The Virtual Laboratory - Resources on Experimental Life Sciences
  • Upload
Log in Sign up

Open Access

Warum sind Raum- und Zeitanschauungen beständig und unentbehrlich?

beta


JSON Export

{"created":"2022-01-31T16:09:46.951692+00:00","id":"lit30503","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Tschisch, W. v.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 17: 368-382","fulltext":[{"file":"p0368.txt","language":"de","ocr_de":"Warum sind Kaum- und Zeitanschauurigen best\u00e4ndig\nund unentbehrlich?\nVon\nProfessor W. v. Tschisch.\nVorliegende Arbeit hat zum Zweck, die physiologische Seite, die physiologische Grundlage der Best\u00e4ndigkeit und Unentbehrlichkeit, dieser Grundeigenschaften der Raum- und Zeitanschauungen, n\u00e4her zu beleuchten. In derselben soll nicht von der Entstehung der Raum- und Zeitanschauungen gehandelt werden, sondern lediglich die Frage er\u00f6rtert werden, warum diese Anschauungen in unserem Bewufstsein so best\u00e4ndig auftreten und f\u00fcr dasselbe so unentbehrlich sind, warum wir uns die Dinge nicht anders als im Raume und in der Zeit vorstellen k\u00f6nnen. Ohne die metaphysische Seite dieser Frage zu ber\u00fchren, will ich im Folgendem den psychophysiologischen Vorg\u00e4ngen n\u00e4her treten, an welche die Entstehung der Raum- und Zeitanschauungen gebunden ist, und die Versuche und Beobachtungen besprechen, auf welche ich die Beantwortung der gestellten Frage st\u00fctzen zu k\u00f6nnen glaube.\nDie physiologische Entstehungsweise der Raum- und Zeitanschauungen konnte trotz der gl\u00e4nzenden Fortschritte der Physiologie der Sinnesorgane und der Anatomie des Gehirns bis vor nicht geraumer Zeit keine Erkl\u00e4rung finden. So geben z. B. Wundt, Ziehen, K\u00fclpe in ihren Lehrb\u00fcchern der physiologischen Psychologie durchaus \u00fcberzeugende Erkl\u00e4rungen f\u00fcr die physiologische Entstehungsweise dieser Anschauungen \u2014 und ganz besonders gr\u00fcndlich ist doch die Entstehung der Raumanschauung studirt \u2014 Niemand aber weist auf den physiologischen Procefs hin, durch welchen die Best\u00e4ndigkeit und die Unentbehrlichkeit dieser Anschauungen bedingt sind, obgleich","page":368},{"file":"p0369.txt","language":"de","ocr_de":"Warum sind Raum- u. Zeitanschauungen best\u00e4ndig u. wientbehrlich? 369\ndiese beiden Eigenschaften es gerade sind, welche die Raum-und Zeitanschauungen am meisten charakterisiren.\nDie in der heutigen Wissenschaft herrschende Lehre kann unm\u00f6glich als richtig und vollendet gelten, so lange die Frage nicht beantwortet ist, wodurch die unbedingt apriorischen Raum- und Zeitanschauungen, welche ja genau so wie alle anderen Vorstellungen und Empfindungen entstehen, sich von diesen unterscheiden, und wie die Grundeigenschaften dieser Anschauungen, die Best\u00e4ndigkeit und Unentbehrlichkeit, zu erkl\u00e4ren seien. Die Apriorit\u00e4t dieser Anschauungen tritt mit so unverkennbarer Deutlichkeit zu Tage ; \u2014 und denn-noch lehrt die derzeitige physiologische Psychologie, dafs Raumanschauungen genau so wie Gesichtsvorstellungen entstehen, und dafs die Zeitanschauung eigentlich nichts anderes als das Urtheil \u00fcber den Wechsel der Vorstellungen sei.1\nDafs diese Frage in der heutigen Psychophysiologie keineswegs vollst\u00e4ndig bearbeitet ist, geht schon aus der unzul\u00e4nglichen Erkl\u00e4rung hervor, welche M. Herz 2 f\u00fcr die physiologisch\u00a9 Grundlage der Best\u00e4ndigkeit der Raumanschauungen giebt Er sagt n\u00e4mlich : \u201eDie Eigenschaft des Raumes, dafs er allein \u00fcbrig bleibt, wenn man von allem anderen Inhalte des Bewufstseins abstrahirt, soll uns dazu helfen, seine Natur physiologisch zu ergr\u00fcnden; denn eine so fundamentale Function unseres Verstandes mufs auch aus der Organisation der denkenden Substanz als ein Grundprincip abzuleiten sein oder umgekehrt, es ist unbedingt nothwendig, die r\u00e4umliche Anschauung als eine Function der denkenden Substanz zu nehmen.\nStellen wir uns die denkende Oberfl\u00e4che des Gehirnes in einer beliebigen Gestalt ausgebreitet vor. Wenn wir im Stande w\u00e4ren, die Bewiifstseinsvorg\u00e4nge in derselben sinnlich wahrzm nehmen, dann w\u00fcrden wir in ihr die Vorstellung einer r\u00e4umlich ausgedehnten Welt durch den momentanen Inhalt individuell gef\u00e4rbt erkennen.\nUm nun zu dem Raumbegriffe selbst zu gelangen, m\u00fcfsten wir den eben erw\u00e4hnten Inhalt des Bewufstseins fortzuschaffen im Stande sein. Was also das Gesicht, das Geh\u00f6r, der Geruch,\n1 Vgl. z. B. Wundt, Grundztige der physiolog. Psychologie. 1893. Bd. II,\n8. 411.\n* Docent Max Herz, Kritische Psychiatrie, S. 73. Wien 1895. Zeitschrift f\u00fcr Psychologie XVII.\t24","page":369},{"file":"p0370.txt","language":"de","ocr_de":"370\nTF. t>. T\u00eachitch.