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{"created":"2022-01-31T14:21:59.341558+00:00","id":"lit30343","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"H\u00f6fler, A.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 16: 417-424","fulltext":[{"file":"p0417.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n417\nAber auch abgesehen von der historischen Entwickelung vertr\u00e4gt sich Helwig\u2019s Theorie nicht mit den Kunstformen des Anmuthigen und Zierlichen, des Erhabenen und Wunderbaren. Denn bei ihnen allen handelt es sich um ein Hinausgehen \u00fcber den Mittelwerth nach irgend einer Dichtung hin. Sie vertr\u00e4gt sich auch nicht mit der Forderung des Individuellen, der Berechtigung des Abnormen und H\u00e4sslichen in der Kunst, wie sie besonders im Portrait und in gewissen Arten des Genres unbestreitbar ist. W\u00e4re die HELwiG\u2019sche Theorie richtig, so w\u00fcrde die Kunst nichts Uebermensehliches oder Wunderbares, nichts H\u00e4ssliches, nichts Individuelles darstellen d\u00fcrfen. Denn die Art, wie Helwig den \u00e4sthetischen Werth des \u201eUeberm\u00e4ssigen\u201c mit seiner Theorie in Einklang zu bringen sucht, ist durchaus nicht einleuchtend.\nSo k\u00f6nnen wir also dem Mittelwerth \u2014 einerlei nun ob dem geometrischen oder dem arithmetischen \u2014 nur eine beschr\u00e4nkte \u00e4sthetische Bedeutung zusprechen. Gerade die h\u00f6chsten Wirkungen der Kunst \u2014 und auch des Natursch\u00f6nen \u2014 werden nicht durch die Uebereinstimmung mit einem Mittelwerth, sondern im Gegentheil durch die Abweichung von ihm erzeugt.\tKonrad Lange (T\u00fcbingen).\nHeinrich von Stein. Vorlesungen \u00dcber \u00c4esthetik. Nach vorhandenen Aufzeichnungen bearbeitet. Stuttgart, Cotta, 1897. 145 S.\n\u201e\u00c4esthetik bedeutet \u00bb Lehre vom Gef\u00fchl\u00ab. Man hat das Wesen der \u00c4esthetik nur unvollst\u00e4ndig erfasst, wenn man sie als Lehre vom Sch\u00f6nen definirt... Die Aufgabe der \u00c4esthetik ist eine K\u00fchnheit. Man muss gleichsam das Senkblei von der Oberfl\u00e4che in die Tiefe hinablassen. Denn es handelt sich um das innere Menschenwesen . .\u201c Mit diesen Er\u00f6ffnungss\u00e4tzen der Einleitung ordnet sich Stein\u2019s \u00c4esthetik selbst der Psychologie ein. \u2014 Es m\u00f6gen zun\u00e4chst einige charakteristische S\u00e4tze (die kursiv gedruckten sind Paragraphentitel) den Gedankengang erkennen lassen.\n\u00a7 1.\t> Der Eindruck kommt zu Stande durch innere Th\u00e4tigkeit.\u00ab\n\u00a7 2. \u00bbIn der F\u00fclle dieser Th\u00e4tigkeit besteht das Aesthetische eines Eindrucks.\u00ab \u201eJede normale Th\u00e4tigkeit, auch die einfachste, wie das Athemholen, ist, wenn sie ungehemmt verl\u00e4uft, von Wohlgef\u00fchl begleitet. . . Das Aesthetische selbst ist die normale Aeusserung unseres inneren Lebens, die eine Mitbewegung in der Tiefe des geistigen Bereiches in sich schliesst ; die \u00e4sthetische Funktion verh\u00e4lt sich zu den anderen geistigen Th\u00e4tigkeiten wie das Aufwogen aus dem Innern einer fl\u00fcssigen Kugel zur blossen Kr\u00e4uselung ihrer Oberfl\u00e4che (S. 5). . . \u00bbDie \u00e4sthetische Hingenommenheit ist eine h\u00f6chste Kraftbeth\u00e4tigung unseres inneren Lebens.\u00ab \u00bbIn einem grossen Eindruck klingt die Unendlichkeit unseres inneren Verm\u00f6gens an, rein als Gef\u00fchl, ohne dass sie noch als M\u00fche und Arbeit an Hinderungen sich zu bew\u00e4hren h\u00e4tte.