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{"created":"2022-01-31T13:52:37.682191+00:00","id":"lit30321","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Wahle, Richard","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 16: 241-263","fulltext":[{"file":"p0241.txt","language":"de","ocr_de":"lieber den gegenw\u00e4rtigen Zustand der Psychologie.\nVon\nUniv.-Prof. Dr. Richard Wahle.\n1. Um es sofort zu sagen, es scheint mir, dass die Psychologie, trotz aller Experimentirlust, noch nicht ganz das Gepr\u00e4ge der Wissenschaftlichkeit tr\u00e4gt, dass sie durch geistreiche, aber geisterhafte, pneumatische Konstruktionen verhindert wird, den richtigen Boden f\u00fcr die Untersuchung zu gewinnen, dass sie aber auf dem Wege zur Gesundung begriffen ist. Ich darf meinen Betrachtungen drei Werke zu Grunde legen, die verm\u00f6ge des Ansehens ihrer Autoren als Fundst\u00e4tten allgemein verbreiteter. Ansichten und Tendenzen gelten k\u00f6nnen. In der K\u00fcrze des hier durch mich beanspruchbaren Raumes liegt die Entschuldigung daf\u00fcr, dass nicht auch die Werke anderer ausgezeichneter Psychologen, wie Lipps, Exner, Stumpe, H\u00f6eeding, zur Gewinnung des Einblicks in die Neigungen des gegenw\u00e4rtigen psychologischen Denkens herangezogen wurden. Eine Rechtfertigung bedarf die Wahl der im folgenden gew\u00fcrdigten, zudem neuen Werke nicht: es sind das Lehrbuch der Psychologie von Jodl, der Grundriss der Psychologie von Wundt, zweite Auflage und die Grundz\u00fcge der Psychologie, 1. Halbband von Ebbinghaus. Von diesen glauben wir, dass sie eine Charakteristik herrschender Gesinnungen gew\u00e4hren.\nDas Werk Jodl\u2019s hat ohnedies fast die ganze deutsche, franz\u00f6sische, englische Literatur in sich hineingezogen und ist ausgezeichnet durch einen Reichthum an Betrachtungen des komplexen, psychischen Lehens, seiner allgemein interessanten Erscheinungen , welcher das Buch trotz seines wissenschaftlichen Ernstes zu einem Liebling des \u00e4sthetisch angeregten Publikums zu machen geeignet ist, dem vielleicht die Grenze zwischen Psycho-\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XVI.","page":241},{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"242\nRichard Wahle.\nlogen und Romanciers keine allzu scharfe zu sein scheint. Das Werk Wundt\u2019s, des umsichtigen Kodifikators der physiologischen Psychologie, ist imposant durch die Konzentration der Prinzipien, tiefgehende Eintheilungen, scharfe Beobachtungen innerhalb der elementaren psychischen Vorg\u00e4nge. Wie geistreich ist es z. B. wenn er die Gef\u00fchle, welche durch Rhythmus entstehen, den Affekten nahe r\u00fcckt. Das Werk von Ebbinghaus aber wird allen experi-mentirenden Psychologen und der ganzen Jugend so recht nach .dem Sinne sein. In eleganter Diktion eilt er von abstrakter For-mulirung rasch zu Beispielen, f\u00fcr die er einen beneidenswerth gl\u00fccklichen Griff hat. Wenn ich nun das leidige Gesch\u00e4ft der Kritik f\u00fchren muss, so m\u00f6gen alle, besonders Jodl, dem ich f\u00fcr die Hervorhebung der separaten Stellung meiner Arbeiten so grossen Dank schulde, mit Sicherheit annehmen, dass ich des Gesch\u00e4ftes ihnen gegen\u00fcber nicht anders walte, als ich es einem Bruder gegen\u00fcber th\u00e4te.\n2. Die beiden ersten Werke, sowie das vulg\u00e4re Denken, schleppen eine falsche Lehre, von den allgemeinsten Dingen wie Einheit, Theil, Zustand, Akt etc., kurz eine falsche Ontologie mit sich. Wenn die Psychologie wirklich so sein m\u00fcsste, wie diese sie konstruiren, so g\u00e4be es eine Psychologie als Wissenschaft gar nicht. Denn diese braucht unzweideutige, in sich logisch haltbare Kategorien. Das dritte Werk, dem man vielleicht wieder die vulg\u00e4re Gleichg\u00fcltigkeit gegen Ontologie, gegen elementare Beschaffenheit und Eintheilung der psychologischen Ph\u00e4nomene ansehen m\u00f6chte, ger\u00e4th doch durch einen Takt des Empirismus in die N\u00e4he des Richtigen, das die folgenden Theile des Werkes hoffentlich ganz erreichen werden. Die beiden ersten Werke, durchtr\u00e4nkt von einer falschen Erkenntnisslehre, sind eigentlich mystisch. Vielleicht ist das Mystische das Richtige; dann aber giebt es keine Beschreibung der Ph\u00e4nomene, kein Einverst\u00e4ndniss dar\u00fcber, keine Wissenschaft, kein Ziel f\u00fcr Experimente.\nDen positiven Boden, von wo aus meine Opposition gegen solche Psychologie operirt, habe ich schon gekennzeichnet in meinem ,,Gehirn und Bewusstsein\u201c 1884 (ich darf mich des Datums 1884 freuen) und in dem ausf\u00fchrlichen \u201eDas Ganze der Philosophie und ihr Ende\u201c 1894. Doch gen\u00fcgt es nat\u00fcrlich, die Lehren jener hier zu kritisirenden Psychologien nur genau aufzufassen, um sie f\u00fcr gerichtet zu halten. Ich spreche von","page":242},{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den gegenw\u00e4rtigen Zustand der Psychologie.\t243\nder Leber weg, was man nicht f\u00fcr Amnaassung halten wird. Wenn unsere unbefangene Beobachtung, dass alles Psychische nichts ist als Reihen von prim\u00e4ren oder sekund\u00e4ren (Erinnerungs-) Empfindungen, von v\u00f6llig einfachen, fl\u00e4chenhaften Vorkommnissen falsch w\u00e4re und wenn jene vermeintlichen Gebilde, die wir nun in ihrer unfassbaren Komplikation blossstellen m\u00fcssen, die thats\u00e4chlich psychisch vorhandenen w\u00e4ren, dann g\u00e4be es doch von ihnen keine Wissenschaft, so wenig als es eine Wissenschaft der religi\u00f6sen Geheimnisse giebt \u2014 m\u00f6gen wir auch an sie glauben. Erscheinen wir im folgenden scholastisch, so trifft die Schuld daran die zu analysirenden Aufstellungen.\nUeber all das Vorz\u00fcgliche was sich in den drei Werken findet, wird man kein Referat hier erwarten, wo wir bloss die fundamentalen Gebrechen ihrer in dem Gemeinbewusstsein wurzelnden Vorstellungen hervorheben m\u00fcssen.\n3. Zun\u00e4chst suchen wir aus verschiedenen Stellen des Jodl-schen Buches die Anschauungen zu gewinnen, die er von dem Bewusstsein hat, um sie gewissermaassen mit einem Blick zu einer Konzeption zusammenzufassen. Nat\u00fcrlich kann er nicht definiren was Bewusstseinserscheinungen sind \u2014 so wenig als man Farben oder T\u00f6ne definiren kann ; aber man k\u00f6nnte auf ihre allgemeine Konstitution durch Hervorhebung ihrer eventuellen Elemente hinweisen wollen, so wie man am Tone dessen Qualit\u00e4t (z. B. a) und Intensit\u00e4t unterscheiden zu k\u00f6nnen meint. In Spekulationen \u00fcber die hinter den Bewusstseinserscheinungen liegenden, sie erzeugenden Funktionen will, eingestandener Weise wenigstens, heutzutage Niemand sich st\u00fcrzen ; wenn also in dem Buche doch von psychischen Funktionen gesprochen wird, so meint man damit psychische Erscheinungen, Ph\u00e4nomene. Wir glauben hierin nicht zu irren. Geht durch das Buch ja1 die Gleichsetzung von Bewusstseinsth\u00e4tigkeit, Funktion mit einem psychischen Ph\u00e4nomen, und die Aktionen des Beziehens, Ver-gleichens sollen ein Datum, ein Gegebenes, eine Erscheinung sein. Wir w\u00e4ren froh, wenn wir hierin irren w\u00fcrden. Fragen wir uns also, was ist nach diesem Buche Bewusstsein, so d\u00fcrfen wir zusammenschliessend antworten: \u201eBewusstsein sei eine einheitliche Th\u00e4tigkeit, in welcher sich der Gegensatz von Subjekt und Objekt findet, und zwar das Subjekt als durch Setzung\n1 Auf S. 722, 132, 130, 136 und an vielen anderen Stellen.\n16*","page":243},{"file":"p0244.txt","language":"de","ocr_de":"244\nRichard Wahle.