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{"created":"2022-01-31T12:31:58.785209+00:00","id":"lit30441","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"De Sanctis, Sante","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 17: 205-214","fulltext":[{"file":"p0205.txt","language":"de","ocr_de":"Studien \u00fcber die Aufmerksamkeit.\nVon\nSante De Sanctis,\nPrivat-Docent an der Universit\u00e4t Rom.\nEs ist immer meine Ueberzeugung gewesen, die Besch\u00e4ftigung mit der Aufmerksamkeit m\u00fcsse werthvolle Ergebnisse zeitigen. Freilich hat man im Allgemeinen, haben selbst die Vertreter der modernen Psychologie diese complexe Function des Gehirns in zu synthetischer Art studirt, als ob sie eine einfache und alleinstehende Function w\u00e4re. Dagegen hat, wie Ebbinghaus sagt (Grundz\u00fcge der Psychologie, I. Band), die neuere Psychologie gezeigt, dafs wie das Ged\u00e4chtnifs und der Wille, so auch die Aufmerksamkeit nicht von dem Inhalt der verschiedenen Wahrnehmungsfelder getrennt existirt.\nBaijDWin und Andere haben die Neigung bedauert, welche die Psychologen bis in die letzte Zeit gehabt haben, die Aufmerksamkeit als Ganzes, wie wenn sie ein \u201eVerm\u00f6gen\u201c w\u00e4re, zu betrachten. So hat denn V. Henri erst k\u00fcrzlich sagen k\u00f6nnen (Ann\u00e9e psych. 1897, S. 236 und 247), das Experimentalstudium der Aufmerksamkeit stecke noch in den Kinderschuhen.\nEinen deutlichen Beweis von dieser Unzul\u00e4nglichkeit erh\u00e4lt man auf dem Gebiete der Psychopathologie. Die angesehensten Lehrb\u00fccher \u2014 eines oder das andere ausgenommen, z. B. das von Ziehen \u2014 hatten f\u00fcr die Alterationen jener fundamentalen Gehimfunction bei Nervenleidenden und Geisteskranken nur wenige Worte \u00fcbrig. Ribot\u2019s Unterscheidung zwischen Atrophie und Hypertrophie der Aufmerksamkeit schien mir gegen\u00fcber der F\u00fclle der pathologischen Thatsachen wenig zu bedeuten.\nMeine Studien reichen bis 1893 zur\u00fcck. Gehen sie auch meistens vom Standpunkte der Psychopathologie oder der Individualpsychologie aus, so glaube ich doch den Lesern dieser","page":205},{"file":"p0206.txt","language":"de","ocr_de":"206\nSant\u00e9 De Sanctis.\ngesch\u00e4tzten Zeitschrift einen Dienst zu leisten, wenn ich sie in m\u00f6glichst klarer und knapper Form zusammenf&sse.\nMein erster Beitrag (A p-opos\u00fco di due istericke. Considerations jmcologiche in Bull, della Soc. Lancistana degli Ospedali di Roma, Jahrgang XIV) betrifft Untersuchungen an zwei mit hochgradiger Hysterie behafteten M\u00e4dchen (Anf\u00e4lle, Heiman\u00e4sthesie, hysterischer Geisteszustand). Die Merkmale der Unaufmerksamkeit der Hysterischen, welche das Experiment bisher nachgewiesen hatte,\nschienen mir nicht in allen F\u00e4llen die von Pierbe Janet be-\n%\nschriebenen zu sein, dem Gelehrten, der die Frage der hysterischen Zerstreutheit mit wahrer Genialit\u00e4t behandelt hat Ich wollte daher an meinen beiden Hysterischen, die gerade den Typus der an der Salp\u00eatri\u00e8re studirten zeigten, den Stand der Aufmerksamkeit oder die Ausdehnung des BewuT\u00dft-seinsfeldes pr\u00fcfen. Bei dieser Arbeit k\u00fcmmerte ich mich nicht um den Unterschied zwischen Aufmerksamkeits- und Bewufst-seinsfeld und brauchte beide Benennungen, um denselben Begriff auszudr\u00fccken. Das Ziel meiner Untersuchung war, durch verschiedenartige, immer complicirter werdende Experimente gleichzeitige psychologische Synthesen hervorzurufen, um zu sehen, in welchem Maafse jede von diesen durch ihr Zusammensein mit den anderen bedroht w\u00fcrde. Hierf\u00fcr ersann ich eine der BiNET\u2019schen \u00e4hnliche Methode (La concurrence des \u00e9tats psychologiques in Revue pkilos., \u2019Nr. 2, 1890).