\u00ab \u00bbWir f\u00fchlen uns ganz uns selbst, wenn wir uns in einem Eindruck zu verlieren scheinen, wir besitzen uns nie so v\u00f6llig,\u00ab Zeitschrift f\u00fcr Psychologie XVI.\t27","page":417},{"file":"p0418.txt","language":"de","ocr_de":"418\nBesprechungen.\nwie in solchem Augenblick. \u201eAuch verm\u00f6gen wir mit vollster Aufmerksamkeit den Zustand festzuhalten, uns in ihn zu versenken. Dieses Hinzutreten des vollbewusst Spontanen in der Form geistiger Arbeit unterscheidet die \u00e4sthetische Hingerissenheit gleichfalls vom Traume.\u201c \u201eHier erschliesst sich uns bereits die \u00bbaktive Bedeutung des Empfindens\u00ab im \u00e4sthetischen Sinne. \u201eIch sehe\u201c bezeichnet einen Eindruck. \u201eIch sehe so, dass ich nichts thue als sehen\u201c bezeichnet einen \u00e4sthetischen Eindruck. \u201eIch schaue, ich bin ganz Schauen\u201c bezeichnet den Zustand des v\u00f6lligen Hingegebenseins, mit dem der Begriff des ,Sch\u00f6nen\" aufs Engste verkn\u00fcpft ist\"\".\n\u00a7 3. \u00bbHie gegenseitige Steigerung der Eindr\u00fccke weist auf eine solche aufnehmende innere Th\u00e4tigkeit.\u00ab\n\u00a7 5. \u00bbEinheitlichkeit wirkt \u00e4sthetisch.\u00ab . . Es \u201eberuht die Wirkung des Formalsch\u00f6nen darauf, dass es uns die innere Th\u00e4tigkeit des Aneignens, des Ergreifens einer Sache erleichtert, die geistige Bewegung also in eine bestimmte Bahn lenkt\"\". \u201eDem Formalsch\u00f6nen ist eine \u00e4sthetische Bedeutung nicht abzusprechen; es ist aber nicht der einzige und nicht der wesentlichste Faktor des Eindrucks. . . Gr\u00f6ssere oder geringere F\u00fclle des Innenlebens giebt hier den Ausschlag\"\" (S. 11). . .\n\u00a7 8. \u00bbDie verschiedenen Kunstarten bedienen sich der verkn\u00fcpfenden Beziehungen in spezifisch verschiedener Weise.\u00ab \u2014 Die gemeinsame Aufgabe aller K\u00fcnste ist: \u00bbeine Sache zu bedeutendem Ausdruck zu bringen\u00ab. Sie lassen die Sprache des Gegenstandes, wie der K\u00fcnstler sie vernimmt, laut werden, und wirken dadurch auf das Gef\u00fchl. Von diesem Gesichtspunkte betrachtet ist die Kunst nur eine, die Kunst; eine Mehrheit von K\u00fcnsten\n*\nergiebt sich erst aus der Verschiedenheit der k\u00fcnstlerischen Zeichen, d. h. der Ausdrucksmittel, deren sich der K\u00fcnstler bedient, und insbesondere aus der Verschiedenheit im Verwenden verkn\u00fcpfender Beziehungen.\u201c Es folgen einzelne Ausf\u00fchrungen \u00fcber das Ornament, die Baukunst, Malerei, Dichtkunst, Mimik, Musik (bis S. 23).\n\u00a7 11.\t\u00bbDas freie Spiel der Vorstellungen ist eine Grundform des Aestheti-\nschen. (Vgl. hier die Erkl\u00e4rung der komischen Wirkung, die das Hinfallen eines Eilenden hat, S. 28. Dazu Witz, Humor, \u201eSeelenheiterkeit\"\".)\n\u00a7 12.\t\u00bbDer Geschmack bildet sich als leicht ansprechender Beichthum von\nVorstellungen aus.\u00ab \u2014 \u201eDer Begriff des Geschmacks wird wohl auch auf das k\u00fcnstlerisch Produktive angewandt, ist jedoch hier auf eine untergeordnete Sph\u00e4re beschr\u00e4nkt. . . K\u00fcnstler, wie Gottfried Keller oder B\u00f6cklin k\u00f6nnen in Nebendingen zuweilen geschmacklos sein, und doch erregen ihre Sch\u00f6pfungen unsere Bewunderung. Was ein gutes Kunstwerk sei, kann der Geschmack allein nicht beurtheilen; das Entscheidende ist nicht aus ihm, sondern aus dem positiven Grundmotiv zu entnehmen. Wenn ich meinem Geschmacke folgend sage, das muthet mich nicht an, so sage ich zun\u00e4chst nur etwas \u00fcber mich, und wenn mich ein Kunstwerk rasch anspricht, so zeigt das lediglich, dass ich Geschmack habe. Nur ist auch dies festzuhalten : das Kunstwerk muss dem empf\u00e4nglichen Beschauer etwas sagen. Wenn man seiner Empf\u00e4nglichkeit sicher ist und dennoch nicht angesprochen wird, so liegt die Schuld am Kunstwerk. . . Welches der beste Geschmack sei, ist vielmehr von der Entscheidung der Frage ab-","page":418},{"file":"p0419.