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{"created":"2022-01-31T12:28:24.133311+00:00","id":"lit30383","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Schumann, F.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 17: 106-148","fulltext":[{"file":"p0106.txt","language":"de","ocr_de":"(Aus dem psychologischen Institut der Universit\u00e4t Berlin.)\nZur Psychologie der Zeitanschammg.\nVon\nF. Schumann.\n(Mit 4 Fig.)\nDie vorliegende Abhandlung soll eine Reihe von Unter-chungen \u00fcber die psychologischen Grundlagen der Zeitsch\u00e4tzung lleiten, welche im hiesigen Institut ausgef\u00fchrt sind bezw. noch sgef\u00fchrt werden.\nSchon vor mehreren Jahren habe ich eine Studie ver\u00f6ffent* ht \u201eUeber die Sch\u00e4tzung kleiner Zeitgr\u00f6fsen\u201c (diese Zeiisdtr. IV, 1 ff.), in der ich nachzuweisen suchte, dafs bei der Vergleichung einer leerer Intervalle die \u201eEinstellung der Aufmerksamkeit\u201c \u00eee grofse Rolle spielt. Ich habe mich damals darauf be-mr\u00e4nkt, das Zustandekommen des Zeiturtheils unter den eciellen Umst\u00e4nden meiner Versuche zu erkl\u00e4ren. Auf eine gemeine Psychologie der Zeitanschauung bin ich absichtlich jht' eingegangen, weil Herr Professor G. E. M\u00fcller dieses oblem vor einer Reihe von Jahren im psychologischen Seminar r Universit\u00e4t G\u00f6ttingen, dessen Mitglied ich damals war, rchgenommen hatte. Ich wollte einer Ver\u00f6ffentlichung von ner Seite nicht vorgreifen. Da nun aber meine damaligen isf\u00fchrungen in Folge meines Schweigens \u00fcber das Problem r Zeitanschauung mehrfach arg mifsverstanden sind, da ferner i folgenden Untersuchungen ein n\u00e4heres Eingehen auf dieses oblem unbedingt erfordern, so habe ich Herrn Prof. M\u00fclleb beten, mir die Ver\u00f6ffentlichung seiner damaligen Dictate zu statten. Ich schicke diese Dictate meinen eigenen Er\u00f6rterungen ran.","page":106},{"file":"p0107.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Zeitanschauung.\n107\nI\n1. \u201eDa die Vorstellung der Zeit in letzter Linie durch die sogenannte distinctio rationis zu Stande kommt, so ist hier zun\u00e4chst \u00fcber das Wesen derselben und die Arten und Stufenfolge der derselben entstammenden Begriffe einiges auszuf\u00fchren.11\n\u201eAn den einfachen Qualit\u00e4ten der Farben, T\u00f6ne u. s. w. unterscheidet man in der sprachlichen Ausdrucksweise verschiedene sogenannte Modificationen wie z. B. an einem Tone seine Tiefe, Schw\u00e4che und Weichheit, an einer rothweifsen Farbenn\u00fcance ihre R\u00f6thlichkeit und ihre Weifslichkeit u. dergl. mehr, obwohl diese Modificationen in Wirklichkeit nichts an jenen einfachen Qualit\u00e4ten gesondert Wahrnehmbares und von einander realiter Trennbares sind und demgem\u00e4fs nicht unpassend als nur f\u00fcr eine distinctio rationis bestehende Besonderheiten jener Qualit\u00e4ten bezeichnet worden sind. Die Unterscheidung solcher Modificationen kommt auf folgendem Wege zu Stande. Die Sprache bezeichnet ihren Bed\u00fcrfnissen entsprechend einfache Qualit\u00e4ten, die einander \u00e4hnlich sind, mit einem und demselben gemeinsamen Namen. Da nun ein und dieselbe einfache Qualit\u00e4t gleichzeitig mehreren solchen Gruppen einander \u00e4hnlicher und mit gleichem Namen benannter Qualit\u00e4ten angeh\u00f6rt und sich hinsichtlich ihrer Ursachen und Wirkungen ganz wesentlich darnach bestimmt, welchen von jenen Gruppen einfacher Qualit\u00e4ten sie thats\u00e4chlich angeh\u00f6rt, so unterscheidet man an der gegebenen einfachen Qualit\u00e4t trotz der Einheitlichkeit ihrer Natur, um ihre Zugeh\u00f6rigkeit zu jenen verschiedenen Gruppen anzudeuten, eine entsprechende Anzahl von Modificationen, deren jede thats\u00e4chlich nichts anderes bedeutet als Zugeh\u00f6rigkeit zu einer bestimmten Gruppe gleich benannter, einander \u00e4hnlicher Qualit\u00e4ten : So kann z. B. ein einfacher Klang gleichzeitig der Gruppe der sogenannten tiefen T\u00f6ne, sowie der Gruppe der schwachen T\u00f6ne und auch der Gruppe der als weich charakterisirten T\u00f6ne angeh\u00f6ren, und man kann alsdann an demselben die drei Modificationen seiner Tiefe, Schw\u00e4che und Weichheit unterscheiden.\u201c\n\u201eUnter den Modificationen, die in solcher Weise unterschieden werden, giebt es solche, die nie gleichzeitig einer und derselben Qualit\u00e4t zukommen k\u00f6nnen, von denen aber eine uothwendig jeder Qualit\u00e4t einer bestimmten Art zukommen mufs.","page":107},{"file":"p0108.txt","language":"de","ocr_de":"108\tF. Schumann.\nEine solche Reihe mit einander unvertr\u00e4glicher Modificationen werden als coordinate Arten einer und derselben h\u00f6heren oder allgemeineren Modification betrachtet und bezeichnet. So sind z. B, St\u00e4rke und Schw\u00e4che eines Tones mit einander unvertr\u00e4gliche Modificationen, es mufs aber jeder Ton entweder schwach oder m\u00e4fsig stark oder sehr stark sein. Es werden demgein\u00e4fs diese Modificationen als coordinirte Arten einer allgemeineren Modification. aufgefafst und so entsteht der Begriff der Tonintensit\u00e4t In \u00e4hnlicher Weise sind die allgemeineren Bezeichnungen und Begriffe (Dimensionsbegriffe) der Klangfarbe, der Tonh\u00f6he, des Farbentones, der Qualit\u00e4t \u00fcberhaupt u. s. w. entstanden. So viele verschiedene Arten von Modificationen sich an jedem Exemplare einer bestimmten Qualit\u00e4tsart unterscheiden lassen, nach soviel Richtungen oder Dimensionen ist diese Qualit\u00e4t ver\u00e4nderlich. So ist z. B. ein Klang eine nach 3 verschiedenen Dimensionen oder Richtungen hin verschiedene Qualit\u00e4t, weil sich an ihm eine bestimmte Intensit\u00e4t, Klangfarbe, Tonh\u00f6he unterscheiden l\u00e4fst und weil er hinsichtlich jeder dieser drei allgemeineren Modificationen ver\u00e4nderlich ist Wenn man sich endlich die Gesammtheit aller derjenigen verschiedenen Eigent\u00fcmlichkeiten vergegenw\u00e4rtigt, welche eine nach n Dimensionen ver\u00e4nderliche Qualit\u00e4t durchlaufen w\u00fcrde, wenn sie alle m\u00f6glichen Ver\u00e4nderungen und Combinationen von Ver\u00e4nderungen hinsichtlich dieser n Dimensionen oder Modificationsarten erf\u00fchre, so entsteht der Begriff einer nach n Dimensionen ausgedehnten Mannigfaltigkeit d. h. ein Collectivbegriff, der die Gesammtheit aller verschiedenen n\u00e4heren Auspr\u00e4gungen einer einfachen Qualit\u00e4tsart oder einer sonstigen einfachen Art uin-fafst und zwar so, dafs die verschiedenen Auspr\u00e4gungen der betreffenden Art als dadurch charakterisirt aufgefafst werden, dafs die an der betreffenden Qualit\u00e4tsart \u00fcberhaupt unterscheidbaren n h\u00f6heren Modificationen an jeder derselben in einer besonderen Combination von bestimmten Werthen Vorkommen. So entsteht z. B. der Begriff der Mannigfaltigkeit des Tonsystems, indem man alle denkbaren verschiedenen T\u00f6ne vorstellt und zwar jeden derselben als dadurch charakterisirt betrachtet, dafs die drei allgemeinen Modificationen der Tonh\u00f6he, Klangfarbe und Intensit\u00e4t in einer ganz bestimmten eigent\u00fcmlichen Combination von Werthen an ihm Vorkommen.\u201c\n2. \u201eIn ganz entsprechender Weise, wie die im Vorstehenden","page":108},{"file":"p0109.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologit der Zeitanschauung.\n109\nangef\u00fchrten Modificationsbegriffe der Tonschw\u00e4che, Tontiefe u. s. w. entstehen nun auch durch die distinctio rationis die Begriffe der zeitlichen K\u00fcrze oder L\u00e4nge eines einfachen Eindrucks (z. B. der K\u00fcrze oder L\u00e4nge eines gegebenen Tones) und auf Grund dieser sich gegenseitig ausschliefsenden Modificationen entsteht dann der allgemeinere Begriff der Dauer \u00fcberhaupt, welche mit irgend einem bestimmten Werthe nothwendig jedem Eindr\u00fccke zukomme, in ganz gleicher Weise wie z. B. auf Grund der specielleren Modificationen der Schw\u00e4che und St\u00e4rke eines Tones der allgemeinere Begriff der Tonintensit\u00e4t \u00fcberhaupt entsteht. Analoges gilt von der Entstehungsweise der\u00e7enigen Begriffe, die sich auf die Zeitordnung der Erscheinungen beziehen, der Begriff des Vorher, des Nachher und der Gleichzeitigkeit, der baldigen und der sp\u00e4ten Aufeinanderfolge. Nur bedingt der Umstand, dafs diese Begriffe nicht Begriffe von Modificationen, sondern von einfachen Relationen sind, hier einen gewissen Unterschied, der kurz im Folgenden angedeutet werden m\u00f6ge. Alle von uns wahrgenommenen Objecte (Dinge, Qualit\u00e4ten u. s. w.) werden uns in bestimmter r\u00e4umlich zeitlicher Verkn\u00fcpfung mit anderen Objecten gegeben. Wir k\u00f6nnen daher die Objecte in doppelter Weise auffassen, entweder so, dafs wir ein Object trotz des Zusammenhanges, in dem es zu anderen Objecten steht, als einzelnes unserer Aufmerksamkeit theilhaftig werden und auf unsere Vorstellungsreproduction wirken lassen (singul\u00e4re Auffassung), oder so, dafs wir einen Complex mehrerer in bestimmter zeitlich-r\u00e4umlicher Verkn\u00fcpfung gegebener und von einander unterschiedener Objecte zugleich auch in seiner Totalit\u00e4t auffassen und f\u00fcr unsere Vorstellungsreproduction bestimmend sein lasssen (collective Auffassung). Ebenso wie nun die singul\u00e4r aufgefafsten einfachen Qualit\u00e4ten der T\u00f6ne, Farben u. s. w., den zwischen ihnen bestehenden Aehnlichkeiten entsprechend, von der Sprache zu Gruppen zu-s&mmengefafst und mit Namen benannt werden, so werden nun auch auf collectiv aufgefafste Erscheinungsganze, die hinsichtlich der Art und Weise, wie in ihnen die von einander unterschiedenen Einzelobjecte mit einander verkn\u00fcpft sind, einander \u00e4hnlich oder gleich sind, gleiche Bezeichnungen angewandt. So kann z. B. von jedem der Erscheinungscomplexe (a -f- &), (g + d), (c -f- f) u. s. w. in gleicher Weise gesagt werden, dafs seine Bestandtheile gleichzeitig mit einander oder nahe bei einander seien, obwohl diese Complexe hinsichtlich ihrer einzelnen singul\u00e4r aufgefafsten Be-","page":109},{"file":"p0110.txt","language":"de","ocr_de":"110\nF. Schumann\nstandtheile durchaus verschieden und eben nur hinsichtlich der Art und Weise einander gleich sind, wie ihre Bestandteile mit ein-ander verkn\u00fcpft sind. Wie ferner eine singul\u00e4r aufgefafste, einfache Qualit\u00e4t gleichzeitig mehreren Gruppen einander \u00e4hnlicher und mit gleichem Namen benannter Qualit\u00e4ten angeh\u00f6ren kann und dementsprechend an ihr eine Anzahl verschiedener Modificationen unterschieden wird, so kann auch als collectiv aufgefafstes Erscheinungsganzes gleichzeitig mehreren Gruppen von solchen Erscheinungsganzen angeh\u00f6ren, die hinsichtlich der Art und Weise, wie ihre Bestandteile mit einander verkn\u00fcpft sind, einander \u00e4hneln. So kann z. B. das Erscheinungsganze (a -f- b) sowohl zur Gruppe derjenigen Erscheinungscomplexe geh\u00f6ren, deren Bestandteile wir als gleichzeitig bezeichnen, als auch zur Gruppe derjenigen Erscheinungscomplexe, deren Bestandteile wir f\u00fcr r\u00e4umlich einander benachbart erkl\u00e4ren. Diesem Verhalten entsprechend reden wir von der Gleichzeitigkeit, Succession, N\u00e4he, Entfernung u. s. w. zweier Erscheinungen, um anzudeuten, dafs das Erscheinungsganze, dem sie angeh\u00f6ren, zur Gruppe derjenigen hinsichtlich der Verkn\u00fcpfungsweise ihrer Bestandteile einander \u00e4hnlichen Erscheinungscomplexe geh\u00f6re, deren Bestandteile wir entsprechend der Eigent\u00fcmlichkeit ihrer Verkn\u00fcpfungsweise f\u00fcr gleichzeitig, succedirend, einander benachbart u. s. w. erkl\u00e4ren. Es sind aber diese einfachen, undefinirbaren Beziehungen der Gleichzeitigkeit, Succession, Nachbarschaft u. s. w. eben so wenig von den Erscheinungen, zwischen denen sie bestehen, trennbar und davon abgesondert vorstellbar, wie die einfachen undefinirbaren Modificationen der Tontiefe, Tonst\u00e4rke u. s. w. abgesondert von einem Tone, dessen Tiefe, St\u00e4rke u. s. w. sie sind, bestehen k\u00f6nnen, und die Unterscheidung jener einfachen Beziehungen kommt im Grunde auf demselben Wege zu Stande wie die Unterscheidung dieser einfachen Modificationen, nur besteht der Unterschied, dafs bei den einfachen Modificationen die distinctio rationis auf singul\u00e4r aufgefafste, einfache Qualit\u00e4ten, bei den einfachen Beziehungen auf collectiv aufgefafste Erscheinungsganze Anwendung findet\u201c\n\u201eWie endlich auf Grund solcher einfachen Modificationen, die sich gegenseitig ausschliefsen und von denen dennoch irgend eine jeder Qualit\u00e4t bestimmter Art zukommen inufs, die allgemeineren Modificationsbegriffe der Intensit\u00e4t, Tonh\u00f6he \u00fcberhaupt u. s. w. entstehen, so entsteht auch auf Grund des Um-","page":110},{"file":"p0111.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Zeitanschauung.\nIll\nStandes, dafs sich die einfachen Beziehungen des Vorher, Nachher und der Gleichzeitigkeit an einem und demselben Complexe zweier Ereignisse oder Objecte gegenseitig ausschliefsen und doch irgend eine von diesen Beziehungen zwischen den Bestand-theilen eines solchen Complexes nothwendig bestehen mufs, der allgemeinere Begriff der Zeitordnung \u00fcberhaupt. In \u00e4hnlicher Weise entsteht auch der allgemeinere Beziehungsbegriff des Zeitraumes oder der Zeitdauer, die zwischen zwei Ereignissen verl\u00e4uft, desgleichen der r\u00e4umliche Begriff der Entfernung, Richtung und andere mehr. Und ganz analog dem Begriffe einer Mannigfaltigkeit einfacher Qualit\u00e4ten z. B. dem Mannigfaltigkeitsbegriffe des Tonsystems, welcher alle m\u00f6glichen Combinationen der drei allgemeineren Modificationen einer Tonqualit\u00e4t, der Tonh\u00f6he, Tonintensit\u00e4t und Klangfarbe umfafst, ist der Mannigfaltigkeitsbegriff der Zeit, welcher als Collectivbegriff die Zahl aller m\u00f6glichen sowrohl hinsichtlich der Zeitordnung (Zeitrichtung) als auch hinsichtlich des Zeitintervalls n\u00e4her bestimmten Beziehungen umfafst, in denen irgend ein Ereignifs zu einem anderen gegebenen Ereignisse stehen kann.\u201c\n\u201eMit der Behauptung, dafs die specielleren Modifications- oder Relationsbegriffe den allgemeineren vorhergehen, stimmt auch die historische Entwickelung der Sprache \u00fcberein, da z. B. die Begriffe der Schw\u00e4che und St\u00e4rke eines Tones fr\u00fcher vorhanden sind als der Begriff der Tonintensit\u00e4t \u00fcberhaupt, die Begriffe der Weichheit und Sch\u00e4rfe eines Tones fr\u00fcher als der Begriff der Klangfarbe \u00fcberhaupt.