\nmehrfacher Beziehungen sein Objekt, darunter die Empfindungen, erzeugend, Lust und Unlust f\u00fchlend, und strebend\u201c. Diese Konzeption, zu der sich Jodl \u2014 vorbehaltlich geringf\u00fcgiger, stilistischer Verbesserungen etwa \u2014 nach allen sofort vorzuf\u00fchrenden Stellen wohl bekennen muss, erscheint uns hundertf\u00e4ltig unm\u00f6glich. Die obige Formel wird uns den Rahmen f\u00fcr die succesiven Ausf\u00fchrungen bieten. Sie klingt gewiss vielen eben recht einfach, aber sie hat eine H\u00f6lle von logischen Plagen in sich. Wir stehen gewiss mit allen darin in Uebereinstimmung, dass das Psychische eine Erscheinung sui generis, mit eigenen, in seinem Gebiete geltenden Kategorien sein k\u00f6nnte ; aber anderseits wird man doch auch mit uns darin \u00fcbereinstimmen, dass solche Kategorien nicht gegen die Logik sein d\u00fcrfen. Es obliegt uns nun, jene Lehre vor uns aufzubauen, wobei wir nach und nach einzelnen Begriffen kritisch Rechnung tragen wollen, besonders jenen, unter deren illegaler Herrschaft auch das Denken Wundt\u2019s und so vieler anderer steht.\n4.\tDer wichtigste Begriff ist hier derjenige der Einheit und der ihm korrelate Begriff der Unterscheidung von Elementen oder Momenten in der Einheit und ihr Ineinander. Die heranzuziehenden Buchstellen1 sind wohl unzweideutig. Nicht nur die sogenannte analytisch-synthetische Th\u00e4tigkeit des Bewusstseins, das Vergleichen, Beziehen erscheint einheitlich, auch die drei Bewusstseinsfunktionen Empfinden, F\u00fchlen, Streben, auch die drei Bewusstseinsmomente genannt, bilden ineinander eine Einheit. Die Dreieinheit der psychischen Grundfunktionen soll auch da, wo sie mikroskopisch wird, erkennbar sein; sie geh\u00f6rt zum Wesen des Bewusstseins. Unter Einheit wird nicht etwa bloss Zusammengeh\u00f6rigkeit verstanden. W\u00e4re darunter z. B. bloss eine Reihe, die im Anfangs- und Endglied markirt ist, verstanden, so h\u00e4tten wir nat\u00fcrlich Anlass zur Zustimmung. Es werden aber thats\u00e4chlich von Jodl an einer einheitlichen Erregung nur Momente unterschieden.\n5.\tDa wir nun zur Betrachtung dieser Begriffe gen\u00f6thigt sind, m\u00fcssen wir die Vorfrage erledigen, wie k\u00f6nnte man denn Theile in einer Einheit erkennen. Darauf antwortet Wundt 2\n1\tAuf S. 410, 517, 139, 130, 137, 71, 620.\n2\tAuch Stumpf und v. Meinong haben dar\u00fcber Aufkl\u00e4rung zu geben gesucht.","page":244},{"file":"p0245.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den gegenw\u00e4rtigen Zustand der Psychologie.\t245\nS. 33 ganz richtig, durch Abstraktion; und man k\u00f6nnte vielleicht vervollst\u00e4ndigend hinzuf\u00fcgen, durch Variation. Ein A k\u00f6nnte \u2014 im Allgemeinen, unpr\u00e4judizirlich gesprochen \u2014 aus er, 6, c bestehen, welche Elemente man aber hei Betrachtung des einzigartigen A allein nicht erkennen k\u00f6nnte; wohl aber w\u00fcrde man bei Eintritt eines A, das aus a, und d best\u00fcnde, auf die Gleichheit und Unterschiede der Theilmomente kommen. Was aber nun bei der Durchf\u00fchrung der Abstraktion genau zu beachten w\u00e4re, wenn man zur Aufstellung von Theilen gelangen d\u00fcrfte, das vergisst man \u2014 wie wir gleich zeigen werden. Vorerst muss man sich vor Augen halten, dass diese vermeintliche psychische Einheit in gar keiner anderen sogenannten Einheit ein Analogon f\u00e4nde. Diese anderen, also Systeme, Gesellschaften, Organismen etc., sind nur die Totalit\u00e4t von separaten Gliedern, mit markirten Grenzen etwa, welche in Zugeh\u00f6rigkeit zueinander durch gleiche Ziele oder durch Kr\u00e4fte erhalten werden. Als Typus hingegen f\u00fcr die psychische Einheit und ihre Theile scheint \u2014 leider beg\u00fcnstigst durch die Schwierigkeit der Analyse \u2014 der Ton gelten zu k\u00f6nnen, der als Einheit eine bestimmte Qualit\u00e4t (z. B. a) mit wechselnder Intensit\u00e4t (z. B. durch st\u00e4rker werdenden Anschlag), also unterscheidbare Momente zu zeigen scheint. Es ist aber \u2014 wie wir darthun wollen \u2014 falsch, dass ein Ton aus ineinanderbefindlichen Momenten, Theilen besteht. Nat\u00fcrlich wird man uns nicht zumuthen d\u00fcrfen, wir gingen darauf aus, eine Theilungsgrenze zu suchen. Aber die Theorie einer metaphysischen Theilung tr\u00e4gt doch einem evidenten Postulate nicht Rechnung, n\u00e4mlich dem, dass bei der Variation ein Element seiner fr\u00fcheren Erscheinung absolut gleich sein muss, wenn wir zu der Annahme berechtigt sein sollen, ein gleiches Element im Wechsel erkannt zu haben. Jede Abstraktion, das Rekurriren auf Gleiches unter Verschiedenem, setzt doch die Aufzeigung einer Gleichheit voraus. Dieser selbstverst\u00e4ndlichen Voraussetzung wird aber bei der Unterscheidung von Qualit\u00e4t und Intensit\u00e4t nicht Gen\u00fcge geleistet. Denn der st\u00e4rker gewordene Ton zeigt nichts, gar nichts, was in dem fr\u00fcheren Tone genau gleich zu finden w\u00e4re. Die T\u00f6ne sind nur \u00e4hnlich, d. h. objektiv und subjektiv durch einander vertretbar* Aber genau Gleiches findet man in ihnen nicht.\nMan findet nicht die genau gleiche sogenannte Qualit\u00e4t","page":245},{"file":"p0246.txt","language":"de","ocr_de":"246\nRichard Wahle.\nmetaphysisch durchtr\u00e4nkt mit einer anderen Intensit\u00e4t, sondern gar nichts von partieller Identit\u00e4t ist zu konstatiren.\nIn Wahrheit ist das lautere a, durch und durch, intoto, ein anderes, als das leisere. Ohne Theilmomente, vielmehr beide gleich einfach, gemahnen sie aneinander. Nat\u00fcrlich hat nur die Zweiheit der physikalischen Momente, gleiche Taste etc., verschiedener Anschlag, die Aufstellung der psychischen Momente nahe gelegt, welche aber durch ihre Nichtbeachtung der einfachen Logik der Abstraktion als unm\u00f6glich sich darstellt. So wird der Typus der Einheit \u2014 die intensive Tonqualit\u00e4t \u2014 auf welche man s\u00fcndigt, wenn man mit Einheiten um sich wirft, hinf\u00e4llig. Und auch keine andere Einheit, im Allgemeinen nicht und nicht im Speziellen, kann man aufweisen oder begreifen.\nBeobachtet man unbeirrt von herrschenden Worten und Theorien, so erblickt man nur Reihen, Folgen von Einfachen; kommt man auf die Annahme einer Einheit eines Ineinander, so hat man eine Analyse gescheut und ist in eine logische Unm\u00f6glichkeit gefallen. Uebrigens werden wir noch zeigen, dass die Einheiten Jodl\u2019s speziell unm\u00f6glich sind.\nMit dem variirten Tone, dem st\u00e4rkeren und schw\u00e4cheren, steht es also so, dass beide \u00e4hnlich, einfach, objektiv und subjektiv noch unterscheidbar aber vertauschbar sind und durch Stadien der Nichtunterscheidbarkeit ineinander \u00fcberf\u00fchrbar.\nDas Reich der Farben und T\u00f6ne muss man sich in der Art vorstellen, dass um jede der bestehenden einfachen Qualit\u00e4ten viele andere \u00e4hnliche herumstehen.\nDem starken Klavier-a ist das eingestrichene a, das schw\u00e4chere a, wenn man Klangfarbe heranziehen will das Violin-a \u00e4hnlich und quasi benachbart, und es k\u00f6nnte ihm noch allerhand, bisher nicht Wahrgenommenes \u00e4hnlich und quasi benachbart sein. Einem Ausgangsroth ist ein Orange, ein weissliches und schw\u00e4rzliches Roth \u00e4hnlich. \u2014\nEs ist gewiss nicht unlogisch, dass Einfaches einem anderen Einfachen \u00e4hnlich, d. h. objektiv und subjektiv je nach dem Maasse der Unterscheidungsf\u00e4higkeit verwechselbar ist. Damit Eines Mehrerem \u00e4hnlich sei, muss es nicht etwa mehrere Momente f\u00fcr die Ansetzung der Vergleiche in seinem Schosse tragen. Es k\u00f6nnte z. B. Vorkommen, dass einer die Intervalle und Zweikl\u00e4nge of und gaf, \u00e4hnlich f\u00e4nde \u2014 w\u00fcrde man da deswegen gleich in den beiden Intervallen ein ihnen Gemein-","page":246},{"file":"p0247.