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n419\nh\u00e4ngig : welches ist das beste Kunstwerk ? Das Prinzip f\u00fcr die Beurtheilung des Geschmackes muss also aus der Kunst abgeleitet werden, eine Vermittelung, die bei Fechnee, \u00fcbersprungen ist.\u201c\n\u00a7 13. Kunst ist Bew\u00e4ltigung eines Stofflichen (S. 34).\n\u00a7 14. \u00bbDie Kunst als Kundgebung grosser Seelen stellt das Menschliche seinem h\u00f6chsten Sinne nach dar a (S. 37.) \u2014 Es folgen Bestimmungen \u00fcber Genie (S. 39), \u00fcber Form und Inhalt (S. 40), \u00fcber Idealismus und Realismus in der Kunst (S. 41), \u00fcber k\u00fcnstlerische \u201eDeutlichkeit\u201c, so: \u00bbStyl ist Deutlichkeit\u00ab (S. 43).\nDer f\u00fcnfte und letzte Abschnitt des ersten, systematischen Theiles betitelt sich \u201eSeelische Grundthatsachen des Sch\u00f6nen und der Ku nstu und gliedert sich in die vier Paragraphen: \u00a7 17. Erhebung, \u00a7 18. Vers\u00f6hnung, \u00a7 19. Stimmung, \u00a7 20. Mittheilung, welche als der centrale Theil des Buches gelten d\u00fcrfen. Als Probe seien einige S\u00e4tze aus dem zweiten St\u00fcck \u201eVers\u00f6hnung\u201c mitgetheilt. \u201eEin kleiner positiver Zug in einem einzigen Verse ausgesprochen gen\u00fcgt, um die vers\u00f6hnende Wirkung auszul\u00f6sen. Dante\u2019s H\u00f6lle schliesst mit den Worten : \u201eUnd wir entstiegen aus der engen M\u00fcndung, und traten vor zum Wiedersehn der Sterne\u201c. . Im Hamlet kn\u00fcpft sich an die Worte \u201eIn Bereitschaft sein ist Alles\u201c eine vers\u00f6hnliche Wirkung . . Vers\u00f6hnend wirkt auch der Schluss von H. v. Kleist\u2019s Novelle \u201edas Erdbeben von Chili\u201c. Nachdem Don Fernando den eigenen Sohn Juan verloren und das Kind seiner gemordeten Freunde, Philipp, als Pflegesohn aufgenommen hat, heisst es :\t,, \u201eund wenn Don Fernando\nPhilippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war es ihm fast, als m\u00fcsst\u2019 er sich freuen.\u201c\u201c Auch hier vers\u00f6hnt das L\u00e4cheln des Dichters mit dem Grauenhaften der vorausgegangenen Ereignisse.\u201c \u2014 Ref. hatte beim ersten Lesen dieser Stelle einen besonders lebhaften Eindruck von der Kunst des Verf., durch die Wahl seiner Beispiele den Leser kr\u00e4ftig in die Kreise des eigenen \u00e4sthetischen F\u00fchlens und Mitf\u00fchlens hineinzuziehen. \u2014 Es m\u00f6gen zu gleichem Zwecke einige Beispiele aus dem folgenden St\u00fccke \u201eStimmung\u201c weiter unten im Zusammenh\u00e4nge mit einigen kritischen Bemerkungen folgen.\nDas Bisherige geh\u00f6rte dem I. Systematischen Theil (bis S. 60). Bez\u00fcglich des II. Historischen Theiles (S. 61 bis 136) muss sich der vorliegende Bericht auf die summarische Mittheilung beschr\u00e4nken, dass in ihm, wenngleich hier der spezifisch psychologische Ausgangspunkt vertauscht ist mit historischen Ausgangspunkten, dennoch auch f\u00fcr die Wahl dieser \u00fcberall nicht \u00e4ussere, sondern innerliche und innerlichste Fakta gew\u00e4hlt sind; in dem Sinne, welcher sofort ersichtlich ist aus dem Titel des einleitenden \u00a7 21: \u201eIn dem Leben Italiens nach dem Unterg\u00e4nge der Hohenstaufen erh\u00e4lt der Einzelne als Individualit\u00e4t eine neue Bedeutung.