar anf\u00e4nglich keine bestimmte Auskunft \u00fcber ihr Verfahren geben; nach l\u00e4ngerer Uebung aber \u201ebemerkte bald der Eine, bald der Andere, dass ihm das Dreieck oder Bechteck, das er im Ge-d\u00e4chtniss behielt, und in das ihm die Entfernungsvorstellung der Normaldistanz eingegangen war, beim Anblick des zweiten Fadens fast pl\u00f6tzlich die Form ver\u00e4nderte, l\u00e4nger und schm\u00e4ler oder k\u00fcrzer und breiter erschien (240). Von Bedeutung scheint es mir nun weiter, dass, wie Arreu ausdr\u00fccklich hervorhebt, das relative Entfernungsurtheil in den beschriebenen F\u00e4llen nicht dadurch zu Stande kommt, dass sich der Beobachter zuerst eine Vorstellung von der neuen Distanz bildet, \u201eum sie dann mit der im Ged\u00e4chtniss aufbewahrten zu vergleichen ; im Gegentheil war die Aufmerksamkeit so stark als m\u00f6glich auf die Ged\u00e4chtniss-vorstellung gerichtet, eben so sehr aber bereit auf einen neuen Eindruck \u00fcberzugehen, um nun, so zu sagen pl\u00f6tzlich, den Unterschied beider wahrzunehmen (S. 239).\n*\tDiese bisherigen Thatsachen scheinen mir nun f\u00fcr den Satz, dass die M\u00f6glichkeit einer relativen Tiefenlokalisation von der\nBestimmtheit der absoluten abh\u00e4nge, gar nichts zu beweisen.\n\u2666\nWenn wir ohne jede Zuthat von Hypothese oder theoretischer Deutung den Thatbestand heraussch\u00e4len, wie er sich durch das unmittelbare Zeugniss der Selbstbeobachtung seitens der Versuchspersonen Arrer\u2019s ergiebt, so l\u00e4sst sich derselbe so aus-dr\u00fccken: wo ohne Ueberlegung mit Sicherheit zutreffende Urtheile \u00fcber die relative Entfernung abgegeben wurden, dort","page":93},{"file":"p0094.txt","language":"de","ocr_de":"94\nFranz Hillebrand.\nmussten jene erw\u00e4hnten Phantasiefiguren in Anwendung gebracht werden, und zwar sowohl f\u00fcr den Normal- als auch f\u00fcr den Vergleichsfaden.\nZun\u00e4chst erhebt sich nun folgende Frage: war jenes Phantasie-Dreieck, durch dessen Spitze der Normal faden lief, die nothwendige Bedingung um diesen Normalfaden \u00fcberhaupt in einer bestimmten Entfernung zu sehen, oder w^ar es nur die nothwendige Bedingung um den scheinbaren Ort des Normalfadens, der auch ohne j enesHilf sdreieck ein bestimmter gewesen w\u00e4re, im Ged\u00e4chtniss aufzubewahren? Aus beiden Hypothesen w\u00fcrde sich ja die Nothwendigkeit solcher Hilfsfiguren f\u00fcr das relative Entfernungsurtheil ergeben. Nach der Darstellung, die Arrer von Herrn Thi\u00e9ry\u2019s Aussagen giebt, muss man sich wohl f\u00fcr das zweite Glied der obigen Alternative entscheiden. \u201eUm aber die Entfernung leichter zu behalten, verfuhr er (Thi\u00e9ry) so etc.\u201c \\ \u201eDiese Vorstellung (sc. von der Hilfsfigur) war es jetzt, die Herr Thi\u00e9ry in der Pause w\u00e4hrend der Verr\u00fcckung des Fadens im Ged\u00e4chtniss festzuhalten suchte\u201c 1 2. Herr Ussow ferner, der zu jenen drei Beobachtern geh\u00f6rte, die nichts \u00fcber Hilfsfiguren berichteten und deren Protokolle jenes \u201everzweifelte Durcheinander falscher Urtheile\u201c aufwiesen, berichtete trotzdem, er sehe den Faden in einer \u201ebestimmten Entfernung\u201c, solange er durch das Blickrohr schaue; nach dem Verschl\u00fcsse des Tubus aber (oder der Augen) wurde das wahrgenommene Bild immer verwaschener, er habe dann \u201ekeine rechte Vorstellung von der Entfernung des angeschauten Objektes, und am allerwenigsten wenn er die Vergleichsdistanz zum Anschauen bekomme\u201c (S. 259). Sonach scheint die erw\u00e4hnte Hilfsfigur keine Bedingung f\u00fcr die bestimmte Lokalisation des Normalfadens, sondern nur f\u00fcr das ged\u00e4chtnissm\u00e4ssigeAufbewahrenundFesthalten dieser Lokalisation gewesen zu sein. Ich will nun zun\u00e4chst wieder in Er-\n1\tUnd ehe er noch von diesem Mittel das Ged\u00e4chtniss zu unterst\u00fctzen spricht, giebt er schon an, es sei f\u00fcr das Doppelauge \u201esofort ersichtlich\u201c, dass der Faden zwischen Blickrohr und Hintergrund schwebe, seine Entfernung sei eine bestimmte, die sich bei mehrmaligen Hineinblicken in den Tubus nicht \u00e4ndere. Von der Hilfsfigur spricht er erst dort, wo er \u00fcber das Mittel zur ged\u00e4chtnissm\u00e4ssigen Aufbewahrung Auskunft geben will (S. 224).\n2\tS. 224. Vgl. dazu auch S. 239 und 259\u201460.","page":94},{"file":"p0095.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n95\ninnerang bringen, dass der Begriff \u201eunbestimmte Lokalisation\u201c nur dann einen Sinn und nur dann auch eine reale Bedeutung hat, wenn man damit eine Lokalisation meint, f\u00fcr deren eindeutige Bestimmtheit die gesammten peripheren physiologischen Bedingungen nicht hinreichen (siehe oben S. 80), so dass also, wenn die inneren Bedingungen variabel sind, auch die Lokalisation eine veriable sein wird. Geh\u00f6rt \u2014 um nur ein Beispiel zu w\u00e4hlen \u2014 die willk\u00fcrliche Reproduktion irgend einer fr\u00fcheren Entfernungsvorstellung zu jenen inneren Bedingungen, dann ist die Lokalisation der neuen Vorstellung auch eine willk\u00fcrliche, wechselt also, je nachdem man diese oder jene Entfernungsvorstellung willk\u00fcrlich reproduzirt. Die Lokalisation ist dann zwar in jedem Augenblicke eine bestimmte, aber sie ist (oder kann sein) f\u00fcr verschiedene Augenblicke eine verschiedene, und nur diese Inkonstanz meint man, wenn man von \u201eunbestimmter Lokalisation\u201c redet \u2014 wie ich das oben auseinandergesetzt habe. Wie man sich in solchen F\u00e4llen die relativen Lokalisationen zu denken hat, geht eigentlich schon aus den obigen Versuchen (S. 87f.) hervor; ich will dies aber hier ge-genauer er\u00f6rtern.\nMan kann in einem zweifachen Sinne von einer relativen Lokalisation sprechen. In einem uneigentlichen Sinne spricht man davon dann, wenn sowohl A als auch B unabh\u00e4ngig von einander, d. h. jedes f\u00fcr sich absolut lokalisirt wird und auf Grund dieser zweifachen absoluten Lokalisation das Urtheil gef\u00e4llt wird, die Entfernung von B sei kleiner (oder gr\u00f6sser) als die von A. Im eigentlichen Sinne aber spricht man von relativer Lokalisation dann, wenn B unmittelbar n\u00e4her oder ferner erscheint als A1 ohne dass vorher dem B (unabh\u00e4ngig von A) ein bestimmter Ort angewiesen worden w\u00e4re, also ohne dass die relative Lage von A zu B erst auf Grund ihrer beiden absoluten Lagen erkannt worden w\u00e4re. Sei die absolute Entfernung von A .... a, die von B .... b, und die Differenz = c, also\na \u2014 b \u2014 c.\nDann ist im Falle der uneigentlich sogenannten \u201erelativenLokalisation\u201c a und b das unmittelbar Gegebene, c das \u201eErschlossene\u201c, auf Grund von a und b Beurtheilte; im Falle der eigentlich sogenannten relativen Lokalisation ist aber a und c das unmittel-","page":95},{"file":"p0096.txt","language":"de","ocr_de":"Franz H\u00fclebrand.\n96\nbar Gegebene, und man kann dann auf b ,,schliessen.u Die binokulare Stereoskopie auf Grund der Disparation oder der Doppelbilder ist ein Fall dieser letzteren Art: die Lokalisation jedes Punktes geschieht unmittelbar relativ zum Kernpunkt, gleich-giltig wo dieser gelegen sei. Dies ist eine allbekannte und feststehende Thatsache \\ Wenn nun in F\u00e4llen der eigentlich sogenannten relativen Lokalisation, derjenige Punkt, relativ zu welchem alle anderen Punkte lokalisirt werden, eine variable (\u201eunbestimmte\u201c) Lokalisation hat, dann bleibt die relative Lokalisation aller anderen Punkte als relative konstant, d. h. sie \u00e4ndert sich \u201eabsolut\u201c nur nach Maassgabe derjenigen Aende-rung, die der Kernpunkt erf\u00e4hrt ; ist dieser z. B. willk\u00fcrlich variabel, so sind auch alle anderen Punkte indirekt derselben Willk\u00fcr unterworfen.\nSolche unmittelbare relative Lokalisationen finden z. B. statt, wenn das Vergleichsobjekt gleichzeitig mit dem Normalobjekt gegeben ist und auf Grund der (gekreuzten oder ungekreuzten) Disparation vor oder hinter demselben gesehen wird, oder wenn nur ein Objekt vorhanden ist, das sich aber kontinuirlich n\u00e4hert oder entfernt \u2014 das \u201eSehen von Bewegungen\u201c ist ja ein unmittelbarer Akt, es geschieht nicht durch Vergleichung zweier Stellungen,||einer gegenw\u00e4rtigen und einer im Ged\u00e4chtniss aufbewahrten. Auch wenn das zweite Objekt ohne Zwischenpause, unmittelbar auf das erste folgt, ist eine solche relative Lokali-\n1 Auch Arber anerkennt dieselbe gelegentlich. Wo er von dem Unterschiede der binokularen von den monokularen Simultanversuchen spricht, sagt er mit Bezug auf die ersteren: \u201eDort nimmt jener (sc. Beobachter) sofort und unmittelbar wahr, welcher der F\u00e4den der weitere und welcher der n\u00e4here ist; er giebt sich \u00fcber die absolute Entfernung derselben zun\u00e4chst gar keine Bechenschaft und abstrahirt g\u00e4nzlich von seinem \u00fcbrigen Gesichtsraum; seine Aufgabe ist wie von selbst gel\u00f6st, so wie er die Objekte gleichzeitig ansieht. Unmittelbarer kann man Tiefenunterschiede nicht erkennen als hier geschieht\u201c (S. 267). Das ist gewiss ganz richtig. Wie kann man aber nach einem solchen Zugest\u00e4ndniss noch an dem allgemeinen Satze festhalten, dass \u201eohne anschauliche Vorstellung von der absoluten Entfernung des Objektes auch relative Verschiebungen desselben nicht erfolgreich beurtheilt werden k\u00f6nnen\u201c? Sollte Arrer diesen Satz nicht allgemein gelten lassen, dann ist es an ihm zu zeigen, warum man ihn bei der Deutung der einen Versuche heranziehen darf, bei der der anderen aber nicht.","page":96},{"file":"p0097.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n97\nsation m\u00f6glich (wovon man sich leicht \u00fcberzeugen kann, wenn man die succesiven Kantenversuche binokular anstellt). Ich werde sp\u00e4ter noch einmal darauf zu sprechen kommen, dass in allen genannten F\u00e4llen die Disparation der Netzhautbilder die Ursache dieser unmittelbaren relativen Lokalisation abgiebt, was aber f\u00fcr den Augenblick gleichgiltig ist.\nSo einfach wie die eben angegebenen F\u00e4lle sind aber die Beobachtungen, \u00fcber die wir Abbeb berichten h\u00f6rten, keineswegs. Zwar handelt es sich auch bei Abbeb um einen unmittelbar re^ lativen Vergleich, hebt er doch eigens hervor, dass der Beobachter sich nicht zuerst eine Vorstellung von der neuen Distanz gebildet habe, \u201eum sie dann mit der im Ged\u00e4chtniss auf bewahrten zu vergleichen\u201c (S. 239); aber was bei Abbeb neu hinzukommt, ist, dass der Ausgangspunkt dieses Vergleichs (d. h. also das eine der beiden Vergleichsdaten) \u00fcberdies noch als identisch erkannt werden muss mit einem fr\u00fcheren, ged\u00e4chtnissm\u00e4ssig aufbewahrten Datum, und blos zu diesem letzteren Zwecke werden jene Hilfsfiguren ben\u00fctzt. Ich k\u00f6nnte B relativ zu A unmittelbar lokalisiren, wenn mir z. B. Beide gleichzeitig gegeben w\u00e4ren, oder wenn B durch kontinuir-liche Ver\u00e4nderung aus A entst\u00fcnde ; ist nun aber eine leere Zwischenzeit zwischen Beiden, die ein Aufbewahren im Ged\u00e4chtniss n\u00f6thig macht, dann werde ich zu irgend welchen Mitteln greifen, um mir nach dieser Zwischenzeit ein A' zu verschaffen, das mit dem fr\u00fcheren A identisch ist und relativ zu welchem ich nunmehr das B ebenso unmittelbar lokalisiren kann, wie ich es relativ zu A selbst w\u00fcrde lokalisirt haben, wenn eben dieser unmittelbare Vergleich nicht durch die Zwischenpause unm\u00f6glich gemacht w\u00e4re. Nun ist aber sofort ersichtlich, dass weder A noch \u00c4 eine durch die gesammten peripheren Bedingungen eindeutig bestimmte Lokalisation zu haben brauchen, sofern nur daf\u00fcr gesorgt wird, dass sie beide dieselbe Lokalisation haben; der indirekte Vergleich von B mit A wird dann ebenso bestimmt und ebenso richtig ausfallen wie der direkte zwischen B und A*. Nun kann Eines der Mittel, um sich \u00fcber die identische Lokalisation von A und A* zu vergewissern, auch darin bestehen, dass man dem A eine bestimmte und unver\u00e4nderliche Lokalisation verschafft und durch Anwendung genau derselben Mittel auch die Lokalisation von AJ fixirt; aber dann war es nicht die absolute Bestimmtheit von A und A\\ die den\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XVI.\t7","page":97},{"file":"p0098.txt","language":"de","ocr_de":"98\nFranz Sillebrand.\nindirekten Vergleich von A mit B erm\u00f6glichte, sondern nur die Identit\u00e4t der Entfernung des A mit der des A* \u2014 in Arber\u2019s Falle also die Identit\u00e4t jener Dreieckspitze, durch die der erste Faden lief, als er sichtbar war, mit jener Dreieckspitze, welche w\u00e4hrend der Pause im Ged\u00e4chtniss festgehalten wurde 1.\nArrer wird vielleicht sagen, das sei eine willk\u00fcrliche Auslegung: er lege Gewicht darauf, dass uns jenes Hilfsdreieck eine bestimmte Lokalisation des Normalfadens m\u00f6glich mache, ich aber betone, dass Alles nur auf die Identit\u00e4t jener Dreieckspitze vom letzten Moment der Sichtbarkeit des Normalfadens bis zum ersten der Sichtbarkeit des Vergleichsfadens ankomme *\u2014 meine Auslegung sei also eine blosse \u201eDenkm\u00f6glichkeit\u201c.\nIch w\u00fcrde darauf antworten: die Identit\u00e4t beider Lokalisationen, der fr\u00fcheren und der in der Phantasie festgehaltenen, muss unter allen Umst\u00e4nden vorhanden sein, wenn das Urtheil \u00fcber den Entfernungsunterschied richtig ausfallen soll. Was aber die Bestimmtheit der Lokalisation anlangt, so w\u00fcrden die Versuche Arrer\u2019s, wenn sie allein und sonst keine Erfahrungen bekannt w\u00e4ren, noch nicht entscheiden, ob dieselbe f\u00fcr den Vergleich n\u00f6thig ist oder nicht. So lange uns aber die F\u00e4lle simul taner und binonularer Stereoskopie auf Grund der Disparation der Netzhautbilder ein sicheres Zeugniss daf\u00fcr geben, dass die relative Tiefenlage aller Punkte in Beziehung auf den fixirten sich nicht \u00e4ndert, wie immer und durch was f\u00fcr Mittel immer die Lokalisation des fixirten Punktes (und damit des ganzen\n1 Folgender Vergleich wird die Sache noch deutlicher machen: Die meisten Menschen sind nicht im Stande einem einzeln geh\u00f6rten Tone (b) seine Stellung in der Tonreihe richtig anzuweisen; Viele von diesen verm\u00f6gen aber mit aller Sicherheit anzugeben, welchen Abstand derselbe von einem gleichzeitig geh\u00f6rten zweiten Tone a habe, von dem sie aber auch nicht wissen, welche Stelle er in der Tonreihe einnimmt. Gesetzt den Fall, es verlaufe nun zwischen dem H\u00f6ren von a und dem von b eine gewisse Zeit, dann wird ein richtiges Distanzurtheil nur abgegeben werden k\u00f6nnen, wenn man im Stande ist, den fr\u00fcher geh\u00f6rten Ton a im Ged\u00e4chtniss aufzubewahren. Das u n m i 11 e 1 b a r e Distanzurtheil bezieht sich dann auf b im Verh\u00e4ltniss zu a\u2018 (wo ich unter a* die dem vergangenen Tone a entsprechende Phantasievorstellung verstehe). Die Dichtigkeit des Urtheils h\u00e4ngt dann f\u00fcr denjenigen, der \u00fcberhaupt ein unmittelbares Intervallgef\u00fchl hat, nur von der Gleichheit des a mit a' ab; welche Stellung a und a{ in der Tonreihe haben, braucht der Beurtheiler gar nicht zu wissen.","page":98},{"file":"p0099.txt","language":"de","ocr_de":"ln Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n99\nSystems) ge\u00e4ndert werden mag \u2014 solange d\u00fcrfen wirwon den beiden m\u00f6glichen Interpretationen seiner (Areer\u2019s) Versuche diejenige nicht w\u00e4hlen, welche im Gesetz involvirt, das durch die unzweifelhaften Versuche auf dem Gebiete der simultanen Binokular-Stereoskopie ganz und gar widerlegt ist.\nAnmerkung. Beil\u00e4ufig gesagt sind beim Festhalten des in der Phantasie konstruirten Dreieckes zweierlei Methoden den Vergleichsfaden relativ zu lokalisiren m\u00f6glich. Man kann erkennen, dass der Vergleichsfaden nicht durch die Dreiecksspitze l\u00e4uft, sondern vor oder hinter derselben ; man be-urtheilt dann die relative Lage zweier Raumgebilde, von denen das eine in der Phantasie, das andere in der Empfindung gegeben ist. Phantasirt man dann ein neues Dreieck hinein, dessen Spitze nun im Vergleichsfaden liegt, so wird dasselbe l\u00e4nger oder k\u00fcrzer erscheinen, je nachdem der Vergleichsfaden ferner oder n\u00e4her liegt als der Normalfaden. Das neue Dreieck wird aber beim N\u00e4herliegen des Vergleichsfadens auch breiter erscheinen k\u00f6nnen, weil dann die R\u00e4nder des Tubus in gr\u00f6sseren Zerstreuungskreisen erscheinen, als wenn der Vergleichsfaden um ebenso vieles hinter den Normalfaden gestellt worden w\u00e4re. Das w\u00e4re die eine Weise, wie man sich die Funktion des Hilfsdreieckes denken k\u00f6nnte; sie w\u00fcrde zu den Aussagen \u00fcber die Formver\u00e4nderung des Dreieckes (S. 240) recht gut passen.\nMan k\u00f6nnte sich die Sache aber noch auf eine andere Art zurechtlegen. Es hat viel f\u00fcr sich, die Leistung jener Hilfsfigur blos in der Fixirung der urspr\u00fcnglichen Konvergenz zu erblicken. Bleibt n\u00e4mlich die Konvergenz bis zum Auftreten des Vergleichsfadens dieselbe wie beim Anblick des Normalfadens, dann muss der Vergleichsfaden mit derselben Disparation bezw. in denselben Doppelbildern (sowohl dem Sinne als dem Ausmaasse nach) erscheinen, als wenn er gleichzeitig mit dem Normalfaden sichtbar w\u00e4re; er muss also sofort n\u00e4her oder ferner erscheinen, je nachdem die Disparation eine gekreuzte oder ungekreuzte war, bezw. je nachdem die Doppelbilder ungleichnamig oder gleichnamig waren \u2014 gerade wie bei der simultanen Stereoskopie. Die Aussagen mancher Beobachter, dass ihnen der Entfernungsunterschied \u201esinnlich evident\u201c erscheine, legen die letzterw\u00e4hnte Erkl\u00e4rung sehr nahe. Diesfalls best\u00e4nde also die unmittelbare Leistung der Hilfsfigur nicht einmal darin, eine fr\u00fchere Entfernungsvorstellung zu konserviren ; die unmittelbare Wirkung w\u00e4re also \u00fcberhaupt keine psychische, sie l\u00e4ge nur in der Erhaltung gleicher physiologischer Versuchsbedingungen, n\u00e4mlich der gleichen Konvergenz.\nSchliesslich k\u00f6nnten auch beide Vorg\u00e4nge kombinirt auftreten: die Disparation wurde dann schon im ersten Momente die Vorstellung der gr\u00f6sseren N\u00e4he oder Ferne erwecken, dadurch einen Anstoss zur entsprechenden Konvergenz\u00e4nderung geben, und wenn diese erfolgt ist, w\u00fcrde die Aenderung des in der Phantasie konstruirten Hilfsdreieckes das Urtheil \u00fcber die relative Entfernung noch unterst\u00fctzen.\nOb nun der Vorgang bei den Versuchspersonen Arree\u2019s in der einen oder anderen Art verlaufen ist, oder ob vielleicht bei dem Einen in dieser\n7*","page":99},{"file":"p0100.txt","language":"de","ocr_de":"100\nFranz Hillebrand.