\nder Geschmack und das Getaste durch Eindr\u00fccke und Erinnerungen an dieser Oberfl\u00e4che \u00e4ndern, heben wir auf. Jetzt liegt sie glatt und eben, ruhig vor uns und jetzt mnfs sie nach dem, was wir an uns selbst erfahren haben, die Vorstellung des unendlichen leeren Raumes haben. Der Raumbegriff ist also gar nichts anderes als die absolute Ruhe der denkenden Substanz, er ist das Organgef\u00fchl des ruhenden Gehirnes. Dafs diese Ruhe eigentlich eine gleichm\u00e4fsige Bewegung u. s. w.. .\nVor zehn, f\u00fcnfzehn Jahren konnte in der That wegen unserer zu geringen Kenntnisse von den Bewegungsempfindungen die Best\u00e4ndigkeit der Raumanschauungen nicht erkl\u00e4rt werden, galt damals doch kein wesentlicher Unterschied zwischen Bewegungsempfindungen und anderen Empfindungen. In den letzten Jahren hat aber eine ganze Reihe von Psychologen und Physiologen, unter denen Stricker das gr\u00f6fste Verdienst geb\u00fchrt, die hohe Bedeutung der BewTegungsempfindungen zu Tage gef\u00f6rdert. Heute ist es wrohl ganz klar, dafs die Bewegungsempfindungen ein unentbehrliches Element jedes Ein-druckes, jeder Vorstellung und sogar jeder abstracten Idee ist Die Bewegungsempfindung ist ein so wichtiger Bestandtheil jeder Vorstellung und jedes Eindruckes, dafs kein Vorgang in unserem Bewufstsein ohne dieselbe m\u00f6g\u00fcch ist, ja Bewegungsempfindungen sind in unserem Bewufstsein stets und immer vorhanden.\nDiese Thatsache ist heute so allgemein bekannt, dafs es wohl \u00fcberfl\u00fcssig w\u00e4re, auf sie n\u00e4her einzugehen. Anders war es freilich vor wenigen Jahren, als noch die sogenannten Ge^ dankenleser das Interesse der Gesellschaft in so bedeutendem Grade fesselten, als man noch nicht wufste, dafs die Gedanken an den sie begleitenden Muskelbewegungen, welche nur f\u00fcr den unge\u00fcbten Beobachter nicht bemerkbar sind, unschwer errathen werden k\u00f6nnen.\nDa Versuche im Allgemeinen beweiskr\u00e4ftiger als Beobachtungen sind, so k\u00f6nnen als bester Beweis f\u00fcr die Best\u00e4ndigkeit und Unentbehrlichkeit der Muskelempfindungen die Versuche an Hypnotisirten angesehen werden. So ist erwiesen, dafs \u201eHallu-cinationen im Gebiete des Muskelsinnes, im engeren Sinne des Wortes, nicht suggerirt werden k\u00f6nnen.\u201c Und in der That ; wenn Muskelvorstellungen ein noth wendiges Element jedes einzelnen Eindruckes sind, so ist eben gerade in diesem Umstande der Grund daf\u00fcr zu sehen, dafs letztere nicht als etwas","page":370},{"file":"p0371.txt","language":"de","ocr_de":"Warum sind Raum- u. Zeitanschauungen best\u00e4ndig u. unentbehrlich? 371\nSelbstst\u00e4ndiges in unserem Bewufstsein auftreten, wenigstens nicht so selbstst\u00e4ndig, wie Gesichts- und Geh\u00f6rsvorstellungen. Weiter setzt sich jeder complicirte Eindruck, der dadurch entsteht, dafs in irgend einem Sinnesgebiet eine Hallucination sug-gerirt und darauf vom Hypnotisirten erg\u00e4nzt wird, aus einer ganzen Anzahl theils hallucinatorischer, theils illusorischer Elemente zusammen ; nur die Muskelempfindung, welche die Hallucination begleitet, ist das einzige nicht hallucinirte, sondern that-s\u00e4chlich reelle Element. Allerdings sprechen manche Beobachtungen f\u00fcr die M\u00f6glichkeit, auch Muskelempfindungen hallucina-torischen Charakters zu suggeriren. So suggerirt man einem Hvpnotisirten, der unbeweglich sitzt, dafs er auf dem Balle tanze, und bemerkt, dafs allm\u00e4hlich sich die Athmung beschleunigt, das Gesicht sich r\u00f6thet u. s. w. (Beaxjnis nannte diese Suggestionen suggestions motrices). Handelt sichs in solchen F\u00e4llen aber um Bewegungsempfindungen, die trotz thats\u00e4chlicher Unbeweglichkeit entstanden sind? Nein, diese Bewegungsempfin-dungen sind auf wirkliche Ver\u00e4nderungen in der Innervation und im Muskeltonus zur\u00fcckzuf\u00fchren, Ver\u00e4nderungen, welche dem Auge unzug\u00e4nglich und subjectiv \u00fcbertrieben sind. Dazu kommt noch, dafs durch die Suggestion diese Empfindungen wahrscheinlich nicht prim\u00e4r hervorgerufen werden, sondern dafs zuerst Gesichts- und Geh^rshallucinationen entstehen, welche der Suggestion entsprechen, dafs die Person sich auf dem Balle befinde. \u2014 Im Jahre 1892 hatte ich das Gl\u00fcck unter der Leitung zweier so hervorragender Autorit\u00e4ten, wie Bernheim und Charcot, die hypnotischen Erscheinungen zu studiren, und bei Delboeuf den Versuchen beizuwohnen; dabei konnte ich mich zur Gen\u00fcge \u00fcberzeugen, dafs es in der That unm\u00f6glich ist, Bewegungs-hallucinationen im engeren Sinne des Wortes, hervorzurufen ; ebenso ist es unm\u00f6glich, die Bewegungsempfindungen zu hemmen oder gar zu vernichten, solange das psychische Leben nicht unterbrochen ist. Der Hypnotisirte mufs Bewegungs-'empfindungen haben, wenn anders nicht das Bewufstsein v\u00f6llig erloschen ist. Leider ist die Thatsache nicht geh\u00f6rig gew\u00fcrdigt worden, obgleich sie von besseren Kennern der hypnotischen Erscheinungen anerkannt wird.. Wie genau erwiesen ist, kann man bei einigen Hypnotisirten v\u00f6llige An\u00e4sthesie hervorrufe n und manche Eindr\u00fccke, wie Tast- und Geh\u00f6rseindr\u00fccke oder ganze Vorstellungsreihen hemmen und unterbrechen; ja man","page":371},{"file":"p0372.txt","language":"de","ocr_de":"372\nW. v. Tnchnch.