\u201c Geradezu bewundernswerth ist die Kunst des Verf., auch hier eine sehr grosse Anzahl kunstgeschichtlicher Mittheilungen im engsten Rahmen ohne Trockenheit dadurch zu vermitteln, dass er theils aus den Werken der K\u00fcnstler, theils aus den Lehren der zeitgen\u00f6ssischen Aesthetiker typische Beispiele mit grosser anschaulicher Bestimmtheit hervorhebt. Der behandelte Stoff erstreckt sich von der italienischen Renaissance (\u00a7\u00a7 21\u201427 Bildende Kunst\n27*","page":419},{"file":"p0420.txt","language":"de","ocr_de":"420\nBesprechungen.\n\u00a7\u00a7 28\u201430 Dichtkunst; z. B. \u00a7 29. Bilderfreude charaiderisirt das Ariostische Epos; \u00a7 30. Das Drama ersticht im Dekorativen; \u00a7\u00a7 31 u. 32 Kunsttheorie; \u00a7 32. Der Humanismus vermag den k\u00fcnstlerischen Geist der Renaissance weder sich wahrhaftig anzueignen noch ihn zu f\u00f6rdern, S, 97) bis \u00a7 62. \u00bbDie Ent-wickehing der deutschen Musik begleitet die tiefere Auffassung der Aesthetik in Deutschland.\u00ab \u2014\nDer kurze letzte, aber besonders inhaltsreiche und charakteristische Abschnitt betitelt sich\nIII. Anwendungen (S. 137\u2014145). \u201eDas Kunstwerk ist Ausdruck seelischer Zust\u00e4nde. Insofern es im Zusammenh\u00e4nge seelischer Wirkungen auftritt, hat es selbst eine objektive Bedeutung. Die Kunsterscheinungeil der verschiedenen Zeiten liefern daher Material f\u00fcr eine Geschichte der menschlichen Seele\u201c (S. 137). Als \u201eeinzelne Z\u00fcge dieser Geschichte, die mit den Wurzeln unserer Geistesbildung Zusammenh\u00e4ngen\u201c, werden die mythologischen Gebilde der Griechen, die germanische Sagendichtung, der k\u00fcnstlerisch sich aussprechende Geist des Christenthums er\u00f6rtert. \u201eDer wesentliche Grundzug des Christenthums ist die Aufhebung des Leidens, nicht in der Form der Ausweichung oder der Resignation, sondern als Vertiefung in das Leiden selbst.\u201c Wie sich dieser religi\u00f6se Begriff der Ueberwindung des Leidens als des \u201ef\u00fcr uns m\u00e4chtigsten aller vers\u00f6hnenden Motive\u201c der \u00e4sthetischen Betrachtung einordnet, weil und indem \u201eVers\u00f6hnung\u201c unter die \u201eseelischen Grundthatsaehen\u201c und damit unter die Gegenst\u00e4nde der Aesthetik eingeordnet werden muss, so lehrt noch allgemeiner der letzte \u00a7 66: \u00bbDie sogenannten metaphysischen Probleme beruhen auf der Eigenart der seelischen Grundthatsaehen\u00ab. . . \u201eW\u00e4hrend die \u00bbPhilosophie eine beschreibende Wissenschaft\u00ab ist, stellt die Kunst eine produktive Funktion des menschlichen Geistes dar. Auch die Aesthetik nimmt an diesem produktiven Charakter Theil, denn \u00bbum innere Erfahrungen zu beschreiben, muss man sie machen\u00ab. Die \u00e4sthetischen Zust\u00e4nde sind die \u00bbVorbedingungen philosophischer L\u00f6sungen\u00ab, sie liefern \u00bbdas Material, ohne das man gar nicht nach h\u00f6heren Ansichten von Welt und Leben ausschauen w\u00fcrde\u00ab. Die Aesthetik ist daher die Grundlage der Philosophie.