\nbeim Anderen in jener Art, dar\u00fcber babe ich kein Urtheil. An der obigen Kritik (im Texte) w\u00fcrde das auch nichts \u00e4ndern ; h\u00f6chstens w\u00fcrde die eine Auslegung, der zu Folge die Hilfsfigur blos zur Erhaltung des Konvergenzgrades diente, meinen Standpunkt noch mehr st\u00fctzen; denn diesfalls w'\u00e4re nicht einmal die ged\u00e4chtnissm\u00e4ssige Erhaltung eines psychischen Datums (n\u00e4mlich einer Entfernungs v o r s t e 11 u n g) sondern bloss die Fixirung einer physiologischen Versuchsbedingung (sc. des Konvergenzgrades) das Maassgebende.\nSelbstverst\u00e4ndlich h\u00e4ngen derartige Versuche von der individuellen G\u00fcte der optischen Phantasie ab. Wenn Einer eine Entfernungsvorstellung (mit oder ohne Hilfsfigur) nicht unver\u00e4ndert in der Phantasie festhalten kann, wenn sie sich z. B. erheblich verkleinert, dann bezieht er die Vergleichsdistanz auf eine ganz andere als auf die Normaldistanz. Kann er sich nun gar in der Phantasie ein Raumdatum \u00fcberhaupt nicht vorstellen1, dann fehlt nat\u00fcrlich die f\u00fcr jede Relation n\u00f6thige Zweizahl der Elemente\u00bb Es w\u00e4re dann wohl eine solche Versuchsanordnung vorzuziehen, in welcher die beiden Objekte einander fast unmittelbar abl\u00f6sen, wie das bei meinen Versuchen bewerkstelligt werden konnte.2\nIch gehe nun zu einem zweiten Beweisversuch Arrer's \u00fcber, in Betreff dessen ich mich mit Hinblick auf die vorangegangenen Er\u00f6rterungen viel k\u00fcrzer fassen kann. Der Beweisversuch st\u00fctzt sich auf monokulare Beobachtungen, die Arrer theils bei successivem Wechsel der Objekte, theils bei gleichzeitiger Sichtbarkeit derselben angestellt hat (die Feinheit des relativen Ent-fernungsurtheils war im letzteren Falle etwas gr\u00f6sser).\nArrer findet, dass beim simultanen Vergleich \u201edie Ausbildung einer Entfernungsvorstellung von bestimmter Form, wie sie dort (sc. beim successiven Vergleich) erfordert wurde, un-n\u00f6thig war, wesshalb denn auch Herr Kiesow (und auch Herr Ussow, wie ich mich leider nur in einem Versuche \u00fcberzeugen konnte) unter diesen Bedingungen relative Tiefenunterschiede erkennen und sch\u00e4tzen konnte.\u201c 3 Und er f\u00e4hrt fort : \u201eDass nat\u00fcrlich auch bei diesen Versuchen (sc. den simultanen) der Beobachter eine Vorstellung von der absoluten Entfernung des Objektes hatte, ist sicher und nicht zu vermeiden, diese ver-\n1 Dies scheint bei Herrn Dr. Kiesow der Fall gewesen zu sein. Vgl.\nS. 259.\n3 Vgl. Zeitschr. f. Psychol. Bd. VII, S. 111.\n3 S. 267. Wie erinnerlich, konnten die beiden genannten Herren bei successivem Vergleiche Tiefenunterschiede nicht erkennen.","page":100},{"file":"p0101.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation,\nh\u00e4lt sich aber nicht anders als jene unbestimmte, weil un-analysirte, die er auch bei den Ged\u00e4chtnissversuchen hatte.\u201c\nWas nun bestenfalls durch diese Gegen\u00fcberstellung der simultanen und successiven Versuche bewiesen ist, l\u00e4uft darauf hinaus, dass man bei den successiven Versuchen die Vorstellung, die man sich von der Entfernung des Normalfadens macht, unver\u00e4ndert im Ged\u00e4chtniss behalten muss, wenn ein erfolgreicher Vergleich m\u00f6glich sein soll.1 So viel w\u00fcrde ich Arrer auch ohne weiteren Beweis zugegeben haben. Dass es hier aber nur auf die Identit\u00e4t der urspr\u00fcnglichen Vorstellung mit der ged\u00e4chtniss-m\u00e4ssig erhaltenen ankommt und dass diese Identit\u00e4t auch bestehen kann, wenn die Versuchsumst\u00e4nde keine eindeutig bestimmte Lokalisation des Normalfadens bedingen, das ist oben ausf\u00fchrlich er\u00f6rtert worden; ich h\u00e4tte die obigen Erw\u00e4gungen hier nur einfach zu wiederholen.\nUebrigens ist aus der Arrer\u2019sehen Beschreibung seiner Successiv-Versuche deutlich zu ersehen, dass es auf die Bestimmtheit der Lokalisation als solcher gar nicht ankommt. Er versichert zwar, ohne ein bestimmtes Urtheil \u00fcber die Entfernung des Normalfadens sei eine \u201erelative Entfernungssch\u00e4tzung kaum m\u00f6glich\u201c (S. 135), umittelbar darauf aber heisst es : \u201eNur wenn der Faden um so viel verschoben wird, dass eine deutliche Ver\u00e4nderung seines scheinbaren Durchmessers erkannt wird, schliesst der Beobachter auf eine Verschiebung nach der Tiefe; manchmal wird diese gesehen, weit \u00f6fters aber nur erschlossen.\u201c Ob nun das Mittel, die relative Entfernung zu beurtheilen, die scheinbare Fadendicke oder ein anderer Umstand war, das ist jetzt gleich-giltig : jedenfalls konnte die Verschiebung nach der Tiefe manchmal gesehen, h\u00e4ufiger erschlossen werden auch ohne ein bestimmtes Urtheil \u00fcber die absolute Entfernung des Normalfadens. Und weiter berichtet Arrer: \u201eErst allm\u00e4hlich, aber immerhin relativ schnell, manchmal innerhalb einer Versuchsreihe von 10 \u2014 20 Einzelversuchen lernt der Beobachter die Einstellungen\n1 Bei simultanem Vergleich f\u00e4llt dieses Moment selbstverst\u00e4ndlich weg. Dass der Beobachter \u2014 sagt Arber S. 265 ganz richtig \u2014 bei simultanem Vergleich \u201enicht bem\u00fcht ist, sich eine Entfernungsvorstellung von so bestimmter Form zu bilden und in der Weise zu analysiren wie dort (sc. bei den successiven Versuchen) ist begreiflich genug, da ihm beide Entfernungen, die er zu vergleichen hat, gleichzeitig gegeben sind.\u201c","page":101},{"file":"p0102.txt","language":"de","ocr_de":"102\nFranz Hillebrand.\ndes Objektes in verschiedenen Entfernungen unterscheiden, zu* n\u00e4chst noch unbestimmt nach ihrer absoluten Entfernung, aber jede folgende relativ zur vorangehenden\u201c (S. 136).\nSoviel \u00fcber die ersten beiden Beweisversuche Arrer\u2019s. Zur v\u00f6lligen Ueberzeugung des Gegners h\u00e4lt \u00fcbrigens der Autor beide Beweisversuche nicht f\u00fcr hinreichend (S. 260 und 268); wir wenden uns daher sofort zum \u201eletzten und endgiltigen Beweis.\u201c\nArrer hat meine Versuche mit mathematischen Linien (scharf geschnittenen Kanten) wiederholt. Bei kontinuirlicher Aenderung der Entfernung und stets folgender Akkommodation erkannten seine f\u00fcnf Versuchspersonen sofort, dass sie \u201eTiefenverschiebungen \u00fcberhaupt nicht erkennen k\u00f6nnen\u201c (S. 280). Bei abruptem Wechsel fand zwar auch Arrer Intervalle, die fast ausnahmslos richtig erkannt wurden (und zwar sind dieselben kleiner als die meinigen); er nimmt aber Anstand daran, die Versuche so zu erkl\u00e4ren wie die analogen Faden versuche, weil hier die Aussagen der Beobachter zeigen, dass sie die verschiedensten secund\u00e4ren Kriterien ben\u00fctzt hatten: das Gr\u00f6sseroder Kleinersein der Zerstreuungskreise, die gr\u00f6ssere oder kleinere Zeit, die zur neuen Einstellung der Akkommodation erforderlich war, kleine Blickschwankungen, Ersch\u00fctterungen der Kante, wenn sie pl\u00f6tzlich ins Gesichtsfeld ger\u00fcckt wurde und dergl. m. Ich stimme Arrer zu, wenn er bei Erw\u00e4hnung dieser sekund\u00e4ren Hilfsmittel sagt: \u201eEs k\u00f6nnte so gleich von vorne-herein bei entfernterer Lage der zweiten Kante eine richtige Ent-fernungsakkommodation eingeleitet werden\u201c (S. 289).\nIm Wesentlichen sind die Kantenversuche bei Arrer analog ausgefallen wie bei mir und Dixon. Dass Arrer mit meiner Interpretation derselben nicht einverstanden ist und warum, darauf komme ich sp\u00e4ter zu sprechen. Uns interessirt im Augenblick nur jener oben versprochene \u201eendg\u00fcltige Beweis\u201c, dass man ohne bestimmte absolute Lokalisation des Normalobjektes auch die relative Lokalisation des Vergleichsobjektes nicht zu Stande bringen k\u00f6nne. Sucht man nun nach jenem versprochenen Beweise, so findet man nichts anderes als die Thatsache, dass jene Kantenversuche eben wirklich jene geringen Erfolge in der relativen Lokalisation ergeben haben. Verschiedene, manchmal","page":102},{"file":"p0103.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n103\nrecht abenteuerliche1 Gr\u00fcnde werden f\u00fcr die Unm\u00f6glichkeit einer absoluten Lokalisation der Normalkante angegeben \u2014 die That-sache, dass dieselbe keine bestimmte ist, habe ich \u00fcbrigens nie geleugnet. Dass aber diese unbestimmte Lokalisation der Normalkante die Ursache der Misserfolge bei der relativen Lokalisation der Vergleichskante war \u2014 daf\u00fcr soll eben das Misslingen der Kantenversuche den Beweis abgeben (S. 285, 292\u201493, 296 und 298). Ich begreife schwer, wie es Arrer entgehen konnte, dass er hier eine typische petitio principii begeht. Ich hatte aus den negativen Erfolgen solcher Versuche, in denen blos die Akkommodation und Konvergenz ge\u00e4ndert wurden, geschlossen, dass centripetale Akkommodations- resp. Konvergenzempfindungen an der Tiefenlokalisation nicht betheiligt sein k\u00f6nnen, und habe daher nach einer andern Erkl\u00e4rung gesucht. Arrer antwortet: deine Versuche sind prinzipiell verfehlt, weil deine Versuchsbedingungen so gew\u00e4hlt sind, dass man das Normalobjekt seiner absoluten Entfernung nach nicht bestimmt lokalisiren konnte. Und wenn ich nun frage, woher man denn weiss, dass bei einer unbestimmten absoluten Lokalisation auch eine relative nicht m\u00f6glich sei, antwortet Arrer: das zeigen ja deine eigenen Versuche! \u201eWie sollte da aber eine relative Tiefensch\u00e4tzung m\u00f6glich sein, wenn der Beobachter \u00fcberhaupt keine bestimmte Vorstellung von der Entfernung der ersten Kante hat?\u201c (S. 293). Wenn also Arrer die negativen Ergebnisse meiner Kantenversuche zu einem Argument f\u00fcr seine Behauptung macht, dass ein relatives Entfernungsurtheil nur m\u00f6glich sei bei bestimmter absoluter Lokalisation, so setzt er bereits voraus, dass meine Ansicht, der zu Folge jene negativen Ergebnisse sich aus der Unf\u00e4higkeit erkl\u00e4ren, Tiefenunterschiede mit Hilfe von Muskelempfindungen zu erkennen, falsch sei. Aber gerade \u00fcber diese letztere Frage streiten wir ja.\nSo sieht also jener \u201eendgiltige Beweis\u201c aus und auf Grund einer solchen \u201eBeweisf\u00fchrung\u201c glaubt sich Arrer zu dem Urtheil berechtigt, dass eine Versuchsanordnung, die alle Lokalisationsmotive bis auf die Akkommodation und Konvergenz ausschliesst, zur Untersuchung des Einflusses eben dieser beiden letzteren Umst\u00e4nde auf die Tiefenlokalisation ungeeignet seil (S. 293).\n1 Siehe unten,","page":103},{"file":"p0104.txt","language":"de","ocr_de":"104\nFranz JELillebrand.\n_ Arrer beschwert sich auch \u00fcber gewisse technische Gebrechen, von denen meine .Versuchsanordnung nicht frei sein soll. So sei die starke-Irradiation der hellen Fl\u00e4che, die wegen des grossen Helligkeitsunterschiedes nicht beseitigt werden k\u00f6nne, insofern st\u00f6rend, als desshalb die Kante immer ein \u201everwaschenes Objekt\u201c bleibe und darum die Akkommodation unsicher werde (S. 280). Dem l\u00e4sst sich aber doch leicht abhelfen; man macht einfach den hellen Hintergrund nicht allzu lichtstark. Arrer wird doch nicht behaupten wollen, dass man auf eine Grenzlinie \u00fcberhaupt nie scharf akkommodiren k\u00f6nne, sonst m\u00fcsste er auch glauben, dass man ein Objekt \u00fcberhaupt nie scharf sehen kann, da doch \u201eein Objekt scharf sehen\u201c so viel heisst wie \u201edessen Begrenzungslinien scharf sehen\u201c. Wenn es also \u00fcberhaupt m\u00f6glich ist, Konturen scharf zu sehen, so wird man wohl auch jn den besprochenen Versuchen die Beleuchtungsverh\u00e4ltnisse so gestalten k\u00f6nnen, dass das m\u00f6glich wird, was man im t\u00e4glichen Leben jeden Augenblick verwirklicht findet, n\u00e4mlich das scharfe Bild einer Kontur. Es ist Arrer\u2019s Sache, wenn er das nicht erreicht hat; die Versuchsanordnung, wie ich sie angegeben habe, ist daran ganz unschuldig.\nKoch weniger verst\u00e4ndlich ist es mir, wenn Arrer sich \u00fcber meine Versuchsanordnung in folgender Weise \u00e4ussert: \u201eAls Objekt wird ihm (sc. cdem Beobachter) die Grenzlinie zwischen dem dunklen und dem hellen Theil seines Gesichtsfeldes geboten. Ist das aber ein Objekt? War es vor Allem auch das wirkliche Objekt der Beobachter? Mancher von ihnen, mit dem Apparat noch nicht bekannt, hielt beim ersten Hineinsehen in .das Blickrohr die beleuchtete Fl\u00e4che f\u00fcr das Objekt und den schwarzen Theil des Gesichtsfeldes f\u00fcr das Dunkel des Dunkelzimmers. Es wurde dann der sichtbare Theil der beleuchteten Glasplatte f\u00fcr n\u00e4her gehalten als der dunkle Schirm, von dem der Beobachter nichts wusste. Man wird mir sagen, solche T\u00e4uschungen beweisen nichts ausser ihrer M\u00f6glichkeit ; und dann hat man dem Beobachter zu sagen, dass ihm als Objekt eben jene Farbengrenze zu dienen habe. Letzteres ist aber nicht m\u00f6glich, denn es m\u00fcsste dann diese Grenze unabh\u00e4ngig von den Objekten bestehen, unabh\u00e4ngig von ihnen lokalisirt werden k\u00f6nnen. Die Grenze eines Objektes, sofern sie eben als Grenze des Objektes oder der Objekte auf gefasst wird, wird aber mit den Objekten selbst lokalisirt. Nun giebt es kein Mittel, bei scharfer Akkommodation auf die Grenze zweier Fl\u00e4chen, die gleich-m\u00e4ssig in der Farbe und absolut allein im Gesichtsfelde unterscheidbar sind,1 diese irgendwie bestimmt zu lokalisiren\u201c (S. 293\u201494). Es soll nicht m\u00f6glich sein, dass dem Beobachter eine Farbengrenze als Objekt diene, weil die Grenze dann unabh\u00e4ngig von den Objekten bestehen und unabh\u00e4ngig von ihnen lokalisirt werden m\u00fcsste? Meint der Verf. mit dem \u201eals Objekt dienen\u201c nur soviel wie \u201escharf gesehen werden\u201c? Dann verstehe ich die Begr\u00fcndung nicht ; denn das Scharfsehen einer Linie kann doch nicht davon abh\u00e4ngen, ob man diese Linie lokalisiren kann und wie \u2014 das Scharf sehen ist doch \u00abine rein physikalische Angelegenheit des dioptrischen Apparates. Yer-\n1 Verf. scheint also doch die S. 280 bestrittene M\u00f6glichkeit einer scharfen Akkommodation auf eine Grenzlinie jetzt wieder gelten zu lassen.","page":104},{"file":"p0105.txt","language":"de","ocr_de":"ln Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n105\nsteht aber der Verf. den Satz, die Farbengrenze k\u00f6nne nicht als Objekt dienen, so, dass er damit sagen will, sie k\u00f6nne nicht bestimmt lokalisirt werden \u2014 dann gebe ich zwar die Thatsache zn, aber nicht die Begr\u00fcndung (\u201edenn es m\u00fcsste dann diese Grenze unabh\u00e4ngig von den Objekten bestehen, unabh\u00e4ngig von ihnen lokasiert werden k\u00f6nnen\u201c). Wann immer wir scharfbegrenzte Objekte lokalisiren, lokalisiren wir die Okjekte nach ihren Grenzen und nicht die Grenzen nach den Objekten, wie sehr wir auch die Ueberzeugung haben m\u00f6gen, dass die Grenze nichts unabh\u00e4ngig von dem Begrenzten Bestehendes sein kann. Wenn wir z. B. eine begrenzte Fl\u00e4che auf Grund der Netzhautdisparation lokalisiren, so ist es die Disparation der Grenzen der beiden Halbbilder, welche eine unmittelbare Fern- oder Nahvorstellung hervorruft, nicht die gleichm\u00e4ssige Ausf\u00fcllung der beiden Fl\u00e4chenhalbbilder, die ja, gerade wenn man von den Grenzen absehen k\u00f6nnte, gar keine Disparation erzeugen k\u00f6nnten. Das Prim\u00e4re ist demnach die Lokalisation der Grenze, das Sekund\u00e4re die des Begrenzten. Es ist demnach falsch zu sagen, dass man in meinen Versuchen die Grenzlinie der beiden Sehfeldh\u00e4lften desshalb nicht bestimmt lokalisiren k\u00f6nne, weil man die beiden Fl\u00e4chen, durch welche die Grenze gebildet wird, nicht bestimmt lokalisiren kann.\nEinen weiteren Versuchsfehler will Dixon1, dem Arrer beistimmt (a. a. O. S. 288), bei den Versuchen mit kontinuirlicher Verschiebung der Kante gefunden haben : Dixon meint, der Akkommodations- und Konvergenz-w^echsel sei bei diesen Versuchen zu sehr abgestuft (\u201etoo gradual\u201c) und darum sei die Distanz\u00e4nderung nicht zu erkennen, \u201egeradeso wie ein Vater das Heranwachsen seiner eigenen Kinder nicht bemerken, hingegen \u00fcberrascht sein wrird von dem Wachsthum anderer Leute.\u201c Der Vergleich ist nicht sehr gl\u00fccklich. Die Kinder wachsen bekanntlich nicht schnell genug mm ihr Gr\u00f6sserwerden sehen zu k\u00f6nnen; ihre Gr\u00f6ssen\u00e4nderung w\u00e4re nur in dem Sinne \u201etoo gradual\u201c als sie zu langsam ist. Bei Darstellung meiner Versuche habe ich aber eigens erw\u00e4hnt, es m\u00fcsse daf\u00fcr Sorge getragen werden, \u201edass die Bewegung mit einer Geschwindigkeit erfolgt, die es dem Beobachter eben m\u00f6glich macht, bequem mit der Akkommodation zu folgen\u201c.2 W\u00fcrden die Kinder so rasch wachsen, dass man der Erhebung ihrer K\u00f6pfe eben noch bequem mit dem Blicke folgen k\u00f6nnte, dann \u2014 meine ich \u2014 w\u00fcrde auch der eigene Vater so etwTas von Wachsthum merken! Wenn man die Geschwindigkeit der Akkommodations\u00e4nderung so weit steigert, dass man eine stetige Sch\u00e4rfe des Bildes gerade noch erreichen kann, und wenn man dabei die Distanz des Objektes vom Fernpunkt bis in die N\u00e4he des Nahpunktes \u00e4ndert, dann m\u00fcsste doch end-ieh einmal die Akkommodation jene Rolle in der Tiefenwahrnehmung\nauch wirklich spielen, die man ihr vielfach vindicirt.\n*\n1 Mind, 1895, S. 204.\n3 Zeitschr. f. Psychol. Bd. VII, S.118.","page":105},{"file":"p0106.txt","language":"de","ocr_de":"406\nFranz Eiliebrand.\nIV. Einfluss der willk\u00fcrlich intendirten Akkommodations\u00e4nderung auf das Urtheil \u00fcber\nN\u00e4her und Ferner.\nIch komme zu den Einw\u00e4nden, welche Arrer gegen die Deutung, die ich meinen Versuchen gegeben, erhoben hat. Da mir die negativen Resultate der ersten Versuchsreihe (kon-tinuirliche Aenderung der Distanz bei fortw\u00e4hrendem Folgen der Akkommodation) zu beweisen schienen, dass centripetale Empfindungen, sei es von der Binnenmuskulatur, sei es von den \u00e4usseren Augenmuskeln, f\u00fcr die Tiefenvorstellung keinesfalls etwas leisten k\u00f6nnen, erhob sich die Frage, woher es denn komme, dass man bei abruptem Wechsel der Distanz doch bis zu einem gewissen Grade Entfernungsunterschiede richtig be-urtheilen kann. Ich glaubte dieser Erscheinung durch die Annahme gerecht zu werden, dass der Beobachter durch willk\u00fcrlich intendirte Akkommodations\u00e4nderung ermittle, ob die Anspannung oder die Entspannung der Akkommodation zum Deutlichsehen des Vergleichsobjektes f\u00fchre. Darnach w\u00e4re nicht die erfolgte, sondern die willk\u00fcrlich intendirte Akkommodations\u00e4nderung der Anhaltspunkt f\u00fcr unser Tiefenurtheil ; es f\u00e4nde sozusagen ein Ausprobiren statt, indem der Beobachter versucht, ob er mittels einer willk\u00fcrlichen Anspannung oder Entspannung das Deutlichsehen des Vergleichsobjektes f\u00f6rdert bezw. erreicht. Mit dieser Annahme harmonirte u. A. auch der Umstand, dass die Beobachter, auch wo sie richtig urtheilten, die Angabe machten, dass sie keine a n s c h a u 1 i c h e V orstellung von der Entfernungs\u00e4nderung erhielten, also nicht in der Weise, wie dies bei binokularen Versuchen verm\u00f6ge der Disparation der Fall sei.1\nDa Arrer auf diesen Erkl\u00e4rungsversuch zu sprechen kommt, \u00e4ussert er sich dar\u00fcber wie folgt: \u201eWie steht es aber um diese Erkl\u00e4rung, vor Allem worauf st\u00fctzt sie sich? In der fr\u00fcher ausgef\u00fchrten Form nur auf eine Denkm\u00f6glichkeit. Aus Hillebrand\u2019s Abhandlung ist kaum zu entnehmen, dass ihm auch nur ein Beobachter den Vorgang so beschrieb, wie er ihn er-\n1 Vgl. meine Abhandlung S. 147.","page":106},{"file":"p0107.