\nMeine vielfachen Versuche stellte ich in Serien an jeder der beiden Kranken und (zum Vergleich) an einem normalen Manne an. Ich achtete darauf, sie in jeder Reihe zu modificiren, und wandte alle m\u00f6glichen Vorsichtsmaafsregeln an, da ich die gew\u00f6hnliche Weite des Bewufstseins- oder Aufmerksamkeitsfeldes sehen wollte.\nDie wichtigsten Schl\u00fcsse, welche mir die Ergebnisse der ausgef\u00fchrten Experimente nahelegten, waren folgende:\n1. Die Wirkungen des Conflictes zwischen den mannigfachen Gedankensynthesen sind an den Hysterischen wie an dem Normalen deutlich sichtbar und bekunden sich durch mehr oder weniger erhebliche Unregelm\u00e4fsigkeiten, durch Einstellung theils der Bewegungen, theils der Denkoperationen. Derartige St\u00f6rungen sind indessen bei den Hysterischen h\u00e4ufiger, wenn auch nicht intensiver, solange die erzeugten psychologischen Ph\u00e4nomene minder complicirt oder minder zahlreich sind.","page":206},{"file":"p0207.txt","language":"de","ocr_de":"Studien \u00fcber die Aufmerksamkeit.\n207\n2.\tBei der normalen Versuchsperson ist eine Neigung vorhanden, die Aufmerksamkeit auf eine Operation mehr als auf eine andere zu flxiren \u2014 es tritt also der Vorgang einer Auswahl der Aufmerksamkeit ein \u2014, auch wenn man sie wie die Hysterischen anweist die eigene Aufmerksamkeit auf alle Operationen gleichm\u00e4fsig zu vertheilen, und diese f\u00fcr sie und f\u00fcr die Kranken identisch sind und keinem irgendwelches Interesse darbieten.\n3.\tSowohl bei den Hysterischen wie bei dem normalen Menschen zeigt sich klar, dafs die psychologischen Ph\u00e4nomene sich gegenseitig zu beeinflussen streben; d. h. sie unterst\u00fctzen sich, wenn sie verwandt sind und gewissermaafsen auf ein gemeinsames Ziel losgehen (PAULHAN sches Gesetz) ; sie streben nach wechselseitiger Absorbirung, wechselseitiger Beduction, wenn sie ein verschiedenes Ziel haben. In jedem Falle l\u00e4fst sich an den Hysterischen die Verschmelzung zweier psychologischen Erscheinungen in eine rascher feststellen als an dem Normalen, wie denn auch der Rhythmus von jenen schneller als von diesem genommen wird.\n4.\tBei complicirteren Experimenten entsteht bei allen Versuchspersonen eine mehr oder minder arge Verwirrung, ein Mangel an Orientirungsvenn\u00f6gen. Dieser Verwirrung von Bewegungen und Vorstellungen unterliegt aber der Normale schneller als die Hysteriseben, und (das ist besonders wichtig) bei den Hysterischen wird sie von keiner Unlustempflndung begleitet, w\u00e4hrend bei dem Normalen Unbehagen und M\u00fcdigkeit st\u00e4ndig im Gefolge sind.\nDiese Ergebnisse berechtigen zu dem Schl\u00fcsse, dais das Feld des Bewufstseins bei den beiden Hysterischen normal ausgedehnt ist, da keine Operation unbewufst ausgef\u00fchrt wurde; doch fehlt bei ihnen die Auswahl der Aufmerksamkeit, und das Gef\u00fchl der Anstrengung mangelt ganz. Hieraus l\u00e4fst sich eine weitere Folgerung ziehen: auf die Zerstreutheit der Hysterischen pafst die Beschreibung, die Janet macht, nicht v\u00f6llig und nicht immer ; die letztere ist vielmehr ein getreues Bild der Zerstreutheit der Neuropsychastheniker, kurz der Erm\u00fcdeten (F\u00eae\u00e9). Die Aufmerksamkeit der Hysterischen zeigt stattdessen die Merkmale der Aufmerksamkeit des Kindes. Das ist charakteristisch. Die Aufmerksamkeit scheint gleichsam einen R\u00fcckschritt zu ihren ersten Entwickelungsstufen erlitten zu haben, d. h. zur","page":207},{"file":"p0208.txt","language":"de","ocr_de":"208\nSant\u00e9 De Sancti*.