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{"created":"2022-01-31T12:36:35.407009+00:00","id":"lit30374","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Schultze, Ernst","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 16: 457-458","fulltext":[{"file":"p0457.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n457\nTiling, Th. Ueber die Entwickelungen der Wahnideen und der Halluzinationen\naus dem normalen Geistesleben. Festschrift zum 75 j\u00e4hrigen Jubil\u00e4um der\nGesellschaft praktischer Aerzte zu Riga von der st\u00e4dtischen Irrenheil-\nund Pflegeanstalt Rothenberg. Riga 1897. 8. 1\u201440.\nT. weist darauf hin, dass auch bei gesunden Menschen sich neben durchaus zutreffenden Ansichten sehr sonderbar erscheinende Anschauungen vorfinden, die dem Gebiet des Aberglaubens, der fixen Ideen angeh\u00f6ren; f\u00fcr gew\u00f6hnlich treten sie nur nicht zu Tage, sie werden von ihrem Tr\u00e4ger gewaltsam zur\u00fcckgehalten; anders freilich verh\u00e4lt es sich hei besonderen Anl\u00e4ssen ; dann k\u00f6nnen sie verarbeitet werden, und sie bilden das Material zu den Wahnideen. Des ausf\u00fchrlicheren setzt dann T. auseinander, von welcher Wichtigkeit f\u00fcr die Gedankenarbeit der Affekt ist. Er fasst nat\u00fcrlich den Begriff Affekt weiter, er versteht darunter nicht nur Depression und Exaltation, sondern auch die verschiedenen, je nach den zugeh\u00f6rigen Vorstellungen variirenden Stimmungen, wie Liebe, Hass, Eifersucht, Schmerz, Misstrauen, Eitelkeit u. s. w. Die vor\u00fcbergehenden Stimmungen beeinflussen den Gesunden in seinem Denken und Handeln, wie die Furcht den Schwachen muthig macht, und ebenso auch die dauernden, angeborenen Gem\u00fcthsrichtungen und Anlagen \u2014 so \u00fcberfl\u00fcgelt der Ehrgeizige leicht den reicher Begabten, so dr\u00fcckt der Schmerz und die Unzufriedenheit den Dichterheroen die Feder in die Hand. In noch h\u00f6herem Grade gilt das von den Geisteskranken, hei denen die Stimmungen potenzirt, mehr in die Augen fallend, erscheinen. Nur selten wird wohl einer paranoisch, der von Natur aus sanft, bescheiden, vers\u00f6hnlich und anspruchslos ist, es handelt sich vielmehr um eitle, ehrgeizige, selbstgef\u00e4llige, rachs\u00fcchtige, anspruchsvolle Individuen. Der eitle Mensch empfindet das Beachtetwerden als erw\u00fcnscht, angenehm, der Misstrauische wird davon peinlich ber\u00fchrt; das beweist die hervorragende Rolle der Gef\u00fchlsbetonung: dieselbe Handlung ruft ganz verschiedene Beurtheilungen hervor, die bedingt sind durch die Verschiedenheit der Pr\u00e4missen d. i. des Temperaments und der Gem\u00fcths-anlage ; sie wirken st\u00e4ndig, und deshalb eben wird auch ihr Einfluss leicht untersch\u00e4tzt.\nBei entsprechend veranlagten Individuen entsteht die Idee, beachtet zu sein, wie von selbst, ohne dass es einer bewussten Ideenassoziation bedarf, so wie der Wehleidige sich hypochondrischen Klagen leicht hin-giebt, und der Empfindliche leicht Anspielungen wittert. Auch der Gesunde kann momentan verkennen, aber er sieht seinen Irrthum ein und l\u00e4sst sich belehren; das ist bei der Verr\u00fccktheit nur im Anf\u00e4nge m\u00f6glich; hier werden durch Gew\u00f6hnung und Hebung die falschen Ansichten zur zweiten Natur, das oft Wiederholte wird zur Thatsache; automatisch ohne Dazwischentreten neuer Ueberlegungen und korrigirender Erw\u00e4gungen erfolgen die Assoziationen, wie eine feste einge\u00fcbte, komplizirte Muskelleistung.\nMaassgebend ist also f\u00fcr die Entwickelung der Krankheit, f\u00fcr die Bildung von Wahnideen die Charakteranlage; denn \u201edas Leben der Affekte mit seinen Schwankungen ist die Basis der Gedanken\u201c; die Charakteranlage ist angeboren und wird vererbt; deshalb eben ist die Paranoia eine konstitutionelle Geisteskrankheit, bei der die erbliche Belastung sich auf ab-","page":457},{"file":"p0458.txt","language":"de","ocr_de":"458\nLiteraturbericht.