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{"created":"2022-01-31T15:01:39.532984+00:00","id":"lit30340","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Nagel, Wilibald A.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 16: 373-398","fulltext":[{"file":"p0373.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber das Aubert\u2019sche Ph\u00e4nomen und verwandte T\u00e4uschungen \u00fcber die vertikale Richtung.\nVon\nDr. Wilibald A. Nagel,\nPrivatdozent in Freiburg i. Br.\nIm Jahre 1860 theilte Aubert eine interessante Beobachtung mit1* welche darin bestand, dass er eine vertikale helle Linie, die sich im sonst vollkommen dunkeln Zimmer als einziges Objekt im Gesichtsfelde befand, in bedeutendem Grade schief stehen sah, wenn er den Kopf seitw\u00e4rts gegen die Schulter neigte. Diese T\u00e4uschung werde ich im Folgenden abk\u00fcrzend als das \u201eAubert\u2019sehe Ph\u00e4nomen\u201c bezeichnen.\nDer einzige Autor, welcher die Erscheinung nach Aubert eingehend untersucht und besprochen hat, ist meines Wissens Mulder,2\nWenn ich das in Rede stehende Ph\u00e4nomen, trotzdem das* selbe von den genannten beiden Autoren in sehr gr\u00fcndlicher Weise untersucht worden ist und mir deren thats\u00e4chliche Ergebnisse in allen wesentlichen Punkten unanfechtbar erscheinen, von Neuem izum Gegenst\u00e4nde der Untersuchung gemacht habe, so leiteten mich dabei verschiedene Gr\u00fcnde. Einmal habe ich\n1\tAubert, H. Eine scheinbare bedeutende Drehung von Objekten bei Neigung des Kopfes nach rechts oder links. In: Arch. f. path. Anat. u. Physiol Bd. 20. (N. F. Bd. 10.) 1861. S. 381-393.\nVergl. auch: Physiologie der Netzhaut, Breslau 1865. S. 275\u2014278.\n2\tMulder, M. E. Ons ordeel over vertikal, bij neiging van het hoofd naar rechts of links. In: Feestbundei a. F. 0. Donders, Amsterdam.","page":373},{"file":"p0374.txt","language":"de","ocr_de":"374\nW\u00fcibald A. Nagel.\neiniges Neue an thats\u00e4chlichen Beobachtungen mitzutheilen und zweitens lag mir namentlich daran, die Beziehungen des Aubert-schen Ph\u00e4nomens zu den bei Seitw\u00e4rtsneigung des Kopfes eintretenden Augenbewegungen einerseits und zu gewissen anderen T\u00e4uschungen \u00fcber die Lage der Vertikale andererseits zu untersuchen und zu er\u00f6rtern. Gerade durch die Beziehungen zu den Funktionen des \u201estatischen Sinnes\u201c, wie sie sich aus den Beobachtungen von Breuer, Belage u. A. ergeben, scheint mir das A\u00fcBERT\u2019sche Ph\u00e4nomen noch an Interesse gewinnen zu sollen.\nAubert\u2019s einfache Deutung seiner Beobachtung, welche diese aus dem Vergessen der mit dem Kopfe vorgenommenen Neigung herleitete, hat durch die weitergehenden Versuche Mulder\u2019s stark an Wahrscheinlichkeit eingeb\u00fcsst, ja sie kann als widerlegt gelten. Mulder selbst wusste jedoch eine andere, plausible Deutung nicht zu geben.\nDelage,1 * 3 welcher andere, unten noch n\u00e4her zu besprechende, statische T\u00e4uschungen durch die Mitwirkung unbeabsichtigter und unbewusster Augenbewegungen zu erkl\u00e4ren suchte, musste selbst zugeben, dass seine Erkl\u00e4rung der Aubert\u2019sehen T\u00e4uschung gegen\u00fcber versage. Sein Erkl\u00e4rungsversuch f\u00fcr diese letztere, in einer Anmerkung kurz mitgetheilt, ist aber ganz offenbar unzureichend, wie dies auch Aubert bei Gelegenheit seiner Ueber-setzung des DELAGE\u2019schen Werkes betont hat. Die somit noch fehlende vollst\u00e4ndige Erkl\u00e4rung des Aubert\u2019sehen Ph\u00e4nomens kann auch ich nicht geben, glaube aber doch zu der Analyse desselben einige Beitr\u00e4ge liefern zu k\u00f6nnen.\nEine der auffallendsten Eigenschaften des Aubert\u2019sehen Ph\u00e4nomens ist seine Inkonstanz, die sich bemerklich macht, wenn eine und dieselbe Person die Beobachtung zu verschiedenen Zeiten ausf\u00fchrt, und namentlich auch, wenn verschiedene Personen den Versuch unter den gleichen \u00e4usseren Bedingungen anstellen.\nIch werde zun\u00e4chst angeben, in welcher Weise sich mir die Erscheinung darstellt, daran anschliessend die Abweichungen, welche andere Versuchspersonen beobachteten. Bei der Be-\n1 Physiologische Studien \u00fcber die Orientirung, unter Zu-\ngrundelegung von Yves Delage: \u00e9tudes exp\u00e9rimentales sur les illusions statiques et dynamiques de direction pour servir \u00e0 d\u00e9terminer les fonctions des canaux demicirculaires de l\u2019oreille interne, von Hermann Aubert.\nT\u00fcbingen 1888.","page":374},{"file":"p0375.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber das Aubert*sehe Ph\u00e4nomen und verwandte T\u00e4uschungen etc. 375\nSchreibung dieser Beobachtungen muss ich naturgem\u00e4ss manches wiederholen, was schon Aubert und Mulder gefunden haben, ohne dass ich dies im einzelnen Falle immer wieder ai> f\u00fchre. Als Objekt der Beobachtung diente mir in einer ersten Reihe von Versuchen eine in sonst vollkommen dunklem Raume angebrachte Lichtlinie, erzeugt durch einen schwach gl\u00fchenden Platindraht oder einem schmalen, mit transparentem Papier \u00fcberzogenen Spalt von ca 30 cm L\u00e4nge in einer drehbaren Metallscheibe, welche von der R\u00fcckseite beleuchtet werden konnte.\nDiese Lichtlinie vermag ich, wenn ich sie aus etwa 2 m AK stand betrachte, mit ziemlicher Genauigkeit vertikal einzustellen, so lange ich den Kopf in aufrechter Stellung halte. Eine Abweichung von 3\u00b0 ist schon sehr merklich und selbst eine seitliche Neigung von 1\u00b0 wird nicht leicht \u00fcbersehen. Man stellt eine isolirte Lichtlinie im Dunkeln kaum weniger sicher in die vertikale Richtung ein, als eine drehbare Linie im hellen Raume bei gleichzeitiger Wahrnehmung der umgebenden Objekte.\nNeige ich mich nun unter Biegung von Hals- und Lendenwirbels\u00e4ule um 900 auf die Seite, sodass die Verbindungslinie beider Augen vertikal steht, so erscheint mir die in Wirklichkeit vertikale Lichtlinie jetzt niemals vertikal, sondern stets in einem der Kopfneigung entgegengesetzten Sinne geneigt. Ich habe dann eine ganz bestimmte Vorstellung von der Richtung der Schwerlinie, aber die Linie, von der ich w e i s s, dass sie vertikal ist, f\u00e4llt mit jener Richtung nicht zusammen ; ich kann sie nun in die scheinbare vertikale Richtung durch Drehung der Scheibe einstellen und nachher den Betrag der Drehung an einem Gradbogen ablesen.\nDieser Betrag ist, wie erw\u00e4hnt, bei den einzelnen Versuchen sehr wechselnd. Relativ klein ist er regelm\u00e4ssig dann, wenn ich eben aus dem hellen ins Dunkelzimmer getreten bin, etwa 5\u201410\u00b0. Verweile ich in der geneigten Stellung, so nimmt die Neigung der Linie im Lauf der n\u00e4chsten Minuten betr\u00e4chtlich zu, bis auf 30\u201440\u00b0, selten bis zu 50\u00b0. Habe ich mich schon l\u00e4ngere Zeit im Dunkelzimmer aufgehalten, so tritt diese starke Neigung viel rascher ein.\nErhellung des Zimmers, wobei die umgebenden Objekte sichtbar werden, l\u00e4sst die T\u00e4uschung augenblicklich verschwinden.\nF\u00fcr das Zustandekommen der T\u00e4uschung ist es gleichg\u00fcltig, ob ich, w\u00e4hrend ich die Seitw\u00e4rtsneigung ausf\u00fchre, die Augen","page":375},{"file":"p0376.txt","language":"de","ocr_de":"376\nWilibald A. Nagel.\noffen oder geschlossen halte. Oeffne ich letzterenfalls die Angen, wenn ich mich in der Seitenlage befinde, so erscheint die Linie sogleich schief. Abweichend von Mulder finde ich (sowie alle von mir befragten Beobachter), dass ein vor\u00fcbergehendes Schliessen der Augen w\u00e4hrend der geneigten Kopfhaltung die Neigung der Linie niemals vermindert. Uebereinstimmend mit Mulder, aber abweichend von Aubert, erhalte ich das Maximum der Ablenkung nach einigen Minuten; dass bei l\u00e4ngerem horizontalen Liegen und Beobachten die Lichtlinie nahezu horizontal erscheint, wie Aubert es fand, habe ich nie gesehen. Es m\u00fcssen dies individuelle Unterschiede sein.