\nSpontaneit\u00e4t, als sich die Anstrengung noch nicht zu ihr gesellte.\nMeine zweite Arbeit (Lo studio sperimentale delVAttenzione, con una tavola in Bull, della Soc. Lancisiana, Jahrgang XIV) ist eine Kritik der von den Psychophysiologen bisher zum Studium der Aufmerksamkeit eingeschlagenen Richtung. Ich habe nie geglaubt und glaube auch heute nicht, man k\u00f6nne die Aufmerksamkeit bei einem Individuum mit einem einzigen Experimente pr\u00fcfen, als ob sie eine einfache Function des Geistes w\u00e4re; ich versuchte daher das Tr\u00fcgerische der Methode der einfachen Re-actionen klar zu machen, die viele Psychologen angewandt haben, um die Aufmerksamkeit einer gegebenen Versuchsperson in ihrer Gesammtheit zu studiren. Mit dem Namen Aufmerksamkeit bezeichnen wir eine ganze Reihe psychologischer Ph\u00e4nomene. Wir m\u00fcssen also deren Studium eine neue Richtung geben, m\u00fcssen eine Reihe verschiedener Versuche anstellen, um \u00fcber den Stand der Aufmerksamkeit eines bestimmten Individuums zu beweiskr\u00e4ftigen Schl\u00fcssen zu gelangen. Auch gen\u00fcgt das Experiment allein zur Erreichung dieses Zieles nicht. Man mufs noch die Beobachtung heranziehen ; denn experimentell studirt man im Grunde doch nur k\u00fcnstlich hervorgerufene Auf-merksamkeitsprocesse.\nPr\u00fcft man in diesem umfassenden Sinne die Aufmerksamkeit an einem Kranken, so darf man wuchtige und reichliche Ergebnisse erwarten.\nInzwischen ist bei den Versuchen zum Studium der Aufmerksamkeit ein scharfer Unterschied zu machen, den schon A. Binet bei seinen Experimenten gemacht hatte : n\u00e4mlich zwischen fixirter und vertheilt er Aufmerksamkeit. Der Versuch mit der fixirten Aufmerksamkeit hat nach meiner Auffassung den Zweck, auf folgende Fragen zu antworten: ob die betreffende Person f\u00e4hig ist, ihre Aufmerksamkeit auf einen gegebenen Gegenstand zu heften; wieviel Zeit n\u00f6thig ist, damit diese Fixi-rung eintritt ; ob sie intensiv ist, und in welchem Grade ; ob sie eine dauernde ist oder die Person schnell erm\u00fcdet. Das Experiment mit der vertheilten Aufmerksamkeit mufs ebenfalls \u00fcber verschiedene Punkte Auskunft geben: ob die Person zu einer Vertheilung f\u00e4hig ist ; wieviele Bewegungen sie gleichzeitig machen kann; und wieviele Empfindungen oder Vorstellungen sie mit Erfolg auszuhalten im Stande ist ; welches die Bewegungen,","page":208},{"file":"p0209.txt","language":"de","ocr_de":"Studien \u00fcber die Aufmerksamkeit.\n209\nEmpfindungen oder Denkoperationen sind, die aus dem Con-eurrenzkampf siegreich hervorgehen; wie lange ein gegebener Procefs von Vertheilung der Aufmerksamkeit dauert.\nMit diesen Absichten machte ich nun meine Versuche an dem ber\u00fchmten Hungerk\u00fcnstler Succi, und zwar am ersten und am letzten Tage seines zwanzigt\u00e4gigen Fastens (20. December 1893 \u2014 10. Januar 1894).