\u201c\n3. \u201eAus dem Vorstehenden ergiebt sich in psychologischer Hinsicht vor Allem dies, dafs das Wissen von einem Wechsel und zeitlichen Verlaufe von Vorstellungen und Ereignissen nicht eine von den Empfindungen und Vorstellungsbildern derselben wesentlich verschiedene h\u00f6here geistige Th\u00e4tigkeit, ein besonderes beziehendes Wissen zur Voraussetzung hat. Alle F\u00e4higkeiten und Erkenntnisse, welche auf ein solches beziehendes Wissen zur\u00fcckgef\u00fchrt werden, erkl\u00e4ren sich mittels des allgemeinen Satzes, dafs Vorstellungen verschiedener collectiv aufgefafster Erscheinungsganze (a + l>), (<* + d), (e -(- f) u. s. w. in den Associationen, die sie mit anderen Vorstellungen eingegangen sind, sich f\u00fcr einander substituiren k\u00f6nnen, falls nur jene Erscheinungsganze hinsichtlich der Art und Weise mit einander \u00fcbereinstimmen, wie ihre Bestandteile a und \u00a3, c und d, c und f","page":111},{"file":"p0112.txt","language":"de","ocr_de":"112\nF. Schumann.\nmit einander verkn\u00fcpft sind oder hinsichtlich ihrer Beschaffenheit sich zu einander verhalten. Diesem Satze gem\u00e4fs k\u00f6nnen wir z. B. von der schnellen Aufeinanderfolge mehrerer T\u00f6ne reden und alle Urtheile, welche mit diesen Begriffen operiren, richtig verstehen und anwenden nicht deshalb, weil uns eine eigenth\u00fcmliche, h\u00f6here geistige F\u00e4higkeit die schnelle Aufeinanderfolge als solche besonders zum Bewufstsein bringt, sondern deshalb, weil wir uns den Ausdruck \u201eschnelle Aufeinanderfolge mehrerer T\u00f6ne\u201c durch die dadurch reproducirten Vorstellungen einer gewissen Anzahl von Complexen schnell auf einander folgender T\u00f6ne in seiner Bedeutung verdeutlichen k\u00f6nnen, so wie wir uns auch die Bedeutung des Ausdruckes Tontiefe nur durch Vorstellung einer Anzahl tiefer T\u00f6ne vergegenw\u00e4rtigen k\u00f6nnen, und weil ein neu auftauchender Complex schnell auf einander folgender T\u00f6ne gem\u00e4fs der Art und Weise wie seine Bestandteile zeitlich mit einander verkn\u00fcpft sind, durch Substitution diejenigen Vorstellungen reproduciren kann, die sich bisher mit anderen Complexen schnell auf einander folgender T\u00f6ne associirten, vor Allem also sofort die Worte \u201eschnell auf einanderfolgende T\u00f6ne\u201c und alle diejenigen in Worten ausgesprochenen Urtheile reproduciren kann, die mit der schnellen Aufeinanderfolge gegebener T\u00f6ne irgend welche andere Eigent\u00fcmlichkeiten oder Folgen verkn\u00fcpfen.\u201c\nII.\nDie im Vorstehenden angedeutete Theorie der Zeitwahmehinung enth\u00e4lt auch nach der Ansicht von Prof. M\u00fcller nur die einfachsten Annahmen, von denen man zun\u00e4chst auszugehen hat Bei der Durchf\u00fchrung im Einzelnen d\u00fcrften diese Annahmen noch mannigfache Modificationen und Erg\u00e4nzungen erfahren. Zur Zeit scheint jnir aber eine solche Durchf\u00fchrung nicht m\u00f6glich zu sein, denn es kommen dabei andere fundamentale Probleme in Frage, welche ebenfalls noch nicht gel\u00f6st sind. Weder ist sicher festgestellt, wie wir dazu kommen, an der untrennbaren Einheit einer Tonempfindung die Eigenschaften der Intensit\u00e4t, Qualit\u00e4t und zeitlichen Dauer zu unterscheiden, noch stimmen die Ansichten \u00fcber das Wesen des Urtheils \u00fcberein, noch ist die Zusammenfassung der Empfindungen zu Einheiten auch nur ann\u00e4hernd gen\u00fcgend untersucht, noch haben wir eine ausf\u00fchrlich begr\u00fcndete Theorie der inneren Wahrnehmung. Aufserdem","page":112},{"file":"p0113.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Zeitanschauung.\n113\nhaben experimentelle Untersuchungen erst festzustellen, inwieweit bei der Beurtheilung zeitlicher Verh\u00e4ltnisse mittelbare Kriterien in Frage kommen. Endlich sind Thatsachen, unter Umst\u00e4nden viel Thatsachen erforderlich, um eine Theorie einigermaafsen sicher stellen zu k\u00f6nnen und gerade an Thatsachen leidet die Psychologie noch bedenklichen Mangel. Ich stimme aber Herrn Professor M\u00fclleb darin unbedingt zu, dafs es immer gut ist, bei der Erkl\u00e4rung psychologischer Probleme zun\u00e4chst von m\u00f6glichst einfachen Voraussetzungen auszugehen und nur auf solche psychische Gr\u00f6fsen sich zu st\u00fctzen, die durch innere Wahrnehmung sicher constatirt werden k\u00f6nnen. Dementsprechend sind in obigen Ausf\u00fchrungen unbekannte Gr\u00f6fsen wie \u201evergleichende Th\u00e4tigkeit der Seele14, \u201eunterscheidende Th\u00e4tigkeit44, \u201ewissender Zustand\u201c etc., mit denen vielfach nebelhafte Vorstellungen verbunden werden, bei Seite gelassen.\nWenn ich aber auch den Versuch, das ganze Problem definitiv zu l\u00f6sen, als verfr\u00fcht betrachten w\u00fcrde, so m\u00f6chte ich doch auf einige Punkte hier n\u00e4her eingehen und zwar zun\u00e4chst auf die Psychologie des Vergleichens.\n1. Nehmen wir den Fall, dafs ein Experimentator Versuche \u00fcber die Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr Schallintensit\u00e4ten etwa nach der Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle anstellt. Es wirken dann nach einander auf die Versuchsperson zwei Schallreize von verschiedener Intensit\u00e4t ein und sie giebt ein auf den zweiten Eindruck bez\u00fcgliches Urtheil (\u201est\u00e4rker\u201c, \u201eschw\u00e4cher41 oder \u201egleich44) ab. Aufgabe der Wissenschaft ist es, die ganz\u00a9 Causelkette festzustellen, welche Reiz und Urtheil (d. h. die gesprochenen Worte) mit einander verbindet. Nun rufen einerseits die beiden Schallreize zwei Schallempfindungen a, und\nhervor, und andererseits geht den gesprochenen Worten ihr Bewegungsbild und eventuell auch ihr Lautbild und Gesichtsbild voran. Nur soweit giebt uns die innere Wahrnehmung sichere Auskunft. Irgend einen anderen psychischen Vorgang habe ich bei derartigen Versuchen nie zu constatiren vermocht. Immerhin will ich jedoch die M\u00f6glichkeit zugeben, dafs noch ein weiteres psychisches Element dabei auftritt, welches sich meiner inneren Wahrnehmung entzieht, dessen Existenz sich aber vielleicht indirect nachweisen l\u00e4fst. Halten wir uns jedoch zun\u00e4chst an das durch die innere Wahrnehmung direct Gegebene, so l\u00e4fst sich die Ge-^etzm\u00e4fsigkeit des Geschehens in folgender Weise beschreiben:\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XVII.\t8","page":113},{"file":"p0114.txt","language":"de","ocr_de":"114\nF. Schumann.\nDer Complex der beiden Schallempfindungen bildet ein einheitliches Ganzes und ruft als Ganzes das Urtheil hervor. Diese Wirkung, welche von dem Complexe ausgeht, ist unabh\u00e4ngig von den Intensit\u00e4ten der einzelnen Elemente, sie richtet sich nur nach ihrem Intensit\u00e4tsverh\u00e4ltnifs, denn ein und dasselbe Urtheil kann durch die verschiedensten Complexe von Schallempfindungen hervorgerufen werden, die alle nur das mit einander gemeinsam haben, dafs ihre Bestandteile in demselben Intensit\u00e4tsverh\u00e4ltnifs zu einander stehen. Drei Arten von Complexen (a, -f\u201c\t1 haben\nwir zu unterscheiden : 1. \u00ab, ist intensiver als s2 2. s2 ist intensiver als \u2014 beide Male vorausgesetzt, dafs der Unterschied die Schwelle \u00fcberschreitet \u2014 3. der Intensit\u00e4tsunterschied zwischen den beiden Bestandteilen des Complexes ist kleiner als die Unterschiedsschwelle. Nichts Wesentliches \u00e4ndert sich an den gegebenen Ausf\u00fchrungen, wenn man annimmt, dafs aufser den Wortvorstellungen, welche dem gesprochenen Urtheil entsprechen, noch ein besonderer specifischer Urtheilsprocefs auftritt. Auch erkennt man leicht^ dafs f\u00fcr die Vergleichung von Qualit\u00e4ten dasselbe gilt.\nDa die gegebene Formulirung sich zun\u00e4chst nur auf das st\u00fctzt, was sicher durch innere Wahrnehmung zu constatiren ist, - so kann sie im weiteren Verlauf der Wissenschaft nat\u00fcrlich noch mannigfache Modificationen erleiden. So hat v. Ehbenfels in seinem Aufsatz \u201eUeber Gestaltqualit\u00e4ten41 ( Viertdjakrsschr. f. miss. Philos., 14, 1890, S. 249 ff.) versucht die Existenz eines weiteren Vorstellungselementes nachzuweisen, welches zu den beiden zu beurtheilenden Empfindungen hinzutreten und mit ihnen ein einheitliches Ganzes bilden soll. Auf seine Ausf\u00fchrungen, die ich nicht als beweisend anzuerkennen vermag, werde ich im dritten Abschnitt ausf\u00fchrlich eingehen.\nSehr complicirt wTerden die Verh\u00e4ltnisse, wenn wir 2 Paare von Empfindungen (a b und A B) haben und nun die Distanzen a\u2014b und A\u2014B mit einander vergleichen sollen. Werden z. B. einer Versuchsperson 2 graue Papiere gx und g2 von verschiedener Helligkeit vorgelegt und darauf zwei andere graue Papiere Gi und G2, so kann sie beurtheilen, ob die Distanzen g1\u2014g2 und Ql\u2014G% gleich oder verschieden sind. In diesem Falle treten die den grauen Papieren entsprechenden Empfindungen y1?\t7\\, r*\nauf und jedes Paar von Empfindungen bildet ein einheitliches Ganzes ; aufserdem bildet nun aber auch noch der ganze Complex","page":114},{"file":"p0115.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Zeitanschauung.\n115\nIj/'i + 7*} + (A + A)j ein einheitliches Ganzes h\u00f6herer Ordnung, indem von dem Complex als Ganzem eine Wirkung ausgeht, welche sich in dem Urtheil documentirt, und zwar ist die Wirkung bestimmt durch das Verh\u00e4ltnifs, in dem die beiden Empfindungsdistanzen zu einander stehen. \u2014 Bei dieser Darstellung des ge-setzm\u00e4fsigen Zusammenhanges habe ich mich wieder auf die durch innerere Wahrnehmung sicher zu constatirenden That-sachen beschr\u00e4nkt und rechne durchaus mit der M\u00f6glichkeit, dafs diese Ausf\u00fchrungen im Laufe der Zeit mannigfach modifient werden. Ja ich hoffe sogar schon in n\u00e4chster Zeit selbst experimentelle Untersuchungen vorlegen zu k\u00f6nnen, welche auf die Vergleichung von Distanzen ein neues Licht werfen.\nVielfach hat man eine besondere vergleichende Th\u00e4tigkeit der Seele angenommen, aber schon Stumpf (Tonpsychologie I S. 104ff) hat darauf hingewiesen, dafs die einfachen Urtheile meistens sich uns ganz von selbst aufdr\u00e4ngen. Nehmen wir z. B. den einfachen Fall der Vergleichung zweier grauer Papiere, so dr\u00e4ngt sich das Urtheil bei gr\u00f6fseren Unterschieden sofort von selbst auf, falls wir nur \u00fcberhaupt aufgepafst haben. Erst wenn der Unterschied der Schwelle nahe kommt und das Urtheil sich nicht gleich einstellt, dann pflegen wir \u2014 falls die beiden Papiere sich l\u00e4ngere Zeit gleichzeitig im Gesichtsfelde befinden \u2014 mit der Aufmerksamkeit hin- und herzugehen, bis das Urtheil eintritt. In solchen F\u00e4llen kann man vielleicht von einer Th\u00e4tigkeit reden, doch ist es keine specifisch vergleichende Th\u00e4tigkeit, sondern vir haben es dann mit der allgemeinen Aufmerksamkeits-th\u00e4tigkeit zu thun. Weil von dem Complex der beiden Empfindungen das Urtheil nicht gleich hervorgerufen wird, lassen wir ihn \u00f6fter bei gespannter Aufmerksamkeit ein wirken, bis die gew\u00fcnschte Wirkung eintritt.\nNehmen wir mehrere auf einanderfolgende Empfindungen z. B. drei momentane Schalleindr\u00fccke et ( e2 ( e3 und beurtheilen wir das Intensit\u00e4tsverh\u00e4ltnifs, so treten im Bewufstsein wieder nur die 3 Empfindungen und das Urtheil auf, wie es duroh die Worte \u201ezunehmende Intensit\u00e4t44 oder \u201eSteigerung44 charakterisirt wird. Das Urtheil ist bedingt durch den ganzen Complex (\u00dfi + e2 + es) und zwar speciell durch das Intensit\u00e4tsverh\u00e4ltnifs der Elemente. Lassen wrir nun die Schalleindr\u00fccke rascher und rascher auf einander folgen, so sind schliefslich die 3 Empfindungen im Bewufstsein nicht mehr getrennt von einander,\n8*","page":115},{"file":"p0116.txt","language":"de","ocr_de":"116\nF. Schumann*\nsie laufen gleichsam in einen Procefs zusammen. Wir k\u00f6nnen den ablaufenden Procefs durch ein r\u00e4umliches Schema repr\u00e4sen-tiren mit H\u00fclfe eines rechtwinkeligen Coordinatensystems, indem wir durch die Abscisse die Zeiten und durch die Ordinaten die\nFig. 1.\nverschiedenen Intensit\u00e4ten darstellen. Nebenstehendes Schema stellt dann den Ablauf des Processes dar. Folgen die T\u00f6ne noch rascher, so gleicht der Gesammtprocefs mehr und mehr dem eines continuirlich an Intensit\u00e4t zunehmenden Schalleindruckes und das Schema wird zu einer schr\u00e4gen geraden Linie. Bei der Beurtheilung eines solchen continuirlich wachsenden Tones treten auch \u2014 so ist wieder die einfachste Annahme \u2014 im Bewufst-sein nur der Inhalt, welchen die schr\u00e4ge gerade Linie re-pr\u00e4sentirt, und das Urtheil auf und das Urtheil wird allein durch diesen Bewufstseinsinhalt hervorgerufen. Insofern haben wir es mit einer unmittelbaren, directen Wahrnehmung der Ver\u00e4nderung zu thun.\nHieraus w\u00fcrde nat\u00fcrlich folgen, dafs eine Tonempfindung von constanter Intensit\u00e4t, welche wir im r\u00e4umlichen Schema durch eine horizontale gerade Linie repr\u00e4sentiren, eben auf Grund der Eigenschaft der constanten Intensit\u00e4t eine andere Wirkung (ein anderes Urtheil) zu erzielen vermag als eine zweite sonst v\u00f6llig gleiche. Tonempfindung von zunehmender Intensit\u00e4t Ferner darf das Urtheil nur abh\u00e4ngen von dem Verh\u00e4ltnifs, in dem die Intensit\u00e4ten der aufeinanderfolgenden Stadien zu einander stehen, es mufs relativ imabh\u00e4ngig sein von den absoluten Intensit\u00e4ten der auf einander folgenden Stadien. Die Annahme aber, dafs ein an Intensit\u00e4t zunehmender Procefs einen anderen speciell durch das Zunehmen bedingten Procefs hervorrufen kann, hat wohl keine Schwierigkeiten. Setzen doch alle Forscher,","page":116},{"file":"p0117.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Zeitanschauung.\n117\nwelche eine specifische Ver\u00e4nderungsempfindung annehmen, ein Gleiches voraus. Dabei ist es selbstverst\u00e4ndlich nicht n\u00f6tig, dafs der ganze Procefs abl\u00e4uft, bevor das Urtheil eintritt; wohl aber mufs die Dauer des Processes erst eine gewisse Gr\u00f6fse erreicht, eine Schwelle \u00fcberschritten haben.\nWenn die Geschwindigkeit, mit der die Intensit\u00e4t eines Tones an w\u00e4chst, eine untere Grenze \u00fcberschreitet, so wird die Ver\u00e4nderung nicht unmittelbar wahrgenommen sondern erschlossen. Stellt die nebenstehende Linie a b einen solchen Ton dar, so achten wir zun\u00e4chst etwa auf die Strecke a% cr2, welche sich von der entsprechenden Strecke eines Tones von constanter Intensit\u00e4t nicht merklich unterscheidet. Wir haben daher den Eindruck eines an Intensit\u00e4t sich gleich bleibenden Tones d. h. es wird das betreffende Urtheil hervorgerufen. Dasselbe geschieht, wenn\nwir sp\u00e4ter die Strecke \u00dft \u00df% beachten. Aber dann wird der Eindruck a{ a% wieder reproducirt und nun rufen beide zusammen, vorausgesetzt, dafs sie merklich verschieden sind, das Urtheil hervor \u201eJetzt ist der Ton st\u00e4rker als vorher\u201c.