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n107\nkl\u00e4rt. Oder sollte er irgendwie unterbewusst geschehn? Dies ist nach der Erkl\u00e4rung ausgeschlossen, da die Innervation immer eine bewusst gewollte sein m\u00fcsste, um f\u00fcr das Erkennen etwas zu leisten. Auch in den Aussagen der Beobachter bei Dixon und bei mir ist nichts enthalten, was die Hillebrand\u2019sehe Erkl\u00e4rung st\u00fctzen k\u00f6nnte\u201c (S. 285).\nLassen wir zun\u00e4chst einmal den Einwand bei Seite, dass die Beobachter nichts dar\u00fcber angaben, auf welchem Wege sie zu ihrem Urtheil gelangt waren \u2014 ich komme sp\u00e4ter darauf zur\u00fcck; eine blosse \u201eDenkm\u00f6glichkeit\u201c war meine Erkl\u00e4rung durchaus nicht. Abgesehen von den sp\u00e4ter zu erw\u00e4hnenden izeitmessenden Versuchen und abgesehen von den fr\u00fcher erw\u00e4hnten Angaben meiner Versuchspersonen, dass ihnen die Distanz\u00e4nderungen, auch wenn sie sie richtig erkannten, doch niemals anschaulich waren, war mir bei meiner Erkl\u00e4rung vor Allem die Thatsache maassgebend, dass bei kontinuirlicher Aenderung der Distanz (erste Versuchsreihe) weder das Vorhandensein noch die Dichtung der Distanz\u00e4nderung erkannt werden konnte, obwohl hier die Akkommo dations \u00e4nderung unter mindestens ebenso guten Bedingungen die Tiefenvorstellung h\u00e4tte beeinflussen m\u00fcssen wie in der zweiten Versuchsreihe. Ich habe in meiner Abhandlung ausdr\u00fccklich betont, dass die Versuche mit abruptem Distanzwechsel, wenn sie allein und f\u00fcr sich betrachtet werden, sich durch Muskelempfindungen auch erkl\u00e4ren Hessen, dass aber diese Erkl\u00e4rung sofort unm\u00f6glich wird, wenn man zugleich auf die negativen Ergebnisse bei kontinuirlicher Distanz\u00e4nderung achtet.1 Arrer h\u00e4tte daraus ersehen k\u00f6nnen, dass meine Annahme durchaus keine blosse \u201eDenkm\u00f6glichkeit\u201c war. Auch f\u00fcr die wenigen F\u00e4lle, in denen bei kontinuirlicher Aenderung der Entfernung die Richtung erkannt wurde, nahm ich an, es m\u00fcsste hier der Beobachter nicht einfach mit der Akkommodation gefolgt sein, sondern dieselbe willk\u00fcrlich ge\u00e4ndert, bald angespannt bald entspannt und zugleich darauf geachtet haben, ob er das Scharfsehen dadurch f\u00f6rdere oder sch\u00e4dige.2 Es war mir nicht uninteressant bei Dixon eine direkte Best\u00e4tigung dieser Annahme zu finden. W\u00e4hrend n\u00e4mlich Dixon\u2019s \u00fcbrige Versuchspersonen die Richtung der kontinuirlichen\n1 Ygl. meine Abhandlung S. 134.\n4 Meine Abhandlung S. 130 und 132\u201433.","page":107},{"file":"p0108.txt","language":"de","ocr_de":"108\nFranz Hillebrand.\nVerschiebung ebensowenig erkennen konnten wie die meinigen, war doch ein Beobachter (der Bruder des Autors, Herr T. T, Dixon) darunter, der die Richtung auffallend gut erkannte; aber er bediente sich dabei nach seiner eigenen Angabe eines Kunstgriffes (\u201etrick\u201c), indem er n\u00e4mlich die Akkommodation nicht folgen liess, sondern absichtlich sistirte, sie dann aber nach einer der beiden m\u00f6glichen Richtungen willk\u00fcrlich ver\u00e4nderte und daraus erkennen konnte, welche Aenderung das Deutlichsehen f\u00f6rderte.1\nArber nimmt weiter Anstoss daran, dass jenes von mir angenommene willk\u00fcrliche Ausprobiren von keinem meiner Beobachter so beschrieben worden sei, ja dass sie \u00fcberhaupt nichts davon erw\u00e4hnten; das Gegentheil sei aber zu erwarten, da die Innervation meiner eigenen Ansicht zufolge eine bewusst gewollte sein m\u00fcsse.\nAuch hierin sehe ich nichts Auff\u00e4lliges. Wenn alle bewussten Kriterien des Distanzurtheils desswegen, weil sie bewusst sind, von den Beobachtern auch richtig beschrieben werden m\u00fcssten, dann k\u00f6nnten wir Beide, Arrer und ich, uns die meisten unserer Versuche und s\u00e4mmtliche daran gekn\u00fcpfte Diskussionen ersparen. Da sowohl die Akkommodationsempfindungen wie auch die willk\u00fcrliche Innervation (wie ich sie annehme) etwas Bewusstes sein m\u00fcssen, so brauchten wir jeden unserer Beobachter blos einen Verschiebungsversuch (kontinuirlich oder abrupt) machen zu lassen, um ihn dann einfach zu fragen: urtheilst du hier auf Grund der Akkommodationsempfindung oder auf Grund einer willk\u00fcrlichen Innervation ? Die Sache w\u00e4re \u00e4ussert einfach, wir ersparten uns jedenfalls alle Interpretationsarbeit. Weil sie aber thats\u00e4chlich nicht so einfach ist und weil in dem Vorhandensein der inneren Wahrnehmung keineswegs involvirt liegt, dass das so Wahrgenommene richtig analysirt und beschrieben werden m\u00fcsse, ja nicht einmal dass alle seine Theile auch bemerkt werden m\u00fcssen,2 haben sowohl Arrer als ich den Weg indirekter Beweise betreten.\n1\tDixon a. a. O. S. 189.\n2\tW\u00e4re doch sonst die ganze deskriptive Psychologie mit einem Schlage erledigt; jeder m\u00fcsste mit derselben Untr\u00fcglichkeit, mit der er einen Vorgang innerlich wahrnimmt, ihn auch analysiren und beschreiben k\u00f6nnen Es g\u00e4be keine Meinungsverschiedenheiten und die deskriptive Psycho-","page":108},{"file":"p0109.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\t109\nBeil\u00e4ufig erinnere ich daran, dass ich es schon in meiner citirten Abhandlung bei Erw\u00e4hnung der willk\u00fcrlich intendirten Akkommodation als den wahrscheinlicheren Vorgang bezeichnet habe, dass die unmittelbare Wirkung des Willens eine Entfernungsvorstellung in der Phantasie sei und dass sich die Akkommodation dann unter der Direktive dieser Phantasievorstellung \u00e4ndere (a. a. O. S. 133).\nAnmerkung. Gegen die Ansicht, dass der bewusste Willensimpuls hier das Entscheidende sei, bemerkt Arrer u. A. : \u201eDas wirkliche Kriterium, wonach die Tiefenunterschiede erschlossen wurden, ist das Undeutlichsehen der Kante, und der bewusste Willensimpuls, von jenem Undeutlichsehen selbst herkommend, nur das Mittel zur Interpretation dieses Kriteriums\u201c (S. 287\u201488). Darauf antworte ich: das Undeutlichsehen der Kante kann nur ein Kriterium daf\u00fcr sein, dass die Kante entweder n\u00e4her oder ferner liegt, da sie ja in beiden F\u00e4llen in Zerstreuungskreisen erscheint. Da es sich bei der relativen Tiefenlokalisation aber eben darum handelt, sich f\u00fcr eine von den beiden M\u00f6glichkeiten, N\u00e4her oder Ferner, zu entscheiden, so kann gerade das Undeutlichsehen kein Kriterium sein und der bewusste Willensimpuls kann eben wegen dieser Zweideutigkeit nicht vom Undeutlichsehen \u201eherkommen\u201c. Ich kann nicht in abstracto das An spann en oder Entspannen intendiren, sondern nur das Eine oder das Andere. Wenn Arrer den bewussten Willensimpuls \u201edas Mittel zur Interpretation dieses Kriteriums\u201c (sc. des Deutlichsehens) nennt, so ist das ein Spiel mit Worten : es kommt lediglich darauf hinaus, dass Arrer ein Mittel, welches uns zur Entscheidung zwischen den beiden m\u00f6glichen Bedeutungen eines zweideutigen Kriteriums verhilft, nicht mehr mit dem Namen eines \u201eKriteriums\u201c, sondern mit dem eines \u201eInterpretationsmittels\u201c belegt. Ueber die Nomenklatur will ich nicht streiten; wer von uns Beiden aber hier einen \u201evoreiligen Schluss\u201c gemacht hat, m\u00f6ge der Leser entscheiden. Arrer f\u00e4hrt fort : \u201eDer Inhalt dieses Schlusses ist aber auch psychologisch leer, denn ein Willensimpuls muss eine Vorstellungsgrundlage haben, er muss sich ferner auf etwas beziehen. Seine Grundlage ist das undeutliche Bild der Kante, sein Zweck das Deutlichsehen, die Verbindung beider und die Schlussfolgerung sind logische Vorg\u00e4nge. Also auch nach dieser Seite ist nicht er (Arrer meint den Willensimpuls) es, der das Erkennen der relativen Tiefenunterschiede bedingt\u201c (S. 288). Darauf ist Aehnliches zu\nlogie wenigstens w\u00e4re ein Reich des ewigen Friedens. \u2014 Arrer wird wohl zugeben, dass die, die Klangfarbe bestimmenden Obert\u00f6ne nichts \u201eUnbewusstes\u201c sind. W\u00fcrde aber daraus folgen, dass man das Ph\u00e4nomen eines Klanges darum auch schon richtig m\u00fcsste analysiren, d. h. die Partialt\u00f6ne angeben k\u00f6nnen, dann h\u00e4tte es nicht so langer Zeit bedurft, um die Thatsache der verschiedenen Klangfarben zu erkl\u00e4ren. Jeder, der einen Fl\u00f6tenton von einem Geigenton zu unterscheiden wusste, h\u00e4tte uns ohne Weiteres dar\u00fcber Aufschluss geben k\u00f6nnen.","page":109},{"file":"p0110.txt","language":"de","ocr_de":"Franz Hil\u00eeebran\u00e2.\n110\n'erwidern wie oben. Ich will einmal zugeben, dass der letzte Zweck das Deutlichsehen der Vergleichskante sei.1 Da ich aber nicht wissen kann, ob ich diesen Zweck durch Anspannen oder Entspannen der Akkommodation erreiche (die Zerstreuungskreise sind ja zweideutig), so versuche ich es mit dem einen und mit dem andern \u2014 der unmittelbare Gegenstand des Willens ist also das Anspannen resp. Entspannen ; und wenn auch der letzte Zweck das Deutlichsehen ist, so gr\u00fcndet sich unser Entfernungs-urtheil doch nicht darauf, dass das Deutlichsehen erreicht wurde, sondern darauf, wie es erreicht wurde, ob durch Anspannen oder Entspannen des Akkommodationsapparates. Warum der Inhalt eines solchen \u201eSchlusses\u201c \u201epsychologisch leer\u201c sein soll, weiss ich nicht.\nIch komme zu einem weiteren Einwand, den Abbeb, gegen meine Deutung der Kantenversuche erhoben hat.\nUm die Annahme, dass bei abruptem Wechsel der Objekte ein Ausprobiren mittels willk\u00fcrlicher Akkommodations\u00e4nderung stattfinde, weiter zu st\u00fctzen, habe ich Versuche \u00fcber die zur Akkommodation n\u00f6thige Zeit gemacht, und zwar einmal in der Weise, dass der Beobachter wusste, ob das zweite Objekt n\u00e4her oder ferner liegt als das erste, in einer zweiten Beihe aber so, dass der Beobachter davon keine Kenntniss hatte. Ueber die Versuchsanordnung ist das N\u00e4here in meiner Abhandlung zu finden2 3; hier nur so viel: das Fixationsobjekt war ein vertikaler Faden im leeren Gesichtsfeld; vor und hinter demselben konnte je eine feine Nadel mittels einer Federrichtung so in das Gesichtsfeld geschnellt werden, dass sie, in der Blickebene (horizontal) liegend, mit ihrer Spitze bis hart an die Symmetrieebene des Apparates reichte (in welcher Ebene der vertikale Faden lag). Die Nadeln waren verschieden dick und ihre Entfernungen vom Faden so gew\u00e4hlt, dass, wenn der Beobachter auf den Faden einstellte, beide Nadeln in gleich grossen Zerstreuungskreisen erschienen; man konnte also aus der Undeutlichkeit des Bildes nicht erkennen, ob dasselbe von der vorderen oder hinteren Nadel herr\u00fchrte \\ Die messenden Versuche\n1\tStrenge richtig ist nicht einmal dies; der letzte Zweck, den der Beobachter im Auge hat, ist das Erkennen der relativen Entfernung. Er sucht ihn zu erreichen mittels einer erfolgreichen (d. h.; das Deutlichsehen erzielenden) Akkommodations\u00e4nderung.\n2\tZeitschr. f. Psychol Bd. VII, S. 140 ff.\n3\tAuch die verschiedene chromatische F\u00e4rbung der Zerstreuungskreise wurde beseitigt.","page":110},{"file":"p0111.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n111\nhaben nun haupts\u00e4chlich zweierlei ergeben: erstens, dass bei unbekannter Lage der Nadel die Akkommodationszeiten im Durchschnitt betr\u00e4chtlich gr\u00f6sser sind als bei bekannter Lage; zweitens, dass die Zeiten unter einander viel gr\u00f6ssere Verschiedenheiten zeigen, wenn man die Lage der Nadel nicht kennt. Beides schien mir ein indirekter Beweis f\u00fcr die ver-muthete Thatsache, dass beim Uebergang der Akkommodation von einem Objekt zu einem andern, dessen relative Lage zum ersteren man nicht kennt, eine Art Ausprobirens der Akkommodationsrichtung stattfindet. Namentlich waren mir die gr\u00f6sseren Abweisungen vom Mittel beweisend : denn selbstverst\u00e4ndlich wird, wenn man zuf\u00e4llig die passende Akkommodations\u00e4nderung einleitet, das Ziel rascher erreicht sein als wenn man die Akkommodation zun\u00e4chst unpassend \u00e4ndert (z. B. anspannt, w\u00e4hrend die Nadel ferner liegt) und dann \u2014 durch das Wachsen der Zerstreuungskreise veranlasst \u2014 eine entgegengesetzte Aende-rung einleiten muss.\nAn diese Deutung meiner Zeitmessungen schliesst nun Arrer folgende Bemerkung an: \u201eZugegeben alles das, so vermag ich doch nicht einzusehen, wie diese Resultate f\u00fcr die in Rede stehende Erkl\u00e4rung (sc. die Erkl\u00e4rung meiner Kantenversuche bei abruptem Wechsel) sprechen sollen. Mit diesen Versuchen ist h\u00f6chstens dargethan, dass ein Ausprobiren in der Akkommodation bis zu ihrer richtigen Einstellung im Allgemeinen stattfinden kann. Fand aber eine solche (soll wohl heissen \u201eein solches\u201c, sc. Ausprobiren) in den Versuchen, die dadurch erkl\u00e4rt werden sollen, auch wirklich statt? Ein subjektiver Beweis, so sahen wir, fehlt daf\u00fcr, ein objektiver Beweis w\u00e4re aber nur dann erbracht, wenn Zeitaufnahmen \u00fcber die Akkommodationseinstellung bei diesen Versuchen selbst vorliegen, und diese mit jenen ersteren irgend welche Ueber-einstimmung aufweisen w\u00fcrden\u201c (S. 286). Ich h\u00e4tte also die Akkommodationszeiten bei denjenigen Versuchen selbst messen sollen, in welchen die relative Lokalisation einer Kante zu einer andern untersucht wurde, so glaubt Arrer. Ich frage aber : worin besteht denn der Unterschied zwischen den beiden Versuchsumst\u00e4nden, bezw. zwischen den Situationen, in denen sich der Beobachter das eine und das andere Mal befindet ? Hier und dort geht er von der Einstellung auf ein bestimmtes Objekt aus (bei den Lokalisationsversuchen ist das Objekt eine Kante, bei","page":111},{"file":"p0112.txt","language":"de","ocr_de":"112\nFranz Hillebrand.\nden Zeitmessungen ein Faden) ; hier und dort wird ihm pl\u00f6tzlich ein zweites Objekt gezeigt, das zun\u00e4chst in Zerstreuungskreisen erscheint; hier und dort weiss er weder durch die Zerstreuungskreise noch durch irgend einen sonstigen Anhalt etwas dar\u00fcber, ob das zweite Objekt n\u00e4her oder ferner liegt als das erste ; in beiden F\u00e4llen sucht er ferner das zweite Objekt scharf zu sehen. In beiden F\u00e4llen sind also alle Umst\u00e4nde, die f\u00fcr die Akkommodation irgend in Betracht kommen k\u00f6nnen, dieselben. Wenn sich beim Uebergang der Akkommodation auf die n\u00e4here oder fernere Nadel jene oben beschriebenen Zeitverh\u00e4ltnisse ergaben, so kann ich mir nicht im Entferntesten einen Grund denken, warum jene Verh\u00e4ltnisse andere werden sollten, wenn man statt der Nadeln Kanten und statt des Fixationsfadens eine Fixationskante in Anwendung bringt; dann haben wir aber eben dieselben Versuchsbedingungen, wie ich sie bei den Lokalisationsversuchen eingef\u00fchrt habe mit der einzigen Ausnahme, dass bei diesen letzteren Versuchen das erste Objekt beim Auftreten des zweiten verschwindet, w\u00e4hrend bei den Zeitmessungen das erste Objekt (der Faden) nicht entfernt wurde. Dieser Unterschied ist aber durchaus gleichgiltig ; denn im Augenblick, in welchem die Nadel sichtbar wird, ist die Aufmerksamkeit und die Th\u00e4tigkeit der Akkommodation nur auf diese gerichtet, mit dem Faden hat der Beobachter gar nichts mehr zu schaffen, ebenso wie wenn er gar nicht mehr da w\u00e4re.\nIch habe bei den Zeitmessungen die drei Entfernungen: 175 cm (n\u00e4here Nadel), 250 cm (Faden) und 480 cm (fernere Nadel) ben\u00fctzt; nat\u00fcrlich h\u00e4tte ich nebstdem auch alle jene Intervalle durchprobiren k\u00f6nnen, welche bei den Lokalisationsversuchen mit den Kanten in Anwendung kamen. Aber was f\u00fcr ein Grund l\u00e4sst sich ersinnen, warum die konstatirten Unterschiede zwischen den Ergebnissen der Zeitmessung bei bekannter und bei unbekannter Lage des zweiten Objektes nicht bestehen sollten, wenn man statt der erw\u00e4hnten drei andere Distanzen w\u00e4hlt z. B. die bei den Kantenversuchen ben\u00fctzten, solange man nur \u00fcberhaupt das Bereich der Akkommodationslinie \u00fcberschreitet ? Die absoluten Zeitwerthe w\u00fcrden gewiss andere werden, aber auf diese kam es ja \u00fcberhaupt nicht an. |Wenn also die Resultate der Zeitmessungsversuche (unter den oben angegebenen Umst\u00e4nden) sich am besten durch die Annahme eines \u201eAus-probirens\u201c verstehen lassen, so ist diese Annahme eben dadurch","page":112},{"file":"p0113.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n113\nauch f\u00fcr die Kantenversuche plausibel gemacht und zwar mit demselben Grade von Wahrscheinlichkeit. Jedenfalls w\u00e4re es Arrer\u2019s Bache gewesen zu zeigen, welcher Unterschied in den beiderseitigen Versuchsbedingungen es verbietet die einen Versuche analog zu interpretiren wie die andern.\nUnter der Devise \u201eHilf was helfen kann!\u201c steht aber unverkennbar der folgende \u201eEinwand\u201c, der sich wiederum gegen die Ansicht kehrt, dass in meinen Versuchen der Entfernungsunterschied durch willk\u00fcrlich intendirte An- und Entspannung der Akkommodation erkannt werde : nehmen wir an, meint Arrer, die Vergleichskante sei weiter entfernt als die Normalkante, und der Beobachter leite eine willk\u00fcrliche Entspannung der Akkommodation ein (also eine zuf\u00e4llig passende Aenderung), so entsteht die Frage: \u201eWird er das Deutlichsehen unbedingt f\u00f6rdern m\u00fcssen?\u201c Und Arrer antwortet: \u201eNur in dem einen Falle, wenn er mit der Akkommodation nicht \u00fcber das Ziel hinausschiesst. Dies w\u00e4re aber ohne Weiteres m\u00f6glich, und der Beobachter kehrt nun mit der Akkommodation um, f\u00f6rdert jetzt vielleicht das Deutlichsehen und sch\u00e4tzt n\u00e4her, trotzdem die Kante weiter war, und zwar weiter als das Ausmaass der unwillk\u00fcrlichen Akkommodations\u00e4nderung betrug. Darauf kam es an\u201c (S. 286\u201487).\nDer Fall, von dem Arrer ausgeht (dass die willk\u00fcrliche Akkommodations\u00e4nderung \u00fcber\u2019s Ziel schiesse) ist zwar direkt durch gar keine Erfahrung bezeugt, er ist auch von vornherein nicht wahrscheinlich, weil man nicht recht einsieht, warum Jemand, der \u2014 blos von dem Streben geleitet einen ferneren Gegenstand scharf zu sehen \u2014 seine Akkommodation entspannt, dieser willk\u00fcrlichen Aenderung nicht auch ebenso willk\u00fcrlich ein Ende setzen sollte, wenn er sein Ziel (das Scharf sehen) erreicht hat. Es hat recht wenig f\u00fcr sich einen solchen Fall zu fingiren und ich k\u00f6nnte hier mit gr\u00f6sserem Rechte Arrer eine Vorlesung \u00fcber \u201eblosse Denkm\u00f6glichkeiten\u201c halten. Aber immerhin ganz ausgeschlossen ist es nicht, dass die willk\u00fcrliche und passende Akkommodations\u00e4nderung \u00fcber\u2019s Ziel schiesst ; bei geringen Entfernungsunterschieden und sehr energischer Innervation (bezw. Innervationsnachlass) k\u00f6nnte das vielleicht einmal eintreten. Nehmen wir diesen Fall also als verwirklicht an, so m\u00fcsste der Beobachter doch w\u00e4hrend der \u2014 \u00fcber das gew\u00fcnschte Ziel hinausgehenden \u2014 Akkommodations\u00e4nderung sehen, dass die\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XVI.