\nUm die fixirte Aufmerksamkeit zu messen, stellte ich zwei Experimente an, denen folgende Idee zu Grunde lag: die Versuchsperson mit einer Bewegung zu besch\u00e4ftigen, die sie mit einem Finger gleichzeitig mit den Schl\u00e4gen eines Metronoms und unter Anspannung ihrer ganzen Aufmerksamkeit ausf\u00fchren sollte. Die besagte Bewegung wird mittels einer R\u00f6hre an eine MAREY\u2019sche Trommel mitgetheilt und auf einem mit Rauch geschw\u00e4rzten Cylinder eines BALTZAR\u2019schen Apparates registrirt. W\u00e4hrend die Versuchsperson derart besch\u00e4ftigt ist, werden in ihr immer st\u00e4rkere und zahlreichere Zerstreuungen hervorgerufen, wobei sie angewiesen wird jedes Mal den Kreis zu schliefsen, wenn ein zerstreuender Eindruck in das Versuchsfeld eingelassen wird.\nZur Messung der vertheilten Aufmerksamkeit machte ich f\u00fcnf Experimente, deren leitender Gedanke dieser ist : Nach entsprechender Vorbereitung wird das Individuum nach und nach mehr Empfindungen unterworfen und mit zwei, drei oder mehr gleichzeitigen Operationen besch\u00e4ftigt. Es wird aufgefordert allen gleichm\u00e4fsig seine Aufmerksamkeit zuzuwenden und f\u00fcr den guten Erfolg aller gleiche Sorge zu tragen. Alle Bewegungen werden registrirt: die zu den Operationen gebrauchte Zeit wird genau gemessen.\nMeine Monographie uL\u2019Attenxione e i suoi disturbi\" (Rom 1896) ist wesentlich eine Arbeit aus dem Gebiete der klinischen Psycho-pathologie. Die theoretisch richtige Unterscheidung zwischen spontaner und willk\u00fcrlicher Aufmerksamkeit ist in der Praxis nicht haltbar. Bei den gew\u00f6hnlichen Handlungen er-wachsener Menschen und der Summe von Handlungen, welche wir Betragen nennen, hat man mit einer Kette von Aufmerksamkeitsacten zu thun, wo bald der Instinct, bald die Gewohnheit, bald die Conation (im Sinne Clifford's) \u00fcberwiegt; und wie es bei jedem Acte spontaner Aufmerksamkeit auch einen Grad von Anstrengung giebt, so auch bei jedem Acte willk\u00fcr-\nZeitsohrift f\u00fcr Psychologie XVII.\t14","page":209},{"file":"p0210.txt","language":"de","ocr_de":"210\nSaute De Sandte.\nJicher Aufmerksamkeit einen Grad von Automatismus. Jeder Aufmerksamkeitsprocefs besitzt also einen bestimmten Will-k\u00fcrlichkeitsexponenten, der bald hoch, bald mittelgrofs, bald niedrig, bald absolut negativ, in jedem Falle aber schwer zu bestimmen ist\nIndem ich die absoluten Begriffe Spontaneit\u00e4t und W\u00fclk\u00fcr-Hchkeit fallen lasse, die nur bei psychogenetischen und psycho-pathologischen Untersuchungen einen sicheren Werth haben, nenne ich nat\u00fcrliche Aufmerksamkeit das Aufmerksam-keitsverm\u00f6gen einer Person, das in der gew\u00f6hnlichen Unterhaltung, ihrem Betragen, auch ihrem Aussehen und ihrer Physiognomie zur Erscheinung kommt Ich nenne ferner conative Aufmerksamkeit (im eigentlichen Verst\u00e4nde des Wortes) das Aufmerksamkeitsverm\u00f6gen, welches eine Person zeigt, wenn sie k\u00fcnstlich zu einer bestimmten Muskel- oder Geistesoperation angehalten wird, die ein sichtliches, bedeutendes Anpassungsbem\u00fchen verlangt, Allerdings sind auch in dem gew\u00f6hnlichen Betragen jedes Individuums Processe conativer Aufmerksamkeit in dem Sinne, in dem ich sie verstehe, gegeben; sie entziehen sich aber unserer Pr\u00fcfung.