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den gegeniv\u00e4rtigen Zustand der Psychologie.\n247:\nschaftliches und ein Variirtes konstatiren wollen? Gewiss nicht. So gut wie ein Einfaches einem Einfachen \u00e4hnlich sein kann, kann es Hunderten \u00e4hnlich sein. Wir sprechen auch nicht von A ehn 1 iohkeiten verschiedener Richtungen. Denn eine Richtung setzt einen Zielpunkt voraus, der anfangs hier aber gar nicht vorhanden zu sein braucht, w\u00e4hrend es allerdings zuf\u00e4llige und willk\u00fcrliche Endpunkte f\u00fcr Bewegungen innerhalb der \u00e4hnlichen Dingo je nach der Aehnlichkeit der successive erreichten Nachbarschaftsgruppen geben kann.\n5. Nachdem wir nun den Psychologen und Physiologen gezeigt zu haben glauben, welches logische Monstrum sie sich mit der Einheit und dem Ineinander ins Haus sch\u00e4ften w\u00fcrden, betrachten wir die Eigenart der Momente, welche in der Jora/schen Konzeption gar eine Einigung gefunden haben sollen1. ,,Als das allgemeine Merkmal einer Bewusstseinserscheinung soll sich zeigen der Gegensatz der schlechterdings unr\u00e4umlichen Innenwelt (des Subjekts) zur r\u00e4umlich ausgedehnten Aussenwelt (einer Art des Objektiven), weiter die Innerlichkeit eines lebendigen Wesens, welche sich in der Entgegensetzung von Objekt und Subjekt, oder eines Inhaltes und des auffassenden Wesens in seiner beziehenden Th\u00e4tigkeit kundgieht. Die Zweiheit von Subjekt und Objekt soll eine urspr\u00fcngliche That-sache sein. Jeder einzelne psychische Akt muss den Gegensatz von Subjekt und Objekt in sich enthalten; die elementare Ichform ist von allem bewussten Geschehen unabtrennlieh. Hier ist selbstverst\u00e4ndlich nicht von dem Ich im Sinne des kom-plizirten Ich, der Pers\u00f6nlichkeit, des Charakters die Rede. Die Beziehung auf das Ich ist Element jedes Bewusstseinszustandes; alle psychischen Vorg\u00e4nge sind mit einer Ichseite behaftet. Der Begriff subjektiv enth\u00e4lt nichts anderes als eine Beziehung auf das Ich. In dem Sinne, dass jeder Inhalt dem Ich sich antagonistisch pr\u00e4sentirt, ist jede Bewusstseinserregung eine Wahrnehmung. Unter \u00e4usserer Wahrnehmung speziell werden diejenigen Bewusstseinserregungen verstanden, welche wir als Wirkungen auf Gegenst\u00e4nde beziehen, die nicht wir seihst sind. Aber der Gegensatz von Subjekt und Objekt im Bewusstsein geht weit \u00fcber den Gegensatz von Ich und Nichtich, von Ich\n1 Auf S. 6, 91, 342, 71, 73, 92, 550, 723, 94, 108, 107, 553.","page":247},{"file":"p0248.txt","language":"de","ocr_de":"248\nRichard Wahle.\nund Aussenwelt hinaus, denn auch Zust\u00e4nde und Vorg\u00e4nge der inneren Welt sind Objekt f\u00fcr das Subjekt.\u201c\n6. Lassen wir eine kurze Kritik folgen. Der Thatbestand lehrt, dass wir einfach den Leib, speziell die Sinne, alle Auffassungsbewegungen und die sekund\u00e4ren Empfindungen, Erinnerungsreihen etc. Ich nennen. Wenn aber der Laie sich in dem Glauben an jenes letzte Ichwesen und seiner sonderbaren Konstitution wohl f\u00fchlt, so m\u00f6ge er doch die Fluth von Bedenken gegen sie w\u00fcrdigen. Erstens : Wie kann denn ein Gegensatz zu einer Einheit geeinigt sein. H\u00f6rt man nicht Heoel reden? Wie k\u00f6nnte Tag und Nacht, Objekt und Subjekt eine Einheit mit unterscheidbaren Momenten bilden \u2014 eine Einheit von \u00c2 und Non-^d! Ein harter Hammer kann auf etwas Weiches schlagen etc. \u2014 das w\u00e4re eine Succesion, aber keine Einheit. Glaubt Jemand, die Kategorie der Einheit eines Gegensatzes k\u00f6nne wissenschaftlich brauchbar sein?\nZweitens : Bewusst sein, Akt, Erregung, Ph\u00e4nomen, Funktion, Th\u00e4tigkeit, werden gleichgesetzt ! Also ist es uns Menschen doch beschieden einen wahrhaften Vorgang, einen Prozess zu erleben? Man glaubte schon, wir k\u00f6nnten nur in Successionen, zeitlichen Folgen Erfahrung haben. Jetzt kann man aber doch wieder ein einheitliches Funktioniren selbst sp\u00fcren?! Da w\u00e4ren wir ja der Gottheit nahe. Und die Innerlichkeit eines Wesens ist uns auch zu schauen verg\u00f6nnt? Das glauben wir nicht.\nDrittens : Nehmen wir indes an, wir k\u00f6nnten eine Th\u00e4tigkeit als solche wahrnehman ; wieso bekundet sie sich gerade als Th\u00e4tigkeit eines Ich? Es k\u00f6nnte ja auch die Aktion eines anderen Dinges sein! Um die Ichth\u00e4tigkeit zu behaupten, m\u00fcsste man also nicht nur Th\u00e4tigkeit, sondern auch die Ichsubstanz als solche erleben, was doch ganz unm\u00f6glich ist. Oder will Jode doch nur Nominalist sein und irgend eine Operation ein \u201eIch\u201c nur nennen? Das kann man nach allem Gelesenen doch nicht annehmen, und muss ihn in ebenso vulg\u00e4ren als trans-scendenten Fiktionen befangen glauben.\nViertens : Mit solcher Metaphysik h\u00e4ngt es zusammen, wenn man von einem Innen spricht. Welche Illusion! Wir wollen hier nicht auf die Inkorrektheiten eingehen, die sich bei der Theorie der \u00e4usseren Wahrnehmung einstellen, wo die aus dem fehlerhaften Innen herausbrechenden Begriffe der Projektion, Lokalisation, Externalisirung eine schwierige Rolle spielen. Es","page":248},{"file":"p0249.txt","language":"de","ocr_de":"lieber den gegenw\u00e4rtigen Zustand der Psychologie.\t249\nsei nur in K\u00fcrze eine allgemeine Orientirung \u00fcber die That-Sachen eingeschoben. Das wahrhaft Wirkende ist gewiss nicht manifest. Offenbar sind nichts als ausgedehnte Vorkommnisse; aber nur unter Vorausbestand jener Vorkommnisse, welche wir Sinne nennen. Die Vorkommnisse nun, insofern sie physikalischen Umstellungen, der Bewegung etc., welche aber auch nicht wahrhafte Aktion ist, unterliegen, geh\u00f6ren einem Betrachtungsgebiete an. Die Kenntniss der Voraussetzungen des Bestandes von Vorkommnissen im Allgemeinen (Sinne, Gehirn etc.) geh\u00f6rt einem speziellen Betrachtungsgebiete an. Das Schicksal von Vorkommnissen endlich, insoferne sie nicht unter die physikalische Bewegung fallen (Empfindungen des Schmerzes, Erinnerungen etc.) geh\u00f6rt prinzipiell einem weiteren Betrachtungsgebiete an. Die Vorkommnisse d\u00fcrfen auch nicht als \u201egewusste\u201c gedacht werden. Das Wissen ist nur eine scheinbare, hypothetische Kategorie. Sie sind schlechthin Produkte. Die Produktvorkommnisse Sinne, Gehirn, Leibesbewegungen, die Tendenzen dazu, das Auftreten von Empfindungen, Phantasien etc. heissen das Ich \u2014 aber sie sind nichts als Produkte des wahrhaft unerkannt Wirkenden. Nirgends aber l\u00e4sst sich ein \u201eInnen\u201c entdecken.\nAuch ohne dass solche Vorkommnisse sind, schon vor der Existenz menschlicher Sinne, als Produkte des Wahrhaften, und ohne Sinne, gab es und wird es gewiss Dinge geben, die eine Renitenz gegen einander haben. Wie sich aber das Wahrhafte verh\u00e4lt, wenn es einerseits Nichtvorkommnisse, andererseits sinnliche Vorkommnisse produzirt \u2014 dar\u00fcber ist gar keine Hypothese zu bilden.