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{"created":"2022-01-31T12:31:19.522268+00:00","id":"lit30293","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Wegener, Hermann","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 16: 190-195","fulltext":[{"file":"p0190.txt","language":"de","ocr_de":"lieber recht- lind r\u00fcckl\u00e4ufige Stirnschrift.\nVon\nHermann Wegener in Rostock.\nUnter dem Titel \u201eUeber krankhafte Dissoziation der Vorstellungen\u201c ver\u00f6ffentlichte G. Wolef, Zeitschr. f. Psychol., Bd. XV, Heft 1 und 2, neue Untersuchungen des bekannten Falles Voit, welche von ihm in der psychiatrischen Klinik zu W\u00fcrzburg angestellt wurden. Dieselben bilden eine systematisch durchgef\u00fchrte Pr\u00fcfung der geistigen F\u00e4higkeiten des Kranken und enthalten neben der Best\u00e4tigung der von Grashey und Sommer gemachten Beobachtungen eine Reihe neuer, bis dahin nicht bekannter Intelligenzdefekte Voits. Dieselben bestehen nach Wolee darin, dass der Patient an einer eigent\u00fcmlichen Schw\u00e4che in der Reproduktion von Erinnerungsvorstellungen leidet, so dass er in allen F\u00e4llen, in denen der normale Mensch sich der Erinnerungsbilder bedient, die direkte Wahrnehmung zu H\u00fclfe rufen muss. \u201eVoit ist der Mensch der direkten sinnlichen Wahrnehmung\u201c, in welchem ohne die sinnliche St\u00fctze keine Vorstellung aufzutauchen vermag. Mit H\u00fclfe dieser Thatsache wird die Eigenth\u00fcmlichkeit Voit\u2019s, nur durch Vermittelung gleichzeitiger Schreibbewegungen die Aussprache der W\u00f6rter finden zu k\u00f6nnen, in der Weise erkl\u00e4rt, dass die Schreibbewegungen im Grunde nichts anderes sind als eine sinnliche St\u00fctze, welche die zur Namenfindung n\u00f6thigen Vorstellungen erzeugt. Mit dieser Erkl\u00e4rung ist die Frage nach der Art der Vorstellung, die der Schreibbewegung zu Grunde hegt, auf das Engste verkn\u00fcpft. W\u00e4hrend die von Grashey aufgestellte Theorie das Vorhandensein einer Klangvorstellung zur","page":190},{"file":"p0191.txt","language":"de","ocr_de":"lieber recht- und r\u00fcckl\u00e4ufige Stirnschrift.\n191\nVoraussetzung hat, ist Wolff der Ansicht, dass offenbar eine Schriftvorstellung beim Anblicke des Objektes auftaucht, und zwar wahrscheinlich eine motorische Vorstellung, die der Schreibbewegung. Diese Auffassung, welche zugleich diejenigen Beobachtungen am Kranken, die mit der Theorie Grasheys schwer vereinbar erscheinen, erkl\u00e4rt, st\u00fctzt sich auf eine von Wolff gemachte Beobachtung, dass n\u00e4mlich Voit auf ein auf seine Stirn gelegtes Blatt Papier nicht r\u00fcckl\u00e4ufig, also keine Spiegelschrift, schreibt. Nach der Ansicht Wolff\u2019s ist das Auftreten von Spiegelschrift bei Stirnschrift eine allgemein zu beobachtende Erscheinung. \u201eJedermann kann an sich die Beobachtung machen, dass er unter bestimmten Umst\u00e4nden auch mit der rechten Hand Spiegelschrift schreibt. Legt man sich das Papier auf die Stirn und schreibt man v\u00f6llig unbefangen ein Wort mit der rechten Hand darauf, so wird man bei Betrachtung des Geschriebenen, vielleicht mit grosser Ueberraschung, wahrnehmen, dass man in Spiegelschrift geschrieben hat. Voit nun schreibt in allen solchen F\u00e4llen immer richtig, niemals in Spiegelschrift, verh\u00e4lt sich hierin also anders wie die meisten Menschen.