\t^","page":113},{"file":"p0114.txt","language":"de","ocr_de":"114\nFranz Hillebrancl.\nanf\u00e4nglichen Zerstreuungskreise immer kleiner werden, dann g\u00e4nzlich verschwinden und schliesslich wieder zu wachsen beginnen (letzteres, sobald die Akkommodation \u00fcber ihr Ziel hinausgegangen ist). Ich habe nie behauptet, dass die willk\u00fcrliche Akkommodations\u00e4nderung allein es sei, auf der das Tiefen-urtheil beruht; vielmehr habe ich fortw\u00e4hrend betont, dass zur willk\u00fcrlichen Aenderung der Akkommodation noch die unmittelbare Wahrnehmung kommen m\u00fcsse, dass man mittels derselben das Deutlichsehen gef\u00f6rdert oder gesch\u00e4digt habe. Wenn nun Einer mit der willk\u00fcrlichen Akkommodations\u00e4nderung auch \u00fcbers Ziel schiesst, so hat er doch gesehen, dass er bis zum Beginne des Exzesses das Deutlichsehen fortw\u00e4hrend f\u00f6rderte und sogar erreichte, und darauf konnte er sein Urtheil ebensogut gr\u00fcnden, wie wenn er nicht \u00fcber s Ziel geschossen h\u00e4tte. Arrer hat Sorge, man werde nach dem Ueberschreiten des Zieles mit der Akkommodation umkehren , also nach der exzessiven Entspannung wieder eine Anspannung einleiten und nun \u2014 diesem letzteren Impulse entsprechend \u2014 das zweite Objekt f\u00fcr n\u00e4her halten. Ich frage aber: warum wechselt der Beobachter in diesem Falle den Akkommodationsimpuls \u00fcberhaupt? Doch offenbar nur dess-wegen, weil er die Zerstreuungskreise, nachdem sie abgenommen haben, nun wieder gr\u00f6sser werden sieht. Hat ihn also dieser Umstand zur Umkehr veranlasst, dann wird er die gr\u00f6ssere Entfernung des Vergleichsobjektes erst recht richtig beurtheilen m\u00fcssen, weil er nicht nur den Exzess seiner ersten Innervation durch das Anwachsen der bereits verschwundenen Zerstreuungskreise als Exzess erkennen wird, sondern \u00fcberdies noch durch die willk\u00fcrliche Umkehr und die gleichzeitige Wiederabnahme der Zerstreuungskreise sozusagen die Probe aufs Exempel gemacht sieht. Arrer h\u00e4tte Folgendes bedenken sollen: wenn der Beobachter durch die willk\u00fcrliche Umkehr der Akkommodation zu einem falschen Urtheil veranlasst wird, so wird er es doch nur desswegen, weil er die Zerstreuungskreise abnehmen sieht ; warum soll er dann aber bei der ersten (passenden) Akkommodations\u00e4nderung, die ebenfalls zum Schwinden der Zerstreuungskreise f\u00fchrt, nicht zum richtigen Entfernungsurtheil veranlasst werden ? Arrer acceptirt also hier das Prinzip der willk\u00fcrlichen Akkommodations\u00e4nderung f\u00fcr die Akkommodation, die zu einem falschen Urtheil f\u00fchrt, und mir will er vorwerfen, dass ich dasselbe Prinzip f\u00fcr diejenige Akkommodation anwende, die zu","page":114},{"file":"p0115.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n115\neinem richtigen Urtheil f\u00fchrt. Ob durch Einw\u00e4nde von dieser Qualit\u00e4t meine \u201eganze Erkl\u00e4rung als ungen\u00fcgend, um nicht zu sagen unbrauchbar\u201c erwiesen wird, das zu beurtheilen \u00fcberlasse ich getrost dem Leser.\nY. Ueber die Verwendung von Objekten, die ihren scheinbaren Durchmesser \u00e4ndern.\nIn K\u00fcrze will ich noch auf die Frage zu sprechen kommen, ob die Verwendung von F\u00e4den als Fixationsobjekte, selbst wenn sie wie bei Aeeee bloss 0,22 mm dick sind, wirklich keinen Versuchsfehler konstituirt. Vor Allem: wenn man bei Anwendung von F\u00e4den ceteris paribus erheblich bessere Urtheile \u00fcber die relative Entfernung erzielt als bei Anwendung mathematischer Linien1, so muss die Ursache der verschiedenen Resultate doch in demjenigen Umstand gesucht werden, durch den allein die beiden Versuchsanordnungen sich von einander unterschieden, also darin, dass das Fixationsobjekt das eine Mal eine endliche (wenn auch noch so geringe) Breite hatte, das andere Mal aber die Breite Null. Wodurch sonst ist aber der Einfluss der Breite \u00fcberhaupt verst\u00e4ndlich als durch die merkliche Breiten* \u00e4nderung bei Verschiebung des Fadens? Aeeee wird vielleicht auch hier wieder sagen: der Unterschied erkl\u00e4rt sich daraus, dass es bei den F\u00e4den eher m\u00f6glich ist das Normalobjekt absolut zu lokalisiren als bei den Kanten; die absolute Lokalisation sei aber eine Bedingung der relativen.\nObwohl nun diese letztere Abh\u00e4ngigkeit gewiss nicht besteht (siehe die obigen Er\u00f6rterungen S. 85 ff.), so will ich sie Aeeee f\u00fcr den Augenblick einmal zugeben. Ich frage dann aber : warum gelingt denn die absolute Lokalisation eines Fadens besser als die einer Kante? Die blosse Thatsache einer Aus*\n1 Man vergleiche Abrer\u2019s Tabellen S. 141\u201442 (Anwendung von F\u00e4den) mit der Tabelle S. 282 (Anwendung von Kanten), so wird man f\u00fcr die, beiden Tabellen gemeinsamen, Beobachter (Fruit, Tawney und Thi\u00e9ry) sehr betr\u00e4chtliche Unterschiede finden.\n8*","page":115},{"file":"p0116.txt","language":"de","ocr_de":"116\nFranz Hillebrand.\ndehn\u00fcng nach der Breite w\u00fcrde hier nichts erkl\u00e4ren, weil dasselbe Bild von einem ferneren und dickeren wie von einem n\u00e4heren und d\u00fcnneren Faden herr\u00fchren kann. Es bleibt also gar nichts anderes \u00fcbrig als sich vorzustellen, dass der Normalfaden (der ja in allen Versuchen derselbe war) n\u00e4her oder ferner lokalisirt wurde je nachdem sein scheinbarer Durchmesser von einem Versuch zum andern merklich gr\u00f6sser oder kleiner war. Die sogenannte \u201eabsolute\u201c Lokalisation w\u00e4re dann auch nur eine relative, relativ nicht innerhalb eines und desselben Versuches, sondern von einem Versuch zum andern. Man k\u00f6nnte also, um den Einfluss der scheinbaren Dicke auszu-schliessen, nur zweierlei thun: entweder man verwendet Normal-und Vergleichsf\u00e4den von verschiedener Dicke, so dass der Beobachter nie weiss, welche F\u00e4den vom Experimentator augenblicklich gew\u00e4hlt wurden \u2014 oder man verwendet Objekte, die gar keine Dicke haben: der letztere und sicherere1 Weg ist von mir eingeschlagen worden.\nAerer's Versuchspersonen haben zwar mehrfach selbst die scheinbare Fadendicke f\u00fcr merkbar ver\u00e4nderlich erkl\u00e4rt2, ja der Verf. bezeichnet den scheinbaren Durchmesser mitunter selbst als eines der Lokalisationsmittel (S. 224 u. 225); aber trotzdem h\u00e4lt er dieses Kriterium nicht f\u00fcr \u201eobjektiv bedingt\u201c (S. 225) und daher die betreffenden Aussagen der inneren Wahrnehmung nicht f\u00fcr f\u00e4hig \u201eobjektiv\u201c best\u00e4tigt zu werden (S. 145). Nun \u25a0will ich nicht weiter darauf eingehen, wie bedenklich es ist, dem Zeugniss der inneren Wahrnehmung dort, wo es sich nicht etwa um Deutung oder Analyse sondern um das unmittelbare Kon-~statiren des psychisch Erlebten handelt, eine \u201eobjektive\u201c Korrektur \"entgegenzustellen ; ich will nicht n\u00e4her ausf\u00fchren, dass in F\u00e4llen* wo das direkte Zeugniss der inneren Wahrnehmung unseren Schl\u00fcssen aus \u201eobjektiven\u201c Daten widerspricht, sofort diese letzteren und nicht die Aussage der inneren Wahrnehmung an-:gezweif eit werden m\u00fcssen ; vielmehr will ich sogleich untersuchen, wie es denn mit jenen \u201eobjektiven\u201c Gr\u00fcnden aussieht, denen \u00abzu Liebe man trotz innerer Wahrnehmung an eine psychisch\n1\tSicherer ist er darum, \u201eweil bei Anwendung verschieden dicker F\u00e4den die dickeren sehr leicht unterscheidbare Einzelheiten erkennen lassen k\u00f6nnen, wodurch also wieder ein Versuchsfehler eingef\u00fchrt w\u00e4re.\n2\tVgl. z. B. S. 140, 145, 224, 225.","page":116},{"file":"p0117.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n117\nwirksame Aenderung der scheinbaren Fadendicke nicht soll glauben d\u00fcrfen. Ich habe in meiner citirten Arbeit auf einen Aufsatz von E. A. W\u00fclfing \u201e\u00fcber den kleinsten Gesichtswinkel\u201c 1 hingewiesen, in welchem dieser Autor als Minimalwerth des Gesichtswinkels, unter dem zwei Lichteindr\u00fccke noch eben unterschieden werden k\u00f6nnen, 10 bis 12 Winkelsekunden angiebt. Darauf beruft sich nun Arber; er rechnet f\u00fcr die monokulare Versuchstabelle eines Beobachters die Differenzen der Gesichtswinkel, unter welchen Normal- und Vergleichsfaden erscheinen, und findet, dass sich diese Differenzen in dem Intervall zwischen 12\" und 1\" bewegen (S. 139); daraus schliesst er auf die Unzul\u00e4ssigkeit der Annahme, \u201ees h\u00e4tte die scheinbare Dicke des Fadens bei diesen Versuchen eine Bolle gespielt\u201c (S. 140).\nW\u00fclfing hat sich folgender Versuchsanordnung bedient: er ben\u00fctzt einen feinen (\u2019/a mm breiten) hellen Spalt, dessen untere H\u00e4lfte parallel mit sich selbst verschoben werden kann, \u00e4hnlich wie die Theilstriche eines Nonius gegen die des Maassstabes verschoben werden k\u00f6nnen. W\u00fclfing kann eine Verschiebung von 0,1 mm noch auf 2 m Entfernung erkennen, was einen Gesichtswinkel von 10\" ergiebt (a. a. O. S. 201). Analoge Versuche mit Nonien (schwarze Theilstriche auf weissem Karton) zeigten, dass eine Verschiebung von 0,056 mm auf 1 m Entfernung noch erkennbar war, was einen Gesichtswinkel von 12\" ergiebt (S. 201). W\u00fclfing f\u00fcgt bei: \u201eBei g\u00fcnstigeren Beleuchtungsverh\u00e4ltnissen , d. i. bei Linien, die sich besonders scharf von ihrem Grunde abheben, w\u00fcrde man als Grenze der Wahrnehmbarkeit wahrscheinlich einen noch kleineren Gesichtswinkel erhalten (S. 201).\nEs f\u00e4llt nun in die Augen, dass W\u00fclfing\u2019s Besultate nicht ohne Weiteres auf Beobachtungen \u00fcber successive Entfernungs\u00e4nderung anwendbar sind, was ich seiner Zeit selbst betont habe 2. Bei W\u00fclfing\u2019s Versuchen waren die beiden Objekte gleichzeitig vorhanden; damit ist schon gesagt, dass die Irradiation nicht g\u00e4nzlich ausgeschlossen sein kann, obzwar sie nat\u00fcrlich viel weniger zu bedeuten hat als wenn man nach der alten Methode zwei Lichtpunkte ben\u00fctzt. Die Irradiations-\n1 Zeitschrift f\u00fcr Biologie, XXIX. Bd., der neuen Folge XL Bd., S. 199 ff. 9 Zeitschr. f. Psychol. Bd. VII, S. 116.","page":117},{"file":"p0118.txt","language":"de","ocr_de":"ns\nFranz Hillebrand.\nkreise des Noniustheilstrichs und des Maassstabtheilstrichs k\u00f6nnen freilich nur mit ihren einander zugekehrten Enden ineinander greifen, aber man kann darum doch nicht sagen, sie griffen gar nicht ineinander. Ferner wird die F\u00e4higkeit auf derartig feine Objekte noch in 1 bis 2 m Entfernung vollkommen scharf einzustellen sicherlich eher abhanden kommen als man die letzte Grenze in der Feinheit des Ortssinnes der Netzhaut erreicht hat ; die sph\u00e4rische Abweichung und der geringste etwa vorhandene Astigmatismus w\u00fcrden \u00fcberdies Zerstreuungskreise erzeugen, die bei so extrem feinen Versuchen nothwendig in Betracht zu ziehen w\u00e4ren. Das Missliche ist nun dies: wenn man durch eine bedeutende Helligkeitsdifferenz zwischen Linie und Grund die dioptrischen Zerstreuungskreise abzuschw\u00e4chen sucht (und sie werden ja dann durch Kontrast abgeschw\u00e4cht), so ver-hilft man gerade damit der physiologischen Irradiation zu gr\u00f6sserem Einfluss und kommt so von der Scylla in die Cha-rybdis. Ich bezweifle \u00fcbrigens sehr, ob man bei simultanen Versuchen \u00fcber den kleinsten Gesichtswinkel \u00fcberhaupt alle Fehlerquellen g\u00e4nzlich wird ausschliessen k\u00f6nnen.\nEs ist also nicht nur m\u00f6glich, sondern vern\u00fcnftiger Weise sogar zu erwarten, dass die Feinheit des Ortssinnes der Netzhaut eine gr\u00f6ssere ist als wie sie sich bei wie immer gearteten Simultan versuchen herausstellt. Bei successiven V ersuchen w\u00fcrden, wie man leicht ersieht, die oben erw\u00e4hnten M\u00e4ngel weniger oder gar nicht wirksam sein; die Zerstreuungskreise ans sich w\u00fcrden ja die Merklichkeit der Bildgr\u00f6ssen\u00e4nderung nicht beeintr\u00e4chtigen, da es durch die Succession der Bilder unm\u00f6glich gemacht wird, dass zwei Zerstreuungskreise in ein-anderfliessen \u2014 und dasselbe gilt von den Irradiationskreisen1. Bomit ist es durchaus nicht unwahrscheinlich, dass bei successiven Versuchen unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden ein Gesichtswinkel zur Unterscheidung zweier Punkte hinreichen kann, bei welchem der Simultanversuch noch kein Urtheil auf Zweiheit ergiebt.\n1 Auf Seite der Successiv-Versuche bliebe nur der Nachtheil zu verzeichnen, den die Unverl\u00e4sslichkeit des Ged\u00e4chtnisses mit sich bringt. Ihn abzusch\u00e4tzen, dazu fehlt jedes Mittel; wohl aber besteht er gewiss nicht bei kontinuirlicher Verschiebung des Objektes und stetiger Fixation;, und wahrscheinlich besteht er nicht bei abruptem Wechsel, sobald das zweite Objekt unmittelbar nach Verschwinden des ersten in\u2019s Gesichtsfeld tritt.","page":118},{"file":"p0119.txt","language":"de","ocr_de":"ln Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n119\nAuch auf folgenden Umstand habe ich seiner Zeit1 2 bereits bingewiesen: bei Diskussion der Versuche \u00fcber relative Entfernungssch\u00e4tzung handelt es sich nicht um den kleinsten merklichen Gesichtswinkel sondern um die kleinste merkliche Gesichtswinkel differenz. Die Merkbarkeit einer solchen Gesichtswinkeldifferenz kann sich nun entweder in einer merkbaren Seh-gr\u00f6sssens\u00e4nderung bei konstanter Entfernung \u00e4ussern oder in einer merkbaren Entfernungs\u00e4nderung bei konstanter Sehgr\u00f6sse und schliesslich kann sie ihre Wirkung nach diesen beiden Seiten hin sozusagen auftheilen, d. h. sie kann eine Gr\u00f6ssen- und Entfernungs\u00e4nderung zur Folge haben, Beides aber in geringerem Maasse als wenn einmal die Entfernung f\u00fcr sich allein, das andere Mal die Sehgr\u00f6sse f\u00fcr sich allein beeinflusst worden w\u00e4re. Wir wissen nicht, welcher von diesen drei m\u00f6glichen F\u00e4llen wirklich statthat. Also selbst in den F\u00e4llen, wo die Beobachter nichts \u00fcber eine scheinbare Zu- oder Abnahme der Fadendicke berichteten, k\u00f6nnte ihr blosses Urtheil \u00fcber N\u00e4her oder Ferner auf der Aenderung des Netzhautbildes begr\u00fcndet sein; ja wTir m\u00fcssen das in denjenigen F\u00e4llen sogar annehmen, wo zwar Versuche mit F\u00e4den,\u00ae nicht aber solche mit mathematischen Linien (bei sonst ganz gleichen Bedingungen) zu einer Erkenntniss des Tiefenunterschiedes f\u00fchrten \\ Nach all\u2019 dem kann ich nicht zugeben, dass man einen Einfluss der Bildgr\u00f6sse auf die scheinbare Entfernung immer dort nicht f\u00fcr \u201eobjektiv\u201c begr\u00fcndet halten d\u00fcrfe, wo die Gesichtswinkeldifferenzen kleiner sind als die W\u00fclfing-schen Werthe (n\u00e4mlich 10\u201c\u201412\u201c). Hingegen muss ich daran festhalten, dass die Versuche mit (noch so feinen) F\u00e4den immer zweideutige Resultate ergeben m\u00fcssen, w\u00e4hrend Versuche mit mathematischen Linien auch von dem fernsten Verdachte des erw\u00e4hnten Versuchsfehlers frei sind. Akrek\u2019s Versuchsanordnung\n1\tYgl. meine Abhandlung S. 117.\n2\tGelegentlich giebt \u00fcbrigens Arrer selbst zu, dass Ver\u00e4nderungen des Durchmessers \u201eauch dort m\u00f6glicher Weise von Einfluss sein konnten, wo es zu einer klaren und bewussten Wahrnehmung dieser Ver\u00e4nderung nicht kam\u201c (S. 302). So viel ich verstehe, meint hier Arrer diejenigen F\u00e4lle, in welchen Aenderungen des Durchmessers nicht als Aenderungen der Sehgr\u00f6sse, sondern als solche der scheinbaren Entfernung aufgefasst wurden. Wenigstens habe ich es an der Stelle meiner Abhandlung, die Arrer hier citirt (n\u00e4mlich S. 113 ff.) so gemeint.","page":119},{"file":"p0120.txt","language":"de","ocr_de":"120\nFranz Hillebrand.\nscheint mir gegen\u00fcber der meinigen daher nur als ein R\u00fcckschritt.\nVI. Ueber die Unverwendbarkeit binokularer\nVersuche.\nIch will nun auf eine andere, prinzipiell noch wichtigere Differenz zwischen meinen und Arber\u2019s Versuchsmethoden ein-gehen. Sie betrifft die Frage, ob man die Versuche \u00fcber den Einfluss von Akkommodation und Konvergenz auf die Tiefenlokalisation auch binokular anstellen d\u00fcrfe oder ob sich nur monokulare Versuche dazu eignen. Durch Ueberlegungen, welche Hering- schon vor langer Zeit angestellt hat \\ veranlasst, habe ich mich gegen die Zul\u00e4ssigkeit binokularer Versuche entschieden1 2 \u2014 im Gegensatz zu Arrer. Ich will diese Ueberlegungen kurz in Erinnerung bringen. Gesetzt, ein binokular fixirter Punkt im leeren Gesichtsfeld (und bei Ausschluss aller empirischen Lokalisationsmotive) fange an sich dem Beobachter zu n\u00e4hern und er thue dies (der Einfachheit wegen) median und in der prim\u00e4ren Blickebene. Der Beobachter soll nicht wissen, wann die Bewegung beginnt und in welchem Sinne sie erfolgt. Dann wird sich Folgendes ereignen: der Punkt bildet sich sofort nachdem er seinen Platz verlassen hat auf Netzhautstellen von gekreuzter Disparation ab, und zwar ist diese Disparation erfahrungsgem\u00e4ss viel fr\u00fcher wirksam als der Punkt das Gebiet der Czermak\u2019sehen Akkommodationslinie \u00fcberschritten hat, also viel fr\u00fcher, als er durch Zerstreuungskreise seine Orts\u00e4nderung verr\u00e4th. Es ist kein denkbarer Grund vorhanden, warum die Konvergenz sich vom ersten Moment der Bewegung an sogleich dem Sinne und dem Ausmaasse nach so \u00e4ndern sollte, dass der Punkt sich immer auf den Stellen des deutlichsten Sehens abbildete und es daher nie zu einer Disparation k\u00e4me. Die erste physiologische Bedingung also, die sich bei\n1\tVgl. Beitr\u00e4ge zur Physiologie, Heft V, S. 343 ff.\n2\tVgl. meine Abhandlung S. 104 ff.","page":120},{"file":"p0121.