\nnorme Charaktere beschr\u00e4nken kann. Der Geisteskranke gleicht einem enragirten Politiker, der blind f\u00fcr alle Einw\u00e4nde nur das h\u00f6rt, f\u00fchlt, sieht,, was zu Gunsten der von ihm verfochtenen Anschauungen spricht.\nAehnliche Anschauungen finden sich u. A. schon hei Sandberg, Linke -der Erstere h\u00e4lt hei dem Zustandekommen von Wahnideen das Misstrauen f\u00fcr die Gem\u00fcthsStimmung, die unbedingt vorhanden sein muss ; nach Linke ist es die mit dem Gef\u00fchl des Unbehagens verbundene gespannte Erwartung. Nur insofern weicht T. von ihnen ab, als er in dem Misstrauen bezw. der eben geschilderten Erwartung nicht das erste Zeichen der sich entwickelnden Krankheit erblickt, sondern vielmehr eine person* liehe Eigent\u00fcmlichkeit des sp\u00e4ter Erkrankenden, die mit anderen mehr' positiven Eigenschaften wie Eitelkeit, Ehrgeiz vereint ist, w\u00e4hrend andere, insbesonders altruistische fehlen.\nDamit f\u00e4llt denn auch der schroffe Gegensatz, der bei der fr\u00fcher \u00fcblichen Klassifikation der Psychosen zwischen Manie und Melancholie auf der einen, Paranoia auf der anderen Seite bestand; die ersteren fasste man als prim\u00e4re Affekt- und Gef\u00fchlsst\u00f6rungen auf, die Paranoia aber als die prim\u00e4re Erkrankung des Intellekts, als Yerstandesst\u00f6rung.\nSodann bespricht T., der weiteren Entwickelung der Paranoia folgend,, die Halluzinationen, die sich in den meisten Krankheitsf\u00e4llen vorfinden-Manche Autoren meinen, die Halluzinationen seien nichts anderes wie die intensivsten Wahnvorstellungen, zwischen ihnen bestehe nur ein quantitativer, kein qualitativer Unterschied. Dieser Ansicht vermag sich T. nicht an-zuschliessen ; sie sind etwas grundverschiedenes, wie das u. A. daraus hervorgeht, dass die Halluzinationen viel mehr Mannigfaltigkeit und Abwechslung bieten gegen\u00fcber den einf\u00f6rmigen, sich meist gleich bleibenden Wahnideen, sowie daraus, dass die Verr\u00fccktheit nach dem Hinzutreten von Halluzinationen ein ganz anderes Bild darbietet, einen anderen Verlauf nimmt wie vordem. Nach T. handelt es sich bei den Halluzinationen mehr um Illusionen: durch wirkliche Sinneseindr\u00fccke werden sie veranlasst und hervorgerufen, nicht durch unmittelbar vorausgegangene Gedankenvorg\u00e4nge. Der Gesunde nimmt von diesen Sinneseindr\u00fccken keine Notiz ; der Kranke aber lauscht etwa gespannt auf Laute, die an sein Ohr dringen, sucht darin eine geheimnissvolle Bedeutung und findet sie schliesslich auch. Sp\u00e4ter bedarf es dieser Ausl\u00f6sung durch wirkliche Sinneseindr\u00fccke nicht mehr; dann kann jeder unvermittelte Gedanke, der seinen Inhalt aus dem weiten Kreise des ganzen Bewusstseinsinhaltes, aus Erinnerungsbildern und deren Karrikaturen sch\u00f6pft, zu einem geh\u00f6rten, gesehenen, gef\u00fchlten werden; sie werden nicht mehr als Eigenthum anerkannt und imponiren somit als etwa fremdes, von aussen Kommendes.\tErnst Schultze (Bonn).\nDidier. Kleptomanie nnd Hypnotherapie. Halle a. d. S. 1896 Verlag des Verfassers. (Leipzig, Kr\u00fcger u. Co.). 13 S.\nEs muss von vornherein auf grosse und gerechte Bedenken stossen, wenn man den l\u00e4ngst in das Reich der Schatten versetzten Monomanien aufs Neue Athem einhauchen und sie ins Leben zur\u00fcckrufen will. Jedenfalls w\u00fcrde es hierzu etwas mehr Geist bed\u00fcrfen, als sich in dem vorliegenden kleinen Aufsatz entdecken l\u00e4sst, und wenn wir statt dessen auf","page":458}],"identifier":"lit30374","issued":"1898","language":"de","pages":"457-458","startpages":"457","title":"Tiling, Th.: Ueber die Entwickelungen der Wahnideen und der Halluzinationen aus dem normalen Geistesleben. Festschrift zum 75j\u00e4hrigen Jubil\u00e4um der Gesellschaft praktischer Aerzte zu Riga von der st\u00e4dtischen Irrenheil- und Pflegeanstalt Rothenberg. Riga 1897. S. 1-40","type":"Journal Article","volume":"16"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:36:35.407014+00:00"}