\nDie isolirte Lichtlinie im dunkeln Raume, das Objekt, an welchem allein Aubert seine Betrachtungen anstellte, ist nicht das einzige Mittel, um diese T\u00e4uschung zu erzeugen. Bedingung ist nur, dass ausser einer zu beobachtenden geraden Linie sich im Gesichtsfeld kein anderes Objekt befindet, welches ein Urtheil \u00fcber die wahre Lage der Vertikalen zu f\u00e4llen erm\u00f6glicht. Man kann also den Versuch auch im Hellen anstellen, wie schon Mulder gezeigt hat, indem er ein innen geschw\u00e4rztes Rohr vor ein Auge brachte und hierdurch eine Linie an der Wand betrachtete. Ich habe anfangs \u00e4hnliche Vorrichtungen benutzt, und, wie Mulder, keine so gleichm\u00e4ssigen Resultate erhalten, wie im Dunkeln; h\u00e4ufig blieb das Ph\u00e4nomen ganz aus. Es liess sich jedoch nachweisen, dass dies an der Unvollkommenheit der Vorrichtung lag, welche die oben genannte Bedingung nicht ausreichend erf\u00fcllte. Mit geeigneter Methode l\u00e4sst sich der Versuch auch im Hellen mit der gleichen Sicherheit und dem gleichen Erfolge wie im Dunkeln ausf\u00fchren. Ich schliesse zu diesem Zwecke das eine Auge und bringe vor das andere eine dicht anschliessende undurchsichtige Kapsel, welche vorne, dicht vor dem Corneascheitel eine glattrandige runde Oeffnung von 1 mm Weite hat. Blickt man hierdurch gegen eine helle Wand, so sieht man ein kreisrundes St\u00fcck derselben, unscharf begrenzt durch das Zerstreuungsbild des Irisrandes. Eine an der Wand befindliche vertikale Linie erscheint, durch diese Vorrichtung betrachtet, schief, sowie man den Kopf stark seitw\u00e4rts neigt.\nHebe ich das untere Lid des beobachtenden Auges innerhalb der Kapsel so weit, dass von dem hellen Kreise unten ein kleines Segment durch den Lidrand verdeckt wird, so tritt das","page":376},{"file":"p0377.txt","language":"de","ocr_de":"lieber das Aubert\u2019sehe Ph\u00e4nomen und verwandte T\u00e4uschungen etc. 377\nPh\u00e4nomen nicht so sicher und deutlich auf, zuweilen fehlt es sogar ganz.\nAuffallender noch als diese Beobachtung ist die folgende: Das Ph\u00e4nomen tritt schon weniger leichter als bei Beobachtung einer einzelnen Linie dann ein, wenn ich durch das enge Diaphragma ein etwas komplizirtes Objekt betrachte, dessen wahre Lage im Raum mir bekannt ist, beispielsweise eine Stelle der h\u00f6lzernen Th\u00fcrf\u00fcllung mit Leisten und beschatteten Vertiefungen. Selbst wenn ich es so einrichte, dass nur vertikale Linien im Gesichtsfelde auftreten, zeigt sich doch an diesen die Aubert\u2019sehe T\u00e4uschung minder deutlich, als an der isolirten Linie auf weisser Wand.\nBetrachte ich aber die Stelle der Th\u00fcre, wo sich vertikale und horizontale Leisten kreuzf\u00f6rmig treffen, so tritt hierbei das Ph\u00e4nomen in der Regel gar nicht ein. Ein Kreuz aus einfachen Linien auf weisser Wand dagegen zeigt dasselbe so deutlich, wie die einfache vertikale oder horizontale Linie.\nBetrachte ich die Tischkante oder die Linie, in welcher der Fuss-boden mit der Wand des Zimmers zusammenst\u00f6sst, so erscheinen mir diese Objekte nie in merklichem Grade schief geneigt. Dies ist sehr auffallend. Von der Linie, welche ich an die Wand gezeichnet habe, weiss ich ja auch, dass sie vertikal oder horizontal und nicht schief ist, genau wie die Tischkante und die Th\u00fcrf\u00fcllung. Das unbewusste Urtheil aber, welches das Zustandekommen der T\u00e4uschung in so erheblichem Maasse beherrscht, macht offenbar subtile Unterschiede. # Der Zwang, jene bekannten Objekte, als Theile des Zimmers in ihrer wahren Lage zur Vertikalen vorzustellen, ist so stark, dass er die T\u00e4uschung nicht aufkommen l\u00e4sst. Die einfache gerade Linie \u00fcbt diese Wirkung nicht, sie unterliegt dem Zwange der T\u00e4uschung.1\n1 Eine weitere Illustration f\u00fcr diesen Unterschied giebt folgender Versuch: Sehe ich mit schief gehaltenem Kopfe durch das Diaphragma die Linie an, in welcher der Fensterpfosten an die Fl\u00e4che des hellen Himmels grenzt, so tritt eine AuBEHT\u2019sche T\u00e4uschung \u00fcber die Lage dieser Grenzlinien nicht leicht ein, so lange das Bild klar ist und ich daher den Fensterpfosten als solchen erkenne. Sofort aber tritt die T\u00e4uschung ein, wenn ich die Deutlichkeit des Bildes herabsetze, etwa indem ich ein angehauchtes Glaspl\u00e4ttchen vor die Oeffnung des Diaphragma bringe. Ich sehe dann eine helle und eine dunkle Fl\u00e4che ohne Details, und die Grenzlinie beider Fl\u00e4chen steht schief.","page":377},{"file":"p0378.txt","language":"de","ocr_de":"378\nWilibald A. Nagel.\nSchon \u00e0xtbert und Mulder haben angegeben, dass Aufmerksamkeit und Uebung auf den Eintritt des Ph\u00e4nomens ohne jeden Einfluss sind. Wenn man den Versuch noch so oft gemacht hat, man verf\u00e4llt dem Zwange der T\u00e4uschung bei geeigneter Versuchsanordnung immer wieder. Bem\u00fcht man sich, es sich klar zu machen, dass die schief erscheinende Linie in Wirklichkeit vertikal steht, so tritt dem der unmittelbare Sinneseindruck und das aus demselben gebildete Urtheil mit Bestimmtheit entgegen. Ich finde sogar, dass bei den Versuchen, sich die scheinbare Schiefheit der Linie als T\u00e4uschung zu vergegenw\u00e4rtigen, der Grad der Ablenkung h\u00e4ufig noch zunimmt, die Linie \u201eerst recht\u201c schief wird.\nIch m\u00f6chte gleich an dieser Stelle darauf hinweisen, wie ganz anders die Erscheinung ist, die man beobachtet, wenn man die Neigung des Kopfes zur Schulter statt von der vertikalen K\u00f6rperstellung aus, von der horizontalen R\u00fccken- oder Bauchlage aus ausf\u00fchrt und dabei wiederum im Gesichtsfelde nur eine gerade Linie ohne weitere Orientirungsmittel hat. Bei der bisher besprochenen (vertikalen) Stellung f\u00e4llt man sofort ein sicheres Urtheil \u00fcber die Lage : sie steht vertikal, horizontal oder mehr oder weniger schief (-\u2014 gleichviel, ob dies LTrtheil ein objektiv richtiges ist, oder nicht \u2014). Ganz anders in der horizontalen R\u00fccken- oder Bauchlage. Hier dr\u00e4ngt sich ein solches Urtheil nicht nur nicht auf, es l\u00e4sst sich nicht einmal bei gespannter Aufmerksamkeit einigermaassen bestimmt f\u00e4llen. Es giebt da keine bevorzugte, den Sinnen sich unmittelbar darstellende Richtung, mit welcher die beobachtete Gerade zusammenfallen oder gegen die sie schief liegen k\u00f6nnte. Einigermaassen bevorzugt ist nur diejenige Linie, welche man gerade \u00fcber dem K\u00f6rper, parallel mit dessen L\u00e4ngsachse verlaufend sich denken kann, und dann die in der gleichen Ebene auf jener senkrecht stehenden Gerade. Allein diese Richtungen sind weit weniger genau bestimmt und bestimmter, als die Vertikale. Ich kann wohl, auf dem R\u00fccken liegend, eine \u00fcber meinem Gesicht schwebende, als einziges geradliniges Objekt im kreisf\u00f6rmig begrenzten Gesichtsfeld befindliche Gerade ungef\u00e4hr in die Richtung meiner K\u00f6rperachse einstellen, aber das Gef\u00fchl der Unsicherheit dabei ist deutlich und die Fehler sind ansehnlich.1 Ich be-\n1 Es ist bemerkenswert!!, dass bei diesen Versuchen im Gegensatz zu denjenigen, welche das AuBERT\u2019sche Ph\u00e4nomen betreffen, bei mir sich sehr","page":378},{"file":"p0379.txt","language":"de","ocr_de":"lieber das Aubert' sehe Ph\u00e4nomen und verwandte T\u00e4uschungen etc. 379\nmerke, dass ich dabei fortw\u00e4hrend reflektire, wie mein K\u00f6rper und wfie mein Kopf im Verh\u00e4ltniss zu jenem liegt.\n. Diese Unsicherheit in der Beurtheilung aller jener Geraden, welche senkrecht zur Vertikalen in einer horizontalen Ebene verlaufen, wTar von vornherein zu vermuthen gewesen, tritt aber bei Anstellung der genannten Versuche mit \u00fcberraschender Deutlichkeit ins Bewusstsein, am meisten aber dann, wenn man versucht, zu urtheilen, ob auch hei Einhaltung der \u2022K\u00fcckenlage die Neigung des Kopfes gegen die eine Schulter eine T\u00e4uschung \u00fcber die scheinbare Lage der beobachteten Linie zur K\u00f6rperachse erzeugt, analog dem AuBERT\u2019schen Ph\u00e4nomen.\nIch finde keine derartige T\u00e4uschung; ich stelle bei m\u00f6glichst stark seitw\u00e4rts gebogenem Kopfe die Linie gleich gut oder gleich schlecht in die Richtung der K\u00f6rperl\u00e4ngsachse ein, wie bei gerader Kopfhaltung. Ebenso unsicher in die L\u00e4ngs- oder Querachse des Kopfes. Konstante Fehler finde ich nicht, von einer bestimmten zwangsm\u00e4ssigen T\u00e4uschung \u00fcber die Lage der Linie zu meinem K\u00f6rper oder Kopfe bemerke ich nichts.