\nGanz dasselbe, wie f\u00fcr die Ver\u00e4nderung der Intensit\u00e4t, gilt auch f\u00fcr die Ver\u00e4nderung der Qualit\u00e4t und f\u00fcr die Orts\u00e4nderung. Wir haben mindestens mit der M\u00f6glichkeit zu rechnen, dafs es eine directe Wahrnehmung der Bewegung giebt d. h. dafs die einer Gruppe unmittelbar aufeinander folgender Stadien des bewegten Gegenstandes entsprechende Gruppe von Eindr\u00fccken eine besondere Wirkung, das Bewegungsurtheil, zu erzielen vermag.\n2. Zweitens m\u00f6chte ich noch kurz auf die Frage eingehen, ob wir einen Complex von Empfindungen nur dann als Ganzes auffassen, beurtheilen k\u00f6nnen, wenn die einzelnen Bestandteile simultan im Bewufstsein sind. Ich kn\u00fcpfe an eine Bemerkung in Stumpf\u2019s Tonpsychologie (I, S. 98ff.): \u201eEs ist notwendig, dafs das was als eine Mehrheit, als \u00e4hnlich u. s. w. beurteilt wird, gleichzeitig im Bewufstsein vorhanden sei. Wenn aufeinanderfolgende T\u00f6ne miteinander verglichen werden, mufs der","page":117},{"file":"p0118.txt","language":"de","ocr_de":"118\nF. Schumann\nvergangene doch als Ged\u00e4chtnifsbikl gegenw\u00e4rtig sein ; Ge-d\u00e4chtnifs in dem weiteren Sinne genommen, in welchem wir auch die Aufbewahrung des eben Empfundenen im Bewufstsein, bevor Vergessen eintritt, dazu rechnen. Aber nicht blos ist alles in dieser Weise Beurtheilte gleichzeitig im Bewu\u00dftsein, sondern es ist in dem Acte des Urtheilens selbst eingeschlossen. Dieser kommt, wenn auch als neuer, doch nicht als ein selbst\u00e4ndiger Vorgang hinzu, ist vielmehr ohne jene undenkbar. Und trotzdem bleiben die gleichzeitigen und in einem Urtheile verbundenen Vorstellungen ihrem eigenth\u00fcmlichen Inhalte nach unver\u00e4ndert und unvermischt\u201c \u2014 Nimmt man an, dafs die Urtheile eine besondere Grundklasse psychischer Ph\u00e4nomene ausmachen und dafs sie psychische Acte sind, in denen das Beurtheilte selbst eingeschlossen ist, so m\u00fcssen nat\u00fcrlich die Inhalte, deren Verh\u00e4ltnifs beurtheilt wird, gleichzeitig im Bewufstsein sein; denn das Urtheil \u00fcber das Verh\u00e4ltnifs zweier aufeinander folgender Empfindungen kann jedenfalls erst nach Eintritt der zweiten Empfindung hervorgerufen werden und wenn der Urtheils-akt dann beide Inhalte umschliefsen soll, so mufs selbstverst\u00e4ndlich von der ersten Empfindung noch ein Ged\u00e4chtnifsbild vorhanden sein. Ich vermag aber meinerseits die Gr\u00fcnde, welche f\u00fcr die Existenz eines besonderen Urtheilsvorganges (welcher durch die innere Wahrnehmung jedenfalls nicht constatirt werden kann) angef\u00fchrt sind, nicht als beweisend zu betrachten. Vor Allem vermag ich keinen Grund zu entdecken, welcher beweisen k\u00f6nnte, dafs das Urtheil das Beurtheilte eiuschliefst. Eine eingehendere Er\u00f6rterung dieser schwierigen Frage w\u00fcrde mich hier indessen zu weit f\u00fchren. Ich gedenke sp\u00e4ter an anderer Stelle ausf\u00fchrlich auf die Psychologie des Urtheils einzugehen. Vorl\u00e4ufig werde ich, uni m\u00f6glichst voraussetzungslos vorzugehen , das Urtheil als unbekannte Gr\u00f6fse betrachten. Wir k\u00f6nnen dann nur sagen, dafs beim Vergleichen zweier T\u00f6ne im Bewufstsein die Tonempfindungen tx und U und das Urtheil auftreten und dafs das Urtheil bedingt ist durch den Complex der beiden Tonempfindungen. Nat\u00fcrlich mufs in dem Augenblick, wo t. eintritt, noch eine Nachwirkung von /, vorhanden sein, aber es ist nicht gesagt, dafs diese Nachwirkung in einer bewufsten Vorstellung besteht, vielmehr gen\u00fcgt es durchaus an eine physiologische (bezw. unbewufst psychische) Nachwirkung zu denken. Diese Annahme hat dann auch den Vorzug, dafs sie mit","page":118},{"file":"p0119.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Zeitanschauung.\n119\nder inneren Wahrnehmung \u2014 wenigstens mit der meinigen \u2014 in voller Uebereinstimmung steht. Bei der Vergleichung zweier T\u00f6ne, die etwa in einem Intervall von 2 Secunden aufeinander folgen, vermag ich im Allgemeinen beim Eintreten der 2. Empfindung von der ersten auch nicht die geringste Spur mehr im Bewusstsein zu entdecken. Dasselbe haben mir noch verschiedene in Selbstbeobachtung ge\u00fcbte Herren auf meine Fragen angegeben. Andere waren allerdings nicht ganz sicher in ihrem Urtheile, doch vermochten sie jedenfalls auch das Vorhanden-sein der vorangegangenen Empfindung nicht direct zu behaupten. Beobachtete ich sehr rasch auf einander folgende Eindr\u00fccke (z. B. Telephonknalle, die in Intervallen von 0,2 Sec. auf einander folgten), so kam ich zu keinem deutlichen Urtheile mehr, die innere Wahrnehmung verlor ihre Sicherheit; jedenfalls konnte ich aber auch dann kein Andauern der ersten Empfindung im Bewufstsein wirklich constatiren.\nDie Annahme, dafs da\u00ab Urtheil das zu Beurtheilende einscliliefst, f\u00fchrt zu grofsen Schwierigkeiten, wenn man sich eine psychophysische Repr\u00e4sentation fftr das Vergleichen construiren will. Stumpf schreibt hier\u00fcber (Tonpsychologie I, S. 100 f.) : \u201eMan kann in der That nicht annehmen, dafs wenn zwei Empfindungen mit einander verglichen werden, dies im Gehirne dadurch reprftsentirt sei, dafs die bez\u00fcglichen Nervenprocesse in der Hirnrinde irgendwie physisch vereinigt oder umgestaltet w\u00fcrden : denn es findet, wie soeben und schon in \u00a7 1 betont wurde, factisch keine Vermischung und keine Aenderung der Empfindungen durch das Urtheil statt. Auch kann der dem Urtheil entsprechende Procefs nicht etwa als ein dritter zwischen den beiden die Empfindungen repr\u00e4sentirenden hin- und herlaufen, da ein solcher die beiden anderen doch nicht in sich ein-schliefsen w\u00fcrde. Er kann auch nicht die beiden r\u00e4umlich oder mechanisch\nals ihre Resultante) in sich fassen. Im Urtheile sind die beurtheilten\n/\nEmpfindungen in einer Weise eingeschlossen, die sich von allen unserem Denken gel\u00e4ufigen Weisen physischen Einschlusses durch wesentliche Z\u00fcge unterscheidet. Die Schwierigkeiten verdoppeln sich, wenn man auch noch die Urtheile zweiter, dritter Ordnung, worin wieder Urtheile der vorangehenden Ordnung eingeschlossen sind, in Betracht zieht.\u201c \u2014 Die hier angef\u00fchrten Schwierigkeiten h\u00f6ren auf, wTenn man die Annahme fallen l\u00e4fst, dafs das Urtheil das zu Beurtheilende einschliefst. Dann besteht die psychophysische Repr\u00e4sentation einfach darin, dafs durch die beiden die Empfindungen repr\u00e4sentirenden Processe ein ganz neuer das Urtheil re-pr\u00e4sentirender Procefs hervorgerufen wird. Allerdings treten gleich wdeder Schwierigkeiten auf bei der Vergleichung von Distanzen, doch verm\u00f6gen hier vielleicht weitere experimentelle Untersuchungen Licht zu verbreiten.\nWas hier speciell f\u00fcr die Vergleichung auf einander folgender T\u00f6ne ausgef\u00fchrt ist, l\u00e4fst sich leicht auf alle F\u00e4lle aus-","page":119},{"file":"p0120.txt","language":"de","ocr_de":"120\nF. Schumann.\ndehnen, in denen ein Complex successiver Reize in seiner Totalit\u00e4t aufgefafst wird. So behauptet man, um einige Beispiele anzuf\u00fchren, dafs ein Satz doch nicht richtig verstanden werden k\u00f6nnte, wenn die einzelnen Wortvorstellungen nicht gleichzeitig im Bewufstsein w\u00e4ren. Nun ist aber zum richtigen Verstehen eines vorgesprochenen Satzes doch nur erforderlich, dafs durch ihn richtige Vorstellungen hervorgerufen werden. Es mufs also eine Verbindung bestehen zwischen den Vorstellungen und dem Complex der Worte. Dazu gen\u00fcgt aber, dafs die Wort-, Vorstellungen successive im Bewufstsein sind, da sie ja trotzdem eine Wirkung aus\u00fcben k\u00f6nnen, die von dem ganzen Complex bedingt ist. Stricker glaubt zwar durch innere Wahrnehmung das gleichzeitige Vorhandensein mehrerer Lautvorstellungen im Bewufstsein constatiren zu k\u00f6nnen. Er behauptet: \u201eEin Laut steht immer ganz im Vordergr\u00fcnde des Bewufstseins. W\u00e4hrend ich aber diesen einen lebhaft vorstelle, sind seine Vorg\u00e4nger noch nicht ganz verschwunden und seine Nachfolger schon im Auftauchen begriffen14 (Studien \u00fcber das Bewufstsein, 1879, S. 2). Ich vermag indessen diese Aussage nicht einfach zu best\u00e4tigen, vielmehr scheint mir die innere Wahrnehmung beim Versuch, auf den Flufs der Lautvorstellungen zu achten, kein sicheres Resultat zu ergeben. Ich kann weder behaupten, dafs die Beschreibung Stricker\u2019s falsch, noch dafs sie richtig w\u00e4re. Jedenfalls kann ich aber behaupten, dafs nicht die s\u00e4mmtlichen Worte eines l\u00e4ngeren Satzes gleichzeitig in meinem Bewufstsein sind, vorausgesetzt, dafs ich besonders darauf achte. Im gew\u00f6hnlichen Lauf des Lebens denke ich nat\u00fcrlich nur an den Sinn der Worte und lasse die zeitlichen Verh\u00e4ltnisse ganz unbeachtet.\nFerner macht v. Ehrenfels (a, a, O. S. 250) geltend, dafs bei der Auffassung einer Melodie \u201ees nicht gen\u00fcge den Eindruck des jeweilig erklingenden Tones im Bewufstsein zu haben, sondern dafs \u2014 wenn jener Ton nicht der erste ist \u2014 der Eindruck mindestens einiger unter den vorausgehenden T\u00f6nen in der Erinnerung mitgegeben sein m\u00fcsse. Sonst w\u00e4re ja der Schlufs-eindruck aller Melodien mit gleichem Schlufston ein gleicher.\u201c Auch bei dieser Schlufsfolgerung ist \u00fcbersehen, dafs die vorangegangenen T\u00f6ne, auch wTenn sie nicht mehr im Bewufstsein sind, doch noch nach wirken und den Schlufseindruck mit bestimmen k\u00f6nnen.\nWas man bisher an Thatsaclien angef\u00fchrt hat, um den Satz","page":120},{"file":"p0121.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Zeitanschauung.\n121\nzu beweisen, dafs Complexe von Bewufstseinsinhalten nur dann ein einheitliches Ganzes bilden k\u00f6nnten, wenn sie simultan im Bewufstsein w\u00e4ren, gen\u00fcgt jedenfalls nicht. \u201eEin einheitliches Ganzes bilden\u201c heilst (in den hier in Betracht kommenden F\u00e4llen) in erster Linie \u201eals Ganzes wirken\u201c, \u201eals Ganzes die Vorstellungsreproduction, das Urtheil, das Gef\u00fchl beeinflussen.\u201c1 Dabei sind die Wirkungen des Complexes nicht gleich der Summe der Wirkungen der Elemente, sondern der Complex hat seine eigenartigen , nur von den Relationen der Elemente abh\u00e4ngigen Wirkungen. Weshalb aber solche Wirkungen nicht auch ein Complex auf einander folgender Bewufstseinsinhalte sollte hervor-rufen k\u00f6nnen, w\u00fcfste ich nicht.\nIch habe diese Frage schon fr\u00fcher bei Gelegenheit einer Discussion gestreift, welche ich mit Wundt \u00fcber die Methode der Messung des Bewnfstseinsumfang f\u00fcr successive Schalleindrticke gef\u00fchrt habe. Wundt hatte damals behauptet (Phil. Stud. VI, S. 250 ff.), bei Reihen einfacher und gleicher Schalleindr\u00fccke erg\u00e4be die innere Wahrnehmung (wenn die Intervalle nicht gr\u00f6fser als 4 Sec. w\u00e4ren), dafs in einem gegebenen Momente mit dem gerade einwirkenden immer auch eine Anzahl vorangegangener Eindr\u00fccke im Bewufstsein anwesend w\u00e4re. W\u00fcrden dann Gruppen solcher Schalleindr\u00fccke dadurch hergestellt, dafs immer der f\u00fcnfte, sechste u. s. w. Eindruck durch ein begleitendes Glockensignal markirt wp\u00fcrde, so erschiene, wenn die Signale einander hinreichend nahe l\u00e4gen, der zwischen je zwei Signalen gelegene Verlauf von Taktschl\u00e4gen ebenso unmittelbar als ein zusammengeh\u00f6riges Ganzes, wie etwa die von sechs Seiten eingefafste Figur eines Sechsecks.\nDemgegen\u00fcber hatte ich schon damals angef\u00fchrt, dafs die innere Wahrnehmung mir und meinen Versuchspersonen nichts von den in den dunkeln Umkreis des inneren Blickfeldes zur\u00fccktretenden Vorstellungen gezeigt h\u00e4tte; dafs ich vielmehr, wenn die Schl\u00e4ge nicht allzu rasch auf einander gefolgt w\u00e4ren, beim Auftauchen eines neuen Eindruckes das Kichtvorhandensein des vorangegangen ziemlich sicher h\u00e4tte constatiren k\u00f6nnen. Aufserdem hatte ich noch hervorgehoben, dafs durch eine einfache Ueberlegung f\u00fcr die Ansicht Wundt\u2019s Schwierigkeiten bereitet w \u00fcrden. Man habe anzunehmen, dafs unter normalen Verh\u00e4ltnissen gleiche successive Eindr\u00fccke Nervenprocesse in denselben Centralorganen hervorriefeu und dafs demnach der von jedem folgenden Eindr\u00fccke hervorgerufene psychophysische Procefs mit etwaigen von den vorangegangenen Ein-\n1 In einer besonderen, demn\u00e4chst erscheinenden Studie werde ich die Zusammenfassung von Gesichtsempfindungen zu Einheiten n\u00e4her er\u00f6rtern. Dabei wird der Bergriff des einheitlichen Ganzen weitere Erl\u00e4uterungen erfahren.","page":121},{"file":"p0122.txt","language":"de","ocr_de":"122\nF. Schumann.\ndr\u00fccken zur\u00fcckgebliebenen Nacherregungen zu einem Procefs verschmelzen m\u00fcf\u00dften.\nIn der Erwiderung behauptete dann Wundt, dafs der letztere Ein-wand schon deshalb kein ernstlicher Einwand sein k\u00f6nnte, weil ich selbst zugegeben h\u00e4tte, dafs bei einer gewissen Geschwindigkeit der Eindr\u00fccke mehrere aufeinander folgende zusammen im Bewusstsein sein k\u00f6nnten. Er f\u00fcgte hinzu: \u201eAuch hiefse es ja gar zu sehr die Thatsachen zu Gunsten moderner psychophysischer Anschauungen ignoriren, wenn man etwa behaupten wollte, bei Schallreizen, die in Intervallen von 0,002 \u2014 0,005 Sec. aufeinander folgen \u2014 bei solcher Geschwindigkeit k\u00f6nnen wir bekanntlich die Intermissionen noch wahrnehmen \u2014 bliebe jeder einzelne v\u00f6llig isolirt im Bewufstsein.