\u201c Aus dieser Beobachtung schliesst Wolff, dass bei dem Kranken die Vorstellung der Schreibbewegung bei der Wortfindung das ausschlaggebende Element ist, wenn er auch zugiebt, dass die optische Vorstellung \u201evielleicht nicht ganz fehlt.\u201c\nDie Zur\u00fcckf\u00fchrung der fraglichen Erscheinungen auf in erster Linie motorische Vorstellungen st\u00f6sst indessen auf manche Schwierigkeiten. Es sei zun\u00e4chst an die auch von Wolff erw\u00e4hnten Thatsachen erinnert, dass \u201ebei unserem Kranken die Wahrnehmungsf\u00e4higkeit aus motorischen Vorstellungen nicht gesteigert, sondern herabgesetzt\u201c ist. Voit kann niemals, wenn seine Hand von Fremden gef\u00fchrt wird, einen passiv von ihm geschriebenen Buchstaben erkennen, w\u00e4hrend dies bei normalen Menschen in der Kegel derFall ist, wie er auch nicht im Stande ist, einen von \u201efremder Hand auf die Haut geschriebenen Buchstaben\u201c zu lesen. Das gr\u00f6sste Gewicht bei der Entscheidung dieser Frage ist aber nach meiner Ansicht auf die Thatsache zu legen, dass Voit\u2019s rechtl\u00e4ufige Stirnschrift keineswegs, wie Wolfe meint, eine Ausnahmestellung einnimmt. Er schreibt unter Anderem: \u201eEs bliebe nur noch die Schwierigkeit, die sich der schematischen Darstellung dessen, was Voit im Gegens\u00e4tze zum gew\u00f6hnlichen Menschen kann, entgegenstellt.\u201c","page":191},{"file":"p0192.txt","language":"de","ocr_de":"192\nHermann Wegener.\nGerade dieser vermeintliche Gegensatz zwischen Voit und normalen Personen ist es aber, der Wolit \u201edas Zur\u00fccktreten optischer Schriftvorstellungen hei seinen Wortfindungen sehr wahrscheinlich macht.\u201c Aus diesem Grunde ist die Beantwortung der Frage, ob normale Personen auf der Stirn rechtl\u00e4ufig oder Spiegelschrift schreiben, von Bedeutung. Eine Untersuchung meines Bekanntenkreises ergab die \u00fcberraschende Thatsache, dass keineswegs \u201eJedermann\u201c oder auch nur die \u201emeisten\u201c Menschen r\u00fcckl\u00e4ufige Stirnschrift schreiben. Yon s\u00e4mmtlichen Personen, deren Zahl ich allerdings nicht gemerkt habe, da diese Untersuchung der vorl\u00e4ufigen Orientirung diente, schrieben nur zwei, ein Herr und eine Dame, auf der Stirn Spiegelschrift. Um die Wahrnehmung des geschriebenen Wortes durch die Hautempfindung der Stirn auszuschliessen, wurde in diesen und allen sp\u00e4teren F\u00e4llen eine Unterlage benutzt. Bei jeder Pr\u00fcfung wurde auf schnelle Ausf\u00fchrung des Schreibversuches gedrungen. Da man diesen erwachsenen Versuchspersonen vorwerfen k\u00f6nnte, sie seien nicht ganz \u201eunbefangen\u201c gewesen, so galt es, geeignetere Untersuchungsobjekte zu finden. Es wurden daher die Sch\u00fcler einer hiesigen sechsstungen Volksschule klassenweise einer Untersuchung unterzogen, und zwar s\u00e4mmtliche Sch\u00fcler der sechsten bis ersten Klasse, im Ganzen 350. Die Sch\u00fcler der sechsten Klasse hatten ein halbes Jahr die Schule besucht, diejenigen der ersten Klasse standen im siebenten und achten Schuljahre. Die Untersuchung wurde in der Weise ausgef\u00fchrt, dass die Sch\u00fcler