\nIch kehre nach dieser Abschweifung wieder zur Besprechung des Aubert\u2019sehen Ph\u00e4nomens zur\u00fcck. Wenn man den Kopf und Rumpf bald mehr, bald weniger weit auf die Seite neigt, so kon-statirt man leicht, dass eine eigentliche Proportionalit\u00e4t zwischen den Kopfneigungen und der scheinbaren Neigung der Vertikalen nicht besteht. Bestimmt gilt das f\u00fcr mich und einen Theil der Beobachter, die auf meine Veranlassung den Versuch ausgef\u00fchrt haben. Wir sehen, wenn die Kopfneigung den Betrag von 50-\u201460\u00b0 nicht \u00fcberschreitet, die Linie gew\u00f6hnlich vertikal, und 'dann beim Ueberschreiten dieser Grenze pl\u00f6tzlich ganz erheblich geneigt.\nVon jetzt ab nimmt allerdings die Neigung der Linie mit zunehmender Kopfneigung zu, aber nicht gleichm\u00e4ssig, sondern in unregelm\u00e4ssig springender Weise, woran nicht zum wenigsten\nrasch heftiges Uebelbefinden mit Brechneigung einstellt, namentlich dann, wenn die \u00fcber mir befindliche Linie (auf einen Kartonbogen gezeichnet) Von einer anderen Person hin- und herbewegt wird. Der Zustand erinnert an Seekrankheit.","page":379},{"file":"p0380.txt","language":"de","ocr_de":"380\nWilibald A. Nagel.\nder Umstand Schuld ist, dass die Neigung sich oft pl\u00f6tzlich ohne ersichtlichen Grund wieder verringert.\nAubert giebt an, dass er sein Ph\u00e4nomen schon bei kleinen Kopfneigungen eintreten sah, und auch mir haben dies einige Versuchspersonen angegeben, ein Unterschied gegen meine eigene Beobachtung, auf den ich noch zur\u00fcckkommen werde.\nBei Neigungen \u00fcber 90\u00b0 nimmt die Neigung der Vertikalen noch zu, um bei etwa 120\u2014140\u00b0 ihr Maximum zu erreichen, soweit in dieser Lage noch zu beobachten ist. Bei 180\u00b0 Neigung, wenn man zwischen den Beinen durchsieht, steht die Linie vertikal, wie in aufrechter Haltung.\nDas Aubert\u2019sehe Ph\u00e4nomen tritt auch bei passiver K\u00f6rperbewegung ein. Man l\u00e4sst sich zu diesem Zwecke auf einem um eine horizontale Achse drehbaren Brette in Seitenlage drehen, so dass der K\u00f6rper schief und schliesslich horizontal liegt, ohne dass er dabei seine Haltung ge\u00e4ndert zu haben braucht. Auch in diesem Falle tritt f\u00fcr mich das Ph\u00e4nomen gew\u00f6hnlich erst bei Neigungen von 50\u201460\u00b0 \u00fcberhaupt ein, und dann gleich sehr ausgepr\u00e4gt.\nEndlich kann man das Ph\u00e4nomen auch. so erzeugen, dass man sich aus der aufrechten Stellung in die R\u00fcckenlage be-giebt und nun in die Seitenlage w\u00e4lzt; sofort erscheint die Vertikale schief.\nVon besonderem Interesse sind die Bewegungserscheinungen, welche man an der isolirten Lichtlinie einerseits bei ruhiger schiefer Haltung des Kopfes und andererseits w\u00e4hrend der Bewegungen des Kopfes wahrnehmen kann. Wenn ich den Kopf aus der aufrechten Haltung langsam gegen die Schulter neige und hierbei nach einiger Zeit pl\u00f6tzlich die starke scheinbare Neigung der Lichtlinie beobachte, so l\u00e4sst es sich deutlich erkennen, dass die Linie nicht etwa eine sichtbare Drehbewegung ausf\u00fchrt, sondern in einem Augenblick ist sie noch vertikal, im n\u00e4chsten erheblich schief geneigt. Auch andere Beobachter haben mir diesen Eindruck best\u00e4tigt.\nWenn ich nun aber in ruhiger Seitenlage die schief erscheinende Linie beobachte, so habe ich den deutlichen Eindruck, dass die Linie sich in einer fast andauernden Drehbewegung befindet, und zwar in den meisten F\u00e4llen in einer Be-","page":380},{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber das Aubert\u2019sehe Ph\u00e4nomen und verwandte T\u00e4uschungen etc. 381\nwegung, welche die Linie der scheinbaren Vertikale n\u00e4hert, sie also gewissermaassen aufrichtet. Die Vertikale wird jedoch nie erreicht. Zum Theil beruht dies darauf, dass jedes Blinzeln, jede kleine Augenbewegung die sich aufrichtende Linie sofort wieder um ein St\u00fcck zur\u00fcckschnappen l\u00e4sst, so dass die Linie aus der schiefen Lage nie herauskommt.\nAber auch, wenn man Blinzeln und Augenbewegungen vermeidet, kommt die Linie, trotzdem sie sich in andauernder Drehbewegung befindet, aus der schiefen Lage nicht heraus. Es ist das eine seltsame Erscheinung, die sich nicht durch Beschreibung klar machen l\u00e4sst, sich dem Beobachter aber sofort aufdr\u00e4ngt : es besteht ein auffallendes Missverh\u00e4ltniss zwischen der Lebhaftigkeit der gesehenen Scheinbewegung und der Gr\u00f6sse der durch jene erzeugten Lagever\u00e4nderung des sich bewegenden Objektes. Bei Besprechung der galvanischen Beizversuche werde ich auf eine \u00e4hnliche Erscheinung hinzuweisen haben.\nAb und zu hat man den Eindruck, als ob die beobachtete Linie, abgesehen von ihrer Scheindrehung, ihre Lage im Raum wechsele, gewissermaassen fortschwebe. Auch diese Erscheinung habe ich von mehreren Seiten best\u00e4tigen h\u00f6ren. Sie f\u00e4llt unter die Kategorie der unten noch n\u00e4her zu besprechenden \u201eautokinetischen Empfindungen\u201c, ist aber nicht oft so deutlich ausgepr\u00e4gt , wie bei Beobachtung eines kleinen lichtschwachen Punktes. Nur bei schiefer Lage auf dem Zapfenbrett sehe ich zuweilen die Lichtlinie in sehr lebhafter Scheinbewegung schweben.\nNeben den soeben als am h\u00e4ufigsten auf tretend beschriebenen Scheinbewegungen der Lichtlinie sehe ich ab und zu auch eine pl\u00f6tzliche Vergr\u00f6sserung der Neigung, oder auch eine l\u00e4nger bestehende Tendenz zum schiefer werden.\nVon anderer Art als die bisher beschriebenen sind die folgenden Scheinbewegungen, welche im Gegens\u00e4tze zu jenen nicht so sehr Folge einer ungew\u00f6hnlichen Lage des Kopfes, als vielmehr einer Bewegung desselben in der frontalen Ebene sind, und demgem\u00e4ss auch nur w\u00e4hrend und unmittelbar nach der Kopfbewegung bestehen.\nIch erhalte, wie oben erw\u00e4hnt, bei Kopfneigungen unter 50\u00b0 selten eine scheinbare Neigung der Vertikalen nach der entgegengesetzten Seite. Wohl aber bemerke ich stets eine sehr","page":381},{"file":"p0382.txt","language":"de","ocr_de":"382\nWil\u00efbald A. Nagel,\ndeutliche, der Kopfbewegung gleichgerichtete Bewegung der vertikalen Linie, sobald ich den Kopf einiger-maassen rasch seitw\u00e4rts neige (z. B. in 1j2 Sekunde um 20\u201430\u00b0. Die Scheinbewegung erfolgt nahezu gleichzeitig mit der Kopfbewegung, jedenfalls nur ganz wenig versp\u00e4tet. Sie ist stets an Betrag geringer als die Kopfneigung ; als Maximum fand ich f\u00fcr mich etwa 12\u00b0.\nDiese Messung f\u00fchrte ich in der Weise aus, dass ich der Lichtlinie successive zunehmende Abweichungen von der Vertikalen ertheilte, und versuchte, bei welchem Grade von Neigung ich die Linie w\u00e4hrend einer Seitw\u00e4rtsneigung des Kopfes (nach der anderen Seite) eben noch vor\u00fcbergehend vertikal sah. F\u00fcr einen anderen Beobachter betrug die Ablenkung etwa 7\u201410\u00b0.\nBesonders auffallend wird die Bewegung der Linie dann, wenn man den Kopf (sammt dem oberen Theile des Rumpfes) langsam pendelnd bald nach rechts, bald nach links neigt; die Lichtlinie macht diese Bewegungen in verkleinertem Maassstabe mit.\nHalte ich nach einer Seitw\u00e4rtsneigung des Kopfes um etwa 30\u00b0 in dieser Lage still, so wird die Linie in der Regel alsbald wieder vertikal, bald so langsam und unmerklich, dass man nicht den Eindruck einer Drehung hat, bald auch schneller (innerhalb eines Bruchtheiles einer Sekunde), unter deutlicher Drehbewegung. Selten bleibt der Eindruck der schiefen Lage mehrere Sekunden bestehen.\nNeige ich, nachdem die Linie trotz schiefer Kopfhaltung wieder vertikal geworden ist, den Kopf noch etwas weiter, so macht sie abermals einen Ausschlag im Sinne meiner Kopfbewegung.\nUmgekehrt, wenn ich gleich anfangs den Kopf um etwa 60\u00b0, nach links beispielsweise, geneigt habe, und die Linie wieder vertikal erscheint, kann ich durch ruckweises Aufrichten aus der geneigten Stellung der Linie mehrmalige Ausschl\u00e4ge von den Vertikalen, mit dem oberen Ende nach rechts hin, ertheilen (je etwa 5\u20147\u00b0).\nAlle die genannten Scheinbewegungen, welche durch Kopfbewegungen erzeugt werden, treten auch ein, wenn die beobachtete Lichtlinie in einer horizontalen Ebene sich befindet, auf welche man von oben, stehend mit auf die Brust gesenktem Kopfe, oder auf einem hohen Tische in Bauchlage liegend, hinab-","page":382},{"file":"p0383.