\u201c \u2014 Nun hatte ich aber Wundt\u2019s Ansicht auch f\u00fcr rasche Aufeinanderfolgen nicht direct anerkannt, sondern nur zugegeben, dafs sich durch innere Wahrnehmung nicht gerade das Gegentheil sicher feststellen liefse. Ferner w\u00fcfste ich nicht, was die Wahrnehmung der Inter-missionen bei sehr grofsen Geschwindigkeiten beweisen k\u00f6nnten. Folgen zwei elektrische Funken in Intervallen von 0,002 Sec. auf einander, so ist es doch nicht ausgeschlossen, dafs ein Bewufstseinsvorgang eintritt, wie\nihn nebenstehendes, r\u00e4umliches Schema repr\u00e4sentirt. Zun\u00e4chst kann die Intensit\u00e4t des ersten Eindrucks ihr Maximum erreichen und wieder etwas abnehmen, bis die Wirkung des zweiten Eindrucks sich durch erneutes Anwachsen der Intensit\u00e4t geltend macht. Wir haben dann einen einheitlichen Eindruck, der zwei Intensit\u00e4tsmaxima besitzt, und dieser Eindruck kann trotz seiner Einheitlichkeit die Grundlage f\u00fcr das Urtheil \u201ezwei Reize\u201c abgeben, wTeil die Versuchsperson aus Erfahrung weifs, dafs einem solchen einheitlichen Eindruck zwei Reize entsprechen. Bei Gelegenheit von Versuchen \u00fcber den eben merklichen Zeitunterschied zweier aufeinander folgender Telephonknalle sagten z. B. meine Versuchspersonen aus, dafs bei abnehmender zeitlicher Differenz eine Grenze k\u00e4me, wo die beiden Empfindungen nicht mehr geschieden wT\u00e4ren, sondern zu einem einheitlichen Eindruck vereinigt w\u00fcrden, der zwei Maxima h\u00e4tte. Ja bei einer weiteren Verkleinerung der Differenz gaben die Versuchspersonen an, dafs eine v\u00f6llig einheitliche Empfindung von constanter Intensit\u00e4t hervorgerufen w\u00fcrde, dafs sie aber auf zwei Reize schl\u00f6ssen, weil die Empfindung eine gr\u00f6fsere zeitliche Ausdehnung h\u00e4tte, \u201evoller kl\u00e4nge\u201c, als die durch einen Reiz hervorgerufene Empfindung.\nDieselbe Frage kommt auch bei der Zeitauffassung in Betracht. Wir sollen nur dadurch zu einem Wissen von der Dauer","page":122},{"file":"p0123.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Zeitanschauung.\n123\nkommen k\u00f6nnen, so sagt man, dafs in jedem Momente noch die unmittelbar vorangegangenen Momente als (prim\u00e4re) Ged\u00e4chtnifs-bilder im Bewusstsein sind. In nebenstehender Figur repr\u00e4sen-\nt'r\nFig. 4.\ntire die horizontale Linie tj den zeitlichen Ablauf eines psychischen Vorganges, etwa eines Tones von 1 Sec. Dauer. Indem nun von jedem Momente ein Ged\u00e4chtnifsbild im Bewufstsein zur\u00fcckbleibt, dehnt sich der Ton gleichsam mehr und mehr aus und wir k\u00f6nnen uns diese Ausdehnung durch verticale Linien re-pr\u00e4sentirt denken, welche von t0 bis t1 proportional der Zeit wachsen.1 H\u00f6rt dann der Ton im Momente tA auf, so hat er die Ausdehnung /, t\\ erreicht und es dauert nun das Ganze in dieser Ausdehnung noch einige Zeit an. Hinzu kommt das Urtheil und dieses macht zusammen mit der Vorstellung den \u201ewissenden Zustand\u201c aus.\nAuch hier wird wieder etwas behauptet, was ich in keiner Weise durch meine innere Wahrnehmung zu verificiren vermag, was also in anderer Weise begr\u00fcndet werden mufs. Soviel ich sehe, ist die Construction aber nur begr\u00fcndet, wenn das Urtheil ein besonderer Frocefs ist, welcher das Beurtheilte einschliefst. Betrachten wTir vorl\u00e4ufig das Urtheil als eine unbekannte Gr\u00f6fse, die dem Beurtheilten event, auch nachfolgen kann, so ist die Ausdehnung des Tones mit der Zeit nicht erforderlich. F\u00fcr mich ist eine Tonempfindung von 1 Sec. Dauer eine realiter nicht weiter zerlegbare Einheit, die verschiedene Wirkungen erzielen kann, n\u00e4mlich Urtheile \u00fcber ihre Intensit\u00e4t, ihre H\u00f6he, Klang-\n1 Diese Ausdehnung darf nat\u00fcrlich nicht mit der r\u00e4umlichen Ausdehnung verwechselt werden.","page":123},{"file":"p0124.txt","language":"de","ocr_de":"124\nFSchumann.\nf\u00e4rbe und zeitliche Dauer. Wenn wir unmittelbar zu beurtheilen verm\u00f6gen, ob ein gegebener Ton von kurzer oder langer Dauer ist, so ist die einfachste Annahme, dafs ein kurz dauernder Ton auf Grund seiner kurzen Dauer eine andere Wirkung zu erzielen vermag als ein lang dauernder Ton, ebenso wie ein hoher Ton auf Grund seiner Qualit\u00e4t ein anderes Urtheil hervorruft als ein tiefer Ton.\nSollten wir die F\u00e4higkeit haben, zwei auf einander folgende T\u00f6ne hinsichtlich ihrer Dauer unmittelbar mit einander vergleichen zu k\u00f6nnen, so w\u00fcrden wir auch f\u00fcr diesen Fall zun\u00e4chst nur zu sagen haben, dafs die beiden Tonempfindungen einen einheitlichen Complex bilden, von dem eine Wirkung ausgeht, die durch das L\u00e4ngenverh\u00e4ltnifs der beiden von den Tonempfindungen in Anspruch genommenen Zeiten bestimmt ist\nAnalog liegen die Verh\u00e4ltnisse bei der Analyse des Wissens vom Wechsel der Vorstellungen. Wenn 2 T\u00f6ne auf einander folgen, so sollen die von den eintretenden Empfindungen nachbleibenden Ged\u00e4chtnifsbilder eine von der Zeit abh\u00e4ngige qualitative Modification erleiden, ein sog. Temporalzeichen erhalten. Haben die beiden Empfindungen nur sehr kurze Dauer, so schliefst sich das Urtheil an die beiden Ged\u00e4chtnifsbilder an und ist durch den Unterschied der Temporalzeichen bestimmt: bei einem gr\u00f6fseren Unterschiede entsteht das Urtheil \u201elangsame Aufeinanderfolge\u201c, bei einem kleineren Unterschiede das Urtheil \u201erasche Aufeinanderfolge\u201c. Ich setze dem die einfachere Annahme entgegen, dafs von dem Complex der beiden Tonempfindungen eine besondere Wirkung ausgeht, welche verschieden ist, je nachdem die zeitliche Distanz gr\u00f6fser oder kleiner ist. Daneben ist allerdings noch eine zweite M\u00f6glichkeit vorhanden. In der Zeit zwischen den beiden Tonempfindungen ist das Bewufstsein nicht leer, sondern es sind immer andere Be-wufstseinsinhalte vorhanden, und es k\u00f6nnte nun ein anderer Inhalt mit den beiden Tonempfindungen zusammen einen einheitlichen Complex bilden und das hervorgerufene Urtheil k\u00f6nnte im Wesentlichen durch die Dauer dieses Inhaltes bebestimmt sein. Wir h\u00e4tten dann eine Analogie mit der Sch\u00e4tzung r\u00e4umlicher Distanzen z. B. mit der Sch\u00e4tzung der Distanz zweier verticaler Linien, bei der auch die Ausdehnung des zwischenliegenden Theiles des Gesichtsfeldes f\u00fcr die Sch\u00e4tzung maafsgebend","page":124},{"file":"p0125.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Zeitanschauung.\n125\nist Vorausgesetzt ist nat\u00fcrlich im Vorstehenden, dafs das Ur-theil sich nicht auf irgend welche mittelbare Kriterien st\u00fctzt.\nSind statt zwei auf einander folgenden T\u00f6nen deren drei gegeben, so k\u00f6nnen wir noch beurtheilen, ob die dritte Empfindung der zweiten ebenso rasch folgte, wie die zweite der ersten oder anders ausgedr\u00fcckt, ob das zweite Intervall dem ersten gleich oder ob es kleiner bezw. gr\u00f6fser war. Ist das Urtheil unmittelbar, so haben wir wieder die Verbindung der 3 Tonempfindungen zu einem einheitlichen Complex anzunehmen, von \u25a0dem eine Wirkung ausgeht, die durch das L\u00e4ngenverh\u00e4ltnifs der beiden Intervalle bedingt ist.\nOb wir aber \u00fcberhaupt die F\u00e4higkeit haben, das Verh\u00e4ltnis zweier Intervalle oder auch das Verh\u00e4ltnifs der von 2 Tonempfindungen in Anspruch genommenen Zeiten unmittelbar zu beurtheilen, das zu entscheiden ist nicht ganz einfach. W\u00e4hrend wir eine grofse Uebung darin haben, r\u00e4umliche Distanzen zu beurtheilen, kommen wir im gew\u00f6hnlichen Leben kaum dazu, Intervalle oder zeitliche Ausdehnungen mit einander zu vergleichen. Stellt man aber besondere Versuche an, so zeigen fast alle Versuchspersonen anfangs eine ganz auffallende Unsicherheit des Urtheils und erst allm\u00e4hlich gelangen sie zu gr\u00f6fserer Sicherheit. Dafs aber das sichere Urtheil jedenfalls durch mittelbare Kriterien bestimmt ist, das habe ich in meiner fr\u00fcheren Arbeit zu zeigen gesucht und eine weitere Abhandlung wird es ausf\u00fchrlich best\u00e4tigen. Dafs ferner auch das sichere Urtheil beim Vergleichen ausgef\u00fcllter Zeiten mittelbar ist, wird eine besondere Abhandlung nachzuweisen suchen. Inwieweit indessen bei dem anf\u00e4nglichen unsicheren Urtheil \u00fcber grobe Unterschiede etwa eine unmittelbare Beurtheilung in Frage kommt, l\u00e4fst sich wohl schwer eruiren. Da indessen schon bei der einfachen Einordnung eines Intervalls oder mehrerer auf einander folgender in die Kategorien \u201esehr langsam\u201c, \u201elangsam\u201c, \u201eadaequat\u201c, \u201eschnell\u201c, \u201esehr schnell\u201c mittelbare Kriterien wenn nicht ganz allein so doch mindestens in sehr hohem Maafse mitwirken, so ist es nicht eben wahrscheinlich, dafs das complicirtere Urtheil \u00fcber das Verh\u00e4ltnifs zweier Intervalle unmittelbar hervorgerufen werden kann.\nIch m\u00f6chte noch hervorheben, dafs wir nur auf Grund meiner Anschauung von einer unmittelbaren Beurtheilung der Dauer und der Aufeinanderfolge reden k\u00f6nnen. Denn wenn man aus dem Nacheinander erst ein Nebeneinander macht, so","page":125},{"file":"p0126.txt","language":"de","ocr_de":"126\nF. Schumann.\nkann von einer unmittelbaren Beurtheilung des Nacheinander keine Rede sein.\n3. Mehrfach discutirt ist in neuerer Zeit der Begriff der Gegenwart, ohne dafs die Diskussion, so viel ich sehe, zu einem definitiven Ergebnifs gef\u00fchrt h\u00e4tte. Am besten macht man sich zun\u00e4chst klar, in welchem Sinne die gew\u00f6hnliche Meinung das Wort gebraucht. Wenn ich von den \u201egegenw\u00e4rtigen Ministern\u201c spreche oder wenn ich sage \u201edie gegenw\u00e4rtig hier im Zimmer befindlichen Personen\u201c, so meine ich die Minister, welche im Amte sind, und die Personen, welche sichr im Zimmer befinden, w\u00e4hrend ich die Worte ausspreche. Dabei nimmt man es aber mit der Zeitbestimmung im Allgemeinen nicht sehr genau. Spricht man z. B. von den Dichtem der Gegenwart, so w\u00fcrde man darunter wohl auch solche mit verstehen k\u00f6nnen, die kurz zuvor gestorben sind. Ja es kommt gogar vor, dafs gerade der Augenblick des Sprechens ausgenommen ist, w\u00e4hrend ein unmittelbar vorausgegangener und ein unmittelbar folgender Zeitraum gemeint sind. So kann man beispielsweise auch bei einem Diner sagen \u201eGegenw\u00e4rtig bin ich mit einer wissenschaftlichen Untersuchung \u00fcber das Sehen von Bewegungen besch\u00e4ftigt\u201c. Hin und wieder kommt es auf eine etwas genauere Zeitbestimmung an, daun betont man etwa das Wort \u201egegenw\u00e4rtig\u201c, um auf etwas aufmerksam zu machen, was gerade w\u00e4hrend des Aussprechens dieses Wortes passirt. Erscheint das Wort gegenw\u00e4rtig noch zu lang, so wendet man das einsilbige Wort \u201ejetzt\u201c an.\nIn allen diesen F\u00e4llen hebt man durch einen willk\u00fcrlich hervorgerufenen Vorgang f\u00fcr andere aus dem Flufs der Zeit eine Zeitstrecke heraus, um auf etwas w\u00e4hrend dieser Zeit Vorhandenes oder Geschehendes aufmerksam zu machen. In ganz gleicher Weise kann ich auch f\u00fcr mich eine solche Zeitstrecke herausheben, indem ich etwa die vor mir stehende Lampe betrachte und dabei mir innerlich sage : \u201edieser Gesichtsem-pfindungscomplex ist dir jetzt gegenw\u00e4rtig\u201c.\nDemnach handelt es sich nach dem Sprachgebrauch des gew\u00f6hnlichen Lebens bei der Gegenwart immer um eine Zeitstrecke. Der Laie h\u00e4lt allerdings vielfach den Augenblick, der zum Aussprechen des \u201eJetzt\u201c erforderlich ist, f\u00fcr ganz momentan.\nIn diesen klaren Thatbestand wird nun dadurch Verwirrung hineingebracht, dafs man eine mathematische Betrachtung auf","page":126},{"file":"p0127.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Zeitanschauung.\n127\ndie Zeit anwendet Der Zeitraum, welchen der von mir gesprochene Satz oder das Wort \u201egegenw\u00e4rtig\u201c bezw. \u201ejetzt\u201c oder \u00fcberhaupt ein beliebiger wenn auch noch so kurzer Vorgang in Anspruch nimmt, l\u00e4fst sich immer in 2 H\u00e4lften theilen, von denen die erste schon vergangen ist, w\u00e4hrend die zweite abl\u00e4uft. In gleicher Weise kann man sich auch jede H\u00e4lfte wieder getheilt denken und so ad infinitum weiter. Um nun aber eine Zeiteinheit zu erhalten, welche nicht mehr aus 2 Theilen besteht, von denen der eine der Vergangenheit angeh\u00f6rt, w\u00e4hrend der zweite gegenw\u00e4rtig ist, kommt man schliefslich auf den mathematischen Punkt. Die Gegenwart soll ein in continuirlicher Bewegung befindlicher Punkt sein, welcher die Zeitlinie erzeugt. Eine derartige Anschauung f\u00fchrt nun leicht zu irrth\u00fcmlichen Schlufsfolgerungen. So hat man z. B. gefolgert: \u201edie Zeit besteht aus Vergangenheit und Zukunft, die durch den beweglichen Punkt des \u201eJetzt\u201c getrennt sind. Da die Vergangenheit nicht mehr, die Zukunft noch nicht ist, so w\u00e4re die Zeit ein AVirkliches, das aus zwei H\u00e4lften besteht, die beide nicht wirklich sind.\u201c \u2014 Hierbei ist \u00fcbersehen, dafs das \u201eJetzt\u201c die Zeitstrecke bezeichnet, innerhalb deren das \u201eJetzt\u201c ausgesprochen oder gedacht wird ; es kann aber nie ausgesprochen oder gedacht werden, ohne dafs eine endliche wenn auch noch so kleine Zeit dabei vergeht. Ebenso geh\u00f6ren zur Vergangenheit bezw. Zukunft alle die A'org\u00e4nge, die verflossen bezw. noch nicht eingetreten sind, w\u00e4hrend das \u201eJetzt\u201c ausgesprochen wird. Diese zeitlichen Arer-h\u00e4ltnisse beziehen sich also auf einen bestimmten Aforgang und ein ATorgang hat immer eine endliche wenn auch noch so kleine zeitliche Ausdehnung. Der mathematische Punkt ist die Grenze, der man beliebig nahe kommen, die man aber nie erreichen kann. Definirt man aber den Begriff der Gegenwart in der AVeise, dafs ihm nichts AVirkliches mehr entspricht, dafs er zu einer mathematischen Fiction wird, so darf man sich auch nicht wundern, dafs dieser Begriff zur Construction der AVirklichkeit nicht brauchbar ist.\nAm besten l\u00e4fst man den mathematischen Punkt ganz aus der Psychologie heraus, da die Wissenschaft den geringsten Nutzen davon hat. Wie leicht er aber irre f\u00fchrt, zeigen die Schlufsfolgerungen, zu welchen James j\u00fcngst gekommen ist. Da sie von Strong {Psychol. Review. Ill, 2, S. 149 ff., 1896) gen\u00fcgend widerlegt sind, d\u00fcrfen sie hier wohl \u00fcbergangen werden.","page":127},{"file":"p0128.txt","language":"de","ocr_de":"128\nF, Schumann,\nZum Schlufs dieses Abschnittes m\u00f6chte ich nochmals darauf hinweisen, dafs das Vorstehende nur ein erster Versuch ist, mit den einfachsten Annahmen auszukommen. Ich setze selbst voraus, dafs die Ausf\u00fchrungen im weiteren Verlauf der Wissenschaften mannigfache Modificationen und Erg\u00e4nzungen erfahren werden. Mir scheint aber ein solcher Versuch f\u00fcr einen Experimentator sehr nahe liegend.