\nkann sogar, wenn auch nur auf kurze Zeit, rein vegatative Functionen hervorrufen resp. unterdr\u00fccken, w\u00e4hrend es doch ganz unm\u00f6glich ist, Bewegungsempfindungen zu hemmen, so lange auch nur die geringsten Zeichen psychischen Lebens vorhanden sind. Athmung und Herzth\u00e4tigkeit k\u00f6nnen von Wenigen zwar willk\u00fcrlich beherrscht werden, niemand aber vermag weder im normalen noch im hypnotischen Zustande auch nur kurze Zeit die Bewegungsempfindungen zu unterdr\u00fccken.\nDie Bewegungsempfindungen sind in unserem Bewufstsein best\u00e4ndig vorhanden, und noch mehr, sie sind f\u00fcr dasselbe unentbehrlich insofern, als kein Eindruck, keine Vorstellung, keine Idee ohne Bewegungsempfindungen m\u00f6glich ist Das ist freilich nicht sq aufzufassen, als ob die Muskelempfindungen Eigenschaften aller Empfindungen und Vorstellungen seien. Empfindungen als solche enthalten allerdings keine Muskelempfindungen, die Eindr\u00fccke und Vorstellungen aber, d. h. die wirklichen Grundelemente unseres Bewusstseins bestehen unbedingt auch aus Bewegungsempfindungen. Letztere k\u00f6nnen rein sein, d. h. keine anderen Empfindungen enthalten, w\u00e4hrend sie selbst ein noth wendiger Bestandteil jedes Eindruckes, jeder Vorstellung sind. So ist es denn klar, dafs die Bewegungsempfindungen notwendige und unumg\u00e4ngliche Bedingung f\u00fcr das Entstehen und Vorsichgehen aller Elemente des psychischen Lebens sind, und diese Eigenschaft, best\u00e4ndig und unent-b e h r 1 i c h zu sein, ist es gerade, welche die Bewegungsempfindung von allen anderen Eindr\u00fccken und Vorstellungen so lebhaft unterscheidet. Best\u00e4ndig sind in unserem Bewufstsein Bewegungsempfindungen vorhanden, best\u00e4ndig gelangen Bewegungsempfindungen zu unserer Hirnrinde. Diese Best\u00e4ndigkeit und diese Unentbehrlichkeit der Bewegungsempfindungen entspricht aber vollkommen der Best\u00e4ndigkeit und Unentbehrlichkeit der Raumanschauungen.\nNicht weniger best\u00e4ndig als diese sind endlich auch die Functionen der Gleichgewichtsorgane; es ist gar nicht denkbar,' dafs diese Organe ihre Th\u00e4tigkeit unterbrechen k\u00f6nnten, ohne Bewufstseinsver\u00e4nderungen zu bewirken. Die Gleichgewichtsorgane functioniren best\u00e4ndig, und ihre Th\u00e4tigkeit ist f\u00fcr das psychische Leben so unentbehrlich, dafs kaum merkliche St\u00f6rungen schon die schwersten Erscheinungen hervorrufen, ja das Denken unm\u00f6glich machen. Von der Wahrheit","page":372},{"file":"p0373.txt","language":"de","ocr_de":"Warum sind Baum\u2022 u. Zeitanschauungen best\u00e4ndig t<. unentbehrlich? 373\ndieser Behauptung hat sich ja jeder zur Gen\u00fcge \u00fcberzeugt, der nur einmal an Kopfschwindel oder an der Seekrankheit gelitten hat. Unentbehrlichkeit und Best\u00e4ndigkeit sind eben auch hier diejenigen Eigenschaften, welche die Functionen der in Rede stehenden Organe ganz besonders charakterisiren. Es ist nicht bekannt, in welchem Lebensmonat diese Organe ihre Th\u00e4tigkeit beginnen, das letztere aber erst dann aufh\u00f6rt, wenn das Bewufstsein vollst\u00e4ndig erloschen ist, kann nicht bezweifelt werden. Ohne die Th\u00e4tigkeit der Gleichgewichtsorgane ist das psychische Leben unm\u00f6glich, und es ist auch in der That kein Fall bekannt, der f\u00fcr eine entgegengesetzte Behauptung spr\u00e4che. Die Bewegungs- und Gleichgewichtsempfindungen sind zum Unterschiede von allen anderen Empfindungen best\u00e4ndig und unentbehrlich; sie k\u00f6nnen nicht fehlen, sie k\u00f6nnen nicht ausgeschaltet werden; genau so best\u00e4ndig und unentbehrlich sind aber auch die Raumanschauungen, welche eben so wenig fehlen d\u00fcrfen, ebenso wenig ausgeschaltet werden k\u00f6nnen.\nSo sehen wir denn, dafs die Grundeigenschaft, das Hauptattribut der Raumanschauung vollkommen erkl\u00e4rt werden kann durch die Grundeigenschaften der Bewegungs- und Gleichgewichtsempfindungen, derjenigen Empfindungen, aus welchen sich eben die Raumanschauung zusammensetzt. Letztere bleibt auch dann in der Hirnrinde zur\u00fcck, wenn man alle Vorstellungen aus derselben fortschafft, denn wenn wir im Stande w\u00e4ren, die Hirnrinde aller Vorstellungen zu berauben, die aus den vermittelst der Sinnesorgane erhaltenen Empfindungen hervorgehen, auch dann blieben die Bewegungs- und GleichgeWichtsempfindungen und folglich auch die Raumanschauungen \u00fcbrig. Die Hirnrinde birgt stets Bewegungs- und Gleichgewichtsempfindungen in sich, weil ja die Bewegungs- und Gleichgewichtsorgane in steter Th\u00e4tigkeit sich befinden.