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n121\ndiesem Versuche \u00e4ndert, kann in gar nichts Anderem bestehen als darin, dass die beiden Halbbilder, die zu Beginn auf identische Netzhautstellen fielen, nunmehr auf Stellen von gekreuzter Disparation fallen. Dass diese letztere aber die Vorstellung geringerer Entfernung unmittelbar zur Folge hat, das ist eine der sichersten Erkenntnisse, die wir in der Theorie des r\u00e4umlichen Sehens \u00fcberhaupt besitzen. Man wende nicht ein, dass diese Thatsache nur aus solchen Beobachtungen gewonnen sei, in welchen die beiden Objekte, das fernere und n\u00e4here, gleichzeitig im Gesichtsfeld gegeben sind und dass daher schon ohne Blickbewegung die Vorstellung verschiedener Entfernung (verm\u00f6ge der Disparation) erm\u00f6glicht werde. Ein solcher Einwand w\u00fcrde den wesentlichsten Umstand \u00fcbersehen : bei der Ann\u00e4herung nur eines Punktes n\u00e4mlich hat ja der Beobachter erst dann einen Anlass seine Konvergenz zu \u00e4ndern, wenn die beiden Halbbilder sich bereits merklich auf den beiden Netzh\u00e4uten verschoben haben; diese Merklichkeit \u00e4ussert sich aber bekanntlich in nichts anderem als in der Zu- oder Abnahme der scheinbaren Entfernung. Somit ist der Beobachter des einen bewegten Punktes wesentlich in derselben Lage, wie derjenige, der einen ruhigen Punkt fixirt und dem w\u00e4hrend dieser Fixation ein zweiter (n\u00e4herer oder fernerer) Punkt sichtbar gemacht wird, dessen Disparation gerade jenes Minimum erreicht, das zu einem stereoskopischen Effekt eben noch hinreicht.\nDiese, wie bemerkt, schon von Herino angestellten Ueber-legungen waren es, die mich zur prinzipiellen Ausschliessung binokularer Versuche veranlasst haben.\nAuf die Arrer\u2019 sehen Binokularversuche sind indessen diese Ueberlegungen nicht ohne Weiteres anwendbar, und zwar aus folgendem Grunde : das Erkennen der kleinsten Entfernungsdifferenzen auf Grund der Disparation setzt, sobald man die Versuche successiv anstellt, voraus, dass in dem Augenblick, in welchem die objektive Entfernung um das merkliche Disparations-Minimum ge\u00e4ndert wird, die der ersten Entfernung entsprechende Konvergenz Stellung nicht ge\u00e4ndert werden kann; nur in diesem Falle kann die successive Beobachtung denselben Vortheil aus der Disparation ziehen wie die simultane. Diese Voraussetzung ist aber nur garantirt, entweder wenn der Entfernungswechsel ein kontinuirlicher ist oder aber wenn bei abruptem Wechsel das erste Objekt so unmittelbar vom zweiten abgel\u00f6st wird,","page":121},{"file":"p0122.txt","language":"de","ocr_de":"122\nFranz Hillebrand.\ndass man an eine w\u00e4hrend dieser Aenderung statthabende K o n y e r * genzschwankung nicht denken kann \u2014 wie dies bei meinen Versuchen der Fall war. Bei den Versuchen aber, die Arber mit seinem Fadenapparat angestellt hat, vergeht zwischen dem Verschwinden des ersten und dem Sichtbarwerden des zweiten Objektes so viel Zeit, als der Experimentator braucht, um den ersten Faden aus dem Gesichtsfeld fortzuschaffen und den zweiten einzustellen; und w\u00e4hrend dieser Manipulation h\u00e4lt der Beobachter die Augen geschlossen (S. 134). Nun steht es ausser jedem Zweifel, dass der Beobachter w\u00e4hrend dieses Intervalles die urspr\u00fcngliche Konvergenz Stellung nicht genau bewahren kann; ja der Verschluss der Augen und somit der Mangel jedes optischen Anhaltspunktes bieten der Bewahrung des Konvergenzgrades noch besondere Schwierigkeiten. Mag nun ein solcher Beobachter auch immer zu dem Hilfsmittel einer in der Phantasie vorgestellten Hilfsfigur (siehe oben S. 91) greifen, um mittels derselben den urspr\u00fcnglichen Konvergenzgrad wiederherzustellen, so wird ihm das schon wegen der Intervention des Ged\u00e4chtnisses niemals genau gelingen. Bedenkt man nun den sehr geringen Werth, den ein objektiver Entfernungsunterschied zu haben braucht um eine f\u00fcr die Tiefenwahrnehmung bereits hinreichend wirksame Disparation zu ergeben, so wird sofort klar, dass bereits eine sehr kleine Konvergenz Schwankung bezw. ein sehr geringer Fehler des Ged\u00e4chtnisses hinreichen muss, um die Leistungsf\u00e4higkeit der Disparation abzuschw\u00e4chen, sie ganz zu vernichten oder sie geradezu zu einer Fehlerquelle zu machen. Gesetzt z. B., der zweite Faden liege um das Disparationsminimum n\u00e4her als der erste, so w\u00fcrde bei genauer Erhaltung des Konvergenzgrades ein richtiges Urtheil \u00fcber die Lage des zweiten Fadens relativ zum ersten noch eben m\u00f6glich sein. Nehmen wir nun an, die Konvergenz habe sich bis zum Erscheinen des zweiten Fadens gerade um jenes Distanzminimum vergr\u00f6ssert, so bildet sich der zweite Faden auf identischen Stellen ab; hat sich aber die Konvergenz noch st\u00e4rker vergr\u00f6ssert, dann erscheint der zweite Faden in gleichnamiger Disparation und wird deshalb als ferner beurtheilt, obwohl er objektiv n\u00e4her war. Analoge Ueherlegungen haben statt, wTenn die Konvergenz sich w\u00e4hrend der Zwischenzeit verkleinert. Auf diese Weise wird es begreiflich, dass die Binokularversuche in der Weise, wie sie von Arrer\u2019s Beobachtern angestellt waren, in ihren Re-","page":122},{"file":"p0123.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n123\nsultaten nur geringe Unterschiede gegen\u00fcber den monokularen Versuchen erkennen liessen (vgl. S. 149 ff.), weil eben der Hauptvortheil, den die binokulare Beobachtung gew\u00e4hren k\u00f6nnte (n\u00e4mlich verm\u00f6ge der Disparation) durch die Unm\u00f6glichkeit einer strengen Bewahrung des Konvergenzgrades ganz oder theilweise paralysirt wurde, so dass sich die Situation der binokularen Beobachtung nicht mehr wesentlich von der der monokularen unterscheidet.\nDiesen Erw\u00e4gungen gem\u00e4ss werden wir von Binokularversuchen, die unter den ARRER\u2019schen Bedingungen angestellt werden, zweierlei zu erwarten haben: erstens, dass die sinnliche Anschaulichkeit, welche f\u00fcr das, durch Disparation erfolgende, Tiefensehen \u00fcberhaupt charakteristisch ist, sich auch hier wieder vorfinde1 und daher die Urtheile den Charakter des unmittelbar Sicheren und prompt Erfolgenden haben und sich dadurch von den unbestimmten, z\u00f6gernden und schwankenden Urtheilen der monokularen Beobachtung unterscheiden; zweitens werden wir aber erwarten, dass in Folge der Unm\u00f6glichkeit den Konvergenzgrad genau zu bewahren diese, mit dem Gef\u00fchl der Sicherheit und Anschaulichkeit abgegebenen Urtheile h\u00e4ufig falsch sein k\u00f6nnen, so dass sie in Bezug auf Bestimmtheit einen betr\u00e4chtlichen, in Bezug auf Richtigkeit einen geringen, oder vielleicht gar keinen Vorrang vor den monokularen Beobachtungen besitzen. Und gerade das ist es, was Arber selbst \u00fcber die Beziehung der binokularen zu den monokularen Versuchen angiebt. H\u00f6ren wir seine eigenen Worte: \u201eDer Hauptunterschied der Ergebnisse besteht ferner nicht, oder nicht haupts\u00e4chlich, in den feineren Unterschieds-\n1 Arrer anerkennt wiederholt \u2014 und zwar mit Recht \u2014 die \u201eplastisch g\u00e4nzlich verschiedenen Eindr\u00fccke\u201c der binokularen Beobachtung gegen\u00fcber der monokularen. (Vgl. z. B. S. 250.) Er h\u00e4lt mit Recht auch daran fest, dass dieser Unterschied unmittelbar im Sehakt selbst begr\u00fcndet sein m\u00fcsse, spricht bei dieser Gelegenheit auch von dem Einfluss des \u201edoppelten Halbbildes\u201c, womit doch nur die Disparation gemeint sein kann. Aber die unmittelbare Konsequenz, dass eben diese Disparation Alles das zu leisten vermag, was man etwaigen Muskelempfindungen zusehreiben k\u00f6nnte, und dass daher binokulare Versuche gar keinen Schluss auf die lokalisatorischen Leistungen von Muskelempfindungen gestatten und somit von vornherein auszuschliessen sind, diese Konsequenz hat Arrer mit Unrecht zu ziehen vers\u00e4umt.","page":123},{"file":"p0124.txt","language":"de","ocr_de":"124\nFranz Hillebrand.\nstrecken bei binokularem Sehen, sondern weit\" mehr in der Leichtigkeit, gr\u00f6sseren Sicherheit und Schnelligkeit, mit denen sie, im Gegensatz zu dem monokularen, erkannt wurden\u201c (S. 251).\nZusammenfassend l\u00e4sst sich also sagen: Arrer\u2019s Binokularversuche unterliegen den Einw\u00e4nden, welche man gegen Binokularversuche \u00fcberhaupt erheben muss, sofern dieselben die Frage sollen entscheiden helfen, welche Rolle die Muskelempfindungen bei der Tiefenlokalisation spielen \u2014 sie unterliegen dem Einwand, dass sie ein notorisch \u00e4usserst feines Reagens (die Disparation) nicht ausschliessen. Und weiter: dass dieses letztgenannte Reagens speziell in Abrer\u2019s Versuchen nicht denjenigen Grad von Leistungsf\u00e4higkeit aufweist, den wir sonst an ihm zu beobachten gewohnt sind, das beruht auf einer Besonderheit der A\u00dfBEB\u2019schen Versuchsmethode, welche f\u00fcr eine genaue Wiederherstellung des urspr\u00fcnglichen Konvergenzgrades keine Gew\u00e4hr bietet. Aus den angegebenen Gr\u00fcnden scheinen mir s\u00e4mmtliche Binokularversuche Arrer\u2019s \u00fcberfl\u00fcssig.\nV\u00cf\u00cf. Die binokulare Lokalisation des\n\u201eKernpunktes\u201c.\nBis jetzt war vorwiegend von Lokalisations \u00e4 n d e r u n g e n bezw. relativer Lokalisation die Rede. Es fragt sich nun, auf welche Weise wir einen Punkt f\u00fcr sich und ohne Beziehung zu einem andern lokalisiren. Man bezeichnet das vielfach als \u201eabsolute Lokalisation\u201c \u2014 ein terminus, der nicht frei von Missverst\u00e4ndnissen ist, wie wir sp\u00e4ter sehen werden. Ich ziehe es vor von einer Lokalisation des \u201eKernpunktes\u201c (Hering) zu sprechen und verstehe unter \u201eKernpunkt\u201c den scheinbaren Ort, den der mit den beiden Netzhautcentren gesehene Punkt im Sehraum einnimmt und relativ zu welchem die Lokalisation aller anderen Punkte des Sehraumes erfolgt. Der Kernpunkt ist also ein scheinbarer (ph\u00e4nomenaler) Ort; begrifflich f\u00e4llt er nicht zusammen mit dem wirklichen Ort, der durch den Schnittpunkt der Gesichtslinien gegeben ist;","page":124},{"file":"p0125.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n125\ndass die beiden Punkte auch thats\u00e4chlieh sehr h\u00e4ufig nicht koincidiren, daf\u00fcr giebt u. A. die allbekannte Beobachtung Zeugniss, dass das haploskopische Yereinigungsbild zweier, mit den Netzhautcentren gesehener Punkte oder Vertikallinien auch dann, wenn die Gesichtslinien parallel gerichtet sind, durchaus nicht unendlich fern erscheint, sondern (mit individueller Verschiedenheit nat\u00fcrlich) in einer Entfernung von wenigen Metern gesehen wird,1 wobei aber, wie schon fr\u00fcher erw\u00e4hnt, auch diese Lokalisation keine \u201ebestimmte\u201c d. h. bei gegebenen peripheren Bedingungen unver\u00e4nderliche ist\nWas nun die \u201eabsolute\u201c Lokalisation bei monokularer Beobachtung anlangt, so sind eigentlich alle Forscher, die dar\u00fcber Versuche angestellt haben, einig, dass diese Lokalisation keine bestimmte sei.2 Denkt man an die bekannte Verkn\u00fcpfung der Konvergenz mit der Akkommodation, so w\u00fcrden diese Versuche f\u00fcr sich schon beweisen, dass uns ein bestimmter Zustand des Akkommodations- und des \u00e4usseren Bewegungsapparates zu keiner bestimmten Lokalisation veranlasst. Das w\u00fcrde f\u00fcr sich genommen noch nichts gegen die lokalisatorische Leistungsf\u00e4higkeit der Muskelempfindungen beweisen, weil man sagen k\u00f6nnte, dass nur Ver\u00e4nderungen nicht aber Zust\u00e4nde des Muskelapparates \u00fcberhaupt psychisch wirksam sind.\nUeber die binokulare Lokalisation des fixirten Punktes selbst herrscht nicht die gleiche Einigkeit. Bei ein\u00e4ugiger Betrachtung kann man den Faden ebenso gut als schwarzen Strich auf dem weissen Hintergrund sehen wie anderswo, vorausgesetzt, dass seine Dicke nicht bekannt ist, dass er keine Details unterscheiden l\u00e4sst und dass er nicht so nahe steht, dass das Akkommodiren mit einer l\u00e4stigen Empfindung von Anstrengung verbunden ist. Ueber die Bestimmtheit der absoluten Lokalisation bei binokularer Beobachtung aber weichen die Angaben der einzelnen Forscher von einander ab. Wundt hebt, wie auch Akbee wieder berichtet (S. 229), hervor, dass die Lokalisation unter diesen Umst\u00e4nden nicht nur unrichtig, sondern auch unbestimmt sei. Auch Helmholtz h\u00e4lt das Gef\u00fchl der Konvergenz f\u00fcr \u201eziemlich unsicher\n1\tVgl. auch meine Abhandlung \u201eDie Stabilit\u00e4t der Raumwerthe auf der Netzhaut\u201c, Zeitschr. f. Psychol. Bd. V, S. 42.\n2\tSo auch Wundt (.Beitr\u00e4ge S. 107), dem Arrer (a. a. O. S. 135) beipflichtet.","page":125},{"file":"p0126.txt","language":"de","ocr_de":"126\nFranz Hillebrand.\nund ungenau\u201c weshalb wir unter Umst\u00e4nden \u201eziemlich bedeutenden T\u00e4uschungen\u201c ausgesetzt seien.1 Auch Hering steht auf Seite der unbestimmten Lokalisation, insoferne er (wie wir sehen werden) das eventuelle Vorhandensein einer bestimmten Erwartung, den Gegenstand nahe oder fern zu sehen, f\u00fcr ein die Lokalisation bestimmendes Moment h\u00e4lt, in einer Weise, auf die wir alsbald zu sprechen kommen. Donders vertritt zwar die Ansicht, dass die Konvergenzempfindungen nicht nur ein bestimmtes, sondern auch ein richtiges Entfernungsurtheil erm\u00f6glichen; doch sind, wie Arrer richtig bemerkt, seine Versuche nicht beweisend; und zudem berichtet Donders selbst, dass er bei den ersten Versuchen die Distanz gew\u00f6hnlich \u00fcbersch\u00e4tzt und \u201eeinige Zeit\u201c gebraucht habe, \u201eum v\u00f6llig von allem dem zu abstrahiren, was die Vorstellung von einer gr\u00f6sseren Entfernung erregen k\u00f6nnte.\u201c 2 Zu erw\u00e4hnen ist noch, dass auch \u00fcber die Richtigkeit der Lokalisation die Ansichten auseinandergehen ; Wttndt untersch\u00e4tzt die Entfernung, Helmholtz \u00fcbersch\u00e4tzt sie, Donders beurtheilt sie nach gen\u00fcgender Uebung \u201evollkommen genau\u201c.\nArrer selbst steht zwar auf der Seite der Bestimmtheit der absoluten Lokalisation ; auf das Zeugniss der inneren Erfahrung gest\u00fctzt meint er annehmen zu d\u00fcrfen, \u201edass die Entfernungsvorstellung eine von gleichen \u00e4usseren Bedingungen bestimmte und nicht von Fall zu Fall wechselnde\u201c sei (S. 232); er theilt auch einzelne Aeusserungen seiner Versuchspersonen mit, denen zu Folge es \u201esofort ersichtlich\u201c sei, dass der Faden zwischen dem Hintergr\u00fcnde und dem Blickrohre \u201eso zu sagen in der Luft schwebe\u201c (S. 223), und dass der Beobachter bei beliebig wiederholtem Hineinsehen in das Blickrohr die bestimmte Entfernung immer wieder erkannte (S. 224). Erinnern wir uns aber jener Hilfsmittel, welche Arrer\u2019s Beobachter anwendeten um eine Entfernungsvorstellung im Ged\u00e4chtniss zu fixiren, Hilfsmittel, die in hinzugedachten (hineinphantasirten) geometrischen Figuren bestanden (vgl. oben S. 91), so wird man mit der Annahme kaum fehlgehen, dass f\u00fcr die Unver\u00e4nderlichkeit der Entfernungsvor-stellung jene Hilfsmittel allein schon hinreichende Gew\u00e4hr bieten\n1\tPhysiol. Optik, 2. AufL, S. 795.\n2\tGraefe\u2019s Archiv f. Ophthalm., Bd. XIII, S. 22.","page":126},{"file":"p0127.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n127\nund daher ein Lokalisiren mittels der Konvergenzempfindungen sich hier wenigstens als eine \u00fcberfl\u00fcssige Annahme erweist.\nWie schon oben erw\u00e4hnt, m\u00fcssten die Konvergenzempfindungen, falls sie uns beim binokularen Versuche zu einer bestimmten absoluten Lokalisation verhelfen sollten, dies noth-wendiger Weise auch beim monokularen Versuche thun \u2014-wegen der bekannten Verkn\u00fcpfung von Akkommodation und Konvergenz; sie thun es aber im letzteren Falle nicht und zwar nach dem \u00fcbereinstimmenden Zeugniss Aller, die diese Frage untersucht haben und zu denen auch Arber geh\u00f6rt. Die Konsequenz, scheint mir, liegt dann auf der Hand.\nIndessen ist nicht zu verkennen, dass die absolute Lokalisation beim Binokularsehen entschieden weniger labil ist als bei monokularer Betrachtung. Das geht nicht nur aus dem geringeren Werth des variablen Fehlers hervor, es ergiebt sich auch aus der Selbstbeobachtung innerhalb eines und desselben Versuches: wie immer n\u00e4mlich die Ergebnisse mehrerer Versuche untereinander abweichen m\u00f6gen (und sie thun das bei verschiedenen Forschern in verschiedenem Grade), die Selbstbeobachtung beim einzelnen Versuche zeigt unzweifelhaft, dass es nicht in dem Maasse in unserem Belieben liegt, wohin wir den Faden lokalisiren wollen, wie dies f\u00fcr den ein\u00e4ugigen Versuch gerade charakteristisch ist; bei binokularer Betrachtung hat vielmehr auch die absolute Lokalisation etwas Zwingenderes als bei monokularer.\nDie Erkl\u00e4rung, die Hering von dem Vorgang der \u201eabsoluten\u201c Lokalisation mit zwei Augen gegeben hat, scheint mir den genannten Verh\u00e4ltnissen durchaus zu gen\u00fcgen. Ich will sie hier nochmals in Erinnerung bringen, ferner zeigen, wie sie auch der Thatsache der individuellen Verschiedenheit in der absoluten Lokalisation (Wundt, Helmholtz, Donders) mit Leichtigkeit gerecht werden kann, und sie schliesslich gegen die scheinbaren Einw\u00e4nde Arber\u2019s und Anderer vertheidigen.\nHering denkt sich den Vorgang bei der \u201eabsoluten\u201c Lokalisation eines Objektes (z. B. eines Fadens) im sonst leeren Gesichtsfeld und bei Ausschluss aller empirischen Lokalisationsmotive folgendermaassen : der Beobachter tritt an den Versuch heran entweder a) mit parallelen Gesichtslinien, oder b) mit Gesichtslinien von einer bestimmten Konvergenz. Im Falle a) erscheint der Faden in gekreuzten Doppelbildern, welche ein ge-","page":127},{"file":"p0128.txt","language":"de","ocr_de":"128\tFranz Hillebrand.\nwisses \u201eNahegef\u00fchl\u201c erwecken, und zwar wird eine Vorstellung von um so gr\u00f6sserer N\u00e4he erweckt, je weiter die Doppelbilder von einander entfernt sind. Dieses \u201eNahegef\u00fchl\u201c hat unmittelbar Arne Innervation von Seiten des motorischen Centrums im Sinne einer Mehrung der Konvergenz zur Folge. Die Doppelbildei\" r\u00fccken dadurch einander n\u00e4her; solange sie aber \u00fcberhaupt bestehen , besteht auch der physiologische Anreiz zur weiteren Konvergenzvermehrung, und das geht so lange fort, bis Doppelbilder und Disparation verschwinden und damit auch der Anreiz zur weiteren Mehrung der Konvergenz entf\u00e4llt. Der Faden wird also im Falle a) n\u00e4her erscheinen, als wenn er sich schon beim ersten Blick auf identischen Netzhautstellen abgebildet h\u00e4tte.\nTritt man aber schon mit der Erwartung an den Versuch heran, es befinde sich das Objekt in der N\u00e4he (Fall b), so wird man schon von vornherein die Augen in eine gewisse Konvergenz gebracht haben, die aber im Allgemeinen der thats\u00e4ch-lichen Entfernung des Fadens nicht entsprechen, sondern zu gross oder zu klein sein wird. Ersterenfalls erscheint der Faden in gleichnamigen Doppelbildern, welche eine Fernvorstellung hervorrufen und auf das motorische Centrum als Anreiz zur Ver-minderung der Konvergenz wirken; letzterenfalls erscheint der Faden in gekreuzten Doppelbildern, welche eine N\u00e4henvorStellung hervorrufen und eine Innervation im Sinne einer Konvergenzvermehrung veranlassen.