\n7. Im Anschl\u00fcsse daran sei uns die Aufstellung der endg\u00fcltigen Formel f\u00fcr das sogenannte Verh\u00e4ltniss zwischen Psychischem und Leib gestattet. Weder Jodl, noch Wundt, noch selbst Ebbinghaus, von dessen Psychologie, ihrer Freiheit von Theorien und Spekulationen wegen, es am ehesten zu erwarten gewesen w\u00e4re, bieten das Richtige. Letzterer w\u00e4hlt (S. 42) zur Illustrirung des psychophysischen Parallelismus das bekannte Gleichniss vom Kreise, der, .an sich identisch, von innen betrachtet konkav, von aussen konvex ist, in der Modifikation einer Kugelschale und einer ihr anliegenden zweiten. Und sagt dann: \u201eSeele ist der reichhaltige Verband, so wie er sich giebt und sich darstellt f\u00fcr seine eigenen Glieder, f\u00fcr die","page":249},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"250\nRichard Wahle.\nihm angeh\u00f6rigen Theilrealit\u00e4ten; Gehirn ist derselbe Verband, so wie er sich anderen analog gebauten Verb\u00e4nden darstellt, wenn er von diesen \u2014 menschlich ausgedr\u00fcckt \u2014 gesehen und getastet wird.\u201c\nOhne viel zu kritisiren sei es uns erlaubt, das evident Richtige solchen Formeln gegen\u00fcber zu stellen. Jeder behauptete Dualismus von Gehirn etc. und Empfindung ist ein Irrthum. Die Vorkommnisse sind ja nur von einer Gattung. Das Gehirn, von dem wir \u2014 mit Recht \u2014 annehmen d\u00fcrfen, wir s\u00e4hen es vor dem Zustandekommen einer Farben- oder Tonempfindung in Bewegung, oder tasten es, ist genau so Empfindung wie die Farben- oder Tonempfindung selbst und ihre Nachkl\u00e4nge. Dasselbe Unbekannte produzirt also das Gehirnvorkommniss und die anderen Empfindungsvorkommnisse \u2014 das erste immer als Voraussetzung der anderen. Und jede Formel, in welcher das Gehirn in eine aktuelle Beziehung zu anderen Empfindungen gebracht wfird, ist falsch. Nichts l\u00e4sst sich sagen, als dass das Vorkommniss der Sinne und Gehirnvorkommniss zeitliche Voraussetzung aller Vorkommnisse sind. Dass eine Gehirnbewegung einer bestimmten Empfindung entspricht \u2014 darf also nicht in dem Sinne gesagt werden, als ob das Eine die Kehrseite des \u00c4nderen w\u00e4re. Denn sie sind ja ganz gleichartig \u2014 beide sind Produkte als Empfindungen d. i. Vorkommnisse und nur in zeitlicher Folge verbunden. \u2014\n8. Nun weiter zur\u00fcck zur ersten Psychologie. Ineinander, Subjekt, Th\u00e4tigkeit, Inneres, Ichwesenheit sind popul\u00e4re, falsche Imaginationen. Die mystische Komplikation steigt noch, wenn man die Th\u00e4tigkeiten jenes Ich erst am Werke sieht. Wir wissen bisher noch lange nicht genau, was zu einem Bewusstsein alles geh\u00f6ren soll; das werden wir jetzt erfahren1.\n\u201eWer von Bewusstsein, auch in dessen einfachster Erscheinung, spricht, spricht damit zugleich von einer Mehrheit von Wahrnehmungen und ihren Beziehungen aufeinander. Das Bewusstsein kann nicht entstehen und nicht sein ohne das Auftreten von Unterschieden in seinen Zust\u00e4nden. Es giebt kein ruhendes Bewusstsein, es ist seinem Wesen nach in best\u00e4ndiger Bewegung. Und weiter: das Bewusstsein ist Rezeptivit\u00e4t und\n1 Auf S. 95, 467, 105, 112, 617, 114, 638, 479, 143, 180, 176, 490, 177, 636, 460.","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"lieber den gegenw\u00e4rtigen Zustand der Psychologie.\n251\nSpontaneit\u00e4t zugleich. Zwischen Auf nehmen und Verarbeiten findet im Bewusstsein keine Trennung statt. Nicht etwa nur an den verdeutlichten, geordneten Empfindungen, welche die Vorstellungen ausmachen, ist das passive und aktive Moment zu unterscheiden, sondern schon an dem Rohmaterial von Farben und T\u00f6nen. Jede Empfindung ist nur dadurch, dass sie unterschieden wird. Die Grundth\u00e4tigkeit, das Wesen des Bewusstseins ist Vergleichen und Beziehen. Der Prozess der Analyse und Synthese, des Unterscheidens und Vergleichens ist der urspr\u00fcngliche und Bewusstsein heisst: in Beziehungen bringen \u2014 in Beziehungen der Gleichheit und Ungleichheit, Einheit und Vielheit, Dauer und Ver\u00e4nderung nach Art und Grad, Gleichzeitigkeit, Aufeinanderfolgen etc. \u2014 Schon in der Empfindung ist das Bewusstsein vergleichend und unterscheidend ; in der sinnlichen Wahrnehmung ist der Vorgang der Unterscheidung implicite und indifferenzirt enthalten.\u201c\n9. Zur Kritik \u00fcbergehend, m\u00f6chten wir freilich die Sch\u00e4rfe aller dieser Aufstellungen mildern. Aber haben wir dazu das Recht? Wir m\u00f6chten sagen: ja, das hinter dem Bewusstsein liegende Wesen habe Empf\u00e4nglichkeit und Rezeptivit\u00e4t sowohl als Aktivit\u00e4t und Spontaneit\u00e4t in sich. Aber dort ist wirklich gemeint, ein Prozess, ja ein Bewusstseinsdatum soll Beides zugleich ineinander haben. Das ist aber doch unfassbar. Das kann nur eine unbestimmte Sprechweise sein. Wie k\u00f6nnte in einem Zustande gleichzeitig der Unterschied von Zust\u00e4nden sein? Wie kann eine Unterscheidung indifferenzirt sein? Ja, wir begreifen es, wenn man sagt: jeder Empfindung ist zu koordiniren das Resultat der Einwirkung eines gegenw\u00e4rtigen Druckes auf das durch fr\u00fchere Eindr\u00fccke gemodelte Gehirn. Die Ursachen, korrekt die Voraussetzungen des Bewusstseins m\u00f6gen in Relation stehen, relative sein. Aber das Bewusstsein, die Farbe, der Schmerz etc. muss doch, um \u00fcberhaupt etwas zu sein, ein Fassbares, sich nicht unter dem Blick in blosse Beziehungen Verziehendes sein! Das Problem des Heraklitischen Flusses scheint noch nicht zur Ruhe gekommen. Aber es muss doch \u2014 mit Platon \u2014 ein Beharrliches geben \u2014 oder es giebt wenigstens keine Wissenschaft. Das prim\u00e4re Bewusstsein kann keine Relation sein, wenn sich auch an die prim\u00e4ren eine Relation an-schliessen kann. Da nun aber leider das Beziehen, das Herstellen der Relation schon ein urspr\u00fcnglicher Prozess sein soll,","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252\nRichard Wahle.\nso sind auch die Richtungen desselben, d. h. die Einheit, und wie wir sie genannt, weiter Ruhe, Bewegung, Thun und Leiden urspr\u00fcngliche Kategorien. Man macht es wie Kant; was man nicht durchanalysirt hat, weil man sich zur gemeinen Meinung, die sich rein terminologisirend verh\u00e4lt, nicht in Opposition bringen will, das sieht man als Urkategorie an. Auch gut; aber dann hat man die Wissenschaft um jedes Gesch\u00e4ft gebracht und man sage kurz, auf einem Flugbl\u00e4ttchen: Psychologie ist was jeder weiss und niemand begreift.\n10. Wir lassen \u2014 wie schon erkl\u00e4rt \u2014 den Schatz von Betrachtungen \u00fcber die komplizirten Zust\u00e4nde des Ich, den Jonn ansammelt, unbesehen. Phantasiegebilde, Begriffe, \u00e4sthetische Gef\u00fchle, . alles das was er die sekund\u00e4ren und terti\u00e4ren Erregungen nennt, wo \u2014 die Korrektur in den Elementen vorausgesetzt \u2014 sich so vieles Richtige findet *, wird uns nicht besch\u00e4ftigen. Nur das m\u00f6ge man erw\u00e4gen, dass \u00fcberall diese vermeintliche Bewusstseinsform, die wir zu seciren im Begriffe sind, sich finden soll. Nur eine Steigerung, intensivere Ausgestaltung des urspr\u00fcnglichen Prozesses der Analyse und Synthese, des Unterscheidens und Vergleichens soll Platz greifen k\u00f6nnen. Speziell interessirt uns der Umstand, dass das Urtheilen schon als prim\u00e4re Funktion in jener Beziehungsth\u00e4tigkeit gegeben ist und nur eine gewissermaassen graduelle Entwickelung in dem pr\u00e4gnanten Urtheile, das sich etwa im Satze den Ausdruck giebt, erfahren kann. Diese Psychologie braucht das Urtheil sp\u00e4ter nicht zu erkl\u00e4ren, sie f\u00fchrt es schon als Ur-th\u00e4tigkeit ein.,,Jenes besprochene Vergleichen, Wiedererkennen etc., die Herstellung einfachster Beziehungen zu Empfindungen und zwischen Empfindungen ist schon Urtheilen. Urtheilen soll nicht eine Funktion des Bewusstseins, welche dem Empfinden, F\u00fchlen, Wollen koordinirt w\u00e4re, sein, sondern ist die Grund-th\u00e4tigkeit des Bewusstseins \u00fcberhaupt, ohne welche die Drei nicht m\u00f6glich w\u00e4re.