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber das Aubert' sehe Ph\u00e4nomen und verwandte T\u00e4uschungen etc, 383\nblickt. Die Ebene des Gesichts ist dann ebenfalls horizontal und Drehung des Kopfes in dieser Ebene bei feststehendem Rumpfe l\u00e4sst die entsprechenden Scheinbewegungen deutlich auftreten. Ein Analogon des Aubert5sehen Ph\u00e4nomens, eine dauernde T\u00e4uschung \u00fcber die Lage der Linie, tritt in diesem Falle nicht ein.\nSehr auffallend ist es, dass nicht alle zu derartigen Beobachtungen \u00fcberhaupt geeigneten Personen die Scheinbewegungen im gleichen Sinne wahrnehmen, gleichgerichtet mit den Kopfbewegungen, sondern zum Theil entgegengesetzt. Es scheinen diejenigen, welche die Erscheinung so sehen, wie ich es oben beschrieben habe, in der Minderheit zu sein, ich habe unter 19 untersuchten Personen nur 8 gefunden, deren Angaben mit dem stimmte, was ich sah.1\nDie \u00fcbrigen sehen die Lichtlinie entweder stets im umgekehrten Sinne der Kopfneigung von der scheinbaren Vertikalen abweichen, was wiederum bei einer langsamen Pendelbewegung des Kopfes am deutlichsten wird, oder sie sehen die Scheinbewegung der Kopfbewegung bald gleichgerichtet, bald entgegengesetzt (letzteres fand ich in 3 F\u00e4llen). Mehrere Beobachter haben mir angegeben, die Linie bewege sich nicht ganz gleichzeitig mit dem Kopfe, sondern folge diesem etwas nach, ge-wissermaassen wie eine tr\u00e4ge Masse. Auch bewegte sich dieselbe* wenn der Kopf in geneigter Haltung stillgehalten wurde, noch etwas weiter in der eingeschlagenen Richtung, um dann bei der Mehrzahl der Beobachter in m\u00e4ssig geneigter Lage stehen zu bleiben, oder aber (seltener) sich allm\u00e4hlich wieder vertikal zu stellen. Es ergiebt sich schon hieraus,- dass, namentlich f\u00fcr die Ersteren, das AuBERT\u2019sche Ph\u00e4nomen sich anders darstellen muss, als f\u00fcr mich, der ich bei kleinen Neigungen des Kopfes ein Mitgehen der Linie erhalte, nach Anhalten des Kopfes R\u00fcckgang der Linie zur Vertikalen, bei st\u00e4rkeren Neigungen (\u00fcber 60\u00b0) ein pl\u00f6tzliches Umschlagen der Schiefheit nach der entgegengesetzten Richtung, mit sehr erheblicher Abweichung von den scheinbaren Vertikalen. F\u00fcr die Beobachter der zweiten\n1 Bei diesen Versuchen wurde sorgf\u00e4ltigst jeder suggestive Einfluss vermieden, die Beobachter wussten nicht, wie ich die Erscheinung sah. ITebrigens ist der Eindruck der Scheinbewegungen, ebenso wie derjenige der AuBEET\u2019schen T\u00e4uschung ein so zwingender, dass jeder Beobachter sofort sein bestimmtes Urtheil nbgeben kann.","page":383},{"file":"p0384.txt","language":"de","ocr_de":"384\nWilibald A. Nagel.\nKategorie aber stellt sich die Linie (wie f\u00fcr Aubert) schon bei geringen Neigungen des Kopfes schief im entgegengesetzten Sinne ein, und bei st\u00e4rkeren Neigungen nimmt die Schiefheit nur successive zu. Auch hier fehlen aber die erw\u00e4hnten unerkl\u00e4rlichen Unregelm\u00e4ssigkeiten in der Einstellung nicht. Der Hauptunterschied ist, dass die w\u00e4hrend der Bewegung eintretende T\u00e4uschung \u00fcber die Lage der Linie im gleichen Sinne erfolgt, wie bei festgehaltener Kopfneigung um 90\u00b0, bei mir aber im umgekehrten Sinne.\nEine der Versuchspersonen der zweiten Kategorie habe ich auch die oben beschriebene Beobachtung an der horizontalen Linie bei auf die Brust gesenktem Kopfe ausf\u00fchren lassen ; auch hierbei trat eine der Kopfdrehung entgegengesetzte Drehung der Linie ein. In R\u00fccksicht auf unten zu besprechende Beziehungen zwischen derartigen T\u00e4uschungen und reflektorischen Augen-bewegungen erinnere ich schon hier daran, dass bei der Ausf\u00fchrung der eben genannten Bewegung Raddrehungen der Augen im umgekehrten Sinn der Kopfdrehung erfolgen (Breuer).\nIn letzter Linie habe ich noch Beobachtungen anzuf\u00fchren, welche das Eintreten von Scheinbewegungen der Vertikalen bei galvanischer Durchstr\u00f6mung des Hinterkopfes betreffen.\nDer Strom von 7 bis 8 hinter einander geschalteten kleinen Elementen (von etwa 1 Volt Spannung) wurde durch knopff\u00f6rmige feuchte Elektroden in der Fossa mastoidea beiderseits zugeleitet. Diese Str\u00f6me erzeugen bei mir kaum merklichen Schwindel, ganz schwaches Gef\u00fchl von Sinken nach der Kathode, keine objektiv erkennbaren Reflexbewegungen gegen die Anode hin, jedoch bald ziemlich heftige Uebelkeit und Brechneigung, letztere Symptome oft stundenlang anhaltend.\nIm Moment des Stromschlusses macht die Lichtlinie einen deutlichen Ausschlag mit ihrem oberen Ende nach der Kathodenseite, durchschnittlich bei den verwendeten Stromst\u00e4rken etwa 7\u00b0. Solange der Strom geschlossen ist, wird die Linie nicht wieder vertikal, sie erscheint vielmehr in andauernder Drehbewegung mit ihrem oberen Ende gegen die Kathode hin. Auch hier gilt der paradoxe Satz, wie oben f\u00fcr gewisse spontane Scheinbewegungen, dass trotz dieser fortdauernden Drehbewegung die Linie sich nicht merklich weiter von der vertikalen Lage ent-","page":384},{"file":"p0385.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber das Aubert'sehe Ph\u00e4nomen und verwandte T\u00e4uschungen etc. 385\nfern! Ueber eine Viertelminute habe ich den Versuch der unangenehmen Nebenwirkungen wegen nicht ausgedehnt.\nNach Oeffnung des Stromes geht die Linie alsbald zur Vertikalen zur\u00fcck, unter deutlich sichtbarer Bewegung.\nEin Vertreter derjenigen Kategorie von Beobachtern, welche bei Kopfneigung die Scheinbewegung der Linie in entgegengesetztem Sinne erfolgen sehen, Herr Privatdozent Dr. Baas, beobachtet die gleichen Erfolge der galvanischen Neigung, nur bedurfte es f\u00fcr ihn eines schw\u00e4cheren Stromes, als f\u00fcr mich (4 Elemente gegen 7\u20148 bei mir).\nWenn ich in horizontaler K\u00fcckenlage durch das erw\u00e4hnte enge Diaphragma eine an der Zimmerdecke sichtbare grade Linie betrachte und nun den galvanischen Keizversuch ausf\u00fchre, beginnt die Linie alsbald zu rotiren, das dem Kopf zugekehrte Ende gegen die Kathode zu. Die Rotation dauert fort, solange der Strom geschlossen ist, und f\u00fchrt schliesslich zu dem Eindruck, dass die Linie , die in Wirklichkeit meiner K\u00f6rperl\u00e4ngsachse parallel ist, gegen diese um etwa 90\u00b0 verdreht ist. Nach Strom\u00f6ffnung bleibt sie einige Sekunden in dieser Lage und beginnt dann eine deutliche Drehbewegung im umgekehrten Sinne, welche sie bis zu ihrer wahren Lage (parallel dem K\u00f6rper) hinf\u00fchrt, dann aber noch betr\u00e4chtlich \u00fcber diese hinaus nach der anderen Seite. Nach etwa 45 Sekunden ist das Maximum dieses Ausschlages erreicht und nun erscheint die Linie ganz unvermittelt und pl\u00f6tzlich wieder in ihrer wahren Lage.\nIch habe diesen Versuch wegen seiner unangenehmen Nachwirkung und weil er wenig Aufkl\u00e4rendes versprach, nur wenige Male ausgef\u00fchrt.\nZu erw\u00e4hnen ist noch, dass ich bei der galvanischen Durchstr\u00f6mung des Hinterkopfes an meinen eigenen Augen eine objektive Raddrehung nicht feststellen konnte, weder bei Beobachtung im Hohlspiegel noch mittelst der Methode des blinden Fleckes. Doch muss dies an der Unsicherheit der Beobachtung w\u00e4hrend der Reizung liegen, denn Herr Geh. Hofrath v. Kries konnte bei Lupenbeobachtung Raddrehungen meiner Augen allerdings von geringem Grade erkennen, welche in dem zu erwartenden Sinne erfolgten, das obere Ende des vertikalen Meridians neigte sich gegen die Kathode hin.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XVI.\n25","page":385},{"file":"p0386.txt","language":"de","ocr_de":"386\nWilibald A. Nagel.\nSoviel \u00fcber das rein Thats\u00e4chliche der Beobachtungen. Ich wende mich nun zu ihrer Diskussion, speziell zu der Frage nach den Beziehungen der erw\u00e4hnten T\u00e4uschungen zu den kompensatorischen Kaddrehungen der Augen und den Labyrinthfunktionen.