\nIIL\nDie auf S. 177 angedeutete Anschauung \u00fcber die directe Ver\u00e4nderungsauffassung hat schon einen Angriff erfahren, bevor ich sie ver\u00f6ffentlichte. Dr. Stern hat sie n\u00e4mlich \u2014 von mir angeregt \u2014 auf dem letzten Psychologencongrefs in einem Vortrage \u00fcber die Auffassung von Ver\u00e4nderungen vertreten. Bei der Discussion, welche sich an diesen Vortrag angeschlossen hat, war ich leider nicht zugegen und aus dem kurzen Bericht l\u00e4fst sich nicht viel entnehmen. Neuerdings hat dann Dr. Witaskk (diese Zeiischr. XIV, S. 401 ff.) die M\u00f6glichkeit einer solchen directen Ver\u00e4nderungsauffassung bek\u00e4mpft und die Anschauung ver-theidigt, welche v. Ehrexfels in einem Aufsatz \u201eUeber Gestaltqualit\u00e4ten\u201c ( Vierteljahrsschr. f. wiss. Philos14, 1890, S. 249 ff.) ausgesprochen hat\n1. Letzterer geht von der Frage aus, \u201ewas die Vorstellungsgebilde \u201eRaumgestalt\u201c und \u201eMelodie\u201c in sich seien \u2014 eine blofse Zusammenfassung von Elementen oder etwas diesen gegen\u00fcber Neues, welches zwar mit jener Zusammenfassung, aber doch unterscheidbar von ihr vorliegt?\u201c Oder andersausgedr\u00fcckt: \u201eGesetzt es werde eine Melodie, bestehend aus den T\u00f6nen tu ... tn, von einem Bewufstsein S aufgefafst, gesetzt ferner, es werde nebenbei von n Individuen je einer der n T\u00f6ne, jeder mit seiner besondei'en zeitlichen Bestimmtheit vorgestellt, bringt dann 5 mehr zur Vorstellung als die \u00fcbrigen Individuen zusammengenommen?\u201c Die Entscheidung sucht v. Ehrexfels durch folgende Schlussfolgerung herbeizuf\u00fchren: Man kann voraussetzen, \u201edafs verschiedene Complexe von Elementen, wenn sie in sich nichts anderes darstellen, als die Summe derselben, um so \u00e4hnlicher sein m\u00fcssen, je \u00e4hnlicher ihre einzelnen Elemente unter einander sind.\u201c Diese Forderung trifft aber bei der Melodie nicht zu, da man einerseits 2 Complexe von Tonempfindungen aus durchg\u00e4ngig verschiedenen Bestandteilen bilden kann, die trotz-","page":128},{"file":"p0129.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der &eitantchauung.\n129\ndein dieselbe Melodie ergeben, und da andererseits 2 Complexe, welche aus tonal vollkommen gleichen Elementen gebildet werden und sich nur durch die Reihenfolge der Elemente unterscheiden, durchaus verschiedene Melodien ergeben. Analoge Beispiele lassen sich auch aus dem Gebiete der Raumvorstellungen beibringen. \u201eWenn die Raumgestalten nichts anderes w\u00e4ren als Zusammenfassungen von \u201e\u00f6rtlichen Bestimmtheiten\u201c, so m\u00fcfste sich (da ja die \u201e\u00f6rtlichen Bestimmtheiten\u201c von der Lage im Gesichtsfelde abh\u00e4ngen) mit jeder Verschiebung ihrer Anordnung auch ihre Aehnlichkeit wesentlich \u00e4ndern. Es m\u00fcfste also etwa in der Gruppe der Buchstaben ABA das erste A dem B \u00e4hnlicher sein als dem zweiten A, weil es jenem n\u00e4her liegt und daher aus Bestandteilen gebildet wird, welche den Elementen des B \u00e4hnlicher sind als den Elementen des A\u201c Die Aehnlichkeit von Raum- und Tongestalten mufs demnach auf etwas Anderem beruhen, als auf der Aehnlichkeit der Elemente, bei deren Zusammenfassung im Bewufstsein sie erscheinen. Jene Gestalten m\u00fcssen also auch etwas Anderes sein als die Summe der Elemente. Das Neue nun, was bei der Zusammenfassung der Elemente hinzukommt, bezeichnet v. Ehbeefels als \u201eGestaltqualit\u00e4t\u201c und versteht darunter \u201esolche positive Vorstellungsinhalte, welche an das Vorhandensein y on V orstellungscomplexen im Bewufstsein gebunden sind, die ihrerseits aus von einander trennbaren (cL h. ohne einander vorstellbaren) Elementen bestehen.\u201c Als Gestaltqualit\u00e4ten werden dann weiter die \u201eRaumgestalten des Tastsinnes in seiner Vereinigung mit den sog. Bewegungsempfindungen\u201c, Harmonie, Klangfarbe, Farbenharmonie, Relation u. s. w. in Anspruch genommen, ferner soll auch sowohl jede Ver\u00e4nderung eines Vorstellungsinhaltes nach einer bestimmten Richtung (err\u00f6then, erbleichen, abk\u00fchlen u. s. w.) als auch das unver\u00e4nderte Bestehenbleiben (die Dauer) der verschiedensten Zust\u00e4nde eine Gestaltqualit\u00e4t zur Folge haben.\nSeinem Beweise schreibt v. Eubenfelb eine \u201eunausweichliche Stringenz\u201c zu. Aber obwohl auch Meinong (Zur Psychologie der Complexionen und Relationen, diese Ze\u00fcsckr2, S. 247) der Ansicht ist, dafs den angef\u00fchrten Gr\u00fcnden eine Beweiskraft zukomme, wie sie sonst der psychologischen Forschung nicht h\u00e4ufig erreichbar sei, so kann ich mich doch von der Beweiskraft nicht \u00fcberzeugen.\nZun\u00e4chst sind die Beispiele \u201eMelodie\u201c und \u201eRaumgestalt\u201c\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XVII.\t9","page":129},{"file":"p0130.txt","language":"de","ocr_de":"130\nF. Schumann.\nnicht gut gew\u00e4hlt. Die Melodie ist ein sehr complicates psychisches Gebilde und die Tonpsychologie ist noch weit von ihrer vollst\u00e4ndigen Analyse entfernt Dafs wir eine Melodie, die zun\u00e4chst in C-Dur gespielt wird, wieder erkennen, wenn sie nachher in FYs-Dur gespielt wird, kann mannigfache, zur Zeit noch nicht n\u00e4her bestimmbare Gr\u00fcnde haben. Einfach anzunehmen, dafs in beiden F\u00e4llen dieselbe \u201eGestaltqualit\u00e4t\u201c erzeugt wird, ist wohl ein etwas grober L\u00f6sungsversuch der schwierigen Frage.\nEbenso ungl\u00fccklich scheint mir die Wahl der Raumgestali Die Psychologie der Gesichtswahrnehmungen ist noch aufser-ordentlich wenig entwickelt Eine Psychophysik der Raum-w7ahmehmung ist \u00fcberhaupt noch nicht ernstlich in Angriff genommen und zur Beschreibung des psychischen Thatbestandes werden wir wfohl noch eine ganz neue Terminologie ausbilden m\u00fcssen. Die bisherigen Beschreibungen bedienen sich einfach der mathematischen Begriffe. Meines Erachtens darf man aber z. B. nicht ohne Weiteres voraussetzen, dafs auch das psychische Gebilde \u201eFl\u00e4che\u201c aus unendlich vielen Punkten, \u201e\u00f6rtlichen Bestimmtheiten\u201c zusammengesetzt sei. v. Ehbenfels h\u00e4lt allerdings diese Uebertragung f\u00fcr so selbstverst\u00e4ndlich, dafs er sogar umgekehrt schliefst : \u201eWenn unendliche Complicationen im Bewufstsein unm\u00f6glich w\u00e4ren, so w\u00e4re die Fl\u00e4chen Vorstellung unm\u00f6glich.\u201c Demgegen\u00fcber m\u00f6chte ich denn doch darauf hinweisen, dafs eine beliebig gestaltete Fl\u00e4che von ganz gleichm\u00e4fsiger F\u00e4rbung, z. B. eine quadratische, nach Aussage der inneren Wahrnehmung zun\u00e4chst eine vollst\u00e4ndige Einheit ist Die Theile, in die man sich eine solche Einheit zerlegt denken kann, sind fingirte Theile. F\u00fcr einen Complex fingirter Theile braucht aber der Satz, den v. Ehres-fkls als Fundament der Beweisf\u00fchrung benutzt, nicht zu gelten, auch wenn er f\u00fcr Complexe wirklicher Theile ganz allgemeine G\u00fcltigkeit beanspruchen k\u00f6nnte. Wir k\u00f6nnen einfach sagen: Der untrennbare Bewufstseinsinhalt, den wir als quadratische Fl\u00e4che bezeichnen, bleibt sich bei Lage\u00e4nderung mindestens in hohem Grade \u00e4hnlich, ebenso wie die untrennbare Einheit einer einfachen Tonempfindung von bestimmter H\u00f6he sich \u00e4hnlich bleibt, w\u00e4hrend sie von einer geringen zu einer grofsen Intensit\u00e4t anschwillt\nUm einen Complex nur fingirter Elemente handelt es sich ferner bei jedem sich in bestimmter Richtung ver\u00e4ndernden","page":130},{"file":"p0131.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Zeitanschauung.\n131\nund bei jedem unver\u00e4ndert bleibenden Bewufstseinsinlialt. v. Ehrenfels nimmt dagegen wieder wirkliche Theile an und f\u00fchrt den Beweis f\u00fcr die Existenz von \u201eGestaltqualit\u00e4ten1 11 in ganz analoger Weise wie bei der Melodie und Raumgestalt. Aber eine Tonempfindung von beispielsweise einer Secunde Dauer ist eine vollst\u00e4ndige Einheit und dieser Einheit kommt die Dauer ebenso als Eigenschaft zu wie einer Gesichtsempfindung die Ausdehnung. Sie ist ebensowenig wie eine Linie eine Summe der gedachten Theile plus einem neuen Vorstellungselement. Elemente, in die man sich die Einheit etwa zerlegt denkt, sind nat\u00fcrlich vollst\u00e4ndig fingirte Elemente ; denn Empfindungen, die in einem bestimmten Momente mit vollst\u00e4ndiger Intensit\u00e4t einsetzen, mit dieser Intensit\u00e4t bis zu einem bestimmten Zeitpunkte dauern und dann beim Erreichen dieses Zeitpunktes wieder absolut momentan aufh\u00f6ren, solche Empfindungen giebt es in Wirklichkeit nicht. Wie nun eine Empfindung trotz ihrer durchaus einheitlichen Natur gesonderte Urtheile \u00fcber Intensit\u00e4t, Qualit\u00e4t, r\u00e4umliche Ausdehnung hervorrufen kann, so mufs man auch mindestens als m\u00f6glich annehmen, dafs sie ein Urtheil \u00fcber ihre zeitliche Ausdehnung bewirken kann. Mit demselben Rechte ferner, mit dem man etwa nach dem Betrachten einer Linie sagt \u201eich habe die Ausdehnung der Linie vorgestellt\u201c, kann man auch nach dem Aufh\u00f6ren der Tonempfindung von der Dauer einer Secunde sagen \u201eich habe die zeitliche Ausdehnung vorgestellt\u201c.\nDie letztere Behauptung werden viele zu bestreiten geneigt sein. N\u00e4here Erl\u00e4uterungen will ich an eine Bemerkung Meinong\u2019s 1 ankn\u00fcpfen. Er wirft die Frage auf: \u201eIst es denn \u00fcberhaupt m\u00f6glich, eine Zeitstrecke in einem Zeitpunkte vorzustellen?\u201c Er pr\u00e4cisirt n\u00e4her: \u201eEs handelt sich darum, ob der Inhalt einer Zeitstreckenvorstellung in einem beliebig herauszugreifenden Momente, einem Durchschnitte gleichsam, bereits vollst\u00e4ndig vorhegen kann, ob nicht vielmehr jeder solche Durchschnitt am Ende doch stets nur eine Zeitbestimmung heraushebt, weil er seiner punktuellen Natur nach aufser Stande ist, eine noch so kleine Zeitstrecke als Inhalt aufzuweisen.\u201c Diese Schwierigkeit zu entkr\u00e4ften soll es \u201enur einen indirecten\n1 A. M\u00e4inong, Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse, diese\nZeitschr. 6, S. 74 ff.\n9*","page":131},{"file":"p0132.txt","language":"de","ocr_de":"132\t\u00c6V Sckxnuxnn.\nWeg geben, n\u00e4mlich den Hinweis darauf, dafs, wenn sie Geltung h\u00e4tte, uns \u00fcberhaupt jede Vorstellung einer Zeitefcrecke verschlossen w\u00e4re.\u201c Dies folge \u201eaus der einfachen Erw\u00e4gung, dafe, was ich vorstelle, ich zu irgend einer Zeit vorstellen inufe, oder auch, dafs dasjenige, was ich zu keiner Zeit vorgestellt habe, von mir \u00fcberhaupt nicht vorgestellt worden ist\u201c \u2014 Hier kommt es auf die Bedeutung des Ausdruckes \u201eich stelle etwas vor\u201c an, dem von Meinung, wie mir scheint, eine zu einseitige popul\u00e4re Bedeutung untergelegt wird. \u201eIch stelle etwas vor, wenn ich eine von mir unabh\u00e4ngige Wirklichkeit, eine Landschaft, ein Geb\u00e4ude, einen Apparat durch mein Vorstellen erfasse.\u201c Nun treten bei der Betrachtung eines Aufsenobjectes psychische Inhalte auf, deren Qualit\u00e4t, Intensit\u00e4t, Ausdehnung von den Objecten abh\u00e4ngt, w\u00e4hrend die zeitliche Dauer nur durch die L\u00e4nge der Betrachtung bedingt ist. Wenn wir kein Interesse mehr haben, wenden wir den Blick ab und sofort h\u00f6ren die Empfindungen auf. Die popul\u00e4re Auffassung denkt sich die Vorstellungen als die Abbilder \u00e4ufserer Objecte, sie betrachtet dieselben als Zust\u00e4nde, die eine gewisse von uns abh\u00e4ngige Zeit im Bewusstsein bleiben. Die Eigenschaften dieser Zust\u00e4nde sind dann nur Qualit\u00e4t, Intensit\u00e4t, r\u00e4umliche Ausdehnung, w\u00e4hrend die zeitliche Ausdehnung als nicht mit zum Wesen der Vorstellung geh\u00f6rig betrachtet wird. Hierzu tr\u00e4gt dann auch der Umstand bei, dafs die reproducirte Vorstellung im Allgemeinen die Dauer der Wahrnehmungsvor-stellung nicht wiedergiebt. Ebenso betrachtet man dann auch bei den Tonempfindungen Intensit\u00e4t und Qualit\u00e4t als die Eigenschaften eines Zustandes. In diesem Sinne ist es nat\u00fcrlich richtig, dafs alles, was vorgestellt wird, in irgend einem Zeitpunkte vorgestellt werden mufs. Betrachten wir aber den bei Einwirkung eines Tones eintretenden Bewu\u00dftseinsinhalt an und f\u00fcr sich, so ist er eine vollst\u00e4ndige Einheit, zu dessen Eigenschaften die bestimmte zeitliche Dauer eben so gut geh\u00f6rt, wie die Qualit\u00e4t und Intensit\u00e4t Der Unterschied zwischen den Eigenschaften ist der, dafs die Intensit\u00e4t und Qualit\u00e4t jedem der auf einander folgenden fingirten Theile, in die man sich die Empfindung zerlegt denken kann, zukommt; aber etwas ganz Analoges gilt f\u00fcr die r\u00e4umliche Ausdehnung: auch jedem gedachten Theile einer Fl\u00e4che kommt Intensit\u00e4t, Qualit\u00e4t und zeitliche Dauer des Ganzen zu. Ebenso gut nun, wie ich sage, \u201eich habe die L\u00e4nge einer Linie vorgestellt\u201c, auf Grund der","page":132},{"file":"p0133.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Zeitans chaining.\n133\nThatsache, dafs ein Bewufstseinsinhalt mit der Eigenschaft einer bestimmten r\u00e4umlichen Ausdehnung eingetreten war, ebenso gut kann ich auf Grund der Thatsache, dafs ein Ton eine Empfindung von bestimmter Dauer hervorgerufen hatte, auch sagen, \u201eich habe die Dauer des Tones vorgestellt\u201c.\nGanz anders steht es mit der Frage, ob die untrennbare Einheit einer Tonempfindung in derselben unmittelbaren Weise, wie sie gesonderte Urtheile \u00fcber ihre Intensit\u00e4t und Qualit\u00e4t hervorruft, auch ein Urtheil \u00fcber ihre zeitliche Dauer zu bewirken vermag. Jedenfalls besteht ein grofser Unterschied zwischen unseren F\u00e4higkeiten r\u00e4umliche und zeitliche Ausdehnungen zu beurtheilen. W\u00e4hrend die Praxis des Lebens uns auf die Unterscheidung r\u00e4umlicher Gr\u00f6fsen hinweifst, k\u00fcmmern wir uns um die Dauer der Empfindungen im Allgemeinen sehr wenig.