\nMit der allgemein anerkannten Lehre von der Entstehung der Zeitanschauung konnte ich mich schon lange nicht verstehen, hatte ich doch allen Grund, die WuxDT\u2019sche Ansicht zu bezweifeln, nach welcher die Zeit nichts anderes sei, als die Form, in welcher uns der Zusammenhang aller Bewufstseins-vorg\u00e4nge gegeben ist. Ein Anh\u00e4nger Kants, neige ich zur Ansicht, dafs die Zeit und ebenso der Raum allen Vorstellungen vorausgehen und unumg\u00e4ngliche Bedingungen f\u00fcr das Entstehen","page":373},{"file":"p0374.txt","language":"de","ocr_de":"374\nW. v, Tzch\u00fcch.\nderselben sind, folglich nicht als Ergebnifs, als Folge von Eindr\u00fccken und Vorstellungen aufgefafst werden k\u00f6nnen.\nIn der ganzen derzeitigen Wissenschaft konnte ich keiner Beth\u00e4tigung der KANT\u2019schen Lehre begegnen, bis endlich die Versuche an Hypnotisirten bewiesen, dafs letztere im hypnotischen Zustande empfangene Auftr\u00e4ge mehrere Tage nachher ausf\u00fchrten, wobei sie im normalen Zustande nicht die geringste Erinnerung der ihnen suggerirten Befehle hatten. Sehr \u00fcberzeugend sind die auf dem II. Congrefs f\u00fcr experimentelle Psychologie in London mitgetheilten Versuche Delboeuf\u2019s, weil sie an ungebildeten Frauen ausgef\u00fchrt sind', welche nicht gut zu rechnen verstanden, und zeigen, dafs selbst solche Versuchspersonen nach einer vorausbestimmten Zwischenzeit, z. B. nach 3\u2014300 Minuten Befehle ausf\u00fchrten, von denen sie im normalen Zustande nie etwas gewufst hatten.4 Im Laufe der Zeit vom Herbst des Jahres 1892 bis zum November des Jahres 1895 f\u00fchrte ich 100 Versuche in folgender Weise aus : Ich legte mich schlafen und nahm mir vor, nach einer genau vorausbestimmten Zeit, z. B. um o3/4 Uhr u. s. w. zu erwachen. Um die Versuche m\u00f6glichst vollst\u00e4ndig zu gestalten, wurden dieselben zu verschiedenen Zeiten, bei verschiedenen Gem\u00fcthsstimmungen verschiedenen Erm\u00fcdungs- und Gesundheitszust\u00e4nden ausgef\u00fchrt. Zuvor hatte ich mich \u00fcberzeugt, dafs ich wachend die Zeit mit einer Genauigkeit von nicht mehr als 15 Minuten bestimmen konnte, d. h. ich konnte z. B. angeben, dafs im Augenblick die Uhr 3/29 sei, und es erwies sich, dafs der Fehler 16 Minuten betrug. Was ergab sich? W\u00e4hrend der hundert Versuche hatte ich nicht ein einziges Mal vers\u00e4umt, zur festgesetzten Zeit zu erwachen; hinzugef\u00fcgt sei noch, dafs ich eigentlich nicht 100, sondern 134 Versuche ausf\u00fchrte, dafs aber 34 Versuche durch Tr\u00e4ume beeintr\u00e4chtigt wurden oder dadurch, dafs ich, wie es im Anfang h\u00e4ufig geschah, unruhig schlief und mehrmals vor der bestimmten Zeit erwachte; ich wufste jedoch jedes Mal ganz sicher, dafs die festgesetzte Zeit noch nicht heranger\u00fcckt w\u00e4re. Wenngleich in diesen 34 Versuchen der Fehler nur ungef\u00e4hr 15 Minuten betrug, mache ich von denselben aus angef\u00fchrten Gr\u00fcnden keinen Gebrauch.\n1 De l\u2019appr\u00e9ciation du temps par les somnambules (2. Congrefs fur Psychologie 1892).\n3 Solche Resultate hatte auch Bramwell erhalten. (On the appreciation of time by somnambules; 8. Congrefs f\u00fcr Psychologie 1896.)","page":374},{"file":"p0375.txt","language":"de","ocr_de":"Warum sind Raum- u. Zeitanschauungen best\u00e4ndig u. unentbehrlich? 375\n100 Versuche ergaben durchschnittlich einen Fehler von 13 Minuten; ich erwachte immer fr\u00fcher und nicht sp\u00e4ter als zur festgesetzten Zeit, was mit den Resultaten meiner Versuche \u00fcbereinstimmt, welche ich mit dem Pendel ausgef\u00fchrt habe1; wahrscheinlich ist das auf Charaktereigenth\u00fcmlichkeiten zur\u00fcckzu-f\u00fchren, da zwei so verschiedenartige Versuchsreihen daf\u00fcr sprechen. Der gr\u00f6fste Fehler betrug 32 Minuten, der kleinste 4 Minuten ; nach einiger Zeit, nach erlangter Uebung verringerte sich die Anzahl der Fehler um ein Bedeutendes. W\u00e4hrend der 100 N\u00e4chte erwachte ich 52 Mal viel fr\u00fcher als zu der Zeit, auf welche es ankam, und das ganz unabh\u00e4ngig von den in Rede stehenden Versuchen, n\u00e4mlich wegen nat\u00fcrlicher Bed\u00fcrfnisse. Jedesmal war ich mir aber dessen genau bewufst, dafs das Erwachen nur durch ein nat\u00fcrliches Bed\u00fcrfnifs, durch Schlaflosigkeit oder einen anderen nebens\u00e4chlichen Umstand bedingt, und die festgesetzte Zeit noch nicht gekommen war, und jedesmal, wrenn ich nach der Uhr sah, hatte ich mich nicht get\u00e4uscht. Doch auch dann, wenn ich aus solchen Anl\u00e4ssen erwachte, vermochte ich, die Zeit ziemlich genau anzugeben ; bemerkenswerth ist nur, dafs in solchen F\u00e4llen der Fehler nach beiden Richtungen hin schwankte und zwar gab ich 29 Mal die Zeit um ungef\u00e4hr 21 Minuten fr\u00fcher an, und 23 Mal sp\u00e4ter, als sie in der That war; der Durchschnittsfehler betrug also 9 Minuten. Nach solchen St\u00f6rungen schlief ich regelm\u00e4fsig wieder ein, um dann nicht fr\u00fcher als zur festgesetzten Zeit zu erwachen. Diejenigen F\u00e4lle, in welchen ich mehrere Mal vor dem eigentlichen Augenblick erwachte, z\u00e4hle ich zu den 34 Versuchen, die ich nicht beschreibe. Der Vollst\u00e4ndigkeit wegen sei noch erw\u00e4hnt, dafs ich im Allgemeinen einen tiefen Schlaf habe, mich einer ziemlich guten Gesundheit erfreue, und dafs diese Versuche mich nicht im geringsten anstrengten; am folgenden Tage f\u00fchlte ich mich keineswegs m\u00fcde. Ich schlafe ungef\u00e4hr 8 Stunden. Wie dem auch sei, meine Versuche best\u00e4tigen vollkommen die von Delboeuf ver\u00f6ffentlichten Resultate. Durch dieselben ist wohl zur Gen\u00fcge bewiesen, dafs man bei einiger Uebung und gutem Willen im normalen traumlosen Schlaf die Zeit nicht weniger genau, ja sogar noch genauer messen kann, als wenn man wacht.