\u201c \u2014\nMit diesen Worten schliesst das Buch. Seine Eigenart liegt darin, dass es die \u00e4sthetische Betrachtung \u00fcberall bis zu den h\u00f6chsten Erlebnissen emporzuf\u00fchren bem\u00fcht ist \u2014 dass mit voller Absicht der Gang der Untersuchung \u00fcber die Gipfel des Gegenstandes dahinschreitet. \u2014 Der rein theoretischen Kritik einer solchen Leistung sind durch die Weite des Erstrebten von vornherein engere Grenzen gezogen. Hier, wo es zun\u00e4chst nur die Pr\u00fcfung der psychologischen Grundlagen des Gebotenen gilt, ist zu sagen, dass, so ausdr\u00fccklich das Buch von seinem ersten Satze an um \u201edie seelischen Grundthatsaehen des Sch\u00f6nen und der Kunst\u201c bem\u00fcht ist, auch die ersten Bestimmungen schon nicht mehr als voraussetzungslose Begriffselemente eines synthetischen Systems rein diskursiv gedacht, sondern vom \u00e4sthetisch gestimmten Leser als Anregung zur Analyse eigener intimer Erlebnisse nachgef\u00fchlt sein wollen. Eine solche Haltung r\u00fcckt das Gebotene aber nicht aus dem Gesichtskreis der bloss theoretisch psycholo-","page":420},{"file":"p0421.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\ngischen Betrachtung, sondern giebt dieser nur eine Aufgabe sozusagen zweiter Ordnung auf (im Sinne des Hans Sachs \u201eSucht davon erst die Regeln auf\u201c) : n\u00e4mlich welche Stelle begrifflich und terminologisch die Voraussetzungen einer derart praktischen Aesthetik in einem anderweitig feststehenden elementaren psychologischen Begriffssystem einnehmen. So vor allem: Wenn die Aesthetik geradewegs, wie es in den Er\u00f6ffnungsWorten des Buches gesagt ist, \u201eLehre vom Gef\u00fchl\u201c sein soll, \u2014 wird hiermit in Abrede gestellt, dass es \u00fcberhaupt noch andere als \u00e4sthetische Gef\u00fchle gebe? Zwar folgt noch auf derselben Seite die erg\u00e4nzende Bestimmung, dass der Aesthetik nur die grossen Kundgebungen des Gef\u00fchles, n\u00e4mlich die in Kunstwerken wesentlich seien. Aber die Frage: Welche besonderen Arten von Gef\u00fchlen? ist hiermit weder angeregt noch beantwortet (z. B. die seit Kant herk\u00f6mmliche Ausschliessung der Begehrungsgef\u00fchle nicht angedeutet). Oder soll die freilich durch keine schulm\u00e4ssige Definition zu beantwortende Frage: Was ist ein Gef\u00fchl? kurzweg beantwortet werden mit \u201eGef\u00fchl ist \u2014 Alles\u201c? Der Satz : \u201eJede normale Th\u00e4tigkeit . . . ist . . . von Wohlgef\u00fchl begleitet\u201c, giebt wohl zu erkennen, dass auch der Verf. den Begriff des Gef\u00fchles nicht in einem wesentlich weiteren Sinne verwenden will, als es nach der gegenw\u00e4rtig ziemlich allgemein angenommenen Terminologie geschieht, wTonaeh Gef\u00fchl als der zusammenfassende Name f\u00fcr alle Zust\u00e4nde der Lust und Unlust und f\u00fcr weiter nichts gebraucht wird. Wenn der Verf. den Begriff desjenigen Gef\u00fchles, das auch er noch im Besonderen \u201e\u00e4sthetisch\u201c nennt, in eine besonders nahe Beziehung zu einer \u201epsychischen Th\u00e4tigkeit\u201c bringt, so kann Ref. das willkommen heissen als eine Best\u00e4tigung seiner in der Abhandlung \u201ePsychische Arbeit\u201c (diese Zeitschrift Bd. VIII S. 85\u201494 und S. 184-190) angedeuteten Abh\u00e4ngigkeit von Gef\u00fchl und psychischer Arbeit. S\u00e4tze wrie \u201eDieses Hinzutreten des vollbewrusst Spontanen in der Form geistiger Arbeit unterscheidet die \u00e4sthetische Hingerissenheit gleichfalls vom Traume\u201c (S. 6), ber\u00fchren sich noch n\u00e4her mit der angedeuteten Theorie. Auch der eingangs durch den Hinweis auf die spezifischen Sinnesenergien erl\u00e2utert\u00e8 Satz j,Die blosse Empf\u00e4nglichkeit ist