\nEs ist also klar, dafs man die nat\u00fcrliche Aufmerksamkeit nur mit der Methode der Beobachtung studiren kann, w\u00e4hrend man die conative mit der Methode des Experiments aus-probiren mufs. Da nun, wie ich oben ausgef\u00fchrt habe, beide Formen der Aufmerksamkeit (nat\u00fcrliche und conative) zwei Seiten f\u00fcr die Betrachtung darbieten, so erhalten wir das Schema:\nBeobachtung\tExperiment\n= Nat\u00fcrliche Aufmerksamkeit =\t= Conative Aufmerksamkeit =\n( Fixirungsverm\u00f6gen Nat\u00fcrliches j\n{ Vertheilungsverm\u00f6gen\nConatives\nI Fixirungsverm\u00f6gen \\ Vertheilungsverm\u00f6gen\nIn meiner Arbeit versuchte ich mit der Methode klinischer Beobachtung an vielen Geistes- und Nervenkranken zu zeigen, dafs das Verm\u00f6gen, die Aufmerksamkeit zu vertheilen, den Gipfel der Evolution der Aufmerksamkeit in der Psychogenese vorstellt, und kam zu diesem Schlufs: \u201eEine angemessene Vertheilungsf\u00e4higkeit bildet die oberste Stufe in der Entwickelung dieser Function, wofern die letztere beim Vertheilen einen","page":210},{"file":"p0211.txt","language":"de","ocr_de":"Studien \u00fcber die Aufmerksamkeit.\n211\nhohen Willk\u00fcrlichkeitsexponenten beh\u00e4lt und f\u00fcr jedes Object, dem sie sich zuwendet, die entsprechende Erkenntnifswirkung erzielt.41\nDie Pr\u00fcfung vieler Nervenleidenden und Irren f\u00fchrte mich auf die Grundlagen einer Pathologie der nat\u00fcrlichen Aufmerksamkeit, so dafs ich an der Hand der Thatsachen folgende St\u00f6rungen und Krankheiten der Aufmerksamkeit feststellen konnte :\nAufmerksamkeit\nA. Nat\u00fcrliche\n1.\textraspective\n2.\tintrospective\nB. Conative\n1.\textraspective\n2.\tintrospective\nI.\tSt\u00f6rungen in der Fixirung der Aufmerksamkeit:\na.\tin Folge von Unvollkommenheit : Ana-Hypoprosexis der Fixirung ;\nb.\tvon Uebermaafs: Hyperprosexis der Fixirung.\nII.\tSt\u00f6rungen in der Vertheilung der Aufmerksamkeit:\na.\tin Folge von Unvollkommenheit: Einschr\u00e4nkung des Aufmerksamkeitsfeldes oder Ana-Hypoprosexis der Vertheilung ;\nb.\tvon Uebermaafs: Hyperprosexis der Vertheilung.\nHI. Qualitative St\u00f6rungen der Aufmerksamkeit:\nParaprosexis.\nWas verstehe ich unter Paraprosexis ? Unter diesem Namen begreife ich St\u00f6rungen, die durch ein entweder zu rasches oder zu intensives oder inad\u00e4quates Steigen des Willk\u00fcrlichkeitsexponenten w\u00e4hrend eines Aufmerksamkeitsprocesses oder einer Reihe solcher Processe hervorgerufen werden. Derartige St\u00f6rungen sollen durch den momentanen Conflict zwischen plastischer und automatischer Th\u00e4tigkeit verschuldet sein ; man findet daher einige unter ihnen hier und da von den Psychiatern als Erscheinungen von Disbulie beschrieben.\nEin Theil der paraprosectischen St\u00f6rungen wird dadurch charakterisirt, dafs die Dazwischenkunft willk\u00fcrlicher Th\u00e4tigkeit w\u00e4hrend eines Processes nat\u00fcrlicher Aufmerksamkeit eine der gew\u00f6hnlichen Wirkung der Aufmerksamkeit entgegengesetzte hervorbringt : sie verwirrt, anstatt zu kl\u00e4ren, unter-\n14*","page":211},{"file":"p0212.txt","language":"de","ocr_de":"212\nSant\u00e9 De Sanctis.\ndr\u00fcckt die Perception, statt sie zu erleichtern. Dieses Ph\u00e4nomen von Paraprosexis ist nicht immer leicht zu erkl\u00e4ren; die Einmischung des Affects complicirt oft seine Deutung. Jedenfalls waren diese pathologischen Thatsachen hier ordentlich ins Reine zu bringen : sie bereichern das neue Kapitel der Prosexipathieen um eine neue Form. Ein wahrhaft gl\u00e4nzender Fall, \u00fcber den ich berichtet habe (Sopra uno sp\u00e9ciale dis turbo ddTattenxiom in un degenerate) in Bull. Soc. Landsiana degli Ospedali di Roma, Jahrgang XVI, Heft 2), beleuchtet von der klinischen Seite die Para prosexis; von der