\n1 Ueber die Zeitverh\u00e4ltnisse der Apperception einfacher und zusammengesetzter Vorstellungen, untersucht mit H\u00fclfe der Complicationsmethode. (Phil. Stud. Bd. 11.)","page":375},{"file":"p0376.txt","language":"de","ocr_de":"376\nH', v. Tschi\u00abch.\n#\nVielleicht k\u00f6nnte man bei gr\u00f6fserer Uebung die Zeit noch ge* nauer messen, als das mir gelungen ist; jedenfalls entsprechen meine Versuchsergebnisse durchaus meinem Charakter ; ich habe, was besonders wichtig ist, nicht ein einziges Mal im Schlafe vergessen, meinem Vors\u00e4tze getreu, zur vorausbestimmten Zeit zu erwachen. Im Jahre 1892 stellte ich aus Interesse f\u00fcr die \u00dcELBOEUF\u2019sche diesbez\u00fcgliche Arbeit Versuche \u00fcber den Zeitsinn an, indem ich den Anfang und das Ende der Zeitperioden durch den Ton einer Stimmgabel, deren Schwingungsdauer ver\u00e4ndert werden konnte, markirte. Die Versuche wurden an mir und einer 47 j\u00e4hrigen intelligenten Dame ausgef\u00fchrt. Dieselben konnten allerdings nicht einwandsfrei ausfallen, weil es weder mir noch der anderen Versuchsperson jedesmal gelang, die Vorstellungen, welche w\u00e4hrend der Zwischenzeit in uns aufstiegen, willk\u00fcrlich zu hemmen. Zuweilen, und das nur zuf\u00e4llig, hatten wir im Laufe von 0,5; 0,7 ; 1,0; 1,2; 1,5 Secunden keine Vorstellungen, ein anderes Mal war das aber trotz aller Anstrengung nicht m\u00f6glich. Die Versuchsbedingungen konnten also nicht willk\u00fcrlich ver\u00e4ndert werden, und deshalb halte ich diese Versuche nur f\u00fcr zuf\u00e4llige Beobachtungen, deren Beweiskraft nat\u00fcrlich nicht der von richtigen Versuchen gleichkommt. Aus diesem Grunde will ich auch keine besonderen Tabellen anf\u00fchren, sondern nur die Schlufsfolgerung mittheilen, dafs die Zeit in denjenigen Zwischenperioden, in welchen das Bewufstsein frei von jeglichen Vorstellungen war, genauer bestimmt werden konnte, als in solchen, in welchen zwischen zwei Stimmgabelt\u00f6nen unwillk\u00fcrlich irgend eine Vorstellung auf stieg. Im Ganzen wurden 823 Beobachtungen angestellt; als gelungen k\u00f6nnen nur 221 bezeichnet wrerden, weil nur in so viel F\u00e4llen zwischen den beiden Stimmgabelt\u00f6nen keinerlei Vorstellungen st\u00f6rten.\nF\u00fcr die Richtigkeit der eben angef\u00fchrten Resultate spricht auch die Selbstbeobachtung, insofern als wir nach ihr mit H\u00fclfe derjenigen Processe, welche unser Bewufstsein ausf\u00fcllen, bei weitem nicht im Stande sind, die Dauer der Zeit genau zu messen. Einen n\u00e4heren Beweis f\u00fcr diese Thatsache vermag ich ferner in den Resultaten von 5000 Beobachtungen zu erbringen, welche ich in den letzten drei Jahren folgendermaafsen ausf\u00fchrte: Ich sah nach dem Chronographen und merkte mir genau die Zeit; darauf schlofs ich die Augen und unterbrach den Secunden-zeiger, sobald ich die Empfindung hatte, dafs die voraus-","page":376},{"file":"p0377.txt","language":"de","ocr_de":"Warum sind Raum- u. Zeitanschauungen best\u00e4ndig.u. unentbehrlich? 377\nbestimmte Zeit \u2014 10, 20, 30, 40, 50, 60, 120 Secunden \u2014 verstrichen waren. Mit H\u00fclfe dieser Beobachtungen, welche ich aus ebendenselben Gr\u00fcnden, wie die vorhergenannten, nicht als Versuche bezeichne, sollte haupts\u00e4chlich die Ursache f\u00fcr die Gr\u00f6fse des Fehlers bestimmt werden; es ergab sich folgendes: In der allergr\u00f6fsten Mehrzahl der F\u00e4lle hatte ich den Secunden-zeiger fr\u00fcher unterbrochen, als die vorausbestimmte Anzahl von Secunden verstrichen war; d. h. bei Versuchen mit 20 Secunden hatte ich z. B. die Empfindung, dafs schon 20 Secunden verstrichen w\u00e4ren, nachdem in Wirklichkeit erst 18 vergangen waren u. s. w., nur 684 Mal unterbrach ich den Zeiger sp\u00e4ter. Nach andauernder Uebung (die Uebungsversuche f\u00fchre ich nicht an) war ich so weit, dafs der Fehler bei Zwischenzeiten von nicht mehr als 40 Secunden kaum 10 \u00b0/0 betrug und bei l\u00e4ngeren nicht mehr als 15 %. Als gelungen bezeichne ich nur diejenigen Beobachtungen, w\u00e4hrend welcher das Bewufstsein frei von allen Vorstellungen und Eindr\u00fccken war. Selbstverst\u00e4ndlich liefs sich's sehr schwer angeben, wann das Bewufstsein v\u00f6llig frei von Vorstellungen war, da manchmal nur verschwommene Vorstellungen, und kaum merkliche Lust- oder Unlustgef\u00fchle sich st\u00f6rend bemerkbar machten. Dennoch gelang es mir 821 Beobachtungen zu machen, in welchen das Bewufstsein