eine Th\u00e4tigkeit\u201c k\u00f6nnte ebenfalls zu Gunsten des zuerst von Meinong verlangten Auseinanderhaltens der fast immer unterschiedslos gebrauchten Begriffspaare Rezeptivit\u00e4t\u2014Spontaneit\u00e4t und Passivit\u00e4t\u2014Aktivit\u00e4t geltend gemacht werden. Denn es sind hier Rezeptivit\u00e4t (^Empf\u00e4nglichkeit) und Aktivit\u00e4t (=Th\u00e4tigkeit) als nicht nur vertr\u00e4glich, sondern letztere in ersterer geradezu mitgegeben behauptet. Gleichwohl d\u00fcrfte der Satz \u00bbdie blosse Empf\u00e4nglichkeit eine Th\u00e4tigkeit\u00ab den letzteren Begriff, den der Th\u00e4tigkeit, in einem so stark erweiterten Sinne nehmen, dass die sonst bestehende \u201eGleichung Th\u00e4tigkeit=Aktivit\u00e4t =(psychische) Arbeit\u201c ihren scharfen psychologischen Sinn und damit einen Theil ihrer G\u00fcltigkeit und Anwendbarkeit einb\u00fcsst. Was in dem Gesetz gemeint ist, bleibt freilich deutlich genug und auch unanfechtbar, n\u00e4mlich : In denjenigen (psychophysichen) Vorg\u00e4ngen, in welchen uns auf den ersten Blick das eine von zwei Beziehungsgliedern aktives Verhalten vermissen l\u00e4sst, zeigt ein n\u00e4herer und umfassenderer Bljck, wie wesentlich doch auch dieses rezeptive Glied Theilbedingung daf\u00fcr ist, dass es \u00fcberhaupt zu einer Aktion im Ganzen kommen kann. Und es soll auch gewiss nicht","page":421},{"file":"p0422.txt","language":"de","ocr_de":"422\nBesprechungen.\ngeleugnet werden, dass jener schlichter gefasste Satz vielleicht gerade, weil er selbst noch nicht Alles sagt, den Leser anregt, die n\u00e4here psychologische Ausdeutung aus eigenem hinzuzuf\u00fcgen. \u2014 Aehnlich anregend wirken noch mehrere einschl\u00e4gige psychologische Elementarbestimmungen, z. B. \u00bbwo keine Th\u00e4tigkeit, da kein Schmerz\u00ab, das \u00bbAndr\u00e4ngen von Lebens -th\u00e4tigkeit ist dem Schmerz mit dem Aesthetischen gemeinsam\u00ab. \u201eDarauf beruht es, dass der Schmerz ein w\u00fcrdiger Gegenstand der Kunst ist\u201c (S. 5). \u2014 Was hier im Einzelnen, gilt im Grossen von jenen vier Titeln \u00bbErhebung, Vers\u00f6hnung, Stimmung, Mittheilung\u00ab, welche W\u00f6rter bei Stein eine Art Widerspiel zu wissenschaftlichen Terminis darstellen, insofern sie nicht feste Begriffsinhalte eingrenzen, sondern verm\u00f6ge einer eigent\u00fcmlichen Sprachkiinstlerschaft Stein\u2019s das begriffliche Denken \u00fcber sich hinaus zu k\u00fcnstlerischer Anschauung und Durchleuchtung ganzer Erscheinungskreise auffordern. Dass und wie dies geschieht, l\u00e4sst sich selbst nur an Beispielen zeigen. Hier nur eines: Als psychologischer Terminus bedeutet \u201eStimmung\u201c nicht mehr und nicht weniger als eine Disposition zu Gef\u00fchlen bestimmter Qualit\u00e4t (fr\u00f6hliche, traurige Stimmung) unter Hinweis darauf, dass eben verm\u00f6ge der Stimmung dem augenblicklichen Gef\u00fchlserreger nur eine Bedeutung zweiten Ranges f\u00fcr den aktuellen Lust- oder Unlust-Erfolg zukommt. F\u00fcr eine unanfechtbare psychologische Theorie z. B. der sogenannten objektlosen Gef\u00fchle d\u00fcrfte ein solches Hervorheben des bloss dispositionellen Charakters des Begriffes Stimmung unerl\u00e4sslich sein. Unser Autor dagegen, auf solche psychologisch scharfe Abgrenzung der Begriffe von vornherein verzichtend, versetzt uns selbst in Stimmung, indem er sagt \u201eWenn unser Inneres, der in der Fluthwelle auf wogenden Meeresmasse vergleichbar, in seiner ganzen Tiefe und Breite in