ohne Kenntniss dessen, was von ihnen verlangt wurde, einzeln in das Untersuchungszimmer gef\u00fchrt und auf gef ordert wurden, mit geschlossenen Augen m\u00f6glichst schnell ihren Namen, beliebige W\u00f6rter, Buchstaben oder Zahlen auf das auf einer Unterlage ihnen vor die Stirn gehaltene Papier zu schreiben. Wie die folgende Tabelle zeigt, \u00fcberwog in den unteren Klassen bei Weitem die Spiegelschrift. Das sprungweise Anwachsen der rechtl\u00e4ufigen Schrift in der vierten Klasse ist zum Theil auf die seit einem halben Jahre vermehrten schriftlichen Arbeiten zur\u00fcckzuf\u00fchren (die Untersuchung fand um Michaelis statt). Im Ganzen ist neben einer stetigen Abnahme der Spiegelschrift eine entsprechende Zunahme der rechtl\u00e4ufigen Schrift zu erkennen. W\u00e4hrend die erstere von 72,9 % auf 34,1% in der ersten Klasse sinkt, steigt letztere von 24,3 % bis auf 56,1 %. Die in der f\u00fcnften","page":192},{"file":"p0193.txt","language":"de","ocr_de":"lieber recht- und r\u00fcckl\u00e4ufige Stirnschrift.\n193\nbezw. letzten Spalte angef\u00fchrten Zahlen beziehen sich auf diejenigen Sch\u00fcler, welche ich als den gemischten Typus bezeichne. Diese schrieben bald Spiegel-, bald rechtl\u00e4ufige Schrift, waren also im Uebergangsstadium begriffen. Bei einigen derselben kam es vor, dass sie den Vornamen rechtl\u00e4ufig, den Familiennamen r\u00fcckl\u00e4ufig schrieben, oder umgekehrt, ja, einer derselben schrieb den ersten Theil des Vornamens r\u00fcck-, den zweiten The\u00fc rechtl\u00e4ufig.\nIn der folgenden Tabelle geben die Zahlen in Spalte 2 bis 5 die Anzahl der gepr\u00fcften Sch\u00fcler an, in Spalte 6 bis 8 die betreffenden Prozente.\nKlasse\tSumme\tSpiegelsehr.\tKechtl.\tGern. Typus\tSpiegelsehr. 0/ Io\t\u2022 rH +3 o <D P3\tGern. Typus 0/ Io\n6.\t70\t51\t17\t2\t72,9\t24,3\t2,9\n5.\t67\t47\t17\t3\t70,1\t25,4\t4,5\n4.\t37\t24\t12\t1\t64,9\t32,4\t2,7\n3.\t89\t44\t39\t6\t49,4\t43,8\t6,7\n2.\t46\t18\t23\t5\t39,1\t50\t10,9\n1.\t41\t14\t23\t4\t34,1\t56,1\t9,8\nDie der dritten Klasse entsprechenden Zahlen sind das Mittel aus zwei Parallelklassen; f\u00fcr jede einzelne derselben wurden folgende Zahlen gefunden:\nKlasse\tSumme\tSpiegelschr.\tKeehtl\u00e4ufig\tGern. Typus\tSpiegelschr. 01 Io\t\u00d6J3 3 o \u00a9 P3\trji ft EH \u00ae \u00dc \u00a9 o\n3 a 3h\t50 39\t20 24\t25 14\t5 1\t40,0 61,5\t50,0 35,9\t10,0 2,6\nDie gr\u00f6ssere Zahl rechtl\u00e4ufig Schreibender in der Parallelklasse 3 a (50 % gegen\u00fcber 35,9 % in 3 b) findet ihre Erkl\u00e4rung zum Theil in der durchschnittlich besseren Beanlagung dieser Klasse f\u00fcr\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XVI.\t13","page":193},{"file":"p0194.txt","language":"de","ocr_de":"194\nHermann Wegener.\ntechnische F\u00e4cher, die auch in den besseren Leistungen dieser Klasse im Sch\u00f6nschreiben und Zeichnen zum Ausdrucke kommt. W\u00e4hrend die Klasse 3 b sich in dieser Beziehung nicht viel \u00fcber den Prozentsatz der vierten Klasse erhebt, erreicht die Klasse 3 a die zweite. Eine Pr\u00fcfung des Zusammenhanges zwischen den sonstigen geistigen F\u00e4higkeiten der Sch\u00fcler und den Ergebnissen der Untersuchung, also der Recht- und R\u00fcckl\u00e4ufigkeit der Schrift, liess keinerlei Beziehungen zu Tage treten ; sowohl gut wie auch schlecht beanlagte Sch\u00fcler schrieben Spiegel-und rechtl\u00e4ufige Stirnschrift.