psychologischen thun dies die ber\u00fchmten Experimente von M\u00fcnstebbebg und die sich ansch\u00fcefsenden verschiedener deutschen Psychologen (vgl. die Discussion zwischen K\u00fclpe und M\u00fcnstebbebg, Ebbinghaus, Lipps in dem \u201eBericht \u00fcber den III. internationalen Congrefs f. Psychol, zu M\u00fcnchen\u201c, S. 180\u2014182), von Alice Hamlin, Fbank Dbew u. s. w., aus denen hervorgeht, dafs in gewissen F\u00e4llen die mit Aufmerksamkeit empfangenen Reize schw\u00e4cher als die zerstreut empfangenen scheinen.\nAlle bisherigen Studien hatten mit der nat\u00fcrlichen Aufmerksamkeit zu thun ; d. h. meine ganze Klassification gr\u00fcndete sich auf Thatsachen, die mit der Methode der Beobachtung gesammelt worden waren. Ich wollte daher auch die conative Aufmerksamkeit pr\u00fcfen und messen, d. h. das experimentelle Verfahren auf das in der angegebenen Weise vorgezeichnete Studium der Aufmerksamkeit anwenden.\nDies beabsichtigte ich mit meinen Ricerche psicofmobgiche sid~ VAttenxionc dei normali e dei psicopatici (Bull. Soc. Landsiana, Jahrgang XVII, Heft 2), \u00fcber die ich einige Monate vorher eine vorl\u00e4ufige Mittheilung gemacht hatte (Lo studio deWAttenxionc conativa in Atti della Soc. Rontanu di Antropologia, Band IV, Heft 2).\nDie Methode, welche ich beim Studium der conativen Aufmerksamkeit befolgte, ist in derselben Art erdacht wie die andere bei den beiden Hysterischen, von denen ich zu Anfang gesprochen habe, und dem Hungerk\u00fcnstler Succi erprobte; sie unterscheidet sich aber in den Modalit\u00e4ten. Ich habe das Perimeter (Modell Pbietsley-Smith) auf das Studium der Aufmerksamkeit angewandt, und die Anwendung bei 17 Versuchspersonen (normalen und geisteskranken) hat mir bewiesen, dafs das besagte Verfahren von gr\u00f6fstem Nutzen zu sein vermag.\nGewifs kann man nicht sagen, dafs mittels meiner Methode systematisch alle Variet\u00e4ten der sinnlichen Aufmerksamkeit einer-","page":212},{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"Studien \u00fcber die Aufmerksamkeit.\n213\nseits, der repr\u00e4sentativen Aufmerksamkeit andererseits gepr\u00fcft w\u00fcrden- In Wahrheit erheben meine Untersuchungen gar nicht den Anspruch, das Studium s\u00e4mmtlicher Arten von Aufmerksamkeit zu ersch\u00f6pfen. Ich bin \u00fcberzeugt, dafs, ehe man ein Urtheil \u00fcber den Stand der conativen Aufmerksamkeit bei einem gegebenen Individuum f\u00e4llt, sei es nun normal oder krank, man vielfache Experimente machen mufs, die gerade darauf ausgehen, die verschiedenen Formen der Aufmerksamkeit zu pr\u00fcfen. Andererseits braucht man darum nicht zu \u00fcbertreiben : man glaube nicht, dafs man mit Leichtigkeit nach einander jede einzelne Form der Aufmerksamkeit untersuchen k\u00f6nne. Inzwischen ist es beim Experimente unm\u00f6glich, den LFnterschied zwischen sinnlicher und repr\u00e4sentativer Aufmerksamkeit festzuhalten. Auch bei den Processen nat\u00fcrlicher Aufmerksamkeit ist nach Jodl\u2019s Ausdruck ein \u201eIneinandergreifen\u201c, ein \u201eSich-Erg\u00e4nzen\u201c der beiden die Regel.\nJedenfalls l\u00e4fst sich bei den Experimenten, die ich f\u00fcr die Fixirung der Aufmerksamkeit vorgeschlagen habe, die Con-currenz zwischen der auf Geh\u00f6rs-, Gesichts- und Tasteindr\u00fccke gerichteten Aufmerksamkeit einerseits und der repr\u00e4sentativkinetischen andererseits studiren. Bei den Versuchen \u00fcber die Vertheilung der Aufmerksamkeit pr\u00fcft man dagegen den Wettstreit zwischen der auf Gesichtsempfindungen gerichteten und repr\u00e4sentativ-kinetischen Aufmerksamkeit und zwischen einem Processe repr\u00e4sentativer Aufmerksamkeit (Erinnerung, Unterscheidung, zur Ausf\u00fchrung einer Z\u00e4hlung und Berechnung n\u00f6thige Synthesen).