eine einheitliche, von keiner Gegenstr\u00f6mung gehemmte Mitbewegung versetzt ist, so befindet es sich in einem Zustand, den wir als Stimmung bezeichnen. Stimmung besteht demnach in einer ungest\u00f6rten Bewegung des ganzen geistigen Bereichs, wie wir sie in der vollen Hingebung an einen Eindruck erleben. Sie fasst unser Inneres zu einem harmonischen Ganzen zusammen und erweckt uns dadurch ein tiefes Wohlgef\u00fchl. . . \u2014 Stimmungsvoll nennen wir eine Naturumgebung, aus der uns eine Aehn-lichkeit mit der stimmungsvollen Bewegung des eigenen Innern anspricht. Eine solche Wirkung wird einer Landschaft insbesondere durch das einheitliche Licht verliehen, das sich \u00fcber sie ergiesst, sie in allen ihren Theilen durchdringt, sie zu beleben und zu beseelen scheint. . . \u2014 Ein Kunstwerk hat demnach Stimmung, wenn es eine gewisse Ganzheit des Seelenlebens oder etwas dem Analoges zum Ausdruck bringt. . . \u2014 Ob ein\u00a9 Kunst lebt, zeigt sich darin, in welchem Maasse ihr Stimmung innewohnt. Stimmung herrscht im griechischen Tempel, er erscheint gleichsam herausgewachsen aus den Bedingungen des h\u00f6heren Menschenthums, wie Griechenland sie in Natur und Leben darbot; durch diese Einf\u00fcgung in das Allgemeine erh\u00e4lt er den Charakter der Ganzheit. Eine Ganzheit \u00e4hnlicher Art ist den \u00e4gyptischen Tempelh\u00f6fen und den assyrischen Burgterrassen eigen. . . . Der Renaissance dagegen ist eine Erweckung des eigentlichen inneren Lebens nicht gelungen. Sie, wie die auf ihr fussende sp\u00e4tere Zeit, hat wohl einzelne hervorragende Werke hervorgebracht, aber keine die","page":422},{"file":"p0423.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n423\ngrossen Zusammenh\u00e4nge wiedergehende Kunst. Ein Einzelner, in dessen Kunstart Stimmung herrscht, ist Michelangelo; seine Entw\u00fcrfe sind in allen Theilen, auch in Kleinigkeiten, nach den Gesetzen der Ganzheit gearbeitet. . . \u2014 Ist im Allgemeinen die Stimmung aus der bildenden Kunst der Neuzeit verschwunden, so hat sie sich dagegen in der Musik um so reicher entfaltet. Das Organ, das ihr hier vorzugsweise dient, ist das Orchester, das den Alten g\u00e4nzlich unbekannt, in den neueren Jahrhunderten der Musik geradezu den lebendigen Untergrund giebt. Es stellt das Gef\u00fchl des Einzelnen auf den Boden des allgemein Menschlichen, aus dem jenes sich erhebt, wie eine Welle aus dem Meere, und erweitert es zum abgeschlossenen Ganzen. Dadurch wird das Orchester zum Ausdrucksmittel f\u00fcr die Stimmung, wie es keine andere Kunst besitzt. . . \u2014 Richard Wagner\u2019s \u201eWalk\u00fcre\u201c ist durch das Element der R\u00fchrung, \u201eSiegfried\u201c durch das der Verehrung \u00e4hnlich charakterisirt. . . Dass die Kunst, indem sie die Ganzheit des seelischen Lehens zum Ausdruck zu bringen strebt, einf\u00f6rmig werden m\u00fcsse, ist nicht zu bef\u00fcrchten. Denn das innere Lehen ist stets individuell. Wie tiefes Athemholen die Brust weitet, so erweitert jedes neue Kunstwerk den Athembereich der Seele. Die Athemkraft des Genies aber ist unendlich.