\nAusgangspunkt der vorliegenden Untersuchungen war die Ueberlegung, welchen Zweck oder Nutzen die kompensatorischen Raddrehungen des menschlichen Auges haben k\u00f6nnten, deren Existenz ich k\u00fcrzlich gegen\u00fcber der Negirung von Seiten zweier franz\u00f6sischer Autoren, Conte jean und Delmas 1 nachgewiesen habe. Wenngleich nun die Beobachtungen \u00fcber das AuBE\u00dfT\u2019sche Ph\u00e4nomen nicht nur keine teleologische Erkl\u00e4rung der kompensatorischen Bewegungen beim Menschen ergeben, sondern, wie unten zu zeigen sein wird, dieselben eher als unn\u00fctz, wo nicht st\u00f6rend darstellen, m\u00f6chte ich es doch nicht unterlassen, die Bedeutung der Kompensationsbewegungen f\u00fcr die Orientirung im Raum, wie sie sich aus vergleichendphysiologischen Beobachtungen vermuthen l\u00e4sst, mit ein paar Worten zu besprechen. Der n\u00e4chst liegende Gedanke ist ja wohl der, dass durch Raddrehungen und die bei vielen Thieren sich neben diesen vollziehenden kompensatorischen Bewegungen des Kopfes die Verschiebung des Bildes der umgebenden Objekte auf der Retina bei aktiven oder passiven K\u00f6rperbewegungen entweder ganz verhindert, oder mindestens verringert oder verlangsamt werden soll.\nDie Thierbeobachtungen sind dieser Annahme grossentheils g\u00fcnstig. Ich st\u00fctze mich dabei auf Versuche, \u00fcber welche ich z. T. schon berichtet habe, welche ich aber nach jener Publikation noch fortgesetzt habe. Es geht aus ihnen hervor, dass bei\n1 Oh. Conte jean et A. Delmas, Sur le \u201emouvement de roue\u201c du globe oculaire se produisant pendant l\u2019inclination lat\u00e9rale de la t\u00eate. In : Arch, de physiol. 5me s\u00e9r. 6. S. 687. 1894.\nAuch. M. E. Mulder hat abermals die Existenz der Raddrehungen nachgewiesen, und die von mir verwendete Methode vereinfacht und verbessert. (M. E. Mulder, De la rotation compensatoire de l\u2019oeil en cas d\u2019inclination \u00e0 droite ou \u00e0 gauche de la t\u00eate. In: Arch, d'ophihalm. t. XVII. August 1897. B. 465\u2014470.)\nMeine Beobachtungen \u201e\u00fcber kompensatorische Raddrehungen der Augen\u201c stehen in Zeitschr. f. Psychol, u. Physiol, der Sinnesorgane, Bd. 12, 1896, S. 331\u2014354.","page":386},{"file":"p0387.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber das Aubert'sehe Ph\u00e4nomen und verwandte T\u00e4uschungen ete. 387\nmanchen Thieren aktive und passive Kopfbewegungen in sagittaler Ebene, sofern sie sich nicht weit von der gew\u00f6hnlich eingehaltenen Kopfstellung entfernen, durch entgegengesetzt gerichtete Raddrehungen der Augen v\u00f6llig kompensirt werden k\u00f6nnen, so dass der Netzhauthorizont seine Orientirung gegen die Vertikale nicht \u00e4ndert. So pflegen Kaninchen und Meerschweinchen (und wahrscheinlich alle Nager) passive Kopfbewegungen, die von der gew\u00f6hnlichen Kopfhaltung ausgehend, den Kopf um die transversale Achse um 30\u00b0 nach oben oder unten drehen, allein durch Rollung der Bulbi vollkommen zu kompensiren, und zwar dauernd, d. h. die Augen bleiben in dieser neuen Lage stehen, solange die abnorme Kopflage dauert. Noch gr\u00f6ssere Drehungen werden wenigstens vor\u00fcbergehend kompensirt, falls sie rasch erfolgen, das Auge rotirt dann aber wieder etwas zur\u00fcck, so dass nur ein (allerdings ansehnlicher) Bruchtheil, der passiven Drehung dauernd kompensirt bleibt. Erfolgt die Drehung langsam, so wird die Kompensation von etwa 30\u00b0 an unvollkommen; dies sind dann aber schon Kopfhaltungen, die von dem Thiere normaler Weise h\u00f6chstens vor\u00fcbergehend eingenommen werden d\u00fcrften.\nFr\u00f6sche, Kr\u00f6ten, Salamander, Molche, Eidechsen, Blindschleichen, Schlangen und V\u00f6gel kompensiren zwar passive Kopfdrehungen nur unvollkommen durch Raddrehungen, dagegen tritt bei ihnen das Bestreben in den Vordergrund, bei abnormen K\u00f6rperlagen durch kompensatorische Kopf be wegungen den Netzhauthorizont horizontal zu erhalten. Passive Bewegungen, welche die L\u00e4ngsachse des Thieres um etwa 20\u201430\u00b0 gegen die gew\u00f6hnliche Haltung in einem oder dem anderen Sinne drehen, werden durch die Kopf- und Augenbewegungen zusammen bei allen den genannten Thieren in der Regel vollst\u00e4ndig kompensirt, bei Blindschleichen, Schlangen und V\u00f6geln sogar noch gr\u00f6ssere Drehungen. Die gr\u00f6ssten kompensatorischen Kopfbewegungen machen die V\u00f6gel, wie ich es beispielsweise von einer Eule beschrieben habe, welche passive K\u00f6rperbewegungen um 180\u00b0 durch starke Biegung der Halswirbels\u00e4ule v\u00f6llig ausgleicht, so dass der Kopf in seiner normalen Orientirung gegen die Vertikale bleibt. Auch Tauben und Singv\u00f6gel kompensiren stark, wenn auch nicht immer in diesem Maasse. Daf\u00fcr machen aber bei ihnen die Augen kompensatorische Raddrehungen (bei der\nEule nicht), welche wie bei Reptilien nicht von dauerndem Be-\n25*","page":387},{"file":"p0388.txt","language":"de","ocr_de":"388\nWilibald A. Nagel.\nStande sind, sondern im Laufe einer halben oder ganzen Minute ruckweise wieder r\u00fcckg\u00e4ngig gemacht werden.\nAlles in Allem wird man sagen k\u00f6nnen, diese Thierbeobachtungen legen den Gedanken nahe, dass die reflektorischen Kompensationsbewegungen dem Thiere von Nutzen sein m\u00fcssen, indem sie hei seinen Bewegungen den Netzhauthorizont m\u00f6glichst horizontal erhalten und dadurch die Orientirung im Baume beg\u00fcnstigen. Es liesse sich manches f\u00fcr und wieder diese Anschauung sagen, worauf ich hier nicht eingehen will; jedenfalls liegen f\u00fcr den Fall des Menschen und der h\u00f6heren S\u00e4ugethiere mit theilweise gemeinschaftlichem Gesichtsfeld beider Augen (\u2014 Hund, Katze, Igel habe ich untersucht \u2014) die Verh\u00e4ltnisse weit komplizirter. Hier sind die Baddrehungen von so geringem Betrage, dass stets nur der kleinere Theil der Kopfneigung kompensirt wird.\nMan k\u00f6nnte nun freilich sagen, es sei wohl schon von Vortheil, wenn die Verschiebung der Bilder auf der Netzhaut nur etwas verringert und namentlich verlangsamt w\u00fcrde; auch ist ja schon angenommen worden, es k\u00f6nnte das Muskelgef\u00fchl der Augenmuskeln r\u00fcckl\u00e4ufig die reflektorisch ausgel\u00f6ste Augenbewegung zur Beurtheilung der Lage des Kopfes verwerthen lassen. Alle derartigen Vermuthungen erscheinen mir jedoch hinf\u00e4llig im Hinblick auf das Ph\u00e4nomen Aubert\u2019s : Der Gesichtssinn wird bei schiefer Kopfhaltung \u00fcber die Lage des Netzhauthorizontes stark desorientirt und get\u00e4uscht, wenn ihm das komplizirte H\u00fclfsmittel entzogen wird, welches in der Wahrnehmung von Objekten mit durch Erfahrung bekannter Lage im Baum liegt. Die Baddrehungen erf\u00fcllen also die Aufgabe nicht, die man ihnen an und f\u00fcr sich als die wahrscheinlichste zuschreiben m\u00f6chte, sie lassen eine grobe T\u00e4uschung zu, ja sie veranlassen dieselbe vielleicht geradezu.\nEs wird hiernach keine andere Auflassung der kompensatorischen Baddrehungen des menschlichen Auges \u00fcbrig bleiben, als die, dass in ihnen ein gewissermaassen rudiment\u00e4rer Beflex, ohne eigentlichen Nutzen f\u00fcr den Organismus, zu sehen sei.\nAuf der anderen Seite ist es dagegen m\u00f6glich, ja sogar wahrscheinlich, dass die kompensatorischen Baddrehungen bei dem Zustandekommen der Aubert\u2019sehen T\u00e4uschung urs\u00e4chlich be-","page":388},{"file":"p0389.txt","language":"de","ocr_de":"U eher das Aubert' sehe Ph\u00e4nomen und verwandte T\u00e4uschungen etc. 389\ntheiligt sind. Exner 1 hat k\u00fcrzlich darauf hingewiesen, wie unsicher unser Urtheil \u00fcber die Lage der Blicklinie zum Kopfe ist (\u2014 w\u00e4hrend die Beurtheilung der gegenseitigen Lagebeziehungen zwischen den einzelnen Punkten des Gesichtsfeldes eine relativ vollkommene ist \u2014). Exner verwerthet diese Thatsache bei der Erkl\u00e4rung der von Charpentier zuerst eingehend beschriebenen autokinetischen Empfindungen\u201c, einer Erscheinung, die mir zu den hier besprochenen Sinnest\u00e4uschungen in mehrfacher Hinsicht nahe Beziehungen zu haben scheint.1 2 Kleine, aus anderen hier nicht hergeh\u00f6rigen Ursachen entstehende Scheinbewegungen eines Lichtpunktes im sonst dunklen Raume k\u00f6nnen nach Exner\u2019s Beobachtungen (die ich \u00fcbrigens best\u00e4tigen kann) \u00ebinen auffallend grossen Betrag dadurch erhalten, dass man \u00fcber die Lage der Blicklinie sehr unsicher ist und leicht in die T\u00e4uschung verf\u00e4llt, man folge dem sich bewegenden Punkte fortw\u00e4hrend mit dem Blicke.