\nNach dieser Auslegung ist also die gew\u00f6hnlich als \u201eabsolut\u201c bezeichnete Lokalisation zur\u00fcckgef\u00fchrt auf die anderw\u00e4rts wohl-bekannten Erscheinungen der relativen Lokalisation mittels Doppelbilder bezw. mittels Disparation; nur erfolgt diese Lokalisation nicht relativ zu einem gesehenen, sondern relativ zu einem in der Phantasie vorgestellten Objekt, von dessen Vorstellung diejenige Konvergenz geleitet wird, mit der man an den Versuch herantritt; blos im Falle anf\u00e4nglicher Parallelstellung braucht eine solche Ortsvorstellung nicht vorangegangen zu sein; denn um die Gesichtslinien parallel zu stellen, dazu bedarf es nicht der leitenden Vorstellung eines unendlich fernen Objektes, es gen\u00fcgt vielmehr, den Bewegungsapparat einfach gar nicht zu innerviren.\nDie Parallelstellung zu Anfang des Versuches d\u00fcrfte wohl her gew\u00f6hnlichere Fall sein; wenn man aber schon mit der Ver-muthung eines nahen Objektes und daher mit konvergenter","page":128},{"file":"p0129.txt","language":"de","ocr_de":"ln Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n129\nStellung an den Versuch herangeht, dann sehe ich gar nichts Bedenkliches in der Annahme Bering's, dass diese Konvergenz rein mechanisch von der Ortsvorstellung in der Phantasie veranlasst werde. Wenn Jemand ein Objekt fixirt und wenn nun ein zweites Objekt ins Gesichtsfeld tritt, welches z. B. in gekreuzter Disparation sich abbildet und daher sofort n\u00e4her gesehen wird, so l\u00f6st die blosse Absicht, nunmehr das zweite Objekt zu fixiren, eine entsprechende Konvergenzbewegung aus: nicht die Konvergenz Vermehrung ist hier der Gegenstand des Willensaktes, sondern das Deutlichsehen ist es; das Streben nach direkter Fixation zusammen mit der Wahrnehmung, dass das zu fixirende Objekt n\u00e4her (ferner) liegt, das sind die beiden psychischen Faktoren, welche die Konvergenz-bewngung nach Dichtung und Ausmaass bestimmen und so zu sagen reflektorisch ausl\u00f6sen; von einem direkt auf den Akt des Konvergirens gerichteten Willen kann in diesen F\u00e4llen nicht die Eede sein, wenngleich man der Bequemlichkeit wegen von einer \u201eintendirten Konvergenz\u201c u. dergl. reden kann \u2014 eine Ausdrucksweise, die solange unsch\u00e4dlich ist, als es sich etwa blos darum handelt, den oben beschriebenen Vorgang solchen F\u00e4llen gegen\u00fcberzustellen, in denen sich die Konvergenz ohne jedes (auch\nindirekte! Zuthun des Willens \u00e4ndert. \u2014 Wenn nun ein als n\u00e4her\n/\noder ferner gesehener Ort ohne Zweifel eine entsprechende Konvergenz\u00e4nderung rein mechanisch ausl\u00f6sen kann, so sehe ich gar nichts Befremdliches in der Annahme, dass auch ein blos in der Phantasie vorgestellter Ort eine solche Aende-rung zur Folge hat, gerade so wie die mit dem blossen Anblick einer Speise in der Phantasie associirte Geschmacksqualit\u00e4t den Hungrigen zu erh\u00f6hter Absonderung des Parotidensekretes zu veranlassen im Stande ist. Wer sich darauf ein\u00fcbt, im Dunklen oder bei geschlossenen Augen willk\u00fcrlich zu konvergiren, wird bemerken, dass er dies \u2014 wenigstens anf\u00e4nglich \u2014 nur mit Hilfe eines in der Phantasie vorgestellten Ortes zu Wege bringt, so z. B. bei extremer Konvergenz durch die Vorstellung der eigenen Nasenspitze.\nMan k\u00f6nnte gegen Hering\u2019s Auffassung folgendes Bedenken erheben : tritt man mit parallelen Gesichtslinien an den Versuch, so erzeugen die Doppelbilder eine N\u00e4henvorstellung, die quantitativ durch die gr\u00f6ssere oder kleinere Distanz der Doppelbilder bestimmt ist, man lokalisirt gewissermaassen relativ zu einem\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XVI.\t^","page":129},{"file":"p0130.txt","language":"de","ocr_de":"J[30\tFranz Hillebrand.\nunendlich fernen Objekt; waren aber die Gesichtslinien anf\u00e4nglich schon konvergent, konvergirten sie z. B. st\u00e4rker als es der \u25a0Lage des Objektes entspricht, so erwecken die Doppelbilder eine Lernvorstellung, die quantitativ auch wieder durch ihre Distanz bestimmt wird, man lokalisirt also relativ zu demjenigen, in der Phantasie vorgestellten Ort, von dessen Vorstellung eben die urspr\u00fcngliche Konvergenzstellung geleitet war. Sollte man da \u2014 so w\u00fcrde der Einwand lauten \u2014 nicht glauben, dass die Lokalisation in beiden F\u00e4llen genau dieselbe sein m\u00fcsse? Wenn wirklich die Doppelbilder das Lokalisationsmotiv sind, dann muss -es zu dem n\u00e4mlichen absoluten Resultate f\u00fchren, ob ich relativ &u einem als fern, oder relativ zu einem als nahe vorgestellten \u2022Ort lokalisire ; denn der Variabilit\u00e4t des willk\u00fcrlichen Ausgangspunktes steht ja die Distanz der Doppelbilder und der Sinn derselben (gekreuzt bezw. ungekreuzt) kompensirend gegen\u00fcber. Aus Heeing\u2019s Auffassung w\u00fcrde also gerade das nicht folgen, was dieser Forscher aus ihr folgert, n\u00e4mlich die Variabilit\u00e4t der absoluten binokularen Tiefenlokalisation.\nDieser Einwand l\u00e4sst sich von zwei Seiten her widerlegen. Erstens: Nehmen wir an, der Beobachter gehe an den Versuch mit der N\u00e4henvorstellung xp (vgl. die Figur) und seine Gesichts-\n7\u00bb\nlinien schnitten sich wirklich (genau entsprechend dieser N\u00e4henvorstellung) in p, dann wird der Faden f in gleichnamige Doppel-","page":130},{"file":"p0131.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n131\nbilder zerfallen, deren Distanz durch die beiden Winkel a bestimmt ist; von der Gr\u00f6sse dieser Winkel h\u00e4ngt es ab, wie weit f hinter den eingebildeten Ort p lokalisirt wird. Nehmen wir nun an, der Beobachter ginge ein anderes Mal mit der Entfernungsvorstellung xr an den Versuch und dieser eingebildete Ort r liege um ebensoviel hinter f als fr\u00fcher p vor f gelegen War (rf \u2014 pf ) ; dann wird die Distanz der Doppelbilder un\u00e7L somit die relative N\u00e4henvorStellung von f bestimmt sein durch die Gr\u00f6sse der Winkel \u00df. Nun sieht man ohne Weiteres, dass\n\u00ab > \u00df\nAlso wird der Faden im zweiten Falle nicht um so vieles vor r lokalisirt werden als er im ersten hinter p lokalisirt wurde. Somit ist es f\u00fcr die Lokalisation von f nicht gleichgiltig, ob man mit einer N\u00e4hen- oder Fernvorstellung an den Versuch herantritt.1\nZweitens: wir haben bisher angenommen, dass die Konvergenz, welche durch einen in der Phantasie vorgestellten Ort angeregt wird, mit dieser Orts vor Stellung genau harmonire. Schon unter dieser Voraussetzung erwies sich der obige Einwand gegen Hebing \u2019s Auffassung von der \u201eabsoluten\u201c Lokalisation als unhaltbar. In erh\u00f6htem Maasse wird dies der Fall sein, wenn wir bedenken, dass jene Voraussetzung thats\u00e4chlich gar nicht zutrifft. Die Annahme, dass der Beobachter, von einer in der Phantasie bestehenden Ortsvorstellung geleitet, schon mit einer bestimmten Konvergenz an den Versuch herantrete, besagt ja noch lange nicht, dass jener anf\u00e4ngliche Konvergenzgrad dieser in der Phantasie bestehenden Ortsvorstellung genau entsprechen m\u00fcsse. Wir sind trotz aller etwa bestehenden Uebung nicht im Stande bei Ausschluss der optischen Kontrolle (also\n1 Die obige Erw\u00e4gung zeigt, dass und warum unsere Tiefenwahrnehmung, soweit sie auf Disparation und Doppelbilder beruht, eine Grenze haben muss. Y gl. dazu Helmholtz, Physiol. Opt., 2. Auf!., S. 791. Das Gesetz, welches den Werth dieser Grenzdistanz als Funktion erstens der Basal\u00bb linie und zweitens des geringsten monokular wahrnehmbaren Unterschiedes zweier Orte dar stellt, hat k\u00fcrzlich Fr. W\u00e4chter (\u201eUeber die Grenzen des telestereoskopischen Sehens\u201c, Sitzungsber. d. Wiener Akademie, mathem.-naturw. Classe, 1896, Bd. OV, S. 856ff.); ausfindig gemacht. N\u00e4heres \u00fcber diese, f\u00fcr die Theorie der Tiefenwahrnehmung bedeutungsvolle Abhandlung findet der Leser in meiner Anzeige derselben im vorliegenden Bande dieser Zeitschrift (unten S. 155).\n9*","page":131},{"file":"p0132.txt","language":"de","ocr_de":"132\tFranz Sillebrand.\netwa im Dunkelzimmer) unsere Gesichtslinien in Konvergenz-Stellungen zu bringen, die bestimmten vorgestellten Entfernungen genau entsprechen ; wir k\u00f6nnen im Dunkelzimmer nicht ad libitum auf 30, 40, 50 cm Entfernung konvergiren, wenn wir uns diese Entfernungen auch vorstellen k\u00f6nnen. Hierher geh\u00f6rt auch die Thatsache, dass man nach dem Verschwinden des Fixationsobjektes gar nicht im Stande ist die Konvergenz auch nur f\u00fcr kurze Zeit festzuhalten, eine Thatsache von der ich nicht recht weiss, wie sich die Anh\u00e4nger der Muskelempfindungstheorie mit ihr abfinden werden. Man fixire die median in beliebiger Entfernung vorgehaltene Bleistiftspitze binokular, verdecke nun die beiden Augen f\u00fcr % bis 1 Sekunde mit der Hand, bezw. schiebe ein Papierblatt zwischen Augen und Bleistift und bem\u00fche sich w\u00e4hrend dieser kurzen Dunkel-Pause die anf\u00e4ngliche Konvergenz zu erhalten; man wird sich von dem Misslingen leicht \u00fcberzeugen durch die Doppelbilder, in welche der Bleistift zerf\u00e4llt, sobald man die deckende Hand oder das deckende Papierblatt wieder entfernt. Man sieht aus alledem, dass die Leitung der Konvergenz durch eine in der Phantasie bestehende Ortsvorstellung nur eine ganz ungenaue und so zu sagen beil\u00e4ufige ist.\nDie Anwendung dieser Erfahrung auf die erw\u00e4hnte Objektion ist klar. Wenn der Beobachter an den Versuch mit einer N\u00e4henvorstellung herantritt, seine anf\u00e4ngliche Konvergenz aber dieser N\u00e4henvorstellung nicht genau entspricht, dann ist die Distanz der Doppelbilder, in welche der gesehene Faden zerf\u00e4llt, gr\u00f6sser oder kleiner als sie es sein w\u00fcrde, wenn die Konvergenz dieser anf\u00e4nglichen N\u00e4henvorstellung genau entsprochen h\u00e4tte; mithin muss auch die Lokalisation des Fadens relativ zu dem in der Phantasie vorgestellten Ort zu weit oder zu nahe aus-fallen, sie kann also nicht harmoniren mit derjenigen Lokalisation, die sich ergeben w\u00fcrde, wenn der Beobachter mit parallelen Gesichtslinien an den Versuch herangetreten w\u00e4re.\nHieraus ergiebt sich nun auch der Grund, warum die absolute binokulare Tiefenlokalisation so bedeutenden individuellen Verschiedenheiten unterliegt. Erstens n\u00e4mlich muss es, wie schon Heeing hervorgehoben hat, einen Unterschied machen, ob der Beobachter ohne Innervation des \u00e4usseren Muskelapparates an den Versuch geht oder ob er durch eine N\u00e4henvorstellung schon von vornherein zu einer gewissen Konvergenz veranlasst","page":132},{"file":"p0133.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n133\nwird. Zweitens wird es individuellenEigenth\u00fcmlichkeiten unter\u00ab* liegen, inwieweit und in welchem Sinne die anf\u00e4ngliche Kon* vergenz von dieser N\u00e4henvorstellung ab weicht. Es ist mir wahrscheinlich, dass die Gewohnheit des Einzelnen beim Lesen und Schreiben das Buch oder Papierblatt in einer gewissen Entfernung zu halten und \u00fcberhaupt bei der Betrachtung eines Gegenstandes eine gewisse Distanz zu bevorzugen (Dinge, die wieder von den individuellen Eigenth\u00fcmlichkeiten der Refraktion und Akkommodation abh\u00e4ngen) auf jene urspr\u00fcngliche Konvergenz bestimmend wirkt. Aus derartigen individuellen Gewohnheiten erkl\u00e4rt es sich ganz leicht, dass der eine Forscher die absolute Entfernung stets untersch\u00e4tzt (Wundt), w\u00e4hrend sie der andere \u00fcbersch\u00e4tzt (Helmholtz) und sie ein dritter ungef\u00e4hr richtig beurtheilt(DoNDERs) ; es erkl\u00e4rt sich daraus aber auch dieThat-sache, dass die Richtung des Fehlers innerhalb der verschiedenen Urtheile eines und desselben Beobachters eine gewisse Konstanz zeigt, so dass der einzelne Beobachter die Entfernung nicht das eine Mal zu gross das andere Mal zu klein taxirt, sondern stets zu gross oder stets zu klein.\nIch gehe nun zu den Einw\u00e4nden \u00fcber, welche Arrer gegen Hering\u2019s Auffassung von der \u201eabsoluten\u201c Lokalisation mit zwei Augen erhoben hat.\nArrer sagt S. 234: \u201eZun\u00e4chst ist es das von Hansen Grut sogen. \u201eNahebewusstsein\u201c, was die Entfernungsvorstellung bestimmt, und sodann das Netzhautbild als Mittel zur relativen Entfernungssch\u00e4tzung. Sollte aber der Beobachter von allem dem nichts bemerken? Die Aussagen aus der inneren Wahr* nehmung meiner Beobachter enthalten nichts dergleichen; ohne aber diese zu ber\u00fccksichtigen, d\u00fcrfte in der Psychologie eine Erkl\u00e4rung irgend eines Vorganges nicht zul\u00e4ssig sein.\u201c\nDarauf antworte ich mit folgender Gegenfrage : angenommen, der Vorgang der \u201eabsoluten\u201c Lokalisation spiele sich wirklich so ab, wie Hering ihn beschreibt, welche Phasen dieses Vorganges sind es denn, \u00fcber die wir eine Nachricht aus der inneren Wahrnehmung erwarten m\u00fcssen, ohne (wie Arrer meint) eine solche zu erhalten ? Der Beobachter geht a) mit parallelen Ge* sichtslinien an den Versuch. Zur Parallelstellung ist, wie oben er w\u00e4hnt, keine Fernvorstellung erforderlich, es ist dazu aber auch keine Innervation und daher auch keine Absicht n\u00f6thig, da die Parallelstellung durch das nat\u00fcrliche Muskel-","page":133},{"file":"p0134.txt","language":"de","ocr_de":"234\tFranz Killebrand.\ngleichgewicht besorgt wird. Die innere Wahrnehmung kann uns also \u00fcber diese erste Phase schon ex hypothesi nichts berichten^ Gehen wir zur zweiten Phase : durch die gekreuzten Doppelbilder entsteht irgend eine N\u00e4henvorstellung. Dass \u00fcberhaupt irgend eine N\u00e4henvorstellung entsteht, das sagt uns wirklich die innere Wahrnehmung; denn dass der Gegenstand in irgend einer Entfernung gesehen wird, das behaupten ja auch die Anh\u00e4nger der Muskelempfindungstheorie. Dass diese Entfernungsvorstellung aber auf Grund der Doppelbilder erfolgt (wie Hering meint), dar\u00fcber kann uns ja die innere Wahrnehmung gar nichts berichten, liegt doch die physiologische Ursache eines psychischen Phaenomens der Natur der Sache nach ausserhalb des Bereiches der inneren Wahrnehmung. Die Menschheit hat lange gewusst, dass sie Objekte n\u00e4her oder ferner sieht, ehe die Physiologen die Wirksamkeit der Disparation und der Doppelbilder erkannt haben. Gehen wir zu Herings dritter Phase : die so entstandene N\u00e4henvorstellung regt das Bewegungszentrum automatisch zur Vermehrung der Konvergenz an. Wenn Hering Recht hat, diesen Vorgang als automatischen anzusehen, dann kann er ja gar nicht Gegenstand der inneren Wahrnehmung sein. Angenommen b) der Beobachter vermute -einen nahen Gegenstand und gehe daher mit einer, durch eine bestimmte N\u00e4henvorstellung veranlassten Konvergenz an den Versuch. Diesfalls zeigt die innere Wahrnehmung das Vorhandensein einer solchen Vermutung und damit auch \u2014 da ja eine Vermuthung sich auf etwas richten muss \u2014 eine bestimmte Entfernungsvorstellung in der Phantasie. Mehr kann man aber gerade vom Standpunkt der HERiNG\u2019schen Auffassung der inneren Wahrnehmung nicht zumuthen; denn dass diese antizipirte N\u00e4henvorstellung sogleich auch eine gewisse Konvergenz ausl\u00f6st, das geschieht ja gerade nach der Anschauung Hering\u2019s auf rein mechanischem Wege, kann also nicht ins Gebiet der inneren Wahrnehmung fallen. Der weitere Verlauf des Falles b ist analog dem Falle a, weshalb die obigen Erw\u00e4gungen hier mutatis mutandis zu wiederholen sind. \u2014 Zusammenfassend m\u00fcssen wir sagen: in dem Vorgang der \u201eabsoluten\u201c Lokalisation, wie ihn Hering beschreibt, findet sich kein Stadium, in Betreff dessen wir eine berechtigter Weise zu erwartende Nachricht aus der inneren Wahrnehmung vermissen w\u00fcrden. Arrer\u2019s Meinung aber, dass ohne Ber\u00fccksichtigung der inneren Wahrnehmung in der","page":134},{"file":"p0135.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n135\nPsychologie keine Erkl\u00e4rung zul\u00e4ssig sei, ist \u2014 in dieser Allgemeinheit ausgesprochen \u2014 g\u00e4nzlich verfehlt, da doch die zur \u201eErkl\u00e4rung\u201c: psychischer Vorg\u00e4nge hundertfach herangezogenen rein physiologischen Antecedentien eben um dieses ihres Charakters willen von der inneren Wahrnehmung ausgeschlossen sein m\u00fcssen.\nF\u00fcr bei Weitem besser durchdacht halte ich das zweite Argument, welches Arrer gegen Hering\u2019s Auffassung von der \u201eabsoluten\u201c Lokalisation ins Feld f\u00fchrt. Es hat folgenden Wortlaut :\n\u201eEs erhebt sich ferner ganz allgemein ein Einwand gegen diese Theorie, dem gegen\u00fcber sie um eine Antwort verlegen sein d\u00fcrfte, n\u00e4mlich : wodurch ist die Entfernungsvorstellung, die die Sehachsen zur Konvergenz bringt, von allem Anfang her bebedingt? Es ist leicht einzusehen, dass das sogen. Nahebewusstsein nicht nur ein hochentwickeltes Raumbewusstsein voraussetzt, sondern auch im Allgemeinen eine Kenntniss der Oertlichkeit, in der man sich befindet. Wo diese beiden Bedingungen nicht zu-treffen \u2014 und man braucht da nicht weit in die Kindheit zur\u00fcckzugehen, der Fall ist durch k\u00fcnstliche H\u00fclfe, was die Ausscheidung der Ortskenntniss anlangt, auch bei Erwachsenen m\u00f6glich \u2014 so d\u00fcrfte man vergeblich nach der obigen Theorie fragen: durch was wird hier die absolute Entfernungsvorstellung und die durch sie hervorgerufene Konvergenzeinstellung bedingt? Man kann hier nicht antworten: durch erfahrungsm\u00e4ssige Motive, die im schlimmsten Falle durch willk\u00fcrlich falsche Augenstellungen selbst hervorgerufen werden, denn ihre Interpretation setzt ja die Tiefenwahrnehmung bereits voraus\u201c (S. 234\u201435).\nIn der That : wer (wie Hering) die prim\u00e4re Quelle jeder Tiefenwahrnehmung in der Disparation bezw. in den Doppelbildern gegeben sieht und wer zugiebt, dass Disparation und Doppelbilder uns nur zu einer Lokalisation relativ zum Kernpunkt verhelfen, der darf \u2014 so scheint es \u2014 die Lokalisation des Kernpunktes selbst nicht wiederum von dem Momente der Disparation bezw. der Doppelbilder abh\u00e4ngig machen, ohne sich im Kreise zu drehen. Setzen wir eine vollentwickelte Tiefen Wahrnehmung schon als gegeben voraus, dann macht es allerdings keine Schwierigkeit mit Hering zu sagen: in jedem neuen Falle vollzieht sich die Lokalisation des Kernpunktes selbst als eine blos relative, relativ n\u00e4mlich zu einem vorgestellten Ort, der seiner-","page":135},{"file":"p0136.txt","language":"de","ocr_de":"Franz Hillebrand.