\nViele Schl\u00fcsse ergeben sich aus den Resultaten meiner Experimente ; der gr\u00f6fste Theil derselben betrifft aber die Psychopathologie, bez. die Alterationen der Aufmerksamkeit bei den verschiedenen Formen von Geisteskrankheiten.\nDer Schlufs psychologischer Natur, der mir mit Evidenz aus den vielfachen Versuchen zu folgen scheint, ist der, dafs wirklich an dem Unterschied zwischen Concentration und Vertheilung der Aufmerksamkeit festzuhalten ist, besonders in der Individualpsychologie, und dafs das Verm\u00f6gen* die Aufmerksamkeit zu vertheilen, in der Psychogenese eine h\u00f6here Bedeutung hat als das, sie zu fixiren. In der That ist bei Paralytikern, Irren, Hysterischen und Greisen das Distributions verm\u00f6gen das erste, das gest\u00f6rt wird und M\u00e4ngel zeigt, w\u00e4hrend","page":213},{"file":"p0214.txt","language":"de","ocr_de":"214\nSant\u00e9 De Sanetis.\nes sich bei Schwachsinnigen und Idioten wie bei Kindern zuletzt entwickelt.\nIch kann nicht verhehlen, dafs, soweit die bei Hysterischen erhaltenen Resultate in Betracht kommen, diese meine Experimente nicht vollkommen mit denen \u00fcbereinstimmen, die ich an den beiden Hysterischen 1893 angestellt habe. Hier beschr\u00e4nke ich mich darauf, die Thatsachen vorzutragen, und gebe aus R\u00fccksicht auf den Raum keine Erkl\u00e4rung dieses Widerspruches.\nMan k\u00f6nnte meinen, die Bedeutung eines Aufmerksam-keitsprocesses h\u00e4nge ausschliefslich von dem Werthe des Willk\u00fcrlichkeitsexponenten ab, und das k\u00f6nnte weiter auf den Gedanken bringen, mein Schlufs, nach welchem das Verm\u00f6gen zur Vertheilung der Aufmerksamkeit vom psychogeneti-schen Standpunkt das h\u00f6here ist, sei k\u00fcnstlich. Zum Theil ist das wahr; ich glaube aber, der Willk\u00fcrlichkeitsexponent ist nur ein Attribut der Aufmerksamkeit, nicht die Aufmerksamkeit selbst. Die Definition, die einige Psychologen aufgestellt haben, die Aufmerksamkeit sei der angewandte Wille, halte ich nicht f\u00fcr richtig.\nAber zugegeben auch, dafs ein Aufmerksamkeitsprocefs lediglich auf Grund der gr\u00f6fseren Willk\u00fcrlichkeit, die ihn be gleitet, h\u00f6her als ein anderer st\u00e4nde, so bleibt immer noch die Frage offen: wird im gew\u00f6hnlichen Leben wie bei den Experimenten eine st\u00e4rkere Willensanstrengung f\u00fcr einen Fixirungs-oder einen Vertheilungsprocefs verlangt?\nAuch wenn die gr\u00f6fseren Schwierigkeiten, welche die Vertheilung gew\u00f6hnlich bietet, ausschliefslich auf die st\u00e4rkere Anforderung an den Willen zu schieben w\u00e4ren, die sich bei ihr feststellen l\u00e4fst, so w\u00fcrde man deswegen nicht minder behaupten k\u00f6nnen, dafs \u201eeine hohe Vertheilungsf\u00e4higkeit den h\u00f6chsten Grad des Aufmerksamkeitsverm\u00f6gens darstelltk\\\nRom, im December 1897.\n(Uebers, eingegangen den 20. Februar 1898.)","page":214}],"identifier":"lit30441","issued":"1898","language":"de","pages":"205-214","startpages":"205","title":"Studien \u00fcber die Aufmerksamkeit","type":"Journal Article","volume":"17"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:31:58.785215+00:00"}