\u201c\nWir haben uns hier schon gegen die Idee ausgesprochen, dass das Betzen einer Beziehung zwischen Elementen ein prim\u00e4rer Akt sei, welcher mit dem Auftreten der Elemente gleichzeitig stattfinden k\u00f6nnte; er m\u00fcsste dann, widersinniger Weise,\n1 III. Kap. 3. Absehn, und die sp\u00e4teren Kapitel. \u2014 S. 114, 613, 580, 595, 613, 616, 617, 155.","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"U\u00e9ber den gegenw\u00e4rtigen Zustand der Psychologie.\t253\neigentlich fr\u00fcher von ihnen gewusst haben, als sie selbst von sich wissen. Wir haben in dem \u201eGanzen der Philosophie\u201c dar-gethan, dass alle Beziehungskategorien durch Reihen einfacher, besonders angeordneter, markirter, reproduzirter Empfindungen dargestellt werden k\u00f6nnen. Die F\u00e4higkeit und Lust zur that-s\u00e4chlichen Entstehung solcher Z\u00fcge ist freilich Sache der menschlichen Gattungsorganisation ; aber die Resultate sind eben Reihen mit besonderem Auf tauchen gewisser Glieder. Das Urtheilen im Besonderen ist gebildet durch die Gewohnheit eines Ablaufes von Empfindungsverbindungen (z. B. ein Mensch und sein Name oder Eigenschaften), seine St\u00f6rung durch Fehlen von Gliedern, Unruhe, Stutzen, Versuchen, die Erg\u00e4nzung der Gewohnheit gem\u00e4ss herzustellen, \u2014 das ist die sogenannte Frage \u2014 Einstellung eines beruhigenden Elementes etc. etc. Man wird auch sofort zum Zweifel an dem Charakter der Urspr\u00fcnglichkeit und Irre-duzibilit\u00e4t eines Urtheilsaktes gedr\u00e4ngt werden, wenn man bedenkt, dass man nichts Urspr\u00fcngliches, wie Farbe-, Schmerzempfindung, umschreiben oder durch Schilderung auf bauen kann. Das Urtheil kann man aber wohl durch Beschreibung des suc-cessiven Verhaltens des ganzen Menschen komponiren. Ferner m\u00fcsste nach jener Theorie Bejahung so urspr\u00fcnglich sein wie Verneinung, und beide m\u00fcssten, wie alle anderen Beziehungskategorien als eben zuf\u00e4llig vorhandene gelten, deren Bestand . eventuell auch vermehrt oder vermindert werden k\u00f6nnte. Indes . lassen sie sich aber thats\u00e4chlich als solche aufzeigen, welche nicht , durch sich die objektiven Verh\u00e4ltnisse erst schaffen, sondern vielmehr durch diese fundirt sind.\n11. Besehen wir noch weiter den merkw\u00fcrdigen Akt der schaffenden Beziehungsth\u00e4tigkeit des Ich, so zeigt sich darin noch ein Ineinander \u2014 und zwar von drei Momenten1. \u2014 \u201eBewusste Th\u00e4tigkeit ist eine Dreieinheit von Empfindung, Gef\u00fchl und Streben. Bewusste Th\u00e4tigkeit ist ein Reaktionsvorgang, der drei Momente in sich enth\u00e4lt: die Einwirkung von aussen nach innen, die R\u00fcckwirkung von innen nach aussen und eine innere Vermittelung zwischen beiden Gliedern. Das Subjekt, Aenderungen im Zustande seiner Sensorien bemerkend, in Folge dessen entweder Lust oder Unlust . f\u00fchlend, in Folge dessen Aenderungen seines Zustandes durch Be-\n1 Auf S. 130, 137, 132, 135, 375, 376, 133, 378, 415, 420, 718.","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254\nRichard Wahle.\nwegung bewirkend, hat Sinnesempfindungen, Gef\u00fchle und Willensanstrengungen. In allen drei Momenten ist das Subjektive und Objektive zugleich; Empfindung, Gef\u00fchl, Streben sind nur drei verschiedene Formen und Erscheinungsweisen des allgemeinen Bewusstseinsvorganges. Insoferne wir an einer prim\u00e4ren psychischen Erregung vorzugsweise die dingliche Seite, das Was (quid) ins Auge fassen, nennen wir dieselbe Empfindung; beachten wir vorzugsweise ihre Wirkung auf unseren Bewusstseinszustand und unsere Wirkung derselben, das Wie (quomodo), nennen wir sie Gef\u00fchl ; tritt uns besonders unsere Gegenwirkung, die Umsetzung unserer Werthung in Bewegung und physische Ver\u00e4nderung entgegen, das Wohin, Wozu (quo), nennen wir sie Streben.\u201c\n12. So gangbar solche Darstellungen sein m\u00f6gen, so unhaltbar sind sie. Welch5 unbrauchbare Ontologie zeigt sich wieder ! Ja wenn das Alles nur vom Menschen als Ganzem gesagt w\u00e4re, k\u00f6nnte man es sich gefallen lassen ; aber es wird leider von einer Erscheinung gesagt. Zuerst: das unaufl\u00f6sbare und doch aufgel\u00f6ste, r\u00e4thsel-hafte Ineinander. Dann: Wie k\u00f6nnen sich denn an einem Bewusstseinsprozesse Momente finden, welche deutlich auch als Folge von einander bezeichnet werden? Wie kann das Gef\u00fchl, welches eine Folge der Wirkung der bemerkten Empfindung auf den Bewusstseinszustand sein soll, mit der Empfindung zusammen und an ihr sein. Entsprechend der Succession der Nerven-reaktionen m\u00fcsste da wohl eine zeitliche Folge und nicht Einheit konstatirt werden. In der Substanz kann Stoss und Gegen-stoss erfolgen; aber das Bewusstsein in sich hat nicht mystisch und unscientifisch aneinander ein Ding, eine Antwort darauf und noch dazu eine Vermittelung.\nNicht zurecht finden k\u00f6nnen wir uns in den Bestimmungen \u00fcber das Wesen des Gef\u00fchles und des Strebens. Ist das F\u00fchlen ein Objekt f\u00fcr das Subjekt, oder ist das F\u00fchlen das Subjektive \u2014 und was ist dann sein Objekt? Ein Gef\u00fchl soll etwas sein, was den Werth einer Zustands\u00e4nderung verk\u00fcndet. Nein, wir k\u00f6nnen an den Habitus des ganzen Menschen, an seine Gesundheit oder Krankheit Betrachtungen \u00fcber Erhaltung oder Ver\u00e4nderung des Zustandes kn\u00fcpfen, oder einer Empfindung, wie dem Schmerz, kann Collaps folgen; aber an sich ist ein Gef\u00fchl keine Werthnotirung und kein Urtheil.\nWir m\u00fcssen die Kritik beschliessen.","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"TJeber den gegenw\u00e4rtigen Zustand der Psychologie.\n255\n13.\tVielleicht wird die Kritik den Eindruck der Haarspalterei gemacht haben. Das ist eben die Beschaffenheit des gegenw\u00e4rtigen Denkens, dass es kein Bed\u00fcrfniss f\u00fcr eine klare Ontologie hat. Und nach so vielen, langwierigen erkenntnisstheoretischen Untersuchungen bewunderter Denker ist ihm schliesslich jede Redeweise recht \u2014 man versteht ja ohnedies, was man sagen will. Aber der Geist schadet sich \u00fcberhaupt, wenn er irgend eine Salopheit der Begriffe einreissen l\u00e4sst und unm\u00f6gliche Kategorien kann er doch auf die Dauer nicht ertragen. Und besonders dem psychologischen Experimentiren steht eine solche unlogische Ontologie als verwirrendes Hinderniss gegen\u00fcber.\n14.\tWir wenden uns nun zu Wundt. Wir h\u00e4tten manche Aufstellungen Jodl\u2019s nicht so eingehend betrachtet, wenn sie nicht derselben Denkmanier entsprungen w\u00e4ren, die sich auch bei Wundt findet. Der ganze Hokuspokus der Einheit mit ihren Momenten ist ja weitverbreitet, ebenso das magische Ineinander von Qualit\u00e4t, Intensit\u00e4t und von weiss Gott was noch. Wie h\u00e4tte den Zeno doch die Meinung, einen Prozess selbst wahrzunehmen, am\u00fcsirt! An der fehlerhaften Hervorkehrung des Subjekt labo-rirt auch Wundt\u2019s Werk, obzwar in etwas eigenth\u00fcmlicher Weise; jeder Prozess soll indes auch einerseits objektiven Inhalt haben und andererseits subjektiver Vorgang sein. Wundt setzt stark mit der Betonung der elementaren Existenz von Empfindungen und Gef\u00fchlen ein, und die Gef\u00fchle betrachtet er \u2014 lange Zeit wenigstens \u2014 an sich, analog den Empfindungen nach Qualit\u00e4t und Intensit\u00e4t, sodass man manchmal zu der Hoffnung berechtigt erscheint, er k\u00f6nnte, nach einigen Korrekturen, noch die Basis der Reihenpsychologie gewinnen. Doch schliesslich verschwindet die T\u00e4uschung und man kann sich der Einsicht nicht erwehren, dass Wundt, der Experimentator, ebenfalls das Aeusserste leistet an mystischer, transszendenter Konstruktion. Dazu dient ihm besonders die Kategorie der Verschmelzung, die auch anderswo, aber vielleicht nicht so prononzirt, auftritt.