\nDieselbe Einheitlichkeit kommt endlich auch in Frage bei der stetigen Ver\u00e4nderung einer Empfindung. W\u00e4chst z. B. ein Ton von der Intensit\u00e4t ^ bis /2 in stetiger Weise, so ist der eintretende Empfindungsinhalt f\u00fcr die innere Wahrnehmung eine untrennbare Einheit. Mag man sich diese Einheit in noch so viel Elemente zerlegt denken, so hat doch jedes wirkliche Element eine endliche, wenn auch noch so kurze Ausdehnung und \u2014 falls die Aenderung eine wirklich stetige ist \u2014 die Eigenschaft der wachsenden Intensit\u00e4t. Ein zeitlich ausdehnungsloses Element w\u00e4re kein wirklicher Theil des Ganzen. Der ausdehnungslose Punkt ist gleichsam der Querschnitt, welcher das Ganze in zwei H\u00e4lften theilt, welcher aber nicht selbst einen dritten Theil des Ganzen ausmacht. Ferner ist die einem anw\u2019achsenden Tone entsprechende Einheit eine andere als die eines Tones von constanter Intensit\u00e4t und gleicher Dauer und man hat daher wenigstens mit der M\u00f6glichkeit zu rechnen, dafs sie auch ein anderes Urtheil (\u201ezunehmende Intensit\u00e4t\u201c) zu erzielen vermag. Hinzukommt dann allerdings die Annahme, dafs eine andere Empfindungseinheit, deren gedachte Elemente ganz andere absolute Intensit\u00e4t haben, aber in demselben Steigerungsver-h\u00e4ltnifs stehen, dieselbe Wirkung (dasselbe Urtheil) hervorrufen kann. Dafs aber ein an Intensit\u00e4t zunehmender Vorgang einen besonderen, speciell nur durch das Anwachsen bedingten Vorgang hervorrufen kann, mufs auch v. Ehrexfels annehmen ; nur l\u00e4fet er dies in einem fr\u00fcheren Stadium der ganzen Causalreihe eintreten, welche zwischen physikalischem Reiz und aus-","page":133},{"file":"p0134.txt","language":"de","ocr_de":"134\nF\\ Schumann.\ngesprochenem Urtheil liegt. Auf Grand seiner Anschauung w\u00fcrde man etwa sagen : Der an Intensit\u00e4t zunehmende Ton ruft eine wachsende Nervenerregung hervor und diese einen an Intensit\u00e4t zunehmenden psychophysischen Procefs, zu dem noch ein besonderer durch das Zunehmen bedingter psychophysischer Procefs hinzukommt. Diese Processe bilden eine Einheit und ihnen entspricht ein einheitlicher Bewusstseinsinhalt, der die \u201eGestaltqualit\u00e4t\u201c als Element enth\u00e4lt.\nDoch wenden wir uns nun zu den F\u00e4llen, in denen ein wirklicher Complex von Bewufstseinsinhalten vorliegt. Kann man den Satz aufstellen, dafs verschiedene Complexe von Elementen, wenn sie in sich nichts Anderes darstellen als die Summe derselben, um so \u00e4hnlicher sein m\u00fcssen, je \u00e4hnlicher ihre einzelnen Elemente unter einander sind ? Darf man weiter, auf diesen Satz sich st\u00fctzend, unbedingt schliefsen, dafs die Aehnlichkeit zweier Complexe, die sich nicht auf die Aehnlich-keit der Elemente zur\u00fcckf\u00fchren l\u00e4fst, durch einen neu hinzukommenden, ganz eigenartigen Vorstellungsinhalt bedingt sein muf8 ? \u2014 Der erste Satz scheint Selbstverst\u00e4ndliches auszusagen. Das dagegen der zweite Satz, welcher die Aehnlichkeit ohne Weiteres auf einen hinzukommenden eigenartigen Vorstellungs-inhalt zur\u00fcckf\u00fchrt, nicht ebenso selbstverst\u00e4ndlich ist, hat Meinong [diese Zcitschr. 2, S. 248ff.) schon richtig hervorgehoben Er er\u00f6rtert verschiedene andere M\u00f6glichkeiten (z. B. die M\u00f6glichkeit, dafs statt eines Vorstellungsinhaltes ein Gef\u00fchl hinzukommt), glaubt sie aber alle als h\u00f6chst unwahrscheinlich betrachten zu d\u00fcrfen und schliefst sich daher der Annahme von \u201eGostalt-qualit\u00e4ten\u201c an, f\u00fcr die er nur einen anderen Namen vorschl\u00e4gt.\nBei der Er\u00f6rterung anderer Eventualit\u00e4ten hat indessen Meinong einen Punkt \u00fcbersehen, n\u00e4mlich die Thatsache, dafs die in Frage kommenden Complexe schon deshalb nicht als einfache Summen betrachtet werden k\u00f6nnen, weil sie einheitliche Ganze bilden. Stellen einerseits n Individuen je einen einfachen Bewufstseinsinhalt vor und stellt andererseits ein einziges Individuum dieselben n Inhalte allein vor, so unterscheiden sich die beiden Complexe schon durch die Einheitlichkeit, welche dem zweiten zukommt. Was dies bedeutet, mag ein Beispiel n\u00e4her veranschaulichen. Nehmen wir ein St\u00fcck Papier, etwa von der Form eines Quadrats, und zerschneiden es in vier kleine","page":134},{"file":"p0135.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Zeitanschauung.\n135\nQuadrate von halber Seitenl\u00e4nge, so ist auch die Einheitlichkeit zerst\u00f6rt. Die Summe der vier kleinen Quadrate unterscheidet sich aber von dem urspr\u00fcnglichen grofsen Quadrate nicht durch einen f\u00fcnften Theil, dem speciell die F\u00e4higkeit zuk\u00e4me, die anderen zu einer Einheit zusammenzufassen, sondera nur durch die ver\u00e4nderten r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse. Durch die gr\u00f6fsere Enfemung werden gewisse Wechselwirkungen zwischen einer Reihe kleinster Elemente aufgehoben. In analoger Weise werden bei der Vertheilung der n Bewufst-seinsinhalte auf u Individuen auch gewisse Wirkungen aufgehoben: zwar nicht Wechselwirkungen zwischen kleinsten Elementen der betreffenden Bewufstseinsinhalte, wohl aber Wirkungen, welche von dem ganzen Complexe ausgehen und welche haupts\u00e4chlich durch die Relationen seiner Bestandtheile bedingt sind. Dementsprechend habe ich schon oben hervorgehoben: \u201eein einheitliches Ganzes bilden\u201c heilst in erster Linie als Ganzes wirken, als Ganzes die Vorstellungsreproduction, das Urtheil, das Gef\u00fchl u. s. w. beeinflussen.\nNun w\u00e4ren allerdings von dem ganzen Complex auch die \u201eGestaltqualit\u00e4ten\u201c bedingt. Es fragt sich aber, ob wir nicht auch ohne die Annahme neuer, direct nicht nachw\u00e8isbarer Vorstellungsinhalte die in Frage stehende Thatsache erkl\u00e4ren k\u00f6nnen. Da glaube ich nun, dafs neu hinzukommende Gef\u00fchle oder gew\u00f6hnliche Vorstellungen, welche mit dem ganzen Complex associirt sind, den Eindruck der Aehnlichbeit doch wohl ebenso gut vermitteln k\u00f6nnen wie \u201eGestaltqualit\u00e4ten\u201c. Der oben angef\u00fchrte Satz, welcher aussagt, dafs die Wirkungen eines Complexes von den Relationen seiner Bestandtheile abh\u00e4ngen, w\u00fcrde sofort die von v. Ehrexfels besonders betonte Thatsache erkl\u00e4ren, dafs die Umstellung der Elemente die Aehnlichkeit aufhebt. Meinong (diese Zeitschr. 2, S. 250) erhebt allerdings Einw\u00e4nde gegen die Heranziehung von Gef\u00fchlen zur Erkl\u00e4rung der Aehnlichkeit. Er sagt : \u201eMan denkt am nat\u00fcrlichsten an \u00e4sthetische Gef\u00fchle, vor Allem an das sogenannte Harmoniegef\u00fchl bei Zusammenkl\u00e4ngen. Aber wer ausreichend viel Musik treibt, hat sich sicher schon oft in der Lage befunden, einem einzelnen Accorde gegen\u00fcber gerade so wenig etwas zu f\u00fchlen als einem einzelnen Ton oder Klang gegen\u00fcber, wenigstens ist von derlei Gef\u00fchlen oft genug nicht das Mindeste zu merken. Das mag dem gut musikalisch veranlagten Naiven gegen\u00fcber","page":135},{"file":"p0136.txt","language":"de","ocr_de":"1-36\tF Sckmmnn.\nimmerhin als eine Folge von Abstumpfung erscheinen; die F\u00e4higkeit aber, die Accorde richtig zu agnosciren, zeigt sich bekanntlich beim ge\u00fcbten Musiker nichts weniger als herabgesetzt.\u201c \u2014 Hier \u00fcbersieht Mefp\u00efong, dafs zu den Gef\u00fchlen noch Vorstellungen gew\u00f6hnlicher Art hinzukommen k\u00f6nnen. Melleicht wird nur anfangs das Erkennen der Accorde durch die begleitenden Gef\u00fchle, sp\u00e4ter aber durch die Reproduction associirter Vorstellungen z.B. der Bezeichnungen vermittelt Ebenso wie bei den Accorden k\u00f6nnen dann auch bei den Complexen von Gesichtsempfindungen (z. B. bei der Farbenharmonie) \u00e4sthetische Gef\u00fchle und gew\u00f6hnliche Vorstellungen mitwirken.\nKeineswegs ausgeschlossen ist es endlich, dafs sowohl bei Accorden wie bei Complexen von Gesichtsempfindungen noch Factoren in Frage kommen, die erst die weitere Entwickelung der Wissenschaft aufzeigt Hebt doch Meinong selbst hervor (a. a. O. S. 264), dafs die Ausf\u00fchrungen Stumpf\u2019s im zweiten Bande der Tonpsychologie \u201e\u00fcber Klangfarbe das Bed\u00fcrfnifs, in Sachen der letzteren auf fundirte Inhalte zu recurriren, auf alle F\u00e4lle betr\u00e4chtlich herabgesetzt haben.\u201c Es l\u00e4fst sich daher vorl\u00e4ufig \u00fcberhaupt nichts wirklich Sicheres \u00fcber die dem Gebiete der Tonempfindungen und der Gesichtsempfindungen entnommenen Beispiele aussagen.\nDafs die \u201eDetailuntersuchung \u00fcberall das entscheidende Wort zu sprechen\u201c hat und dafs diese mindestens nicht durchweg zu Gunsten der Gestaltqualit\u00e4ten ausfallen wird, hat auch Meinong richtig bemerkt, doch glaubt er, dafs bei dem so aufserordentlich umfangreichen Gebiet, welches f\u00fcr die \u201eGestaltqualit\u00e4ten\u201c in Frage kommt, jedenfalls noch genug \u00fcbrig bleiben wird. Bedenkt man jedoch, dafs so zahlreiche F\u00e4lle, bei denen es sich um Complexe nur fingirter Elemente handelt, g\u00e4nzlich bei Seite zu lassen sind, bedenkt man ferner, dafs das ganze Gebiet der Tonempfindungen und der Gesichtsempfindungen mindestens unsicher ist, so ist es doch wohl besser, sich gegen die Annahme von \u201eGestaltqualit\u00e4ten\u201c vorl\u00e4ufig noch etwas skeptisch zu verhalten. Auch w\u00fcrde ich gegen die \u00fcbrigen, von v. Ehbenfels angef\u00fchrten F\u00e4lle noch mancherlei einzuwenden haben. So habe ich oben versucht, ohne die Annahme besonderer Relationsvorstellungen auszukommen, w\u00e4hrend v. Eurenfels die Existenz derselben einfach voraussetzt.\n2. Witasek vertheidigt die EHRENFELs'sche Anschauung und er-","page":136},{"file":"p0137.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Zeitanschauung.\n137\nhebt Einw\u00e4nde gegen die unmittelbare, directe Ver\u00e4nderungswahr-nehmung. Er setzt ebenfalls ohne weitere Begr\u00fcndung voraus, dafs der durch einen wachsenden Reiz hervorgerufene Bewufstseins-inhalt zun\u00e4chst nichts Anderes sei als eine Summe successiver Einzelempfindungen. Bei der anschaulichen Wahrnehmung eines sich ver\u00e4ndernden Vorganges sei aber mehr als eine Summe von Einzelzust\u00e4nden vorhanden. Nur ein neuer Gesichtspunkt wird von ihm hervorgehoben. Er wendet gegen die unmittelbare Ver\u00e4nderungswahmehmung ein: \u201eWie kommt es, dafs wir bei gr\u00f6fserer Geschwindigkeit des Anwachsens unmittelbar zum Be-wufstsein einer Ver\u00e4nderung kommen, w\u00e4hrend wir, wenn die Ver\u00e4nderungsgeschwindigkeit unter einer gewissen Grenze bleibt, dazu erst eines Vergleiches des Anfangs \u2014 mit dem Endstadium bed\u00fcrfen?\u201c Wir k\u00f6nnten bei gr\u00f6fserer Geschwindigkeit des Vergleiches nicht deshalb entbehren, weil \u201eMer das Ver\u00e4nderungs-ergebnifs innerhalb so kurzer Zeit merklich sei, innerhalb welcher es bei geringer Geschwindigkeit die Merklichkeitsschwelle noch nicht erreiche. Denn Merklichkeit und Unmerklichkeit komme erst dort in Betracht, wo verglichen werde, das sei ja aber gerade bei der directen Ver\u00e4nderungswahrnehmung nicht der Fall.\u201c \u2014 Dieser Einwand ist wohl darauf zur\u00fcckzuf\u00fchren, dafs WiTASBK sich unter dem Vergleichen einen ganz eigenartigen psychischen Vorgang vorstellt und dafs er annimmt, nur bei Vorhandensein dieses eigenartigen Vorganges k\u00f6nne Merklichkeit und Unmerklichkeit in Frage kommen. Einen solchen specifi-sehen Bewufstseinsvorgang kennen wir aber thate\u00e4chlich nicht. Wir wissen vom Vergleichen zun\u00e4chst weiter nichts, als dafs durch den Complex zweier Empfindungen ein besonderes durch das Verh\u00e4ltnis der beiden Empfindungen bedingtes Urtheil hervorgerufen werdenkann. DenUebergang aber von diesem Vergleichs-urtheil zum directen VeT\u00e4nderungsurtheil habe ich oben S. 115 ff. gezeigt Sie sind eben gar nicht so verschieden von einander wie Witasek annimmt\n3. In einem Aufsatz \u201ePsychische Pr\u00e4senzzeit\u201c (diese Zeitschr. 13, S. 325 ff.) hat W. L. Stern aus meiner Annahme, dafs wir einen Complex von Bewufstseinsinhalten auch dann in seiner Totalit\u00e4t auffassen k\u00f6nnen, wenn die einzelnen Bestandteile nicht simultan sondern successiv im Bewufstsein sind, weitere Folgerungen gezogen, denen ich mich jedoch nur zum geringeren Theil anschliefsen kann. So versteht Stebn den Be-","page":137},{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"138\nFSchumann.\ngriff der Gegenwart anders. Er schreibt : \u201eWas ist denn Gegen-. wart? Ich denke, sie l\u00e4fst sich definiren als der Inbegriff der zeitlich-\u00f6rtlichen Verh\u00e4ltnisse, die Gegenstand directer Wahrnehmung sein k\u00f6nnen.\u201c Mir ist diese Definition v\u00f6llig unklar geblieben; auch aus dem Zusammenhang vermag ich nicht zu erkennen, was Stern gemeint hat Vor Allem verstehe ich nicht, was Gegenwart mit \u00f6rtlichen Verh\u00e4ltnissen zu thun hat?\nEs w\u00fcrde mich hier zu weit f\u00fchren, wollte ich auf alle von meiner Anschauung abweichende Einzelheiten hier eingehen. Nur m\u00f6chte ich noch darauf hin weisen, dafs Stern eine falsche Schlufs-folgerung zieht aus dem Satze, dafs wir \u201edie Uebereinstimmung oder Differenz zweier auf einander folgender T\u00f6ne, unbeschadet ihrer Ungleichzeitigkeit, beurtheilen k\u00f6nnen, ohne dafs beim Eintritt des zweiten Tones vom ersten noch ein Ged\u00e4chtnifsbild vorhanden ist. Er sagt (S. 338): \u201eDiese Successiwergleichung ist noth wendige Vorbedingung f\u00fcr ein wichtiges psychologisches Ph\u00e4nomen, dessen Erkl\u00e4rung bisher meist in einer anderen Richtung versucht wurde : f\u00fcr das sogenannte prim\u00e4re Ged\u00e4chtnifs. Bei der Erinnerung an eben Vergangenes hatte man die besondere Lebhaftigkeit und Anschaulichkeit der Erinnerungsvorstellungen, ferner die auffallende Sicherheit der Ged\u00e4chtnifs-urtheile bemerkt, und dies hatte den Anlafs gegeben, hier eine selbst\u00e4ndige, von dem eigentlichen Ged\u00e4chtnifs qualitativ verschiedene Form des Ged\u00e4chtnisses anzunehmen . . . Mir liegt es nun fern, zu bestreiten, dafs mit jenem Andauem eine wesentlich objective Bedingung des prim\u00e4ren Ged\u00e4chtnisses gegeben ist \u2014 aber es selbst ist noch nicht damit gegeben. Um n\u00e4mlich eine Vorstellung zu einem Ged\u00e4chtnifsbilde zu machen, mufs zu ihrer objectiven Uebereinstimmung mit der urspr\u00fcnglichen Wahrnehmung, als dem weniger wichtigen, hinzukommen die subjective Ueberzeugung von deren Identit\u00e4t; und die Art, wie diese Ueberzeugung zu Stande kommt, bedingt den charakteristischen Unterschied zwischen eigentlichem und prim\u00e4rem Ged\u00e4chtnifs. Die Identit\u00e4t ist beim eigentlichen Ged\u00e4chtnifs eine erschlossene, beim prim\u00e4ren eine unmittelbarerlebte, eine wahrgenommene, Resultat einer directen successiven Vergleichung.\u201c\nHieraus geht hervor, dafs Stern sich das Wesen der directen Vergleichung nicht klar gemacht hat. Eine solche ist nur m\u00f6glich, wenn der zweite Eindruck mit der Nachwirkung","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Zeitanschauung.