ann\u00e4hernd frei war; in allen \u00fcbrigen F\u00e4llen war auch der Fehler bedeutend gr\u00f6fser, ja in manchen betrug er fast die H\u00e4lfte; so hatte ich die Empfindung, dafs 30 Secunden vergangen w\u00e4ren, nachdem in der That kaum 16 verstrichen waren. Aus diesen Beobachtungen konnte ich auf die Ursache f\u00fcr die Gr\u00f6fse des Fehlers schliefsen. Je gr\u00f6fser n\u00e4mlich die Anzahl der Vorstellungen war, welche w\u00e4hrend der vorausbestimmten Zwischenzeit im Bewufstsein auftraten, je deutlicher und lebhafter dieselben waren, je mehr sie, sozusagen, mein Interesse in Anspruch nahmen, desto mehr betrug der Fehler; je dunkler und undeutlicher die Vorstellungen kamen und schwanden, je lockerer ihr Zusammenhang war, desto geringer war der Fehler.\nBei denjenigen Beobachtungen, in welchen ich activ in den Gang meiner Gedanken eingriff, schwankte der Fehler sehr bedeutend; w\u00e4hrend ich in manchen F\u00e4llen die Dauer der verflossenen Zeit fast richtig bestimmte, betrug in anderen der Fehler fast das Doppelte. Die Mehrzahl der Beobachtungen, in welchen mir die Zeit l\u00e4nger erschien, als sie eigentlich war, geh\u00f6rt eben","page":377},{"file":"p0378.txt","language":"de","ocr_de":"378\tW. Tsihisch*\nzu den F\u00e4llen, in denen ich mich w\u00e4hrend des Versuches mit meinen Gedanken besch\u00e4ftigte, sei es, dafs ich vor kurzem Gelesenes recapitulirte oder \u00fcber Patienten nachdachte, welche ich an demselben Tage gesehen hatte. Ich bemerkte sehr bald, dafs mir die fragliche Zwischenzeit k\u00fcrzer erschien, dafs ich das Ende derselben fr\u00fcher, als es in der That heranger\u00fcckt war, bestimmte, wenn ich beim Nachdenken schnell zum Schlufs gelangte ; mufste ich dagegen sehr lange mich mit einer Frage abm\u00fchen, dann erschien mir die Zeit langdauernd, und ich unterbrach dann regelm\u00e4fsig den Zeiger fast im rechten Augenblick, oder sogar etwas sp\u00e4ter.\nAuf Grund der Beobachtungen, w\u00e4hrend welcher ich mich willk\u00fcrlich mit meinen Gedanken besch\u00e4ftigte, gelangte ich zum Schlufs, dafs es unter solchen Bedingungen ganz unm\u00f6glich ist, die Zeit zu messen ; mir wenigstens ist es nicht gelungen, wenngleich ich, noch so sehr in meine Gedanken versunken, mir gleichzeitig meiner Aufgabe, die Secundenzahl zu bestimmen, bewufst war. Ferner stellte ich fest, dafs man nicht unmittelbar, sondern mittelbar mit H\u00fclfe der im Bewufstsein auftauchenden und verschwindenden Vorstellungen die Zeit messen k\u00f6nne, und zwar mittelbar, mit H\u00fclfe folgenden Schlusses: ich habe vieles erlebt, d. h. ich habe vieles durchdacht, folglich ist viel Zeit verflossen; ich habe wenig gedacht, folglich ist wenig Zeit verflossen.\nBei diesen Versuchen sah ich thats\u00e4chlich ein, dafs ich die Zeitdauer nicht bestimme, sondern nur errathe; mir war\u2019s, als k\u00f6nnte ich die Anschauung nicht unmittelbar fassen. Ganz anders dagegen, wenn ich durch keinen einzigen Gedanken abgelenkt, nur auf das Ende der Zwischenzeit wartete; wie deutlich kam mir dann die Dauer der gegebenen Zeit zum Bewufstsein, und nur die Stimmung und der allgemeine physische Zustand hatten dann, wie ich bemerken konnte, einen Einflufs auf die Gr\u00f6fse des Fehlers. Die deutlichste Zeitanschauung hatte ich nur dann, wenn ich unbeeinflufst von jeglicher Vorstellung und jeglicher Gem\u00fcthsstimmung die Beobachtungen anstellte.\nWie sind nun meine Versuche und Beobachtungen zu erkl\u00e4ren? Ich wiederhole nochmals, dafs ich nur die Versuche, zur festgesetzten Zeit zu erwachen, f\u00fcr beweisend halte, w\u00e4hrend den Beobachtungen nur insofern Bedeutung beigemessen werden kann, als sie schon Festgestelltes best\u00e4tigen. Es liegt auf der","page":378},{"file":"p0379.txt","language":"de","ocr_de":"Warum sind Raum- u. Zeitanschauungen best\u00e4ndig u. unentbehrlich? 379\nHand, dafs ich deshalb zur festgestellten Zeit erwachte, weil in meiner Hirnrinde Ver\u00e4nderungen vor sich gingen, welche sozusagen, die verflossene Zeit markirten. Aufser Haut-Muskelreizen und solchen von inneren Organen her konnte mich ja nichts dazu bestimmen ; das Ticken der Uhr, nach welcher ich die Zeit bestimmte, nahm ich nicht wahr, weil dieselbe in Watte eingewickelt, im Nachttische lag; Tr\u00e4ume st\u00f6rten im Laufe der hundert N\u00e4chte niemals meinen Schlaf und dennoch vermochte ich Nachts die Zeit nicht weniger genau zu messen als am Tage, obgleich ich am Tage sehr oft nach der Uhr zu sehen pflege. Was also bestimmte denn eigentlich die Zeit? Welche Reize, welche Vorg\u00e4nge im Organismus konnten die Gehirnrinde derartig beeinflussen, dafs sie mit so bedeutender Genauigkeit die Zeit registrirte? Vor allem w\u00e4re wohl an die Th\u00e4tigkeit der Circulations- und Athmungsorgane zu denken, deren Einflufs auf die Gehirnrinde und folglich auch auf die Psyche kaum bestritten werden kann. Athmung und Kreislauf gehen w\u00e4hrend des Schlafes bekanntlich