\nDie wiedergegebene Tabelle berechtigt zu der Annahme, dass die fortschreitende Zunahme der rechtl\u00e4ufig Schreibenden auch f\u00fcr eine acht- und mehrstufige Schule G\u00fcltigkeit hat, also auch in den folgenden Lebensjahren zum Ausdrucke kommen wird. Die Pr\u00fcfung einer grossen Zahl Erwachsener w\u00fcrde h\u00f6chst wahrscheinlich ein nach Alter und Lebensstellung verschiedenes, aber immerhin bedeutendes Vorherrschen der rechtl\u00e4ufigen Schrift ergeben.\nAus der an mir selbst gemachten Beobachtung und der Angabe der von mir untersuchten Personen geht hervor, dass die Entstehung der rechtl\u00e4ufigen Stirnschrift in der folgenden Weise vor sich geht. Man stellt sich, wenn auch in sehr vielen F\u00e4llen unbewusst, das auf der Stirn liegende Blatt Papier von der vorderen Fl\u00e4che aus gesehen, als w\u00e4re es um 180 0 gedreht, vor und schreibt auf die von Jugend an gewohnte Weise in der vom Daumen zum kleinen Finger der rechten Hand laufenden Richtung. Hiernach ist in erster Linie das Auftreten der Schriftvorstellung, als sekund\u00e4res Element die mechanisch ausgef\u00fchrte Schreibbewegung am Zustandekommen der rechtl\u00e4ufigen Stirnschrift betheiligt. Dasselbe Verh\u00e4ltniss der beiden Schriftbilder zu einander gilt f\u00fcr die r\u00fcckl\u00e4ufige Stirnschrift; nur dass in diesem Falle die Fl\u00e4che des Papieres nicht um 1800 gedreht gedacht, sondern die im Geiste auf der R\u00fcckseite des Papieres geschaute Schrift nachgemalt wird. Dieser Weg wird als der zun\u00e4chst einfachere von den meisten j\u00fcngeren Sch\u00fclern gew\u00e4hlt, mit wachsender Schreibfertigkeit aber, welche eine leichtere Ausf\u00fchrung der Schreibbewegungen erm\u00f6glicht, und gr\u00f6sserer Vertiefung der r\u00e4umlichen Anschauungen allm\u00e4hlich immer mehr verlassen.","page":194},{"file":"p0195.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber recht- und r\u00fcckl\u00e4ufige Stimschrift.\n195\nFassen wir das Kesultat kurz zusammen, so ergeben sieb folgende S\u00e4tze:\n1.\tDem zunehmenden Alter entspricht die Zunahme rechtl\u00e4ufiger Stirnschrift.\n2.\tErwachsene Personen schreiben h\u00e4ufiger recht- als r\u00fcckl\u00e4ufige Stirnschrift.\n3.\tVoits Stirnschrift ist keine Ausnahme, sondern eine normale Erscheinung.\n4.\tDie von Wolff aus der Beobachtung der rechtl\u00e4ufigen Stirnschrift Voits gezogene Folgerung, dass bei letzterem das motorische Element im Vordergr\u00fcnde steht, gr\u00fcndet sich auf eine falsche Voraussetzung.\n5.\tDie Annahme, dass im Falle Voit das optische Schriftbild bei der Entstehung der Aussprache an erster Stelle in Betracht kommt, ist vielmehr mit den beobachteten Thatsachen vereinbar, welche Wolfe das Zur\u00fccktreten optischer Schriftvorstellungen wahrscheinlich machen.\n*\n13*","page":195}],"identifier":"lit30293","issued":"1898","language":"de","pages":"190-195","startpages":"190","title":"Ueber recht- und r\u00fcckl\u00e4ufige Stirnschrift","type":"Journal Article","volume":"16"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:31:19.522273+00:00"}