\nseits die urspr\u00fcngliche Konvergenzstellung beherrscht und daher das ta fhdrende Objekt anf\u00e4nglich in gekreuzten oder gleichnamigen Doppelbildern und daher (wenn wir uns genau ausdr\u00fccken wollen) nicht nahe oder fern, sondern n\u00e4her oder ferner erscheinen l\u00e4sst \u2014 wobei diese Komparative eben ausdr\u00fccken sollen, dass auch die sogen, \u201eabsolute\u201c Lokalisation des Kernpunktes nach Hering nur eine relative sein kann. Es hat, sage ich, keine Schwierigkeit sich die Sache so vorzustellen \u2014 aber immer unter der Voraussetzung, dass ein vollentwickeltes System von Tiefenvorstellungen bereits gegeben sei; sonst w\u00fcsste man ja nicht, woher Einer jene Entfernungsvorstellung nehmen soll, mit der er an den neuen Fall herantritt und durch welche seine anf\u00e4ngliche Konvergenz bestimmt wird. Man wird aber \u2014 und diesen Standpunkt scheint mir Areee mit Recht einzunehmen t\u2014 sofort fragen: wie ging es denn zu, als ein solches fertiges Sy stem von Tief envorstellungen noch nicht da war? Wie wurde denn damals lokalisirt, als das Doppel-, auge zum ersten Male auf ein reelles Objekt konvergirte? Konnte es damals zu einer Lokalisation des Kernpunktes in der von Hering angegebenen Weise kommen, da doch von fr\u00fcher her noch gar keine Tiefenvorstellung da sein konnte, relativ zu welcher man den Kernpunkt lokalisirte? In diesem Stadium, wo man auf fr\u00fchere Raumvorstellungen ex hypothesi noch nicht rekurriren kann, bliebe nichts \u00fcbrig als die \u00fcbrigen Objekte relativ zum Kernpunkt lokalisirt zu denken und \u2014 den Kernpunkt relativ zu den \u00fcbrigen Objekten: das punctum fixum w\u00fcrde dann g\u00e4nzlich fehlen, man w\u00fcrde (scheint es) bei jeder versuchten Ausflucht zu anderen und wom\u00f6glich noch gr\u00f6sseren Absurdit\u00e4ten kommen, so etwa \u2014um jener h\u00f6chst bedenklichen Wechselseitigkeit in der relativen Lokalisation zu entgehen \u2014\u25a0 za der Annahme, dass der fixirte Punkt gar nicht lokalisirt sei, alle anderen aber relativ zu ihm lokalisirt w\u00fcrden.\nIch erw\u00e4hne dieser letzteren Annahme (die ich mir ohne Weiteres als absurd zu bezeichnen erlaube), weil man gelegentlich Psychologen, Physiologen oder Physiker findet, die, von der ganz verschwommenen Vorstellung einer \u201eallgemeinen Relativit\u00e4t\u201c geleitet, wirklich nicht \u00fcbel Lust haben, den ganzen scheinbaren Raum als einen Inbegriff von Relationen aufzufassen, die zwischen raumlosen d. h. unlokalisirten Elementen bestehen, wie wenn ein Ton lauter sein k\u00f6nnte als ein anderer, w\u00e4hrend","page":136},{"file":"p0137.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n137\nkeiner von ihnen eine Intensit\u00e4t besitzt, oder ein Mensch hungriger als eine anderer, w\u00e4hrend keiner von Beiden Hunger hat.1 2 *\nDie Schwierigkeit, welche der Auffassung Hering\u2019s dadurch anzuhaften scheint, dass dieselbe konsequent zur Annahme einer wechselseitigen Relativit\u00e4t der Tiefenlokalisation f\u00fchrt, ist denn auch l\u00e4ngst gef\u00fchlt und betont worden. Im Jahre 1873 hat ihr Stumpf 2 in folgender Weise Ausdruck verliehen: \u201eHingegen muss vom nativistisehen Standpunkt aus, so wie er bisher sich als noth wendig erwies, ein anderes Bedenken gegen Hering\u2019s Positionen erhoben werden. Wir finden hier nur die Tiefenrelationen der einzelnen wTahrgenommenen Punkte unter sich ber\u00fccksichtigt. Die Tiefengef\u00fchle, welche von den seitlichen Netzhautpunkten ausgel\u00f6st werden, bedeuten nur die Erhebung der gesehenen Punkte \u00fcber den Nullpunkt. Die Netzhautmitten haben das Tiefengef\u00fchl 0, d. h. keines. In Folge dessen schwebt die ganze Kernfl\u00e4che sozusagen in der Luft, sie hat gar keinen Orb Denken wir uns, die Netzh\u00e4ute best\u00e4nden nur aus den Centralgrub eh, so w\u00fcrde nach Hering Tiefe und dritte Dimension nicht empfunden. Diese Tiefe 0 ist bedenklich etc. etc.\u201c Und etwas, sp\u00e4ter: \u201eF\u00fcr diesen Tiefenwerth des Kernpunktes und damit f\u00fcr die absoluten Entfernungen \u00fcberhaupt fehlt es nun, da sie nicht anerkannt werden, in Hering\u2019s Theorie nat\u00fcrlich auch an physischen Bedingungen etc.\u201c\nIch habe Erw\u00e4gungen dieser Art, wie ich gestehen muss, lange Zeit hindurch f\u00fcr schlagend und unwiderlegbar gehalten; hier schien mir, ebenso wie Stumpf und j\u00fcngst wieder Arrer, der wunde Punkt in Hering\u2019s Theorie zu liegen. Diejenigen, w7elche Ortsvorstellungen aus Muskelempfindungen entstehen lassen, schienen mir wenigstens darin im entschiedenen Yortheil, dass sie zur Lokalisation des Kernpunktes nicht die n\u00e4mlichen Momente (Disparation und Doppelbilder) heranziehen mussten, von welchen die Lokalisation relativ zum Kernpunkt bedingt ist, dass sie also das punctum fixum gewissermaassen aus\n1\tDie ehemals sehr beliebte Definition des Raumes als des \u201eNebeneinanders der Dinge\u201c, der Zeit als des \u201eNacheinanders der Dinge\u201c ist als Worterkl\u00e4rung einwandfrei, als Begriffsanalyse aber ein unverzeihliches Hysteron-Proteron.\n2\t\u201eUeber den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung\u201c, Leipzig\n1873, S. 195-96,","page":137},{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"138\nFranz Rillebrand.\neiner anderen Quelle bezogen. Bedenklich war mir nur immer die Produktion von Tiefenvorstellungen durch solche Empfindungen, die, wie die Muskelempfindungen, doch unleugbar blos intensiv abgestuft sind. Denn auch an ein Assoziiren von eigentlich optischen Tiefenvorstellungen an die verschiedenen Empfindungen von Muskelspannung ist nicht zu denken, weil jene, aus der Disparation stammenden Tiefenvorstellungen ihrer Natur nach relative sind (ausgedr\u00fcckt durch die Worte \u201en\u00e4her, ferner als der Kernpunkt) und daher, wenn sie selbst an Muskelempfindungen assoziirt w\u00fcrden, immer wieder ein neues punctum fixum verlangen w\u00fcrden, auf welches der so assoziirte relative Ort bezogen werden m\u00fcsste.\nIn dieser Verlegenheit habe ich den obigen Einwand gegen Hering\u2019s Theorie auf\u2019s Neue gepr\u00fcft und ihn, so plausibel er mir fr\u00fcher erschienen war, bei genauerem Zusehen als g \u00e4 n z 1 i c h verfehlt erkannt, verfehlt wegen falscher Fragestellung. Ich hoffe einen einwandfreien Beweis liefern zu k\u00f6nnen, dass Herinu\u2019s Auffassung der \u201eabsoluten\u201c binokularen Tiefenlokalisation von jeder logischen Inkonvenienz frei ist, indem ich zeigen zu k\u00f6nnen glaube, dass man die Lokalisation des Kernpunktes auf dieselben Motive (Disparation und Doppelbilder) zur\u00fcckf\u00fchren kann, auf welche auch die Lokalisation relativ zum Kernpunkt zur\u00fcckgef\u00fchrt wird \u2014 ohne sich eines Zirkelschlusses schuldig zu machen.\nBetzen wir also voraus, ein normales Doppelauge konvergire in einem mit den verschiedensten Objekten erf\u00fcllten Raum auf den median gelegenen Punkt a ; nehmen wir weiter an, dies sei der erste binokulare Sehakt dieses Doppelauges, bezw. wenn es nicht der erste ist, abstrahiren wir k\u00fcnstlich von allen lokali-satorischen Erwerbungen, die etwa auf fr\u00fchere binokulare Sehakte zur\u00fcckzuf\u00fchren w\u00e4ren. Nehmen wir schliesslich als zugestanden an, dass wenigstens relative Lokalisationen, d. h. hier Lokalisationen relativ zum fixirten Punkte, schon in diesem Anfangs stadium zu Stande kommen k\u00f6nnen durch die Wirksamkeit der Disparation und der Doppelbilder. Es sollen e, d, 0, f ... . n Punkte des wirklichen Raumes sein, die der Reihe nach immer n\u00e4her und n\u00e4her dem Beobachter liegen. Ob dieselben in der Medianebene liegen oder nicht, ist hier gleiehgiltig ; sofern sie es nicht thun, kommt es uns ja hier nur auf die Tiefenkomponente ihres Raumdatums an. Die aller*","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n139\nn\u00e4chsten Objekte werden hier nat\u00fcrlich unter den sichtbaren Theilen des eigenen K\u00f6rpers zu suchen sein.\nVon den Punkten 5, e, d, e, f.........n wird jeder folgende in\ngr\u00f6sserer Disparation bezw. in weiter von einander abstehenden (nat\u00fcrlich stets gekreuzten) Doppelbildern erscheinen als der vorhergehende: durch dieses Mehr oder Minder an Disparation (bezw. Halbbilderdistanz) ist die relative Tiefenlage jedes Einzelnen von den Punkten b bis n zu jedem anderen Punkte dieser Reihe bestimmt (wobei ich von dem fixirten Punkte a absichtlich noch nicht spreche). Am allerst\u00e4rksten wird die Distanz der Doppelbilder nat\u00fcrlich f\u00fcr Theile des eigenen K\u00f6rpers sein, soweit derselbe dem ruhenden Doppelauge sichtbar ist, z. B. bei etwas gesenkter Blickebene f\u00fcr die Details unserer Kleidung in der Bauchgegend, bei st\u00e4rker gesenkter Blickebene f\u00fcr die Details unserer unteren Extremit\u00e4ten, in jeder Stellung aber f\u00fcr den sichtbaren Theil der Nase. Es ist ferner offenbar logisch gleichbedeutend, ob ich sage: n (und dieses n soll jetzt einen sichtbaren Punkt des eigenen K\u00f6rpers bedeuten) hat einen N a h -Werth gegen\u00fcber g (wo g irgend einen Aussenpunkt in der obigen Reihe a .... n bedeutet), oder ob ich sage : g hat einen Fern-werth gegen\u00fcber n. Dasselbe wird gelten f\u00fcr f relativ zu y, e relativ zu f u. s. w. Es wird aber auch gelten f\u00fcr a (dem fixirten Punkt) relativ zu b ; auch hier werden wir die S\u00e4tze \u201e5 hat einen Nahwerth relativ zu au und \u201ea hat einen Fernwerth relativ zu bu als \u00e4quivalent ansehen m\u00fcssen. In der That : wenn wir das Dasein einer gekr. Disparation von b f\u00fcr die physiologische Ursache des Nahwerthes der Empfindung b relativ zu a ansehen, was hindert uns, die Relation umkehrend, zu sagen: das Fehlen der Disparation f\u00fcr a ist die Ursache des Fernwerthes der Empfindung a relativ zu b? Und statt b\nk\u00f6nnte man ebensogut c, d.............und schliesslich n setzen,\nwelches eine sichtbare Stelle des eigenen K\u00f6rpers bezeichnet. Es wird sich nur mehr fragen, welche von den beiden Darstellungen die sachgem\u00e4sse ist, ob diejenige, derzufolge der eigene K\u00f6rper relativ zum fixirten Punkt lokalisirt wird, oder die umgekehrte, derzufolge der fixirte Punkt relativ zum eigenen K\u00f6rper lokalisirt wird. Nun steht es ausser Frage, dass die zweite Darstellung die sachlich zutreffende ist. Denn wenn ich von einer \u201eabsoluten\u201c Lokalisation des Kernpunktes spreche, so meine ich damit nicht eine Lokalisation, die sich auf den wirklichen","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140\nFranz Hillebrand.\nRaum bezieht, sondern auf den Sehraum. Wenn ich sage, diese \u201eabsolute\u201c Lokalisation sei eine bestimmte, so meine ich damit nicht, dass die Lokalisation des Kernpunktes \u00fcbereinstimmen oder wenigstens in eindeutiger Beziehung stehen m\u00fcsse mit dem realen Ort im Aussenraum, in welchem sich die Gesichtslinien schneiden. Es f\u00e4llt ja Niemandem ein, zu ver langen, dass ein median gelegener Ort yon 1 m Abstand dem Beobachter anders erscheinen m\u00fcsse, wenn sich der letztere an verschiedenen Orten der Erdoberfl\u00e4che befindet. Sobald dies zugegeben wird, ist anch weiter zugegeben, dass die \u201eabsolute\u201c Lokalisation des Kernpunktes in Wahrheit gar keine absolute ist, sondern offenbar eine Lokalisation relativ zum eigenen K\u00f6rper. Daraus folgt wieder sofort, dass es eine Verkehrung des wahren Sachverhaltes ist1, wenn ich sage : der eigene K\u00f6rper (soweit sichtbar) werde relativ zum Kernpunkt lokalisirt und das \u201eUm wie viel n\u00e4her?\u201c h\u00e4nge von der Distanz der Halbbilder ab; man sollte vielmehr sagen: der Kernpunkt wird relativ zum eigenen K\u00f6rper in die Ferne lokalisirt und das \u201eWie weit in die Ferne?\u201c h\u00e4ngt ab von der Differenz der Doppelbilddistanzen, wobei die Doppelbilddistanz f\u00fcr den Kernpunkt nat\u00fcrlich \u2014 0 ist. Diese letztere Ausdrucksweise erscheint mir aus dem Grunde als die korrektere, weil sie die Tiefenbeziehung des Kernpunktes zum eigenen K\u00f6rper als blossen Spezialfall des allgemeineren Satzes darstellt, dass der Tiefenunterschied zweier beliebiger Punkte immer von der Differenz der Doppelbilddistanzen abh\u00e4ngt ; ist der eine der beiden Punkte zuf\u00e4llig der Kernpunkt, so nimmt seine Doppelbilddistanz den speziellen Werth Null an. F\u00fcr die jenseits des Kernpunktes gelegenen Punkte m\u00fcssen wir dann der Doppelbilddistanz das entgegengesetzte Vorzeichen geben.\nMan wende nicht ein: wie kann der eigene K\u00f6rper (soweit er sichtbar ist) zum fixen Ausgangspunkt der Tiefenlokalisation gemacht werden, da seine Halbbilder doch bald weiter, bald weniger weit voneinander entfernt sind, je nachdem man eben auf einen ferneren oder n\u00e4heren Punkt konvergirt ? Man darf diesen Einwand nicht erheben, weil es ja nicht auf die absolute Gr\u00f6sse der Doppelbilddistanz der eigenen K\u00f6rpertheile ankommt, sondern\n1 Allerdings eine, die im Interesse der physiologischen Darstellung liegt, wie wir bald sehen werden.","page":140},{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n141\nnur auf die Differenz, die zwischen dieser Doppelbilddistanz und irgend einer anderen besteht, wobei diese andere f\u00fcr den Fall des fixirten Punktes den speziellen Werth 0 annimmt.\n\u00ab, Aus dieser Darstellung geht hervor, dass es nicht noth-wendig ist f\u00fcr die Lokalisation des Kernpunktes irgend andere physiologische Motive in Anspruch zu nehmen als f\u00fcr alle andern, ausserhalb der Kernfl\u00e4che gelegenen Punkte; man reicht mit dem Momente der Disparation (bezw. der Doppelbilder) aus, hat also nicht n\u00f6thig f\u00fcr die Lokalisation des Kernpunktes die hypothetischen Muskelempfindungen heranzuziehen. Ja noch mehr: wenn die Lokalisation jedes Punktes nur von der Differenz abh\u00e4ngt, die zwischen der Distanz seiner beiden Halbbilder und der Distanz der Halbbilder sichtbarer Theile des eigenen K\u00f6rpers besteht, so ist es ja von vornherein h\u00f6chst unwahrscheinlich, dass f\u00fcr den einzigen Spezialfall, in welchem die Doppelbilddistanz = 0 wird, mit einem Male die Muskel-Empfindungen das maassgebende Moment sein sollten \u2014 was ja ein krasses Durchbrechen des Konti nuit\u00e4tsprinzipes bedeuten w\u00fcrde.\nEine empirische Verifikation der eben dargelegten Auffassung muss Jeder erkennen, der darauf geachtet hat, wie verschieden die Situationen sind, wenn man ein Mal durch K\u00f6hren, Okulardiaphragmen, Spalte u. dergl. sich den Anblick eigener K\u00f6rpertheile entzieht, ein anderes Mal aber keine solchen anormalen Umst\u00e4nde einf\u00fchrt. Die Fehler, welche Helmholtz und Wukdt bei der Taxirung der Entfernung oder beim Stoss\u00e9n nach dem Fixationsobjekt gemacht haben, beweisen zwar nichts gegen die Bestimmtheit der Lokalisation des Kernpunktes; aber die Unrichtigkeit dieser Lokalisation muss doch in den besonderen Versuchsumst\u00e4nden ihren Grund haben, da wir unter normalen Verh\u00e4ltnissen auch bei Mangel aller sekund\u00e4ren Lokalisationsmotive einen Gegenstand sehr wohl mit Finger oder 'Stift zu treffen verstehen. Die Anomalie d\u00fcrfte hier wesentlich in dem Ausschluss des eigenen K\u00f6rpers aus dem Gesichtsfeld und somit im Wegfall des normalen Ausgangspunktes unserer Tiefenlokalisation gelegen sein ; und die Thatsache, dass die Fehler dem Sinne nach verschieden sind bei verschiedenen","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142\nFranz Rillebrand.\nBeobachtern (Helmholtz, Wundt), passt sehr wohl zu Hering\u2019s Meinung, der zu Folge sich die einzelnen Beobachter individuell verschiedene Ausgangspunkte (in der Form reproduzirter Tiefenvorstellungen) w\u00e4hlen, wie oben (S.132\u00dc.) ausgef\u00fchrt worden ist. Wie die Anh\u00e4nger der Muskelempfindungstheorie sich den Einfluss solcher R\u00f6hren, Diaphragmen oder Spalte zurechtlegen m\u00f6gen, l\u00e4sst sich schwer denken.\nDer Haupteinwand gegen Hebing\u2019s Theorie, dass dieselbe n\u00e4mlich von der Lokalisation des Kernpunktes (Kernfl\u00e4che) gar keine oder nur eine auf einen Zirkel hinauslaufende Erkl\u00e4rung geben k\u00f6nne, scheint somit erledigt. Es fragt sich, welchem Missverst\u00e4ndniss dieser Einwand seine hohe Scheinbarkeit verdankt. Mir scheint nun dieses Missverst\u00e4ndniss wesentlich in dem Doppelsinn zu liegen, welcher dem Satze anhaftet: \u201eder Fixationspunkt ist der Nullpunkt der Tiefenlokalisation.\u201c Dieser Satz ist dann richtig, wenn man mit ihm den Sinn verbindet: der Fixationspunkt ist dadurch ausgezeichnet, dass diesseits von ihm jede Zunahme der Doppelbilddistanz eine Vermehrung der N\u00e4he, jenseits von ihm jede Zunahme der Doppelbilddistanz \u25a0eine Verminderung der N\u00e4he (Vermehrung der Entfernung) zur Eolge hat. Man kann das auch so ausdr\u00fccken: damit ein Sehobjekt bei ruhender Konvergenz nach und nach alle m\u00f6glichen Entfernungen vom Beobachter ohne Umkehr durchlaufe, muss sich in den physiologischen Ursachen dieser verschiedenen Entfernungen (nicht in den Entfernungsvorstellungen selbst, also nicht in den psychischen Daten) eine Variable stetig so \u00e4ndern, dass ihr Werth einen Umkehrpunkt (Nullpunkt) durchl\u00e4uft; diese Variable ist die Doppelbilddistanz und sie erreicht ihren Nullpunkt dann, wenn das bewegte Objekt den Schnittpunkt der Gesichtslinien passirt. Daraus folgt \u2014 und das ist es, was immer \u00fcbersehen wird \u2014, dass nur die physiologische Ursache der ph\u00e4nomenalen (ins Bewusstsein fallenden) Entfernungs\u00e4nderung einen Nullpunkt hat, und nicht die (ph\u00e4nomenale) Entfernungs\u00e4nderung selbst. Wenn bei ruhender Konvergenz ein \u00e4usseres Objekt sich von mir immer mehr und mehr entfernt, so macht auch der vorgestellte (ph\u00e4nomenale) Ort eine Aenderung durch, die nur in einem Sinne, also ohne Umkehr erfolgt, und nur das physiologische Zwischenglied (die Doppelbilddistanz) durchl\u00e4uft einen Nullpunkt. Sofern also eine gar nicht ins Bewusstsein","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\t143\nfallende Variable einen Nullpunkt hat und sofern der Kernpunkt als ein Punkt des S ehr a um es definirt wird, darf man auf keinen Fall sagen: der Kernpunkt hat den Tiefenwerth Null; im Sehraum gieht es \u00fcberhaupt keinen Nullpunkt und kein Plus oder Minus, ebensowenig als man bei stetiger Intensit\u00e4tszunahme einer K\u00e4lteempfindung sagen darf, diese Empfindung passire einen Nullpunkt, weil der K\u00e4lte erregende K\u00f6rper etwa den Nullpunkt unserer Temperaturskala passirt hat. Spricht man lediglich von ph\u00e4nomenalen Tiefenbestimmungen, dann kann man von jedem beliebigen Punkt (nicht bloss vom Kernpunkt) konventionell festsetzen, dass man alles diesseits Gelegene \u201enahe\u201c nennt, alles jenseits Gelegene \u201efern\u201c ; aber in der Natur der Erscheinungen selbst ist das nicht begr\u00fcndetem Bezug auf mich (meinen K\u00f6rper) ist jeder Punkt \u201efern\u201c, nur der eine mehr, der andere weniger. F\u00fcr mancherlei physiologische Darstellungen, so z.B. gerade f\u00fcr die Darstellung der \u201erelativen\u201c Lokalisation durch Disparation, kann es ganz unsch\u00e4dlich sein, sich jener ungenauen Ausdrucksweise zu bedienen und in \u00fcbertragenem Sinne dem Kernpunkt eine Eigenschaft zuzusprechen, die gar nicht ihm, sondern seinem physiologischen Antecedens zukommt ; handelt es sich aber gerade um das Problem der Lokalisation des Kernpunktes, dann wird jene \u00fcbertragene Redeweise zur Quelle fortw\u00e4hrender Irrth\u00fcmer.