\n15.\tAuch Wundt legt der psychologischen Analyse, richtiger gesagt seiner psychologischen Deklaration, einen Vorgang zu Grunde, dessen Momente er heraushebt, obzwar sie nat\u00fcrlich nie separat Vorkommen sollen \u2014 es sind die Empfindungen und Gef\u00fchle als die einzigen psychischen Elemente. Nun bin ich aber in der unangenehmen Lage, nicht eruiren zu k\u00f6nnen, welches dieser Vorgang eigentlich ist. Ich m\u00f6chte glauben, es sei der Willens-","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256\nRichard Wahle.\nVorgang. Dass der Willens Vorgang der komplete, psychische Vorgang ist, dem kein psychisches Element mangelt, ist sicher \u2014 nach Wundt. Aber man m\u00f6chte auch glauben, nach Wundt g\u00e4be es \u00fcberhaupt keinen Vorgang, welcher nicht Willensvorgang w\u00e4re. Und dann wird man wieder um diesen Glauben gebracht. Ich m\u00f6chte es gern f\u00fcr eine sch\u00f6ne Entdeckung Wundt\u2019s halten, dass alle successiven psychischen Reihen sich unter den Typus der Willensreihe bringen lassen. Scheint es doch, dass die Affekte zur Art des Willens Vorganges geh\u00f6ren und die passive und aktive Aufmerksamkeit, Apperzeption, alle Einordnungs-th\u00e4tigkeiten im weitesten Umfange, auch das Urtheilen scheinen dorthin zu geh\u00f6ren. Und da nach Wundt auch r\u00e4umliche und zeitliche Gebilde durch eine gewisse fixirende, also auch apper-zipirende Th\u00e4tigkeit zu Stande kommen, so scheint der Annahme einer Ueberzeugung Wundt\u2019s von der Universalit\u00e4t und Einzigkeit, Singularit\u00e4t des Willensvorganges nichts im Wege zu stehen. Ausser mehreren Stellen seines Buches! Wir werden sp\u00e4ter mehrere solche kennen lernen. Hier vorl\u00e4ufig von S. 17 und 22: \u201edie psychischen Thatsachen sind Ereignisse, nicht Gegenst\u00e4nde ; in diesem Sinne haben die Willensvorg\u00e4nge eine typische, f\u00fcr die Auffassung aller psychischen Vorg\u00e4nge maassgebende Bedeutung. Aber die voluntaristische Psychologie behauptet keineswegs, dass das Wollen die einzig real existirende Form des psychischen Geschehens sei.\u201c Es scheint mir also darnach, dass der Wille doch wieder nur methodische Bedeutung hat und man m\u00f6chte eine eindeutige Erkl\u00e4rung w\u00fcnschen.\n16. Welches aber auch dieser Vorgang sein m\u00f6ge, aus welchem Empfindungen und Gef\u00fchle als Elemente abstrahirt sind, sie sind es nun einmal und zwar als einzige Elemente psychischer Vorg\u00e4nge. Ihnen wollen wir zuerst unsere Aufmerksamkeit schenken. \u201eDie Empfindungen sind (S. 34) die objektiven Elemente, die Gef\u00fchle die subjektiven \u2014 nat\u00fcrlich immer ungetrennt.\u201c Das kann aber doch wohl nur der Ausdruck einer metaphysischen Theorie sein; denn Gef\u00fchl ist doch bloss genau so ein Datum wie Empfindung und schreit doch nicht: ich bin subjektiv. Es ist \u00fcberhaupt schon unfassbar, wie man durch .Abstraktion (S. 33, 45) Gef\u00fchl von Empfindung als zweierlei Grundarten von Qualit\u00e4ten trennen will. Wenn sie einmal ineinander sein sollen, sind sie genau so ineinander wie z. B. . das a und seine Intensit\u00e4t ineinander sein sollen. Wenn man","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den gegenw\u00e4rtigem Zmtan$, der Psychologie.\nyariirte und z. B. einmal die Empfindung a mit dem sogenhnntenj Gef\u00fchl m hat, dann, wieder einmal a. mit dem Gef\u00fchl n\u2019, soi k\u00f6nnte, man daraus nur verschiedene Modifikationen eines Einigen abstrahiren, aber: nicht den Bestand zweier Qualit\u00e4ten. Auch; sind ja zwei Qualit\u00e4ten z. B. Farbenqualit\u00e4ten oder eine Farberi-und eine Tonqualit\u00e4t nie ineinander. Im besten Falle w\u00e4re das\u2019 Gef\u00fchl der Intensit\u00e4t der Empfindung analog, aber keine aparte Qualit\u00e4t. Oder Empfindung und Gef\u00fchl m\u00fcssten:in einer Mischung erscheinen, wie (S. 55) Druck- J und W\u00e4rmeempfindungen, oder Theile von Ger\u00e4uschen. Ist die Empfindung also nur wie mit. Intensit\u00e4t so mit Gef\u00fchlston begabt, so ist \u2014 sowenig Intensit\u00e4t subjektiver ist als Qualit\u00e4t \u2014 auch das Gef\u00fchl nicht subjektiv* wenn einmal die Empfindung objektiv ist.\n17. Der Gef\u00fchle giebt es eine Unzahl. Sie sollen alle -\u2014 wie sich\u2019s die Frauen w\u00fcnschen \u2014 unanalysirbar sein, Qualit\u00e4ten sui generis. So giebt es neben der Schmerzempfindung, Um lustgef\u00fchle, dann Gef\u00fchle , die an sich der Ernst, die Traurigkeit etc. (S. 36) sind; es giebt (S. 38) eigene Aufmerksamkeitsgef\u00fchle. \u2014 Die Gef\u00fchle sollen (S. 40) Entgegengesetztheit der Qualit\u00e4ten zeigen; gewisse Gef\u00fchle (S. 41, 94) geh\u00f6ren einer Indifferenzzone an. Das ist nur dann eine m\u00f6gliche Auffassung, wenn man lediglich un\u00e4hnliche Gef\u00fchle Gegens\u00e4tze nennen wollte. Aber nie darf man glauben, zwischen zwei Gef\u00fchlen einen solchen Gegensatz zu finden, wie er sich bei Zust\u00e4nden und Aktionen herausstellt, welche durch ein objektives Ziel deter-minirbar sind, als da sind, Gesundsein und Kranksein, Stehdh \u00f6der Sinken, etwas heben k\u00f6nnen oder nicht etc. Ganz zu per-horresziren ist auch das Beden von indifferenten Gef\u00fchlen in einer Wissenschaft; schon im gew\u00f6hnlichen Leben wird man einsehen, dass es nicht richtig ist von Gef\u00fchlen der Gleichg\u00fcltigkeit zu sprechen, sondern von der Abwesenheit von Gef\u00fchlen. So muss man auch der Eintheilung der Gef\u00fchle (S. 98) in erregende und beruhigende (exzitirende und degrimirende), spannende und l\u00f6sende ansehen, dass sie nicht aus den sogenannten Qualit\u00e4ten der Gef\u00fchle selbst, sondern aus dem komplexen K\u00f6rperhabitus entlehnt sind. Thats\u00e4chlich giebt es nur mannigfache Sinnes- und Leibesempfindungen und K\u00f6rperreaktionen, sowie Tendenzen dazu; und nur durch die Mannigfaltigkeit der Vorstellungs-, Erinnerungs-, Phantasieverkn\u00fcpfungen\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XYI.\t17\t-","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"Bichard Wahle.\n258\nbei wechselnden zusammengesetzten Leibeszust\u00e4nden entsteht der Schein mannigfaltiger, irreduzibler Gef\u00fchle.\nMan ahnt gar nicht, welche Masse von eigenartigen, un-analysirbaren Gef\u00fchlen es geben soll. Da giebt es (S. 283, 287) eigene Bekanntheits-, Erkennungs - und Erinnerungsgef\u00fchle. Es giebt (S. 222) eigene Zweifel- und Entschliesungsgef\u00fchle. Selbst bei der stellvertretenden Bedeutung der Vorstellungen und Worte soll es (S. 312) das Begriffsgef\u00fchl geben.\nJa sogar das was wir als Ich bezeichnen, der Zusammenhang aller individuellen psychischen Erlebnisse, soll (S. 259) ein Gef\u00fchl sein.\nWie indes bei dieser Manier, \u00fcberall Unanalysirbares zu erblicken eine Wissenschaft m\u00f6glich sein soll, l\u00e4sst sich schwer begreifen; Romane allerdings kann man so schreiben.