\nIm Falle der ExxER\u2019schen Beobachtungen handelt es sich um ein falsches Urtheil hinsichtlich der Hebung und Seitenwendung der Blicklinie, und wenn wir uns schon \u00fcber den Kontraktionszustand der Augenmuskeln bei derartigen willk\u00fcrlich ausf\u00fchrbaren Bewegungen des Augapfels um eine beliebige Achse so wenig klar sind, und solchen starken T\u00e4uschungen unterliegen, so wird dies noch in weit h\u00f6herem Grade f\u00fcr den Kontraktionszustand derjenigen Augenmuskeln gelten, welche die unbewusste und unwillk\u00fcrliche Raddrehung der Bulbi um die Blicklinie bewirken. Die reflektorische Raddrehung wird das Urtheil geradezu verwirren k\u00f6nnen. Wie sich diese Verwirrung \u00e4ussern wird, in welchem Sinne die Scheinbewegung der Objekte bei abnormer Orientirung des Bulbus um die Sehachse erfolgen wird, l\u00e4sst sich a priori nicht sagen, \u2014 die Beobachtung zeigt, dass sie in beiderlei\n1\tS. Exner, Ueber autokinetische Empfindungen. Zeitschr. f. Psychol, u. Physiol, der Sinnesorgane, Bd. 12, 1896, S. 313\u2014330.\n2\tDie Art, wie die schief erscheinende Linie heim AuBERT\u2019schen Ph\u00e4nomen sich w\u00e4hrend l\u00e4ngerer Betrachtung zu bewegen scheint, sich bald fortw\u00e4hrend aufrichtet, bald auch scheinbar immer mehr sich neigt, ohne dass man doch einen \u201eErfolg\u201c dieser Bewegung sieht (wie oben beschrieben), erinnert besonders stark an das eigenth\u00fcmliche Schweben des isolirten Lichtpunktes im ExNER\u2019schen Versuche. Auch die Geschwindigkeit der beiden Bewegungen erscheint f\u00fcr mich sehr \u00e4hnlich.","page":389},{"file":"p0390.txt","language":"de","ocr_de":"390\nWilibald A. Nagel.\nSinn erfolgen kann, bei verschiedenen Individuen und selbst bei den gleichen Individuen zu verschiedenen Zeiten wechseln kann.\nSicher ist, dass das Aubert\u2019sehe Ph\u00e4nomen eine T\u00e4uschung nicht \u00fcber die Lage des K\u00f6rpers im Ganzen, sondern des Netzhauthorizontes darstellt. Massgebend f\u00fcr den Eintritt der T\u00e4uschung ist ausschliesslich die Haltung des Kopfes; steht dieser vertikal,' so kann man dem Rumpfe beliebige Neigungen gegen die Vertikale geben, ohne dass je eine Andeutung des Ph\u00e4nomens eintr\u00e4te.\nAus den Untersuchungen von Delage 1 und Breuer 2 weiss man, dass, neben der AuBERpschen T\u00e4uschung im Gebiete des Gesichtssinnes, noch T\u00e4uschungen von anderer Art \u00fcber die Lage im Raume bestehen, T\u00e4uschungen, die sich auf die Lage des K\u00f6rpers als eines Ganzen beziehen, und von entgegengesetztem Vorzeichen sind, wie die Gesichtst\u00e4uschung. Legt man sich auf ein um eine horizontale Achse drehbares Brett in Seitenlage, so werden die Neigungen des Brettes gegen die Vertikale bei geschlossenen Augen oder im dunklen Raume bekanntlich unrichtig beurtheilt. Namentlich bei Neigungen des Brettes (und der K\u00f6rperachse) um mehr als 60 0 gegen die Vertikale sind die T\u00e4uschungen sehr deutlich, man taxirt in diesem Falle die Neigungen wenigstens vor\u00fcbergehend weit gr\u00f6sser, als sie wirklich sind. Auf die Frage, welche Nervenendapparate beim Zustandekommen dieser Empfindungen und dieser T\u00e4uschungen beteiligt sind, will ich hier nicht n\u00e4her eingehen, ich habe jedoch den Eindruck, dass neben etwaigen Lageempfindungen durch das Labyrinth (die mir fraglich sind), sicher gewisse schwer zu definirende und schwer zu lokalisirende Eindr\u00fccke von den verschiedensten K\u00f6rpertheilen hierbei im Spiele sind (da die T\u00e4uschung von der Lage des Kopfes ziemlich unabh\u00e4ngig ist).\nSuche ich, nach dem Muster der Versuche Delages, durch einen in der Hand gehaltenen Stab die scheinbare Lage der Vertikalen zu markiren, w\u00e4hrend ich bei geschlossenen Augen auf dem um 70\u201480\u00b0 geneigten Zapfenbrette liege, so halte ich den Stab schief im umgekehrten Sinne der Neigung des Brettes (Ausdruck der Uebersch\u00e4tzung der Neigung).\n1\ta. ob. 0.\n2\tJ. Breuer, Ueber die Funktion der Otolithen-Apparate. Pfl\u00fcger's Arch. f. d. ges. Physiol., Bd. 48, 1891, S. 195\u2014306.","page":390},{"file":"p0391.txt","language":"de","ocr_de":"lieber das Aubert'sehe Ph\u00e4nomen und verwandte T\u00e4uschungen etc. 391\nNun kann ich aber den Versuch mit dem Aubert\u2019sehen kombiniren, ich kann die Augen \u00f6ffnen und eine (im dunklen Zimmer isolirt sichtbare) Lichtlinie betrachten, und nun diese in die scheinbare Vertikale einstellen, so wie sich diese f\u00fcr meinen Gesichtssinn darstellt.\nNach den oben mitgetheilten Versuchen ergiebt sich, dass ich dieser Lichtlinie eine Neigung ertheile, die von der wahren Vertikalen in gleichem Sinne ahweicht, wie das Brett und mit ihm meine K\u00f6rperachse (Ausdruck der Untersch\u00e4tzung der N e i g u n g).\nTrotzdem ich die Lichtlinie so einstelle, habe ich gleichwohl den zwingenden Eindruck, schiefer zu liegen, als es thats\u00e4chlich der Fall ist.\nBei der Beurtheilung dieser Versuche ist zu bedenken, dass w\u00e4hrend der Seitenlage der Netzhauthorizont gegen die Hauptebenen des Kopfes verlagert ist, verglichen mit seiner Lage bei aufrechter Kopfhaltung. Aber der Betrag dieser dauernden Rad-drehung ist, wie aus meiner fr\u00fcheren Mittheilung hervorgeht, erheblich kleiner als derjenige der Scheinbewegung der Aubert-schen Lichtlinie, ist ausserdem f\u00fcr eine bestimmte Kopfneigung konstant, was f\u00fcr das Aubert\u2019sehe Ph\u00e4nomen ja gar nicht der Fall ist. Jedenfalls kann also die Raddrehung nicht zu einer direkten, einfachen Erkl\u00e4rung des Aubert\u2019sehen Ph\u00e4nomens herangezogen werden, sondern nur in der oben genannten indirekten Weise, indem sie das an sich schon unsichere Urtheil \u00fcber die Spannungsverh\u00e4ltnisse der Augenmuskeln desorientirt.\nDie fr\u00fcher von Aubert gegebene Erkl\u00e4rung, dass man die vorgenommene Neigung des Kopfes rasch vergessen und nicht mehr zur Beurtheilung des Gesehenen in Rechnung ziehe, ist deshalb unzul\u00e4ssig, weil, wie gesagt, dem falschen Urtheil \u00fcber die Lage der Lichtlinie das im umgekehrten Sinne falsche Urtheil gegen\u00fcbersteht, welches aus den allgemeinen Lageempfindungen hergeleitet wird. Das Aubert\u2019sehe Ph\u00e4nomen muss durch die Augenmuskeln, bezw. die unbewuisste Vorstellung, die man sich \u00fcber deren Spannungszustand macht, hervorgerufen sein.\nSehr wichtig f\u00fcr die Aufkl\u00e4rung dieses etwas verwickelten Problems w\u00fcrde, wie ich glaube, die Untersuchung eines Falles von totaler L\u00e4hmung der \u00e4usseren Augenmuskeln an einem der beiden Augen sein. Auch die Feststellung der Thatsache, wie ein Patient mit einseitiger isolirter Trochlearisl\u00e4hmung das Ph\u00e4-","page":391},{"file":"p0392.txt","language":"de","ocr_de":"392\nWilibald A. Nagel.\niiomen sieht, w\u00e4re von Interesse. Leider habe ich bis jetzt weder einen Fall der einen noch der anderen Art zur Untersuchung bekommen k\u00f6nnen.\nAls entferntere Ursache des AuBERT\u2019schen Ph\u00e4nomens und der oben besprochenen verwandten T\u00e4uschungen ist die Labyrintherregung 1 zu betrachten, wobei es zun\u00e4chst dahin gestellt bleiben mag, ob man mehr an die Bogeng\u00e4nge oder an die Otolithen-apparate denken will. Untersuchungen an geeignetem Materiale von Taubstummen w\u00e4ren hier sehr w\u00fcnschenswerth. Ist meine Anschauung \u00fcber die Entstehung des Aubert\u2019sehen Ph\u00e4nomens richtig, so ist zu erwarten, dass bei derartigen Kranken, sofern sie Labyrinthdefekte haben, mit dem Fehlen der kompensatorischen Raddrehungen auch Abnormit\u00e4ten in der Wahr-nehmung der T\u00e4uschungen, die ich oben besprach, einhergehen, und zwar sowohl der Laget\u00e4uschung, wie auch der Scheinbewegungen.\nEinige andere Umst\u00e4nde, die man f\u00fcr das Zustandekommen des AuBERT'schen Ph\u00e4nomens oder mindestens f\u00fcr dessen Inkonstanz verantwortlich zu machen geneigt sein k\u00f6nnte, lassen sich mit Sicherheit ausschliessen.\nSchon aus Aubert\u2019s Mittheilungen geht hervor, dass ent-\n1 Dass die kompensatorischen Augen- und Kopfbewegungen hei Mensch und Thier vom Labyrinth abh\u00e4ngig sind, kann trotz des erneuten Widerspruchs von v. Cyon (Arch. f. Physiol. 