\n139\ndes ersten sich combinirt und das Vergleichsurtheil bewirkt. Ein prim\u00e4res Ged\u00e4chtnifsbild ist ja aber selbst die Nachwirkung der urspr\u00fcnglichen Wahrnehmung und es ist kein weiterer Eindruck da, mit dem dasselbe combinirt ein Vergleichsurtheil bewirken kann. Mit der urspr\u00fcnglichen Wahrnehmung selbst kann das prim\u00e4re Ged\u00e4chtnifsbild doch nicht combinirt werden, denn die ist unwiederbringlich entschwunden.\nIV.\n1. Da alle Ansichten \u00fcber die Zeitwahrnehmung mehr oder weniger hypothetisch sind, so legt man bei experimentellen Untersuchungen am besten keine bestimmte Ansicht zu Grande, sondern sieht zu, ob etwa das Experiment bezw. die innere Wahrnehmung beim Experiment Anhaltspunkte f\u00fcr die L\u00f6sung bestimmter Fragen ergiebt. Nur um eine bestimmte Fragestellung f\u00fcr das Experiment zu gewinnen, kann man event, eine hypothetische Anschauung zu Grande legen. Von diesem Standpunkte aus ging ich zuerst an die Untersuchungen heran. Ich rechnete sowohl mit der M\u00f6glichkeit, dafs das Urtheil bei der Vergleichung kleiner, von einfachen Schalleindr\u00fccken begrenzter Zeiten ein unmittelbares sei, als auch mit der zweiten M\u00f6glichkeit eines mittelbaren Urtheils. Die Versuche ergaben bald einige Thatsachen, aus denen hervorging, dafs bei der Sch\u00e4tzung solcher kleiner Zeiten die \u201eEinstellung der Aufmerksamkeit\u201c eine grosse Rolle spielt. Mir dr\u00e4ngte sich eine Anschauung auf, welche in naher Beziehung zu einem von Wundt fr\u00fcher ausgesprochenen Gedanken stand. Nach Wundt (Phys. Psych. 3. Aufl. II. S. 348) sollte n\u00e4mlich die Vergleichung sehr kleiner Zeiten sammt ihren Fehlern darauf beruhen, dafs das von zwei Schalleindr\u00fccken begrenzte Intervall in mehr oder weniger fehlerhafter Weise von den entsprechenden Ged\u00e4chtnifsbildern nachgeahmt w\u00fcrde. An die Stelle des Reproductionsmechanismus der Ged\u00e4chtnifsbilder setzte ich eine Reproduction der Acte der sinnlichen Aufmerksamkeit. Insbesondere suchte ich in meiner Abhandlung zu zeigen, dafs unsere so feine Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr sehr kleine Zeiten auf der Einstellung der sinnlichen Aufmerksamkeit beruht. Obwohl ich nun dabei (a. a. 0. & 24) auf die Aehnlichkeit meiner Anschauung mit derjenigen Wundt\u2019s hin wies, hat doch gerade Wundt meine Ausf\u00fchrungen in einer mir v\u00f6llig unerkl\u00e4rlichen Weise mifsverstanden. Er","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140\nF. Schumann.\nschreibt (Phys. Psych. 4. Aufl. II. S. 249 f.) : \u201eVerwandt der Ansicht M\u00fcnsterbebg\u2019s ist die Schumann\u2019s. Was bei jenem Spannung nnd Entspannung der Muskeln, das besorgen bei diesem Erwartung und Ueberraschung, die beide als Ph\u00e4nomene der \u00bbEinstellung der sinnlichen Aufmerksamkeit\u00ab betrachtet werden. In dieser letzteren scheint Schumann die eigentliche Zeitvorstellung zu erblicken, w\u00e4hrend das Urtheil \u00fcber das Verh\u00e4ltnis von Zeitgr\u00f6fsen immer auf Erwartung und Ueberraschung sich st\u00fctze und zwar so, dafs der Erwartung das Urtheil \u00bbgr\u00f6fser\u00ab, der Ueberraschung das Urtheil \u00bb kleiner < entspreche. Abgesehen von ihrer mangelhaften experimentellen Begr\u00fcndung begeht diese Hypothese den n\u00e4mlichen Fehler wie die vorangegangene, dafs sie die zeitliche Eigenschaft an irgend welche besondere Bewuftseinsqualit\u00e4ten bindet, w\u00e4hrend jene Eigenschaft doch thats\u00e4chlich jedem Bewu\u00dftseinsinhalt zukommt.\u201c \u2014 Also in der Einstellung der sinnlichen Aufmerksamkeit soll ich die eigentliche Zeitvorstellung erblicken, die zeitliche Eigenschaft an eine besondere Bewufstseins-qualit&t binden! Ja wo in aller Welt habe ich denn einen solch verzweifelt gescheidten Gedanken ausgesprochen ? Ich habe nochmals meine Abhandlung daraufhin durchsucht, ob vielleicht irgendwo eine Aeufserung steht, welche falsch gedeutet werden k\u00f6nnte: ich habe aber nichts finden k\u00f6nnen. In meiner Arbeit ist nur die Rede vom Zustandekommen des Zeiturtheils unter den speciellen Verh\u00e4ltnissen des Zeitsinnversuchs. Ich habe nur behauptet, dafs bei der Sch\u00e4tzung kleiner Intervalle neben an-/I ereil F act or en auch die Einstellung der Aufmerksamkeit wirksam sei und zwar bei Versuchen \u00fcber die Unterschiedsempfindlichkeit fast ausschliefslich wirksam sei, wenn zahlreiche Versuche hinter einander mit derselben Normalzeit gemacht w\u00fcrden.\nIn gleicher Weise wie Wundt hat dann auch K\u00fclpe meine Ausf\u00fchrungen mifsverstanden (Grundrifs d. Psychologie, S. 4041)\nBafs man aber meine Ansicht aus meiner Abhandlung wirklich herauslesen konnte, geht aus der Thatsache hervor, dafs andere Forscher meine Ausf\u00fchrungen vollkommen richtig verstanden haben z. B. v. Kai es (diese Zeitschrift, 8, S. 23), welcher sich meiner Ansicht durchaus anschliefst, und Gr\u00fcex-haoen (Jahresberichte \u00fcber die gesummte Medizin, herausg. von Virchow und Hirsch, Bd. 27, 1892, S. 226). Letzterer schreibt:","page":140},{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie dor Zeitanschauung.\n141\n\u201eWar hiermit nun aber nach Sch\u00fcmann die Einstellung der Aufmerksamkeit als ein von uns zur Absch\u00e4tzung von Zeit-gr\u00f6fsen benutztes Maafsmittel erkannt, so ist er doch weit entfernt (\u00ce), in ihr das einzige Maafsmittel zu erblicken.\u201c\nAuf letzteren Ausspruch darf ich mich wohl auch berufen gegen\u00fcber der Behauptung Meumann\u2019s (Phil. Stud. IX, S. 267), dafs ich \u201emit einseitiger Voreiligkeit die complexen Ph\u00e4nomene der Aufmerksamkeit (Einstellung) als Ursache aller (!) Abnormit\u00e4ten des Zeiturtheiles betrachtet\u201c h\u00e4tte.\n2. Von einem wesentlich anderen Standpunkte aus ist Meu-mann an die experimentellen Untersuchungen herangegangen. Um Mifsverst\u00e4ndnisse auszuschliefsen, gebe ich seine Grundanschauung hier ziemlich ausf\u00fchrlich und in m\u00f6glichster Anlehnung an seine eigenen Worte wieder.\nMe\u00fcmann schreibt1 : \u201eIch setze als eine letzte, nicht weiter discutirbare Erfahrungsthatsaehe voraus, dafs die Vorg\u00e4nge unseres Bewufstseins unserer inneren Wahrnehmung stets zugleich als Vorg\u00e4nge zeitlicher Natur d. h. als in Zeitverh\u00e4ltnissen stehend gegeben sind, und dafs wir diese zeitlichen Verh\u00e4ltnisse unserer Bewufstseinsvorg\u00e4nge uns in relativer Absonderung zum Bewufstsein bringen k\u00f6nnen, ebenso wie wir Intensit\u00e4tsverh\u00e4ltnisse relativ gesondert wahmehmen k\u00f6nnen, obgleich sie stets nur als die Intensit\u00e4tsstufen gewisser Qualit\u00e4ten da sind. Eine zweite, f\u00fcr unser Problem ebenfalls vorauszusetzende Thatsache ist die, dafs dieser relativ gesondert zum Bewufstsein gebrachte zeitliche Tatbestand zum alleinigen Gegenstand einer Aussage gemacht werden kann.\u201c Von den zeitlichen Verh\u00e4ltnissen sollen wir dann 4 Modificationen \u201edurch die innere Wahrnehmung als eben so viele urspr\u00fcngliche Bewufstseinsthatsachen zeitlicher Natur feststellen k\u00f6nnen\u201c und zwar : die Dauer, Aufeinanderfolge, Gleichzeitigkeit2 und zeitliche Wiederkehr\u201c. Alles Uebrige, was vielfach als psychologische Thatsache des Zeitsinns angesehen\u201c w\u00fcrde, sei \u201eaus der Reflexion stammende Weiterbildung dieser elementaren Zeitwahrnehmungen.\u201c\nSehen wir ab von der zeitlichen Wiederkehr, die f\u00fcr die Intervallseh\u00e4tzung nicht in Frage kommt und die sich erst dis-\n1 Philos. Stud. VIII, S. 504.\nf Die Gleichzeitigkeit hat Meumank in einer sp\u00e4teren Abhandlung [Philos. Stud. XII, S. 129) hinzugef\u00fcgt.","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142\tF. Schumann.\ncutiren l\u00e4fst, wenn Meumann sie n\u00e4her erl\u00e4utert hat, so kann ich diesen Ausf\u00fchrungen im Allgemeinen zustimmen. Bals Dauer, Gleichzeitigkeit, Aufeinanderfolge letzte Bewufstseinsthat-sachen sind, nehme ich ebenfalls an. Dafs wir uns die zeitlichen Verh\u00e4ltnisse unserer Bewufstseinsvorg\u00e4nge \u201ein relativer Absonderung zum Bewufstsein bringen k\u00f6nnen\u201c, kann ich auch zugestehen ; nur fragt sich, was mit dem Ausdruck \u201ein relativer Absonderung zum Bewrufstsein bringen\u201c gemeint ist. Dar\u00fcber giebt nun aber eine andere Stelle von Meumann\u2019s Arbeit (Ph\u00fcos. Stud. VIII, S. 450) eine \u00fcberraschende Aufkl\u00e4rung: \u201eBeachten wir Intensit\u00e4ten, so treten die Qualit\u00e4ten, die r\u00e4umlichen und zeitlichen Verh\u00e4ltnisse f\u00fcr unser Bewufstsein zur\u00fcck, beachten wir r\u00e4umliche Verh\u00e4ltnisse, so gilt dasselbe von den Qualit\u00e4ten, Intensit\u00e4ten und Zeiten. Beachten wir die Zeitverh\u00e4ltnisse, so treten alle qualitativen, intensiven, r\u00e4umlichen The\u00fcinhalte aus dem Blickpunkt des Bewufstseins, beachte ich Muskelspannungen ihrer Intensit\u00e4t oder Qualit\u00e4t nach, so verschwinden relativ f\u00fcr mich ihre zeitlichen Verh\u00e4ltnisse, sonst m\u00fcfste ja ein Experimentator, der \u00fcber Muskelempfindungen arbeitet, damit Zeitsinnexperimente machen!\u201c\nTritt eine Vorstellung in den Blickpunkt des Bewufstseins, so ist nach Wundt das Charakteristische, dafs (abgesehen von den begleitenden Gef\u00fchlen und Spannungsempfindungen) die Vorstellung eine gr\u00f6fsere Klarheit erh\u00e4lt1 Wenn aber Intensit\u00e4t und Qualit\u00e4t und zeitliche Dauer relativ gesondert von einander klarer werden k\u00f6nnen, dann haben wir es bei einer einfachen Tonempfindung nicht mehr mit einem einfachen Inhalt, einer untrennbaren Einheit2 * 4 zu thun, sondern die sogenannten Theil-inhalte m\u00fcssen wirkliche Theile sein und sich im Bewufstsein bis zu einem gewissen Grade von einander trennen lassen. Da dann Meumann auch die zeitlichen Verh\u00e4ltnisse gesondert klarer werden l\u00e4fst, so m\u00fcssen auch diese wirkliche The\u00fcinhalte sein, die sich von den Inhalten, denen sie zukommen, isoliren lassen. Eine solche Annahme w\u00fcrde aber Meumann\u2019s eigener Voraussetzung, dafs wir die zeitlichen Verh\u00e4ltnisse unmittelbar be-\n1 Da Meumann ein Sch\u00fcler Wundt\u2019s ist, so hat man den Ausdruck\n\u201ein den Blickpunkt des Bewufstseins treten\u201c jedenfalls im Sinne Wundt\u2019s\nzu verstehen.\n4 Vgl. Stumpf, \u201elieber den psychologischen Ursprung der Raumvor* Stellung\u201c, Leipzig 1873, S. 130 ff.","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Zeitatischauung.\n143\nurtheilen, widersprechen. Denn wenn ein solcher besonderer Theilinhalt existirte, so w\u00e4re er, wie die \u201eGestaltqualit\u00e4t41, ein durch das zeitliche Yerh\u00e4ltnifs bedingtes Vorstellungselement. Er k\u00f6nnte daher nur ein Zeichen, ein Symbol f\u00fcr die Aufeinanderfolge sein und die Vorg\u00e4nge w\u00fcrden unserer inneren Wahrnehmung nicht direct \u201eals in Zeitverh\u00e4ltnissen stehend gegeben\u201c sein. Worin aber sonst der isolirbare Theilinhalt bestehen sollte, erscheint unverst\u00e4ndlich. Dabei wird diese so merkw\u00fcrdige, einschneidende und der inneren Wahrnehmung widersprechende Annahme von Meumakn als so ganz selbstverst\u00e4ndlich betrachtet, dafs er eine ernstliche Begr\u00fcndung, wie es scheint, \u00fcberhaupt nicht f\u00fcr n\u00f6thig h\u00e4lt.\nDie Thatsachen, auf Grund deren man davon reden kann, dafs wir uns Intensit\u00e4ten, Qualit\u00e4ten und zeitliche Verh\u00e4ltnisse \u201ein relativer Absonderung zum Bewufstsein bringen44, gestatten eine ganz einfache Erkl\u00e4rung. \u201eIn relativer Absonderung zum Bewufstsein bringen44 heifst zun\u00e4chst nur: relativ gesondert beurtheilen. Wenn wir nun z. B. einmal allein \u00fcber das Intensit\u00e4tsverh\u00e4ltnifs, das andere Mal allein \u00fcber das Qualit\u00e4tsverh\u00e4ltnifs, das dritte Mal allein \u00fcber das Zeitverh\u00e4ltnifs zweier Empfindungen ein Urtheil f\u00e4llen, so kann der Empfindungsinhalt in allen F\u00e4llen genau derselbe sein, es werden eben nur verschiedene Urtheile hervorgerufen. Auf den ersten Blick zwar erscheint es sonderbar, dafs ein und derselbe Empfindungscomplex ein Mal dieses ein anderes Mal jenes Urtheil hervorraft, doch hat man zu bedenken, dafs das Urtheil nicht allein eine Wirkung des Ein-pfindimgscomplexes ist. Werde ich aufgefordert, ein Urtheil \u00fcber ein Intensit\u00e4tsverh\u00e4ltnifs abzugeben, so bleiben die betreffenden Wortvorstellungen wenn nicht im Bewufstsein \u2014 so doch wenigstens noch weiter psychisch wirksam (als unbewufste, in Bereitschaft befindliche Vorstellungen). Sie bewirken in Gemeinschaft mit dem Empfindungscomplex, dafs speciell das Urtheil \u00fcber das Intensit\u00e4tsverh\u00e4ltnifs hervorgerufen und haupts\u00e4chlich beachtet wird. In anderen F\u00e4llen tritt die Aufforderung nicht von Aufsen an mich heran, sondern der Gedankenverlauf bringt es mit sich, dafs ich einen Empfindungscomplex be-urtheile, dann sind ebenfalls zugleich mit dem Empfindungscomplex noch andere Vorstellungen wirksam. Wir haben also durchaus nicht n\u00f6thig, unsere Zuflucht zu der merkw\u00fcrdigen Annahme","page":143},{"file":"p0144.txt","language":"de","ocr_de":"144\nF. Schumann,\nzu nehmen, dais Qualit\u00e4t, Intensit\u00e4t und Dauer wirkliche Theil-inhalte sind.\nDie irrth\u00fcmliche Ansicht \u00fcber das isoUrte Hervortreten der sogenannten Theilinhalte wird f\u00fcr Mbumajnn\u2019s weitere Er\u00f6rterungen verh\u00e4ngnifsvoll. Denn offenbar ist er durch sie ver-anlafst zu behaupten, dafs bei Richtung der Aufmerksamkeit auf die zeitlichen Verh\u00e4ltnisse immer ein unmittelbares Zeiturthe\u00fc hervorgerufen w\u00fcrde. Nur wenn die Aufmerksamkeit von den Er* eignissen gefesselt w\u00fcrde, von den Empfindungen, Vorstellung\u00ab, ihrem Wechsel u. s. w., dann tr\u00e4te der zeitliche Inhalt f\u00fcr unser Bewufstsein zur\u00fcck und f\u00fcr das Zeiturthe\u00fc w\u00e4ren wir auf gewisse Merkmale angewiesen, die wir entweder mit einem be* wufsten Indieienschlufs oder rein associativ auf Grund fr\u00fcherer Erfahrungen zeitlich deuten k\u00f6nnten. \u2014 Bei der Wichtigkeit dieses Satzes h\u00e4tte man wohl eine n\u00e4here Begr\u00fcndung erwarten k\u00f6nnen. Wer ihn annimmt, mufs nat\u00fcrlich von vornherein meinen Versuch, die genaue Intervallsch\u00e4tzung auf mittelbare Kriterien zur\u00fcckzuf\u00fchren, als aussichtslos betrachten. So lange aber keine Gr\u00fcnde f\u00fcr diesen Satz angef\u00fchrt werden, kommt ihm nur der Werth einer willk\u00fcrlichen Behauptung zu.