regelm\u00e4fsiger vor sich, weil sie dann weniger durch psychische Vorg\u00e4nge ver\u00e4ndert werden. An Kindern habe ich mich zur Gen\u00fcge \u00fcberzeugen k\u00f6nnen, dafs die Zahl der Herzschl\u00e4ge und Athmungsbewegungen w\u00e4hrend des Schlafes fast constant ist, am Tage dagegen durch verschiedene Ursachen vorzugsweise durch Gem\u00fcthserregungen, beschleunigte Bewegung und Speisen sehr leicht ver\u00e4ndert wird. Dasselbe gilt von allen anderen physiologischen Processen, welche sich zweifelsohne auch w\u00e4hrend des Schlafes vollziehen. Verdauung, Harnsecretion, ana- und katabolische Processe gehen beim Schlafenden nicht weniger regelm\u00e4fsig vor sich und k\u00f6nnen ebenso wenig dem psychischen Leben indifferent bleiben. Es ist \u00fcber allen Zweifel erhaben, dafs Ver\u00e4nderungen des K\u00f6rpers auf die Seele wirken. Wie bedeutend die Wirkung der physiologischen Vorg\u00e4nge, und besonders der der Athmung und Herzth\u00e4tigkeit, auf die Hirnrinde ist, geht schon daraus hervor, dafs viele auf der linken Seite und auf dem R\u00fccken thats\u00e4ch-lich nicht schlafen k\u00f6nnen. Ersteres w\u00e4re vielleicht auf die r\u00e4umliche Beschr\u00e4nkung des Herzens zur\u00fcckzuf\u00fchren; warum aber nicht alle Menschen auf dem R\u00fccken schlafen k\u00f6nnen, ist mir ganz unbegreiflich. Ich z. B. schlafe auch in sitzender Haltung, konnte mich aber im Laufe von 3 Jahren nicht gew\u00f6hnen, auf dem R\u00fccken oder auf der linken Seite zu schlafen.","page":379},{"file":"p0380.txt","language":"de","ocr_de":"380\tW. v. Tschi\u00each.\nDiese Lage beeinflufst offenbar den Ablauf der physiologischen Processe so ung\u00fcnstig, dafs der Organismus, seinem Selbstver-theidigungsprincipe folgend, dieselbe zu vermeiden strebt Der Einflufs, den die Haut- und Muskelempfindungen auf die Hirnrinde aus\u00fcben, kann nicht mit gen\u00fcgender Genauigkeit festgestellt werden, weil wir doch \u00fcberhaupt kaum im Stande sind, Haut- und Muskelempfindungen zu scheiden- Ebenso werden auch Bewegungsempfindungen von noch so tief Schlafenden wahrgenommen; daf\u00fcr spricht schon die Thatsache, dafs fast alle Menschen nur in liegender und dazu in bestimmter Haltung schlafen k\u00f6nnen. Die Unm\u00f6glichkeit auf dem R\u00fccken bequem zu schlafen ist nat\u00fcrlich vorzugsweise auf Muskelempfindungen zur\u00fcckzuf\u00fchren, welche durch derartige Lagen bedingt sind. Freilich ist das nicht so zu verstehen, als ob man in sehr bequemer, w\u00e4hrend der ganzen Nacht nicht zu ver\u00e4ndernder Lage gar keine Bewegungsempfindungen habe. Hat man sich gew\u00f6hnt, in einem weichen Bett zu schlafen, so ist ein hartes Lager sehr \u00fcnbequem, und umgekehrt. Die Bewegungsempfindungen dauern auch im Ruhezust\u00e4nde fort, denn Ruhe im engeren Sinne des Wortes giebt\u2019s f\u00fcr unseren K\u00f6rper nicht. Ja noch mehr; wir k\u00f6nnen uns keine K\u00f6rperlage vorstellen, in welcher nicht Bewegungsimpulse entst\u00e4nden, Bewegungsimpulse, welche zur / Erhaltung der gegebenen Lage oder zum Schutz unseres K\u00f6rpers vor Einwirkungen des umgebenden Mediums nothwendig sind. Eine solche Lage ist g&r nicht denkbar, ebenso wenig, wie wir uns den Raum nicht wegdenken k\u00f6nnen. Einzeln gelangen die Bewegungsimpulse wohl nicht zur Hirnrinde, dafs sie aber alle insgesammt durchaus bestimmte und genau zu messende Ver\u00e4nderungen in derselben hervorrufen, steht aufser Frage. Wenn die im Laufe einer Stunde entstehenden Bewegungsimpulse, welche zur Erhaltung der w\u00e4hrend des Einschlafens eingenommenen Lage nothwendig sind, und ebenso die durch dieselben in der Hirnrinde bedingten Ver\u00e4nderungen bestimmte Gr\u00f6fsen repr\u00e4sentiren w\u00fcrden, so w\u00e4re nicht einzusehen, warum diese Gr\u00f6fsen nach 2 Stunden nicht das Doppelte betragen sollten.\nSo w\u00e4ren wir nach Vorausgeschicktem zur Annahme berechtigt, dafs die Zeitanschauung auf gleichm\u00e4fsigen, periodisch auftretenden physiologischen Processen und auf Bewegungsempfindungen beruhe. Die Zeitanschauung ist nicht die Folge","page":380},{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"Warum sind Raum- w. Zeitanschauungen best\u00e4ndig u. unentbehrlich? 381\nvon Geh\u00f6rsempfindungen, sie geht nicht aus Bewufstseinspro-cessen hervor, wie das in der heutigen Wissenschaft angenommen ist, sondern sie ist schon fr\u00fcher als diese vorhanden. Wie k\u00f6nnte das auch anders sein? Wie k\u00f6nnten denn sonst die Thiere mit einer solchen Genauigkeit die Zeit bestimmen?