1897, S. 29\u2014111) f\u00fcr sicher gelten. Es ist seit lange bekannt, dass sie auch bei blinden Thieren eintreten ; ich habe mich davon \u00f6fters \u00fcberzeugt, sowie auch davon, dass diese Augenbewegungen in gleicher Weise eintreten, wenn man bei einem nicht geblendeten Thiere durch geeignete Versuchsanordnung bewirkt, dass sich die Objekte, welche in das Gesichtsfeld des Thieres fallen, dessen passive Drehung mitmachen. Man braucht das Thier nur in einen Kasten mit kleinem seitlichen Beobachtungsloch zu setzen. Dass v. Cyon, der, um die grausame Blendung des Frosches zu vermeiden, diesem eine Lederkappe \u00fcber den Kopf zog, nun die kompensatorischen Kopfbewegungen fehlen sah, beweist nicht, dass diese Bewegungen sonst vom Auge ausgel\u00f6st werden. Wenn man einem nicht geblendeten Frosch ein Bein fest umschn\u00fcrt, bleiben oft die kompensatorischen Kopfbewegungen aus, wie andere Behexe auch. Beim geblendeten und sonst nicht weiter durch sensible Beize irritirten Frosch treten die kompensatorischen Kopfbewegungen ganz prompt ein, ebenso bei Eidechsen und Blindschleichen, deren Augen mit Wachs \u00fcberklebt sind. v. Cyon scheint freilich die Kompensationen der Lage, welche die Bewegung \u00fcberdauern, gar nicht zu kennen, sondern nur die Beaktionen auf der Drehscheibe.","page":392},{"file":"p0393.txt","language":"de","ocr_de":"lieber das Aubert'sche Ph\u00e4nomen und verwandte T\u00e4uschungen etc. 393\nscheidend f\u00fcr die Entstehung seiner T\u00e4uschung die Lage des Kopfes gegen die Vertikale ist, nicht aber die Lage des \u00fcbrigen K\u00f6rpers oder die Lage des Kopfes in Beziehung zum Rumpfe. Es bestand nun noch die M\u00f6glichkeit, dass der so sehr wechselnde Grad von Neigung, den die Lichtlinie im Aubert-schen Versuche erleidet, durch Nebenumst\u00e4nde bedingt sei, durch die gr\u00f6ssere oder geringere Unbequemlichkeit, die mit der schiefen K\u00f6rperlage verbunden ist, je nach der Art, wie diese eingenommen wird, oder durch den wechselnden Spannungsgrad der seitlichen Muskeln des Halses und Rumpfes.\nEinen Hinweis auf derartige Einfl\u00fcsse k\u00f6nnte man in der Thatsache sehen, dass das Aubert\u2019sehe Ph\u00e4nomen in besonders ausgepr\u00e4gter Weise eintritt, wenn man l\u00e4ngere Zeit ruhig vor der zu beobachtenden Lichtlinie sitzt, den Ellenbogen auf den Stuhlrand st\u00fctzt und nun den Kopf, seitw\u00e4rts geneigt, in die hohle Hand legt; die T\u00e4uschung tritt dann oft deutlicher auf, als wenn man den Kopf ununterst\u00fctzt zur Seite neigt. Mulder fand die T\u00e4uschung bei bequemer Seitenlage besonders deutlich.\nAndererseits ist es nicht uninteressant, dass die gleiche Neigung, das eine Mal nach rechts, das andere Mal nach links ausgef\u00fchrt, f\u00fcr manche Beobachter (auch f\u00fcr mich) das Aubert -sche Ph\u00e4nomen und namentlich auch die vor\u00fcbergehenden Scheinbewegungen bei Linksneigung deutlicher auftreten l\u00e4sst, d. h. mit weit gr\u00f6sserer scheinbarer Neigung der Vertikale. Mehrere der Herren, die auf meine Bitte diese Versuche ausf\u00fchrten, haben mir das spontan angegeben. Den Grund dieser Thatsache konnte ich nicht feststellen. Die Vermuthung, es k\u00f6nne das daher kommen, dass die meisten Menschen, wenn sie einen Gegenstand mit schiefem Kopf betrachten wollen, sich hierzu aus Gewohnheit eher nach rechts als nach links neigen (was ich auch bei meinen Versuchspersonen konstatiren konnte), wurde mir bald dadurch widerlegt, dass die Erscheinung auch f\u00fcr meinen Bruder Dr. 0. Nagel zutrifft, der sich aber in solchem Falle stets nach links neigt.\nSpezielle Versuche habe ich noch dar\u00fcber angestellt, oh Widerst\u00e4nde, die sich der Seitw\u00e4rtsneigung entgegensetzen, das Auftreten des Au\u00dfERT\u2019schen Ph\u00e4nomens beeinflussen. Ich liess starken Gewdchtszug seitlich am Kopfe wirken, oder brachte die Halsmuskulatur der einen Seite durch Induktionsstr\u00f6me zur Kontraktion. Am Ausfall des Versuches \u00e4ndert das nichts. Aehn*","page":393},{"file":"p0394.txt","language":"de","ocr_de":"394\nWilibald A. Nagel\nliehes berichtet \u00fcbrigens Del\u00e0 ge von seinen Versuchen \u00fcber Orientirungsst\u00f6rung bei seitlicher Wendung des Kopfes.\nOb bei dem Einnehmen der seitlich geneigten Kopfhaltung die Blicklinie im Verh\u00e4ltniss zu den Ebenen des Kopfes streng feststeht oder nicht, ist f\u00fcr das Zustandekommen des Aubert-schen Ph\u00e4nomens ohne Bedeutung, was nicht \u00fcberraschen kann, da ja auch die kompensatorischen Bulbusrollungen nicht nur bei fixirter Blickrichtung eintreten. Den Versuch f\u00fchrte ich so aus, dass ich, wie oben beschrieben, durch ein enges Diaphragma sah, und zwar nach einer Kartonscheibe, welche senkrecht auf einem Zahnbrettchen stand, parallel meiner Gesichtsebene und in deutlicher Sehweite. An dieser Kartonscheibe war, als einziges scharf sichtbares Objekt im Gesichtsfeld, ein dunkler schmaler Kartonstreifen pendelnd aufgeh\u00e4ngt, so dass er sich jederzeit von selbst in die Vertikale einstellte, wie auch das Zahnbrettchen durch Seitw\u00e4rtsneigung des Kopfes geneigt wurde. Durch das Diaphragma konnte ich den Aufh\u00e4ngepunkt des pendelnden Streifens fhdren. Neigte ich nun den Kopf stark seitw\u00e4rts, so zeigte sich, trotz strenger Feststellung der Blicklinie, das Aubert-sche Ph\u00e4nomen deutlich an dem Streifen.1\nSchwieriger noch als f\u00fcr das Aubert\u2019sehe Ph\u00e4nomen ist die Erkl\u00e4rung f\u00fcr die Scheinbewegungen, welche an der gesehenen Lichtlinie w\u00e4hrend der Kopfbewegungen wahrgenommen werden. W\u00e4hrend ersteres f\u00fcr alle meine Versuchspersonen im gleichen Sinne auftrat (das umgekehrte Verhalten, von Mulder beobachtet, also selten zu sein scheint), erfolgten die\n1 Eine andere einfache Vorrichtung, welche zugleich sehr geeignet zur bequemen Demonstration des AuBERT\u2019schen Ph\u00e4nomens ist, ist folgende. Ein 30 cm langes, 5 cm weites Papprohr wurde an einem Ende so zugeschnitten, dass ich es vor ein Auge setzen kann, ohne dass erhebliches Seitenlicht einf\u00e4llt. Das andere Ende ist durch eine drehbar aufgesetzte undurchsichtige Scheibe verschlossen, in welche ein 1 mm breiter, mit transparentem Papier \u00fcberklebter Spalt eingeschnitten ist. Wenn ich einen bestimmten Punkt dieses von innen hell erscheinenden Spaltes fixire, ist meine Blicklinie gen\u00fcgend festgelegt. Biege ich mich jetzt, w\u00e4hrend ich das Rohr vor das eine Auge halte, und das andere Auge schliesse, seitw\u00e4rts und stelle den Spalt durch Drehung der Scheibe so ein, dass er mir vertikal erscheint, so brauche ich nur das andere Auge \u00f6ffnen, um mich durch Vergleichung mit den umgebenden Objekten zu \u00fcberzeugen, dass ich den Spalt, dem AuBERT\u2019schen Ph\u00e4nomen entsprechend, schief eingestellt habe. Verschliesse ich das kontrollirende Auge wieder, so erscheint der schiefe Spalt nach wenigen Sekunden wieder vertikal.","page":394},{"file":"p0395.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber das Auber V sehe Ph\u00e4nomen und verwandte T\u00e4uschungen etc. 395\nSeheinbewegungen, wie wir sahen, bei einem Theile der Beobachter im Sinne der Kopfbewegung, bei anderen umgekehrt, wieder bei anderen bald im einen, bald im anderen Sinne.\nMassgebend f\u00fcr die Entstehung der Scbeinbewegung kann erstens die w\u00e4hrend der Kopfbewegung eintretende thats\u00e4cblicbe Verschiebung des Netzbautbildes sein; bei dem im \u00fcbrigen mit Objekten nicht erf\u00fcllten Gesichtsfelde kann diese Verschiebung zu der T\u00e4uschung Anlass geben, dass sie, wenigstens theilweise durch Drehung des Objektes bedingt sei. Dies w\u00fcrde also die Scbeindrehung des Objektes im umgekehrten Sinne der Kopfneigung herbeif\u00fcbren.\nNun f\u00fchrt ja aber auch das Auge selbst unwillk\u00fcrliche und unbewusste Rollungen in der Orbita aus, zun\u00e4chst im umgekehrten Sinne der Kopfneigung, kompensatorisch, und alsdann, unmittelbar nach dem Anhalten der Kopfbewegung wieder eine r\u00fcckl\u00e4ufige Bewegung von etwas geringerem Betrage.