\nIm Einzelnen unterscheidet Meumakn bei der Intervall-Sch\u00e4tzung Urthe\u00fce \u00fcber kleinste, mittlere und gr\u00f6fste Intervalle: \u201eBei kleinsten Intervallen (bis 1,5 Sec.) dominirt im Bewufstsein durchaus der Wechsel der die Intervalle begrenzenden Em* pfindungen, bei den gr\u00f6fseren hingegen die Zeit zwischen denselben. Bei jenen sind die Zwischenerlebnisse nichts, die begrenzenden Empfindungen alles, umgekehrt treten bei gr\u00f6fseren Intervallen die begrenzenden Empfindungen f\u00fcr das Bewufstsein durchaus zur\u00fcck, der leere Zwischenraum ist hier alles (von 0,5 Sec. an scheint eine Uebergangszone zwischen beiden Typen zu beginnen).\u201c Der Ausdruck \u201eleerer Zwischenraum\u201c soll indessen nicht w\u00f6rtlich zu nehmen sein, da es \u201eleere\u201c Intervalle nicht giebt, sondern die \u201eLeere\u201c in der relativen Homogeneit\u00e4t und Un Ver\u00e4nderlichkeit de\u00ab Zwischenzustandes gegen\u00fcber dem energischen Empfindungswechsel am Anfang und Ende des Intervalls einerseits und der qualitativen Unbestimmtheit der im Zustande der Goncentration auf den Zeitverlauf \u00fcbrig bleibenden Empfindungen andererseits besteht\u201c Es ist bei kleinsten Zeiten \u201edie Aufeinanderfolge der Empfindungen\u201c, bei den mittleren \u201edie Dauer der zwischen dem Empfindungswechsel sich abspielenden Bewufstseinsvorg\u00e4nge,","page":144},{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Zeitanschauung.\n145\nwas als Object der Zeitwahrnehmung vorhanden ist\u201c. Bei den gr\u00f6fseren Zeiten dagegen sollen wir auf ein indirectes Kriterium, n\u00e4mlich auf die centrale Wiedererneuerung des das erste Intervall begrenzenden Schalleindrucks angewiesen sein.\nDafs bei gr\u00f6fseren Intervallen besondere Factoren in Frage kommen, habe ich schon in meiner fr\u00fcheren Arbeit hervorgehoben. Dafs ferner bei mittleren Zeiten der \u201eZwischenraum\u201c eine Rolle spielt, ist ebenfalls zuzugeben: es tritt ja die Erwartungsspannung auf und macht sich unter Umst\u00e4nden sehr bemerkbar. H\u00f6rt aber die Spannung nach Anpassung an das Intervall auf, so tritt wieder der Zwischenraum zur\u00fcck. Ich habe gelegentlich bei Intervallen von ca 2 Sec. den Unterschied zwischen einem Intervall, innerhalb dessen eine Spannung auf-trat, und einem anderen gleichen Intervall, bei dem die Spannung vollst\u00e4ndig ausblieb, auf das Deutlichste beobachtet. Im zweiten Falle erschien das Intervall ganz auffallend kurz. Es ist daher nicht unm\u00f6glich, dafs auch die Dauer der Spannung neben ihrer Intensit\u00e4t das Urtheil beeinflufst und dafs insbesondere bei Versuchen \u00fcber die Unterschiedsempfindlichkeit anfangs, so lange noch die Spannungsempfindungen da sind, das Urtheil unmittelbar durch das Verh\u00e4ltnifs bestimmt wird, in dem die Dauer der ersten Spannung zur Dauer der zweiten steht. Doch habe ich erstens bis jetzt keinen weiteren Anhaltspunkt f\u00fcr diese Annahme gefunden und zweitens zeigen Versuche, mit denen ich besch\u00e4ftigt bin, dafs auch unser Urtheil \u00fcber das Verh\u00e4ltnifs der zeitlichen Ausdehnungen zweier T\u00f6ne (zweier ausgef\u00fcllter Zeiten) ein mittelbares ist. Ganz in der Luft w\u00fcrde die Annahme schweben, dafs die Dauer anderer zwischen den begrenzenden Eindr\u00fccken sich abspielender, aber nicht beachteter Bewufst-seinsvorg\u00e4nge f\u00fcr die Sch\u00e4tz\u00fcng in Frage k\u00e4me. Dafs endlich bei den kleinsten Zeiten eine unmittelbare Beurtheilung der Aufeinanderfolge stattf\u00e4nde, auch daf\u00fcr ist nicht der geringste Grund beigebracht.\nEingehender ist Me\u00fcmann bis jetzt nicht auf die allgemeine Psychologie der Zeitwahrnehmung eingegangen, das soll sp\u00e4ter nachgeholt werden. Insbesondere hat er auch nicht den geringsten Versuch gemacht, mit H\u00fclfe seiner Annahme der unmittelbaren Zeitsch\u00e4tzung irgend welche Versuchsthatsachen zu erkl\u00e4ren. ImGegen-\n10\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XVII.","page":145},{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"146\nF. Schumann\ntheilhat er bei j edem bisher gemachten Erkl\u00e4rungsversuch sich auf mittelbare Kriterien gest\u00fctzt.\nIn meiner fr\u00fcheren Abhandlung habe ich neben anderen Untersuchungen auch die vier Arbeiten Ober den sogenannten Zeitsinn, welche bis dahin aus dem psychologischen Institut der Universit\u00e4t Leipzig hervorgegangen waren, einer kritischen Betrachtung unterzogen. Der Umstand, dais ich dabei eine Reihe grober M\u00e4ngel hervorhob, hat Herrn Meumann, welcher bei dem Erscheinen meiner Arbeit in demselben Institute gerade mit Untersuchungen \u00fcber Zeitsch\u00e4tzung besch\u00e4ftigt war, in hohem Mafse erbittert. Da er nun zwar meine Kritik in keiner Weise widerlegen konnte, wohl aber bei der Durchsicht meiner Arbeit zu erkennen glaubte, dafs die Theorie \u201evollkommener Nonsens\u201c sei und dafs die experimentellen Untersuchungen grobe M\u00e4ngel h\u00e4tten, so schrieb er, um mich f\u00fcr meine K\u00fchnheit zu strafen, sofort eine Kritik1 meiner Arbeit, welche er m\u00f6glichst vernichtend zu gestalten suchte. Dafs Meumann bei dieser Kritik \u00fcberall, wo meine Untersuchungen seinem individuellen Ideale nicht entsprechen, gleich mit den sch\u00e4rfsten Ausdr\u00fccken seinen Tadel ausspricht, habe ich keinen Grund \u00fcbel zu nehmen. Denn wenn der Leser sieht, wie gering die Unvollkommenheiten meiner Arbeit sind im Vergleich mit der Schwere der zahllosen Vorw\u00fcrfe, so wird er durch den Contrast nur zu einem milderen Urtheile gestimmt werden. Wohl aber mufs ich dagegen protestiren, dafs Meumann sich nicht einmal hierauf beschr\u00e4nkt, sondern sich sogar nicht scheut, meinen literarischen Charakter zu verd\u00e4chtigen, indem er (a. a. O. S. 495) die Behauptung aufstellt, dafs ich eine mit meiner Theorie unvereinbare Thatsache wissentlich verschwiegen h\u00e4tte.\nAuf eine Kritik, welche eine derartige unerwiesene und der Sache nach unerweisbare Beschuldigung enth\u00e4lt, ist es schwer in ruhigem Tone zu antworten. Trotzdem habe ich meine Entgegnung ganz objectiv zu halten gesucht und habe mich in diesem Bestreben auch durch einen weiteren, in neuester Zeit erfolgten pers\u00f6nlichen Angriff nicht irre machen lassen.\nIm zehnten Bande dieser Zeitschrift hat n\u00e4mlich Meumann eine Erkl\u00e4rung ver\u00f6ffentlicht, worin er mir neben Anderem vorwirft, dafs ich \u00fcber seine Arbeit falsch referirt h\u00e4tte, dafs ich insbesondere einmal seine Ansicht \u00fcber das Zustandekommen des Zeiturtheils falsch wiedergegeben und dafs ich zweitens von den f\u00fcnf Faktoren, welche er zur Erkl\u00e4rung einer bestimmten Zeitt\u00e4uschung herangezogen h\u00e4tte, willk\u00fcrlich einen herausgegriffen und als seine Erkl\u00e4rung dieser T\u00e4uschung hingestellt h\u00e4tte In einer \u201eErwiderung\u201c habe ich aufs Eingehendste mit Meumann\u2019s eigenen Worten gezeigt, dar\u00ab ich in meinem Referat seine damalige Ansicht \u00fcber das Zustandekommen des Zeiturtheils vollkommen richtig wiedergegeben hatte, und ich habe ferner gezeigt, dafs Meumann dreien von den f\u00fcnf Factoren, welche er sp\u00e4ter zur Erkl\u00e4rung der T\u00e4uschung herangezogen haben wollte, in seiner urspr\u00fcnglichen Arbeit eine Wirkung zugeschrieben hatte, welche die in\n1 Philos. Stud. VIII, Heft 3, S. 456 ff.","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Zeitanschauung.\n147\nRede stehende T\u00e4uschung h\u00f6chstens h\u00e4tte aufheben, nicht aber hervorbringen k\u00f6nnen. Hierauf sucht nun Meumann in einer Anmerkung zu einer neueren Arbeit (Philos. Stud. XII, S. 249) wenigstens einen von den drei Factoren zu retten, hinsichtlich dessen ich seine Ausf\u00fchrungen falsch verstanden haben soll. Das ist das Einzige was er sachlich an meiner \u201eErwiderung\u201c auszusetzen hat. Je schw\u00e4cher aber die sachliche Seite einer Entgegnung, desto gr\u00f6ber ist bekanntlich h\u00e4ufig die Form. So f\u00fcgt denn auch Meumann hinzu: \u201eUnf\u00e4hig zum Verst\u00e4ndnifs der Absichten Anderer und pr\u00e4tenti\u00f6s in der Kritik \u2014 das Charakterisirt meinen Gegner.\u201c\nAuch wenn ich der Einfachheit halber hier zugeben w\u00fcrde, dafs ich Meumann hinsichtlich des einen Faktors falsch verstanden h\u00e4tte und dafs die Schuld an diesem Mifsverst\u00e4ndnifs im Wesentlichen mich tr\u00e4fe, so bliebe doch bestehen, dafs sich Meumann, als er mich \u00f6ffentlich eines falschen Berichts \u00fcber seine Arbeit anklagte, in viel schlimmerer Weise \u00fcber den Inhalt seiner eigenen Ausf\u00fchrungen geirrt hat. Dafs er sich trotzdem berufen t\u00fchlt, mich in einer so groben pers\u00f6nlichen Weise anzugreifen \u2014 das charakterisirt wohl gen\u00fcgend meinen Gegner.\nIch kann nicht umhin an dieser Stelle einen Vorwurf zu besprechen, den Meumann in seiner ersten Arbeit gegen mich erhoben hat (Philos. Stud. VIII, S. 462): \u201eEndlich ist die Angabe des Verfassers \u00fcber die Latenzzeit des Zeitmarkirers ein Fehler, der n\u00e4here Beleuchtung verdient. Dafs ein Forscher einfach die Controlen eines anderen Apparates als Controlen seines eigenen ansieht, weil dieser von demselben Mechaniker herr\u00fchrt, d\u00fcrfte einzig in seiner Art sein; dabei kommt Schumann gar nicht in den Sinn, dafs die Latenzzeit eines solchen Instrumentes sich w\u00e4hrend einer Vergleichsreihe gar nicht gleich bleiben kann.\u201c \u2014 In der That ein Experimentator, der sich nicht vergewissert, ob auch der benutzte Apparat selbst die f\u00fcr die Untersuchung in Frage kommende Genauigkeit besitzt, verdient den sch\u00e4rfsten Tadel. Habe ich mich denn aber wirklich nicht vergewissert, ob mein Apparat die f\u00fcr meine Untersuchungen in Frage kommende Genauigkeit besafs? \u2014 Die Stelle, wo ich mich auf die Contr\u00f4le eines anderen Apparates berufe, lautet w\u00f6rtlich : \u201eSollte bei anderen (!) Untersuchungen eine wesentlich gr\u00f6fsere Genauigkeit erforderlich sein, so w\u00fcrde sich auch diese bei Benutzung einer Stimmgabel mit gr\u00f6fserer Schwingungszahl leicht mit meinem Chronographen erzielen lassen, da die Latenzzeit des Peeiu-sehen Zeitmarkirers nach den Untersuchungen von Tigerstedt 0,001 Sec. Dicht erreicht und da der Fehler bei der Bestimmung des Intervalls zwischen zwei Strom\u00f6ffnungen nur durch die Differenz der beiden Latenzzeiten bedingt ist.\u201c Hieraus geht deutlich hervor, dafs ich Tiger-8TKDT8 Controlen nur angef\u00fchrt habe, um die Erwartung zu begr\u00fcnden, dafs mein Apparat auch f\u00fcr wesentlich feinere Untersuchungen noch gen\u00fcgen w\u00fcrde. F\u00fcr die von mir ausgef\u00fchrten Untersuchungen mit dem Chronographen kam es auf eine grofse Genauigkeit nicht an. Ich hatte mit ihm die Constanz eines Rotationsapparates gepr\u00fcft und dabei f\u00fcr ein Intervall von 300 a eine mittlere Variation von 3 o gefunden. Wie viel von dieser mittleren Variation auf Rechnung der Inconstanz des Zeit-\n10*","page":147},{"file":"p0148.txt","language":"de","ocr_de":"148\nF. Schumann.\nmarkirers zu setzen war, hatte f\u00fcr meine Untersuchungen nicht die geringste Bedeutung. Meumann hat demnach eine ganz harmlose, nebens\u00e4chliche Bemerkung durch seine Darstellung zu einem Fehler \u201eeinzig in seiner Art\u201c gestempelt.\nMan m\u00f6ge mir gestatten, hier noch einige Bemerkungen zu besprechen, welche Mettmann \u00fcber meine Kritik der Leipziger Arbeiten macht. Er sagt n\u00e4mlich: \u201eSchumann scheint bei dieser Kritik vergessen zu haben, dafs er selbst bei seiner Thfitigkeit die Erfahrungen von mehr als einem Dutzend Vorg\u00e4nger benutzen konnte, und dafs man wenig Ehre einlegen kann mit einer Kritik von Arbeiten, \u00fcber deren M\u00e4ngel Niemand im Zweifel ist, und deren Verfasser nun einmal in der schwierigen Lage gewesen sind, ein fast v\u00f6llig unangebautes Gebiet behandeln zu m\u00fcssen; denn eine specielle Behandlung der Frage des WEBEB'schen Gesetzes im Gebiete des Zeitsinns existirte bis dahin noch nicht. Aufserdem wird Jeder, der die fr\u00fcheren Arbeiten (Mach, Viebordt, H\u00f6bing) mit den ersten Leipziger Studien vergleicht, zugeben m\u00fcssen, dafs die letzteren jenen fr\u00fcheren in methodischer Hinsicht weit \u00fcberlegen sind.\u201c\nIch habe demgegen\u00fcber Folgendes zu bemerken:\n1.\tEs ist nicht richtig, dafs bis dahin noch keine specielle Behandlung der Frage des WEBEB'schen Gesetzes im Gebiete des Zeitsinns existirt h\u00e4tte, denn die zahlreichen Versuche, welche Mach an den verschiedensten Versuchspersonen angestellt hatte, waren gerade speciell dieser Frage gewidmet. Auch wtifste ich nicht, worin der methodische Fortschritt der ersten Leipziger Studien zu suchen w\u00e4re. Wenn z. B. Kollert den aufserordentlich zahlreichen Versuchen Mach's, im Ganzen 126 Versuche, die sich auf 7 Versuchspersonen vertheilen, entgegenstellt und wenn er die ihm nicht passenden Resultate einfach streicht, so kann man doch mit dem besten Willen von keinem methodischen Fortschritt reden.\n2.\tEs ist nicht richtig, dafs Niemand \u00fcber die M\u00e4ngel der genannten Arbeiten \u201ein Zweifel gewesen sei\u201c. In der 3. Auflage seiner \u201ePhysiol. Psychologie\u201c (ja selbst in der vierten, nach meiner Arbeit erschienenen Auflage) f\u00fchrt Wundt noch die Periodicit\u00e4tsgesetze von Ebtel und Mehner an und macht nur ganz nebens\u00e4chliche M\u00e4ngel derselben geltend, so daf\u00bb Niemand daraus entnehmen kann, dafs er sie f\u00fcr unbegr\u00fcndet h\u00e4lt. Da diese Gesetze ferner auch noch von anderen Forschern (z. B. H\u00f6ffding, Jakes) als constatirte betrachtet wurden, so glaubte ich deutlich zeigen zu m\u00fcssen, dafs sie durch die Versuche nicht im Geringsten begr\u00fcndet sind.\n3.\tIch habe bei meiner Kritik nicht vergessen, dafs ich selbst bei meiner Th\u00e4tigkeit die Erfahrungen meiner Vorg\u00e4nger benutzen konnte. Zahlreiche M\u00e4ngel habe ich unerw\u00e4hnt gelassen und habe mich im Wesentlichen darauf beschr\u00e4nkt, die gr\u00f6bsten Fehler hervorzuheben, die auch damals Niemand machen durfte, der Ber\u00fccksichtigung seiner Resultate beanspruchen wollte. Auch haben wir verschiedene Forscher, auf deren Ansicht ich Werth lege, ihre volle Zustimmung zu meiner Kritik erkl\u00e4rt.\n(Eingegangen d. 18. Jan. 1898.)","page":148}],"identifier":"lit30383","issued":"1898","language":"de","pages":"106-148","startpages":"106","title":"Zur Psychologie der Zeitanschauung","type":"Journal Article","volume":"17"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:28:24.133317+00:00"}