\nWie bedeutend der Unterschied zwischen der Zeitanschauung und dem Causaht\u00e4tsprincip ist, hat Helmholtz in durchaus \u00fcberzeugender Weise gezeigt An uns w\u00e4re es jetzt mit H\u00fclfe der Errungenschaften, welche die Physiologie und Psychologie nach Helmholtz zu verzeichnen gehabt hat, die physiologischen Vorg\u00e4nge zu erforschen, welche der Entstehung der Zeitanschauung zu Grunde liegen. Auch die Zeit tr\u00e4gt, wie der Raum, die Merkmale der Best\u00e4ndigkeit und Nothwendigkeit an sich, wenigstens soweit, als unsere Hirnrinde zur Function bef\u00e4higt ist. Zeit und Raumanschauungen wohnen best\u00e4ndig, selbst w\u00e4hrend des Schlafes, in unserer Seele, alle anderen psychischen Erscheinungen sind dagegen unbest\u00e4ndig, sie kommen und gehen, sie erscheinen, um zu verschwinden. Um aber mit einer solchen Best\u00e4ndigkeit unsere Psyche erf\u00fcllen zu k\u00f6nnen, m\u00fcssen diese Anschauungen selbstverst\u00e4ndlich auf anderen Wegen zur Hirnrinde gelangen, als die Empfindungen der f\u00fcnf Sinnesorgane. Dafs die Sinnesempfindungen nicht best\u00e4ndig sind, dafs bald diese oder jene Empfindungen zeitweise fehlen, ist einfach auf den Bau der Sinnesorgane zur\u00fcckzuf\u00fchren; letztere sind ununterbrochen nur kurze Zeit th\u00e4tig ; das Ohr kann nicht best\u00e4ndig functioniren, ebensowenig wie das Auge u. s. w. Im Gegensatz zu diesen Empfindungen ist nun die Zeitanschauung best\u00e4ndig, weil sie auf Vorg\u00e4ngen beruht, welche nie aufh\u00f6ren und niemals unterbrochen werden, und diese Vorg\u00e4nge sind eben die fr\u00fcher besprochenen physiologischen Processe und die Bewegungsempfindungen. Nichts anderes als die physiologischen Processe und die Bewegungsempfindungen bilden das physiologische Substrat, welches der Entstehung der Zeitanschauung zu Grunde liegt ; sie sind der Zeitanschauung ebenso unentbehrlich, wie diese f\u00fcr das Bewufstseinsleben nothwendig ist. Die physiologischen Processe und die Bewegungsempfindungen sind schon vorhanden, ehe noch die Sinnesorgane th\u00e4tig sind, die Zeitanschauung ist schon da, bevor noch irgend ein Sinneseindruck wahrgenommen wird. Diese Thatsache wird schliefs-lich auch durch die Wahrheiten best\u00e4tigt, welche die Anatomie,","page":381},{"file":"p0382.txt","language":"de","ocr_de":"382\nW. v. T\u00bbchi\u00bbch.\nEmbryologie und Physiologie in der Lehre vom Bau und den Functionen der Hirnrinde zu Tage gef\u00f6rdert haben.\nZum Schlufs sei es mir gestattet, alles Gesagte mit folgenden Worten zusammenzufassen: Die Bewegungsempfindungen sind, wie das durch die Physiologie und Psychologie klargelegt und durch die Versuche an Hypnotisirten und die M\u00f6glichkeit, Gedanken zu lesen, bewiesen ist, best\u00e4ndig und unentbehrlich, nicht weniger sind es die Gleichgewichtsempfindungen, und deshalb tragen auch die Raumanschauungen die Merkmale der Best\u00e4ndigkeit und Unentbehrlichkeit an sich.\nDie Zeitanschauungen gehen, wie durch Delboeufs und ineine Versuche erwiesen ist und aufserdem durch meine Beobachtungen und oben erw\u00e4hnte Reflexionen best\u00e4tigt wird, aus Bewegungsempfindungen hervor und aus undeutlich zu Bewufstsein kommenden Empfindungen, die durch physiologische Processe, wie Ath-mung, Herzth\u00e4tigkeit, anabolische und katabolische Vorg\u00e4nge bedingt sind.\nRaum- und Zeitanschauungen treten fr\u00fcher auf als Sinnesempfindungen;1 aller Wahrscheinlichkeit nach entstehen sie beim Kinde schon w\u00e4hrend des intrauterinen und in den ersten Tagen des extrauterinen Lebens. Auf welche Weise sie sich aber un-bewufst aus Bewegungsempfindungen, physiologischen Processen und der Th\u00e4tigkeit der Gleichgewichtsorgane entwickeln, ist noch nicht verst\u00e4ndlich. Der wesentliche Unterschied, welcher zwischen allen Vorstellungen und den Zeit- und Raumanschauungen besteht, wird vollkommen durch die verschiedenen Entstehungsweisen der Sinnesempfindungen und der der Raum- und Zeitanschauungen erkl\u00e4rt, der Raum- und Zeitanschauungen, welche fr\u00fcher als die erste Sinnesempfindung auftreten, welche niemals aufh\u00f6ren, d.h. best\u00e4ndig sind und eine noth wendige Bedingung jeder einzelnen Vorstellung und jedes Bewufstseinsvorganges.\nWir k\u00f6nnen diejenigen Vorg\u00e4nge, welche der Entstehung von Raum- und Zeitanschauungen zu Grunde liegen, eben so wenig hemmen und zum Stillstand bringen, wie diese Anschauungen selbst. Mit anderen Worten: Alles ist an Raum und Zeit gebunden, wir k\u00f6nnen uns die Dinge nicht anders vorstellen, als im Raume und in der Zeit.\n1 Vgl. Flechsig, lieber die Associationseentren des menschlichen Gehirns. (3. Congrefs f\u00fcr Psychologie 1896).\n(Eingegangen d. 20. Ftln\\ 1S98).","page":382}],"identifier":"lit30503","issued":"1898","language":"de","pages":"368-382","startpages":"368","title":"Warum sind Raum- und Zeitanschauungen best\u00e4ndig und unentbehrlich?","type":"Journal Article","volume":"17"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:09:46.951698+00:00"}

VL Library

Journal Article
Permalink (old)
http://vlp.uni-regensburg.de/library/journals.html?id=lit30503
Licence (for files):
Creative Commons Attribution-NonCommercial
cc-by-nc

Export

  • BibTeX
  • Dublin Core
  • JSON

Language:

© Universitätsbibliothek Regensburg | Imprint | Privacy policy | Contact | Icons by Font Awesome and Icons8 | Powered by Invenio & Zenodo