\nSind schon hierdurch die Bedingungen f\u00fcr die Beurtheilung der Lage des gesehenen Objektes recht komplizirt, so werden sie es noch mehr dadurch, dass der Eindruck der Bewegung gesehener Objekte auch durch centripetale Impulse entstehen kann, welche nicht von der Retina ausgehen, sondern entweder direkt vom Labyrinth zur Hirnrinde gelangen m\u00f6gen, oder (wahrscheinlicher) von den durch Labyrinthreflexe in Th\u00e4tigkeit gesetzten Augenmuskeln (als Muskelempfindungen, Innervationsempfindungen). Da Labyrinth und Augenmuskelapparat in so nahem physiologischen Zusammenh\u00e4nge stehen, ist eine Scheidung der von beiden ausgehenden centripetalen Impulse vorderhand nicht m\u00f6glich. Geeignete F\u00e4lle von Augenmuskell\u00e4hmungen k\u00f6nnten auch hierin aufkl\u00e4rend wirken.\nDen Beweis f\u00fcr die Existenz derartiger, von ausserhalb der Netzhaut kommender, Einfl\u00fcsse auf die Vorstellung von der Orientirung der Netzhaut im Raume sehe ich einmal in dem Erfolge galvanischer Durchstr\u00f6mung des Hinterkopfes : Die Scheinbewegungen, welche die beobachtete Lichtlinie hierbei macht, scheinen mir gr\u00f6sser, als die kaum nachweisbaren objektiven Raddrehungen des Bulbus, die als Erfolg der Gal-vanisirung auftreten. Wegen der Schwierigkeiten, welche sich einer einwandfreien Durchf\u00fchrung dieser Vergleichung entgegensetzen, m\u00f6chte ich auf diesen Punkt weniger Gewicht legen, als auf die Scheinbewegungen, welche die Lichtlinie w\u00e4hrend der","page":395},{"file":"p0396.txt","language":"de","ocr_de":"396\nWilibald A. Nagel.\nDauer der Galvanisirung (in der Regel) macht, und die auch in \u00e4hnlicher Weise bei ruhig auf die Seite geneigtem Kopfe (durch den Reiz der Schwerkraft indirekt herbeigef\u00fchrt) auftreten, nicht aber bei aufrecht gehaltenem Kopfe. Auch die autokinetischen Empfindungen, welche bei Fixirung eines isolirten lichtschwachen Punktes auftreten, geh\u00f6ren in diese Kategorie von \u201emyogenen\u201c Scheinbewegungen. 1 * 3\nIch habe bei der vorstehenden Besprechung mehrfach Anlass gehabt, von Lageempfindungen einerseits, von den Funktionen des Labyrinthes andererseits zu reden, und da nun diese beiden Dinge neuerdings vielfach in nahem Zusammenhang gebracht werden und namentlich J. Breuer die Vermittelung von Lageempfindungen durch das Labyrinth, speziell den Otolithen-apparat vertritt, scheint es mir angezeigt, mit wenigen Worten meine Stellung zu dieser Frage zu pr\u00e4zisiren.\nSo plausibel mir die Deduktionen Breuer\u2019s 2 daf\u00fcr erscheinen, dass der Otolithenapparat geeignet sei, bei Lagever\u00e4nderungen des Kopfes im Schwerezug seinen ad\u00e4quaten Reiz zu empfangen und erregt zu werden, so wenig habe ich mich bis jetzt davon \u00fcberzeugen k\u00f6nnen, dass vom Labyrinth wirkliche Lage-e mp find ungen vermittelt werden. Nur f\u00fcr Reflexe von Otolithenapparate aus und f\u00fcr indirekte Beeinflussung der\n1 Bei dem Schweben des Lichtpunktes in der ExNER\u2019schen Versuchsanordnung scheint es zun\u00e4chst an einem Anlass zur Entstehung der Scheinbewegung, analog demjenigen, der f\u00fcr die oben beschriebenen Scheinrotationen in den ungewohnten Spannungsverh\u00e4ltnissen der in Folge der schiefen Kopfhaltung reflektorisch innervirten Drehmuskeln des Auges gegeben ist, zu fehlen. Exxer sucht einen entsprechenden Anlass in den aus anderer Ursache entspringenden Scheinbewegungen von ganz kleinem Betrage, in dem sog. Punktschwanken. Ich halte es f\u00fcr m\u00f6glich, dass, eventuell neben diesem Moment, noch ein anderes von Einfluss ist, n\u00e4mlich die verschieden rasche Erm\u00fcdung der einzelnen Augenmuskeln w\u00e4hrend der Fixation des Lichtpunktes. Erm\u00fcdete beispielsweise der Kectus superior vor seinen Antagonisten, so k\u00f6nnte das Erm\u00fcdungsgef\u00fchl eine st\u00e4rkere Zusammenziehung dieses Muskels vort\u00e4uschen und diese dem Bewusstsein sich als eine Wanderung des Objektes darstellen. Als Ursache daf\u00fcr, dass die Scheinbewegungen so grosse Betr\u00e4ge erreichen, w\u00e4re nat\u00fcrlich auch bei dieser Auffassung auf die von Exner betonte Unsicherheit\ndes Urtheils \u00fcber die Blickrichtung zu rekurriren.\n3 a. ob. a. 0.","page":396},{"file":"p0397.txt","language":"de","ocr_de":"Ueher das Auhert'sehe Ph\u00e4nomen und verwandte T\u00e4uschungen etc. 397\nOrientirung im Raume durch den Augenmuskelapparat finde ich sichere Anhaltspunkte.\nDass die Kompensationen der Lage, die wir am Auge des Menschen und vieler Thiere, sowie am Kopf und Rumpfe mancher Thiere beobachten, in der Dauererregung des Otolithenapparat durch ver\u00e4nderten Schwerezug begr\u00fcndet sind, ist mehr als wahrscheinlich geworden. Die Versuche aber, die man zum Nachweis der Beherrschung der Lage Vorstellung durch das Labyrinth angef\u00fchrt hat, kann ich nicht beweisend finden, indem sie mir ein anderes Resultat geben, als Del age und Breuer.\nDel age 1 hat bekanntlich angegeben, dass eine Versuchsperson bei grade gehaltenem Kopfe und geschlossenen Augen einen in der Hand gehaltenen Stab leicht und sicher auf einen grade vor ihr gelegenen Punkt richten k\u00f6nne (wenn sie sich dessen Lage vorher bei offenen Augen eingepr\u00e4gt hatte), dass sie dagegen einen constanten Fehler von etwa 15\u00b0 in der Stabhaltung mache, wenn der Kopf um eine seiner Achsen verdreht ist. Delage deutete diese Versuche im Sinne seiner theoretischen Auffassung unter Zuhilfenahme von unbeabsichtigten und unbewussten Augenbewegungen.\nBreuer best\u00e4tigte Delag-e\u2019s Ergebnisse f\u00fcr diejenigen Kopfdrehungen, bei welchen die Orientirung des Labyrinthes gegen die Gravitationsrichtung ver\u00e4ndert wird, nicht aber f\u00fcr Drehung des Kopfes um die vertikale Achse. Hier fand er die Stabhaltungen ganz inkonstant. Dieses Resultat stimmte nun wieder f\u00fcr Breuer\u2019s Auffassung der Labyrinthfunktionen sehr gut.\nIch kann weder Delage\u2019s noch Breuer\u2019s Resultat best\u00e4tigen, finde vielmehr die Stabhaltung bei allen diesen Versuchen f\u00fcr mich und eine Anzahl unbefangener Personen v\u00f6llig inkonstant, und durch andere Umst\u00e4nde mehr als durch die Kopfhaltung beeinflusst, z. B. durch die Art, wie der Stab gehalten wird, wie schwer und wie geformt er ist. Nicht selten fand ich allerdings bei gedrehtem Kopfe Abweichungen, bald in dem Sinne, wie es nach Delage zu erwarten war, bald aber auch im entgegengesetzten Sinne. Dies gilt auch f\u00fcr Drehung des Kopfes um die vertikale Achse. Im ganzen fand ich, wie gesagt, die Ergebnisse viel zu inkonstant, als dass ich daraus Schl\u00fcsse \u00fcber die Labyrinthfunktion ziehen m\u00f6chte.\n1 a. ob. O.","page":397},{"file":"p0398.txt","language":"de","ocr_de":"398\nWiiibald A. Nagel.\nWorauf die Abweichung meines Befundes von denjenigen Delage's und Breuee\u2019s beruht, vermag ich nicht zu sagen. Dass die Versuchspersonen nicht auf derartige Versuche einge\u00fcbt waren, betrachte ich nur als g\u00fcnstig f\u00fcr die Zuverl\u00e4ssigkeit des Ergebnisses. Die Zahlenangaben von Delage lauten hier, wie bei manchen anderen Versuchen in der citirten Schrift zu bestimmt und abgerundet, als dass man nicht ziemlich starke Schematisirung bei der Wiedergabe seiner Resultate annehmen m\u00fcsste. Eine Angabe dar\u00fcber, aus welchen Zahlen die mit-getheilten das Mittel darstellen, wie gross also die Schwankungen der Einstellungen waren, w\u00fcrde den Werth der Mittheilungen erh\u00f6ht haben.\nDie Beobachtungen Delage\u2019s \u00fcber Laget\u00e4uschungen bei passiven K\u00f6rperneigungen auf dem Zapfenbrett kann ich, wie oben gelegentlich erw\u00e4hnt, im allgemeinen best\u00e4tigen. Da ich hierbei die Lage im Raume viel mehr nach der Lage des Rumpfes und der Beine, als nach der des Kopfes beurtheile und ich letzteren bewegen kann, ohne die Lagevorsteilung wesentlich zu \u00e4ndern, sehe ich auch in diesen Versuchen keine St\u00fctze der BaEUER\u2019schen Theorie. Die Lageempfindung scheint in diesem Falle mehr von den Empfindungen der Haut, der Muskeln und Gelenke bestimmt zu sein, als von einem spezifischen statischen Sinnesorgane.","page":398}],"identifier":"lit30340","issued":"1898","language":"de","pages":"373-398","startpages":"373","title":"Ueber das Aubert'sche Ph\u00e4nomen und verwandte T\u00e4uschungen \u00fcber die vertikale Richtung","type":"Journal Article","volume":"16"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:01:39.532989+00:00"}