\u201c-----\nEs er\u00fcbrigen einige Mittheilungen aus dem \"Vorwort, aus welchem wir erfahren, dass die vorliegende Bearbeitung auf Grund sehr sp\u00e4rlicher Aufzeichnungen Stein\u2019s aus den Kollegienheften von 1885 und 1886 und einer abgek\u00fcrzten Nachschrift der Vorlesungen von 1886 von R. Huber in Gemeinschaft mit diesem durch Dr. F. Poske ausgef\u00fchrt worden ist. Die zusammenh\u00e4ngenden Stellen, die dem Manuskript Stein\u2019s entnommen werden konnten, sind durch \u00bb < kenntlich gemacht (auch in der vorliegenden Anzeige). M\u00fcsste angesichts der verh\u00e4ltnissm\u00e4ssigen Sp\u00e4rlichkeit solcher Stellen die \u00e4ussere Authenticit\u00e4t der vorliegenden Ausgabe der \u201eVor-lesungen\u201c eine sehr geringe genannt werden, so wird dagegen jedem theil-nehmenden Leser des Buches die hohe innere Geschlossenheit des Gebotenen umsomehr Bewunderung und aufrichtigen Dank f\u00fcr die liebevolle Vertiefung der Herausgeber in den Gegenstand und in die Pers\u00f6nlichkeit Stein\u2019s abgewinnen. Nur inniges Vertrautsein mit der Gedanken- und Gef\u00fchlswelt des fr\u00fch Verstorbenen konnte ein Lebens werk retten, das man nunmehr nur mit Beklommenheit einem Verlorensein f\u00fcr immer so nahe gewesen sich denken mag. Wenn auch ein Theil des Systems der Aesthetik von Stein schon aus seinen B\u00fcchern, \u201eGoethe und Schiller, Beitrag zur Aesthetik unserer Classiker (Reclam\u2019s Bibliothek Nr. 3090) und \u201eEntstehung der neueren Aesthetik\u201c (Cotta 1894) bekannt war, so bietet doch erst die vorliegende Darstellung das System als solches dar. Es mag dem Ref. verg\u00f6nnt sein, noch seine besondere Freude dar\u00fcber auszusprechen, dass sich um die Bergung des schwer gef\u00e4hrdeten Schatzes hochgestimmter Gedanken ein Mann verdient gemacht, der gerade w\u00e4hrend des seit Stein s Tod dahingegangenen Jahrzehnts sich auf einem so ganz anderen Gebiet, n\u00e4mlich in der zielbewussten Leitung der Berliner Zeitschr. f\u00fcr d. physik. u. ehern. Unterricht, allseitig anerkannte Verdienste erworben hat. Wie wenig die treue Pflicht realistischer Einzelarbeit einer musterg\u00fcltigen humanistischidealistischen Denkweise und Formgebung Eintrag zu thun braucht, zeigt","page":423},{"file":"p0424.txt","language":"de","ocr_de":"424\nBesprechungen.\nuns das vorliegende \u00e4sthetische Parergon eines Physikers von Fach. Poske seihst schildert1 seine Arbeit bescheiden so : \u201eEs ist, als ob die Tr\u00fcmmer eines Marmorbildes durch Gyps und M\u00f6rtel verbunden seien; es fehlt kaum ein wesentliches St\u00fcck. Aber was nicht hergestellt werden kann, das ist jene Einheit der Form. . .\u201c Sie ist aber hergestellt in knappen, klaren, eindrucksvollen S\u00e4tzen, die ganz das Zeug haben, sich als Mottos und Citate in \u00e4sthetischen Einzeln- und Gesammt-Darstellungen einzub\u00fcrgern. Nur durch solche liebevolle Sorgfalt f\u00fcr die Form war es m\u00f6glich, einem Werke Stein\u2019s eine Wirkung zu sichern, in welche sich die deskriptiv-psychologische und die sozusagen aktiv-\u00e4sthetische Leistung selbst wieder nach Stein\u2019s Satz theilen: \u00bbUm innere Erfahrungen zu beschreiben, muss man sie machen.\u00ab\n1 In einer Selbstanzeige in den \u201eBayreuther Bl\u00e4ttern\u201c, woselbst die oben als \u201ecentraler Theil\u201c des Buches bezeiehneten vier Paragraphen 17\u201420 \u201eErhebung, Vers\u00f6hnung, Stimmung, Mittheilung\u201c abgedruckt sind.\nA. H\u00f6fler (Wien).","page":424}],"identifier":"lit30343","issued":"1898","language":"de","pages":"417-424","startpages":"417","title":"Heinrich von Stein: Vorlesungen \u00fcber Aesthetik. Nach vorhandenen Aufzeichnungen bearbeitet. Stuttgart, Cotta, 1897. 145 S.","type":"Journal Article","volume":"16"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:21:59.341565+00:00"}