\nWenn Stumpe sagt: \u201eDenken wir uns, die Netzh\u00e4ute best\u00e4nden nur aus den Centralgruben, so w\u00fcrde nach Herinu Tiefe und dritte Dimension nicht empfunden\u201c, so gebe ich das ohne Weiteres zu, aber nicht desshalb, weil in dem fingirten Falle diejenige Netzhautstelle \u00fcbrig bleibt, die auch im normalen Falle nur die Tiefenvorstellung 0 (d. h. gar keine) liefern w\u00fcrde, sondern deshalb, weil hier die ganze Reihe von Orten wegf\u00e4llt, die, mit den sichtbaren Theilen meines K\u00f6rpers beginnend, die Verbindung zwischen mir und dem Kernpunkt herstellt, oder (wie man sich kurz ausdr\u00fccken kann) weil nichts da ist, relativ zu welchem der Kernpunkt lokalisirt werden k\u00f6nnte. H\u00e4lt man einmal an dem Gedanken fest, dass jede Tiefenlokalisation relativ zum eigenen K\u00f6rper stattfindet und dass jedes Mehr oder Minder an Entfernung physiologisch nur in der Differenz zweier Doppelbilddistanzen begr\u00fcndet ist, dann versteht es sich von selbst, dass dort, wo es \u00fcberhaupt nur zu einer","page":143},{"file":"p0144.txt","language":"de","ocr_de":"Franz Hillebrand.\ne i n z i g \u00e9 il Empfindung kommen kann (wie in dem fingirten Falle isolirter Foveae), eine Tiefenvorstellung nicht m\u00f6glich sein kann.\nGiebt man nun zu, dass in der oben dargestellten Weise ohne Voraussetzung eines bereits vorhandenen Raum systems bloss auf Grund der Disparation und der Doppelbilder die s\u00e4mmtlichen Punkte des Sehraumes ihre Tiefenbestimmtheiten erhalten k\u00f6nnen, dann wird man ohne Zweifel zugeben m\u00fcssen, dass wir von diesem Besitz auch in reproduktiver Weise Gebrauch machen k\u00f6nnen. In F\u00e4llen also, wo k\u00fcnstliche Bedingungen das normale Zustandekommen einer Tiefenvorstellung verhindern, wie z. B. wenn im leeren Gesichtsfeld ein Faden von unbekannter Dicke erscheint und von unserem K\u00f6rper nichts sichtbar ist, dort wird man mit Hering auf fr\u00fchere normale F\u00e4lle von Lokalisation rekurriren und re-produzirte Tiefenvorstellungen unter Umst\u00e4nden zum Ausgangspunkt f\u00fcr derartige Lokalisationen machen d\u00fcrfen, wodurch Arrer\u2019s oben angef\u00fchrtes Gegenargument seine Beweiskraft verliert.\nVIII. Berichtigung eines Missverst\u00e4ndnisses, die drei \u201eRaumgef\u00fchle\u201c Heeing\u2019s betreffend.\nEin weiteres, weniger belangreiches Missverst\u00e4ndniss von Seiten Arrer\u2019s habe ich noch richtig zu stellen. Arrer nimmt Anstoss an den drei \u201eRaumgef\u00fchlen\u201c Hering\u2019s, dem Breitem, H\u00f6hen- und Tiefengef\u00fchle; diese drei Raumgef\u00fchle, aus denen Hering \u2014 Arrer zuFolge \u2014 die Raumempfindung eines Netzhautpunktes \u201ekomponirt\u201c1 sein l\u00e4sst, seien unmittelbar nicht wahrnehmbar, \u00fcberdies scheine auch jede Andeutung f\u00fcr ihr\u00e8 Existenz zu fehlen (a. a. O. S. 238). Ausserdem aber seien die Begriffe Breiten-, H\u00f6hen- und Tiefen g ef\u00fchl nur entstanden \u201edurch Umsetzung von Breiten-, H\u00f6hen- und Tiefen wer the n\n1 Arrer S. 303.","page":144},{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n145\nauf der Netzhaut in psychologische Thatsachen\u201c; Hering\u2019s Anh\u00e4nger h\u00e4tten nur Verh\u00e4ltnisse, die \u201eauf der objektiven Seite der Forschung\u201c erkannt seien, in eine \u201ebequeme psychologische Sprache\u201c umgesetzt und daher nichts Anderes ausgesagt, als was auf dieser \u201eobjektiven Seite der Forschung\u201c ohnehin schon erkannt worden sei (a. a. O. S. 238).\nWas nun Arrer\u2019s Meinung betrifft, dass Hering jede Raumspezies aus drei Gef\u00fchlen \u201ekomponirt\u201c sein lasse, von welchen Gef\u00fchlen man nichts entdecken k\u00f6nne, so ist diese Ungereimtheit erst durch Arrer, nicht aber durch Hering entstanden. Ein Element, das einer \u00ab-fach ausgedehnten Mannigfaltigkeit angeh\u00f6rt, ist eben dadurch nach \u00ab-Richtungen relativ bestimmt, wie z. B. die Lage eines Punktes in einer Ebene durch die Abst\u00e4nde von den zwei Achsen eines Coordinatensystems bestimmt ist. Damit wird aber nicht gesagt, dass jene zwei Beziehungen wie zwei Merkmale aufzufassen seien, die man in der Vorstellung dieses Punktes selbst entdecken m\u00fcsste, da doch klar ist, dass sie ihm nur zukommen mit Beziehung auf die Gesammtheit der Punkte dieser Ebene. Anders hat auch Hering seine drei \u201eRaumgef\u00fchle\u201c nicht verstanden. Zu fordern, dass man die drei Raumgef\u00fchle (ihr Vorhandensein vorausgesetzt] als Bestandst\u00fccke der einzelnen Raumempfindung erkennen m\u00fcsste, da die letztere doch aus den ersteren \u201ekom-ponirt\u201c sei, das h\u00e4tte in der That ebensoviel Sinn, als wenn Einer verlangen w\u00fcrde, die genaue Analyse eines menschlichen Individuums m\u00fcsse erkennen lassen, dass dasselbe Vater* Schwager und Oheim sei. Arrer m\u00fcsste konsequent auch daran Anstoss nehmen, dass Wundt jede Gesichtsvorstellung hinsichtlich ihrer r\u00e4umlichen Eigenschaften aus zwei Faktoren bestehend denkt : erstens aus der Orientirung der einzelnen Elemente zu einander und zweitens aus der Orientirung zum vorstehenden Subjekt, und dass Wudnt ausdr\u00fccklich erkl\u00e4rt, schon die Vorstellung eines einzigen Lichtpunktes enthalte diese beiden Faktoren.1\nArrer hat aber auch Unrecht, wenn er meint, Hering sei bei Statuirung seiner drei \u201eRaumgef\u00fchle\u201c nicht von der Analyse des psychologischen Thatbestandes ausgegangen, sondern\n1 Wundt, Grundr. d. Psych., Leipzig 1896, S. 137. Zeitschrift f\u00fcr Psychologie XYI.\n10","page":145},{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"146\nFranz JS\u00fcl\u00e9bran\u00e2.\nhabe gewisse physikalische Verh\u00e4ltnisse einfach in eine bequeme psychologische Sprache umgesetzt und damit nichts mehr ausgesagt, als was schon auf Seite jener physikalischen Verh\u00e4ltnisse erkannt worden sei. Der Ausgangspunkt aller auf die optische Lokalisation bez\u00fcglichen Ueberlegungen musste f\u00fcr Jedermann, und daher auch f\u00fcr Hering die psychologische Thatsache bilden, dass uns\u00ebre Gesichtsempfindungen eine dreifache r\u00e4umliche Variabilit\u00e4t zeigen und dass sie dies auch dann thun, wenn alle sekund\u00e4ren (\u201eempirischen\u201c) Lokalisationsmotive und ferner auch alle Augenbewegungen ausgeschlossen sind (Fallversuch). Es handelte sich nun darum, f\u00fcr die psychologische Variabilit\u00e4t nach drei Dimensionen eine ebenfalls dreidimensionale Variabilit\u00e4t auf physiologischem Gebiete zu finden. Im psychophysischen Prozesse (wenn wir dieses Wort in der von Fechner pr\u00e4zisirten Bedeutung verstehen) kann man eine solche Variabilit\u00e4t nicht finden, man kann sie in denselben nur hypothetisch hinein-t rag en, weil wir vom psychophysischen Prozesse \u00fcberhaupt nur das sekund\u00e4r aussagen k\u00f6nnen, was uns prim\u00e4r die psychologische Analyse gezeigt hat. Eine \u201eErkl\u00e4rung\u201c kann also durch den Rekurs auf den \u201epsychophysischen Prozess\u201c \u00fcberhaupt nicht gegeben werden. In dem \u00e4usseren Reiz (wenn ich darunter den physikalischen Vorgang bis zum Beginn des physiologischen Stadiums verstehe) kann die Erkl\u00e4rung auch nicht gesucht werden, weil wir recht wohl wissen, dass physikalische Variable beim Umsatz in den physiologischen Vorgang verschwinden k\u00f6nnen, wie z. B. der physikalische Unterschied zwischen homogenem und polychromatischem, zwischen polari-sirtem und nicht polarisirtem Lichte physiologisch bedeutungslos werden kann. Es bleibt also zur Erkl\u00e4rung dessen, was die psychologische Analyse ergiebt, nur der terminale Reiz \u00fcber. Da bot nun die fl\u00e4chenhafte Ausdehnung der Netzhaut ein willkommenes Mittel, wenigstens f\u00fcr zwei Dimensionen der psychischen Mannigfaltigkeit ein physiologisches Korrelat zu finden. F\u00fcr die dritte, auf psychischem Gebiete konstatirte Ver\u00e4nderlichkeit (die nach der Tiefe) war die Grundlage im terminalen Vorgang nicht so leicht zu finden; sie ergab sich aber, sobald man erkannte, dass ein Punkt a der einen Netzhaut nicht bloss wenn er mit dem Punkte a* der anderen Netzhaut zugleich gereizt wird, eine \u00f6rtlich einfache Empfindung zur Folge hat, sondern dass dieser Punkt a mit den Punkten eines","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n147\nganzen Bezirkes (des \u201ekorrespondirenden Empfindungskreises\u201c nach Panum) der anderen Netzhaut gleichzeitig gereizt noch immer \u00f6rtlich einfache Empfindungen ergiebt. Hierdurch war eine dritte physiologische (und zwar terminale) Variabilit\u00e4t gewonnen. Der haploskopische Versuch ergab leicht, dass diese physiologische Variation psychisch eine Ortsverschiedenheit nach einer dritten Richtung zur Folge habe.\nDer Weg, den Hering und vor ihm Panum und Joh. M\u00fcller eingeschlagen hatten, hat also seinen Ausgang in der psychologischen Analyse genommen und die \u201eRaumwerthe\u201c, welche den Netzhautpunkten zugeschrieben werden, werden ihnen nur beigelegt mit R\u00fccksicht auf die r\u00e4umliche Variabilit\u00e4t der Empfindung, welche als das Prim\u00e4re auf psychologischem Gebiete schon feststand \u2014 nicht umgekehrt, wi\u00fc dies Abbeb den Anh\u00e4ngern der HERiNG\u2019schen Auffassung ohne jeden Grund zumuthet.\nAbber hat den Vorwurf, dass Hering und seine Anh\u00e4nger, statt von der psychologischen Analyse vielmehr von physikalischen Verh\u00e4ltnissen ausgegangen seien und diese nur in eine bequeme psychologische Sprache umgesetzt h\u00e4tten, offenbar gar nicht konsequent durchdacht; sonst m\u00fcsste ihm (von meinen obigen Bemerkungen abgesehen) auch noch folgender Umstand aufgefallen sein: ein Punkt a der einen Netzhaut verschmilzt1 nicht bloss mit einer Reihe querdisparater, sondern auch mit einer solchen l\u00e4ngsdisparater Punkte. Die objektiven Zuordnungsverh\u00e4ltnisse w\u00e4ren also darnach angethan, eine Variabilit\u00e4t nach vier Dimensionen zu ergeben. Aber weder Hering noch seinen Vorg\u00e4ngern und Anh\u00e4ngern ist es einge-gefallen, von einem 4-dimensionalen Gesichtsraum zu reden \u2014 einfach weil die psychologische Analyse nur drei Dimensionen zeigt. W\u00e4ren wirklich, wie Arber glaubt, nur solche \u201eauf der objektiven Seite der Forschung erkannte Verh\u00e4ltnisse in eine bequeme psychologische Sprache\u201c umgesetzt worden, danir\n1 Ich sage hier der K\u00fcrze halber \u201ezwei Netzhautpunkte verschmelzen\u201c, um den unbequemen Ausdruck zu vermeiden \u201ezwei Netzhautpunkte haben die Eigenschaft, dass, wenn sie gleichzeitig gereizt werden, eine \u00f6rtlich \u00abinfache Empfindung entsteht\u201c\n10*","page":147},{"file":"p0148.txt","language":"de","ocr_de":"Franz Hillebrand.\n148\nw\u00e4re die Konsequenz eines 4-dimensionalen Sehraumes unvermeidlich gewesen.\nIX. Ueber eine nothwTendige Voraussetzung aller \u201eempiristischen\u201c Raumtheorien.\nZum Schl\u00fcsse muss ich noch auf ein Bedenken zu sprechen kommen, das sich gegen jede Theorie erhebt, welche die prim\u00e4re Quelle der Raumvorstellungen in Muskelempfindungen erblicken will- Ich habe an anderer Stelle 1 schon darauf hingewiesen, dass j ede derartige Theorie eine graduelle Abstufung der Muskelempfindungen voraussetzen muss, die an F e i n h e i t mindestens den Raumsinn der Netzhaut erreicht. Man mag was immer f\u00fcr eine Ansicht \u00fcber die Natur der Lokalzeichen haben, j edenfalls sind sie nur Zeichen f\u00fcr Orte und nicht Ortsempfindungen selbst. Um diese Zeichen als Orte zu deuten, dazu ist nat\u00fcrlich ein System von anderen Empfindungen n\u00f6thig, die man sich meistentheils als Muskelempfindungen denkt. Die Lokalzeichen m\u00f6gen nun so fein wie immer abgestuft sein \u2014 unser fertiges Raumsystem das wir nun einmal besitzen, kann in Bezug auf den Grad seiner Differenzirung nicht bloss von dem Diffe-renzirungsgrade der Lokalz eichen abh\u00e4ngen, sondern es muss zugleich abh\u00e4ngen von dem Differenzirungsgrad derjenigen Empfindungen, vermittels deren wir die Lokalzeichen \u201eausiegen\u201c, n\u00e4mlich der Muskelempfindungen ; w\u00fcrden diese letzteren weniger differenzirt sein, so w\u00fcrde uns der denkbar h\u00f6chste Differenzirungsgrad der Lokalz eichen nichts n\u00fctzen, unser fertiges Raumsystem k\u00f6nnte an Feinheit das System der Muskelempfindungen nicht \u00fcbertreffen. Man erlaube mir folgendes Gleichniss : angenommen, es k\u00e4me Einer auf den Gedanken, die Instrumente eines Orchesters nicht \u201enach dem Geh\u00f6r\u201c (und zwar nach dem des feinsten musikalischen Ohres) abzustimmen, sondern nach den besten physikalischen (also objektiven) Methoden, sodass also die Fehler\n1 Zeitschr. f. Psychol. Bd. VII, S. 148.","page":148},{"file":"p0149.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n149\ngewiss weniger als eine Schwingung betr\u00fcgen \u2014 w\u00fcrde dann unser musikalisches Ohr von dem Spiel dieses Orchesters mehr befriedigt sein als beim \u00fcblichen Verfahren des Stimmens? Die Frage wird Jedermann verneinen ; und auf die Frage nach dem Grunde wird Jedermann sagen : was n\u00fctzt uns eine Herabsetzung der Stimmungsfehler, wenn unser Ohr, l\u00e4ngst ehe die physikalische Genauigkeitsgrenze erreicht ist, schon keine Fehler mehr zu erkennen vermag? Was w\u00fcrde uns die feine physikalische Differenzirung n\u00fctzen, da unser Ohr viel fr\u00fcher die Grenze der Differenzirung erreicht? Die Anwendung auf das Verh\u00e4ltnis^ von Lokalzeichen und Muskelempfindungen liegt auf der Hand. Es ist aber ebenso bekannt, dass, sobald wir die optische Kontrolle (beim Blinden die Hautsinnes-Kontrolle) ausschalten, unsere Bewegungen (auch die Augenbewegungen) eine geradezu enorme Einbusse an Feinheit der Abstufung erleiden, was doch nicht m\u00f6glich w\u00e4re, wenn die uns vom Muskelsinn zukommenden Nachrichten die feine Differenzirung des aus-gebildeten optischen Baumsystems bes\u00e4ssen.1 Man braucht (neben hundert anderen Beispielen) nur die Ergebnisse solcher Tiefensch\u00e4tzungen', die mit Ausschluss der Netzhautdisparation vollzogen wurden, mit denjenigen zu vergleichen, die mit Hilfe der Disparation ausgef\u00fchrt wurden.\nGegen\u00fcber diesem Bedenken, das ich in meiner vorerw\u00e4hnten Arbeit schon angedeutet habe, bemerkt Arrer Folgendes:\n\u201eMan hat der hier vertretenen Theorie vorgeworfen, sie nehme Muskelempfindungen an, \u00bbdenen Funktionen zugemuthet werden, die voraussetzten, dass ihre graduellen Abstufungen an Feinheit mindestens den Raumsinn der Netzhaut erreichen\u00ab (Hillebrand). Gewiss, sie thut dies mehr oder weniger. Aber wenn man diesen Einwand erhebt, m\u00f6ge man sich auch Folgendes \u00fcberlegen : Erstens, wie w\u00fcrde es um unsere F\u00e4higkeit, Raumverh\u00e4ltnisse zu unterscheiden, stehen, auch wenn sich diese aus Funktionen und Verh\u00e4ltnissen auf der Netzhaut erkl\u00e4ren Hessen, wenn dem Raumsinn derselben nicht ein ebenso fein abgestufter Bewegungsmechanis-\n1 Es m\u00fcssten also bei Ausschluss der optischen Kontrolle Bewegungen im Ausmaasse von 10 bis 12 Winkelsekunden durch den Muskelsinn erkannt werden! Nun denke man aber an die groben, mehrere Grade betragenden Blickschwankungen, die uns im Dunkelzimmer g\u00e4nzlich verborgen bleiben und so u. A. auffallende T\u00e4uschungen \u00fcber die Lage periodischer Entladungsfunken verursachen \u2014 worauf ich schon fr\u00fcher aufmerksam gemacht habe (Zeitschr. f. Psychol. Bd. VII, S. 150f.).","page":149},{"file":"p0150.txt","language":"de","ocr_de":"Franz Hillebrand.\nmu\u00df zur Seite st\u00fcnde? Und zweitens, ob es wirklich schwerer ist zu denken, es entspreche einem so fein abgestuften Bewegungsmechanismus ein ebenso fein abgestuftes System1* [von Muskelempfindungen, als es zu denken ist, dass jedem Netzhautpunkt eine Raumempfindung zukommt, die, abgesehen von ihrem Gesichtsinhalt, noch aus drei verschiedenen \u201eGef\u00fchlen\u201c komponirt ist?\u201c\nWas den zweiten Punkt anlangt, so will ich mit Niemandem dar\u00fcber rechten, oh ein solches fein abgestuftes System von Muskelempfindungen \u201eschwerer zu denken\u201c sei oder nicht ; aber das ist gerade der Fehler jener Muskelempfindungstheorien, dass sie nur immer auseinandersetzen, wie man sich \u201edenken\u201c kann, dass die r\u00e4umliche Wahrnehmung entstanden sei, anstatt die Erfahrung zu fragen, ob wir denn wirklich beim Ausschluss der optischen Kontrolle ebenso genau \u00fcber die Stellung unserer Gesichtslinien informirt werden wie bei Wirksamkeit dieser Kontrolle, eine Frage, die entschieden zu verneinen ist* v Von den drei verschiedenen \u201eRaumgef\u00fchlen\u201c ist schon oben (S. 145) bemerkt worden, dass es Niemandem eingefallen ist, sie als ph\u00e4nomenale Eigenschaften der Raumempfindung anzusehen, sondern dass damit nur gesagt ist, dass die einzelne (einfache und nicht weiter aus Bestandtheilen \u201ekomponirte\u201c) Raumempfindung ein Element in einer dreifach ausgedehnten Mannigfaltigkeit sei.\nWas aber das erste Bedenken Arbeb\u2019s anlangt (\u201ewie w\u00fcrde es um unsere F\u00e4higkeit, Raumverh\u00e4ltnisse zu unterscheiden, stehen, auch w7enn sich diese aus Funktionen und Verh\u00e4ltnissen auf der Netzhaut erkl\u00e4ren liessen, wenn dem Raumsinn derselben nicht ein ebenso fein abgestufter Bewegungsmechanismus zur Seite st\u00fcnde ?\u201c), so hat Arber auch hier wieder das punctum saliens in meiner Argumentation nicht erfasst. Nicht die feine Abstufung der Bewegungen selbst habe ich bestritten, sondern die feine Abstufung der Empfindungen von diesen Bewegungen, d. i. hier der Muskelempfindungen. Es w\u00fcrde \u2014 darin hat Arber Recht \u2014 schlecht stehen um unser Verm\u00f6gen, Raumverh\u00e4ltnisse zu unterscheiden, wenn wir nicht im Stande w\u00e4ren, Augenbewegungen auszuf\u00fchren, die so minimal 'sind, wie die kleinsten optisch erkennbaren Ortsunterschiede \u2014 und in der That k\u00f6nnen wir dies auch. Damit ist aber nur ge--sagt, dass wir unter der Leitung des Raumsinns der Netzhaut, also bei Vorhandensein der optischen Kon-","page":150},{"file":"p0151.txt","language":"de","ocr_de":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation.\n151\ntrolle unsere Augenbewegungen so fein abstufen k\u00f6nnen, nicht aber, dass auch beim Ausschluss der Netzhaut sich jene kleinsten Augenbewegungen nach Richtung und Ausmaass durch Muskelempfindungen verrathen m\u00fcssen. Einen fein abgestuften Bewegungsmechanismus besitzen, heisst noch nicht \u00fcber ein ebenso fein abgestuftes System von Muskelempfindungen verf\u00fcgen \u2014 so sicher als \u201eBewegen\u201c noch nicht heisst die \u201eBewegung empfinden\u201c.","page":151}],"identifier":"lit30283","issued":"1898","language":"de","pages":"71-151","startpages":"71","title":"In Sachen der optischen Tiefenlokalisation","type":"Journal Article","volume":"16"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:12:00.859889+00:00"}