\n18. Wollen wir nun die thats\u00e4chlich auftretenden Gebilde, die Fundorte jener aus ihnen abstrahirten Elemente, Gef\u00fchl und Empfindung, betrachten, so stossen wir auf die schon fr\u00fcher erw\u00e4hnte Schwierigkeit, ob es n\u00e4mlich nur eine einzige Art solcher Gebilde, den Willensvorgang giebt, eventuell in ausgewachsener oder rudiment\u00e4rer Form. Es giebt zwar zusammengesetzte Gef\u00fchle \u2014 \u00fcber die noch zu handeln sein wird, \u2014 aber das sind keine selbstst\u00e4ndigen Gebilde. Ob Raumgebilde \u2014 nat\u00fcrlich von Gef\u00fchlen der Aufmerksamkeit beherrscht \u2014 selbstst\u00e4ndig allein existiren k\u00f6nnen, vermag ich nicht zu entnehmen. Nur die Affekte, deren Klassifikation (S. 213) \u00fcbrigens ausgezeichnet ist, k\u00f6nnten noch selbstst\u00e4ndige, in sich existirende Gebilde sein. Ob sie solche sind, oder auch bloss eine, der theoretischen Behandlung wegen, aus dem selbstst\u00e4ndigen Willensvorgang gesch\u00f6pfte Abstraktion, kann ich nicht \u2014 aus Wundt's Buch heraus \u2014 ersehen. F\u00fcr die Vermuthung, Wundt meine, es g\u00e4be auch blosse Affekte spricht die Stelle (S. 199, 215) : \u201eEinen geschlossenen Verlauf von Gef\u00fchlen nennt man Affekte; der Affekt mit einer darauffolgenden Ver\u00e4nderung ist ein Willensvorgang.\u201c \u2014 Es scheint mir demnach, wenn die Ver\u00e4nderung erst darauf erfolgt, so m\u00fcsse bis dahin der Affekt f\u00fcr sich bestanden haben. Daf\u00fcr spricht auch S. 258: \u201eDie Gef\u00fchle k\u00f6nnen stets als momentane Theilinhalte. von Affekten, die Affekte als Bestandtheile von Willens Vorg\u00e4ngen angesehen werden, \u2014 wobei der Prozess immer auch auf einer der fr\u00fcheren Stufen verbleiben kann, indem sehr h\u00e4ufig ein Gef\u00fchl zu keiner merk","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den gegenw\u00e4rtigen Zustand der Psychologie.\t250\nliehen Affekterregung f\u00fchrt, oder der Affekt abklingt, ohne dass eine Willenshandlung entsteht.\u201c \u2014 Wir sehliessen also unsererseits aus dieser Stelle : w\u00e4re immerhin der vollst\u00e4ndige, gewisser-maassen ausgewachsene regelm\u00e4ssige Verlauf ein Willens Vorgang, so k\u00f6nnten doch auch ganz gut Affekte \u2014 allerdings sogar auch Gef\u00fchle \u2014 allein bestehen. Andererseits aber heisst es wieder (S. 259): \u201eDas Wollen erweist sich als die Grundthatsaehe, in der alle die Vorg\u00e4nge wurzeln, deren psychische Elemente die Gef\u00fchle sind.\u201c Das hiesse also, gef\u00fchlsbetonte Empfindungen, zusammengesetzte Gef\u00fchle und Affekte w\u00fcrden nur Sch\u00f6sslinge der Grundthatsaehe des Wollens sein. Es heisst auch (S. 259) \u201edas einfache Gef\u00fchl enth\u00e4lt schon eine Willensrichtung und (S. 217) alle, selbst die verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig indifferenten Gef\u00fchle enthalten ein Streben.\u201c\nSonderbarer Weise hatte Wundt bei der Besprechung der Gef\u00fchle das noch gar nicht erw\u00e4hnt und die Gef\u00fchle so noch gar nicht geschildert, sondern hebt das erst bei der Besprechung des Willens hervor. Aus den angef\u00fchrten Stellen verm\u00f6gen vielleicht andere sich ein widerspruchsloses Bild herauszusehen ; ich vermag daraus keine wissenschaftliche Einsicht zu gewinnen.\n19. In dem Reiche dieser Gebilde, deren Konstitution ich also nicht verstehe, in psychischen Zust\u00e4nden, finden Vereinigungen statt. Viele Schilderungen derselben sind anregend und ausgezeichnet \u2014 wenn man von Grund\u00fcbeln absieht. Wo die \u201eVerbindung\u201c eine aggregiirte Reihe bedeutet, stimmen wir zu. Manchmal z. B. S. 238 f. wird von einem Zusammenhang im Bewusstsein gesprochen, der nur additiv sein kann, da er analog auch zwischen Individuen und V\u00f6lkern bestehen soll. Aber haupts\u00e4chlich ist diese Verbindung \u201eVerschmelzung\u201c und hiermit sind wir dieser furchtbarsten aller frei erfundenen psychologischen Kategorien nahe getreten. Man \u00fcberlege vorher nur, eine Wissenschaft ist nicht der Ort f\u00fcr Metaphern. Wenn man z. B. von einem Kampfe der Motive spricht, ist das freilich verst\u00e4ndlich, aber es darf doch in der Analyse dabei an nichts anderes gedacht werden als an Kommen, Gehen, Bleiben von Vorstellungen, Unruhe etc. In der Chemie giebt es keine Verschmelzung, sondern nur additive Atomanlagerung. Verschmelzung ist f\u00fcr Wundt auch keine Metapher, hat aber auch nirgends ein Analogon,-sondern w\u00e4re etwas so Eigenartiges und Reelles wie eine Farbe.\nDer spezifische Charakter der einzelnen psychischen Vor-\n17*","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"Richard Wahle.\ng\u00e4nge soll (S. 34) zum gr\u00f6ssten Theile in der Verbindung der Elemente liegen. Und diese Verbindung ist zumeist nicht Aggregat, nicht Reihe, sondern Verschmelzung. Und wenn wir die Unm\u00f6glichkeit dieses Begriffes nun aufgezeigt haben werden, wird man erkennen, dass die ganze Wundt\u2019sehe Psychologie ein unfassbarer Zauberspuk ist. Man \u00fcberlege, ob die im Folgenden beispielsweise angef\u00fchrten Vorstellungen die Tragkraft f\u00fcr eine Wissenschaft haben.\n\u201eDas einer bestimmten einfachen Empfindung entsprechende Gef\u00fchl ist (S.- 94) in der Regel schon ein Produkt der Verschmelzung mehrerer einfacher Gef\u00fchle, w\u00e4hrend es doch ebenso unzerlegbar wie ein Gef\u00fchl von urspr\u00fcnglich einfacher Beschaffenheit\u2019 ist. Und weiter auf S. 88: Das einfache Gef\u00fchl, das an irgend ein zusammengesetztes Vorstellungsgebilde gebunden ist \u2014 z.B. also das an den Akkord ce g gebundene Harmoniegef\u00fchl -\u2014 das k\u00f6nnen wir niemals von den Gef\u00fchlen sondern, die als subjektive Komplemente der Empfindungen in jenes Gebilde eingehen; also k\u00f6nnen es z. B. von jenen Gef\u00fchlen, die das e, das e, das g f\u00fcr sich begleiten, nicht sondern. Es ist alles zu einem Totalgef\u00fchl verbunden.\u201c Darauf \u2014 meine ich \u2014 muss sich doch wirklich jeder fragen: Wenn alle solche Gef\u00fchle in den neuen Ganzen unaussonderbar untergegangen sind, wie kann man sie darin konstatiren, ihren Bestand und ihr eigen-th\u00fcmliches Schicksal so behaupten? Wenn wirklich diese Verschmelzung das wahre psychische Ereigniss w\u00e4re, dann w\u00fcrden doch die Mittel fehlen, es zu analysiren, die Synthese nachzuweisen, ein Verschwinden oder Eingehen, Aufgehen zu behaupten, wo man einfach vor einem Novum steht. \u2014 Kurz jedes wissenschaftliche und kontrollirbare Beherrschen der Dinge entfiele. Im Vergleiche damit scheint noch jede fr\u00fcher besprochene Willk\u00fcr und Unklarheit minder gef\u00e4hrlich. Welches k\u00f6nnen denn die Gesetze solcher psychologischen Dynamik sein ?\nEs k\u00f6nnte aber sein, dass man sich \u00fcber Ungerechtigkeit gegen Wundt beklagen wollte. Sagt er doch (S. 110) ausdr\u00fccklich: \u201eDas Zur\u00fccktreten der Elemente, welche eventuell doch durch eine ungew\u00f6hnliche Richtung der Aufmerksamkeit wahrnehmbar sind, gegen\u00fcber dem Eindr\u00fccke des Ganzen, bezeichnen wir als Verschmelzung.\u201c Sch\u00f6n! Wie will man aber damit die \u00fcbrigen, an sich eben so deutlichen Ausspr\u00fcche zu-sammenreimen. Denn da heisst es (S. 190) z. B. : \u201edas Gemein-","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"lieber den gegenw\u00e4rtigen Zustand der Psychologie.\n261\ngef\u00fchl entspringt aus einer Vielheit yen Partialgefuhlen, aber es ist nicht die blosse Summe dieser Partialgef\u00fchle, sondern ein aus ihnen resultirend\u00e9s (also doch neues) einheitliches T\u00f6talgef\u00fchl. Ebenso auf S. 198. \u2014 Oder es heisst : Die Tonelemente sind in einer Klangvorstellung als reale Empfindungen enthalten, haben aber gleichwohl ihre Selbstst\u00e4ndigkeit mehr oder\nv f fr\nweniger aufgegeben. Oder es heisst (S. 188) im schlagenden Widerspruch zu der angef\u00fchrten Stelle yon S. 110: Jedes zusammengesetzte Gef\u00fchl l\u00e4sst sich somit zerlegen 1. in ein aus der Verbindung aller seiner Bestandtheile re s\u00fcTtir en d es Totalgef\u00fchl und 2. in die einzelnen Partialgef\u00fchle. S. 195 und \u00f6fters wird dieses Totalgef\u00fchl Resultante genannt. S. 37h heisst es, dass ein psychisches Gebilde keineswegs als Surnrhe der Eigenschaften der Elemente anzusehen, sondern sich nur -x-als Neues doch -\u2014 aus seinen Elementen begreifen l\u00e4sst.\u201c Das ist es aber, was man bestreiten muss; dass ein Neues, ein Anderes sich durch Anderes begreifen lasse. Einer Resultante sieht man ja ihre Komponenten nicht an. Die Physik kennt und beweist das Gesetz, die Resultante aus ihren Komponenten zu begreifet!, und selbst sie thut es durch eine Summenbetrachtung. Wo ist aber das psychologische Gesetz, nach welchem ich das nach r dem Best\u00e4nde der Gef\u00fchle a und b auftretende, oder gar einheitlich in ihnen steckende neue Gef\u00fchl a begreife ? Nirgends I Komponenten verschwinden in ihrer Res\u00fcltirenden, hier sollen sie aber 1. bestehen und 2. ein Neues ausmachen. Bedenkt man hierzu, dass die Gef\u00fchle gar nie allein sind, sondern als Qualit\u00e4ten mit den Empfindungsqualit\u00e4ten ineinander sein sollen, so\n-\tr\nerstaunt man, wie Jemand aus diesem Chaos von Ineinander und Verschmelzungen je klug werden konnte und f\u00fchlt sich von der Willk\u00fcr solcher logisch \u00fcnqualifizirbaren Konstruktionen niedergedr\u00fcckt.\n20. Zum Schl\u00fcsse wollen wir nur noch auf eine Seite dieser Psychologie hinweisen. Auch sie bleibt stecken in der Urkategorie des \u201ein Beziehung bringen.\u201c \u201eEs werden (S. 294 f.) Inhalte durch unanalysirbare, irreduzible Vergleiche in Beziehungen der Gleichheit, Uebereinstimmung, des Unterschiedes zueinander gebracht \u2014 und zwar durch die Apperzeption.\u201c Nun wurde die Apperzeption fr\u00fcher als Gef\u00fchl und Willenshandlung bezeichnet'; jetzt scheint es aber doch, dass sie noch andere eigent\u00fcmliche, letzte Funktionen in sich birgt. Denn diese Verbindungs- und","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"Richard Wahle.\n262\nBeziehungsformen (B. 375) innerhalb deren sie funktionirt, sind derartig, dass sie die Begriffe der Beziehung selbst schaffen. Es sind die alten Kant'sehen Kategorien, welche die Logik autonom, a priori begr\u00fcnden, sollen, - ohne selbst logisch analysirbar zu sein.\nUnd es k\u00f6nnte einem so Vorkommen, als ob es den Philosophen noch wirklich leid th\u00e4te, dass die HEGEL\u2019sche Herrlichkeit dahin sei und, dass sie, wenn sie auch nicht mehr die physikalische Welt konstruiren d\u00fcrfen, doch eine psychologische Welt von phantastischen Gebilden auf bauen. Sie wurzeln dabei in den Neigungen des Publikums und finden scheinbares Verst\u00e4ndniss, weil dasselbe aus seiner behaglichen Redeweise nicht aufgeschreckt, doch noch immer froh ist, nachdem es bei einigen Experimenten Unterhaltung gefunden hat, auch eine recht komplizirte Schilderung der geistigen Aktion zu finden und so, wenn auch die Seele verbannt wurde, seinem Selbstbewusstsein gewissermaassen geschmeichelt zu sehen.\n21. Als Symptom der beginnenden Gesundung glauben wir nun Ebbinghaus\u2019 Werk ansprechen zu d\u00fcrfen. Dies wird hoffentlich nicht nur ein Stimmf\u00fchrer f\u00fcr die den Naturwissenschaften Nahestehenden sonden auch f\u00fcr das allgemeine Publikum und die Philosophen werden. Die Lekt\u00fcre seiner Darstellungen betreffend Bau und Funktionen des Nervensystems und Gesichts- und Geh\u00f6rsempfindungen ist ein Genuss. Es k\u00f6nnte vielleicht manchem scheinen, als wenn er sich mit den letzten Fragen elementarer und ontologischer Art mehr abfinde als auseinandersetze. Doch die Auseinandersetzung ist wohl hinter der Szene erfolgt.\nKonnten wir auch mehrere Formulirungen, von denen eine schon hervorgehoben wurde, nicht als definitive betrachten, so scheint er doch ein klarer Ph\u00e4nomenalist zu sein. \u2014 Wie erfreulich wird es viele anmuthen, dass man Spekulationen \u00fcber die Eintheilung der psychischen Gebilde und Bewusstseinsfusionen dort nicht findet. Er zeigt sich nur entschlossen, alle psychischen Erscheinungen als eigenartige Kombinationen von Empfindungen, Phantasievorstellungen und Gef\u00fchlen anzusehen. Wird er aber unter Gef\u00fchlen etwas Aehnliehes wie Wundt verstehen? Wird die Kategorie \u201eKombination\u201c auch mystische Winkel in sich bergen? Wird er sich vor empirisch klingenden und doch trans-scendent schillernden Begriffen h\u00fcten? Ohne Ontologie k\u00f6nnte man nichts Dauerndes schaffen. Aber es ist zu hoffen, dass er die Ontologie des Einfachen vertreten wird. Jedoch scheinen","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"lieber den gegenw\u00e4rtigen Zustand der Psychologie.\n263\nseine Darstellungen der Tonempfindungen z. B. noch nicht unzweideutig. Schon sehen wir ihn jedoch in der Empfindungslehre frei von solchen Auffassungen, welche Weiss und Schwarz als farblose Empfindungen darstellen. Es scheint, dass er sich die Kritik des Fechner\u2019sehen Unternehmens einer Intensit\u00e4tsmessung zu Nutze gemacht hat und als Basis f\u00fcr die Messung wohl nur jenen Zustand des Ich annimmt, welcher einer Unterscheidung oder Gleichhaltung zweier Empfindungen entspricht. Er w\u00e4hlt zwar die Kategorie der Helligkeit um gewisse zusammenh\u00e4ngende Betrachtungen aneinanderzureihen, jedoch dem Ineinander von Qualit\u00e4t und Helligkeit scheint er fern zu stehen. Aber, wie gesagt, ob in dem \u00fcber die Eigent\u00fcmlichkeit der T\u00f6ne Gesagten die Schwierigkeiten genugsam hervorgehoben oder gel\u00f6st sind, w\u00fcsste ich vor weiteren zu erwartenden Darlegungen noch nicht zu entscheiden. Man k\u00f6nnte auch einfach f\u00fcr die Masse der T\u00f6ne nach den Aehnlichkeitsarten in Bezug auf St\u00e4rke, Klangfarbe und Oktavenlage ein Oktaeder etwa oder eine Kugel konstruiren; allerdings nur f\u00fcr je einen Ton der Skala, weil f\u00fcr die Aehnlichkeit der Skalenstufen unser dreidimensionaler Baum keinen Platz mehr bietet. Kurz man sieht, dass wir an Ebbinghaus\u2019 sch\u00f6nes Werk die gr\u00f6ssten Hoffnungen auf eine ontologiereine Psychologie kn\u00fcpfen ; aber eine ontologie-freie wird er nicht geben wollen.\n22. Noch aber hat sich die Majorit\u00e4t der Denker aller V\u00f6lker von alter Metaphysik nicht frei gemacht. Trotzdem die Substanztheorien und Verm\u00f6genstheorien aufgegeben scheinen, kehren sie in der komplexen Ichform dennoch wieder und Verwechslungen von verborgener Funktion mit gegebenem Vorkommnisse, von physiologischen Voraussetzungen mit psychologischen Erscheinungen sind an der Tagesordnung, und ein Spuk von konfusen Einheiten und verschwommenen Verschmelzungen umgiebt uns und macht allgemein verifizirbare wissenschaftliche Forschung unm\u00f6gliche","page":263}],"identifier":"lit30321","issued":"1898","language":"de","pages":"241-263","startpages":"241","title":"Ueber den gegenw\u00e4rtigen Zustand der Psychologie","type":"Journal Article","volume":"16"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:52:37.682197+00:00"}