Open Access
{"created":"2022-01-31T12:50:30.908730+00:00","id":"lit30507","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Meyer, Max","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 17: 401-421","fulltext":[{"file":"p0401.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber\nTonverschmelzung und die Theorie der Consonanz.\nVon\nMax Meyeb.\n(Mit 1 Fig.)\nDie bisherigen Versuche zur Feststellung der verschiedenen Grade der Tonverschmelzung (von Stumpf, Faist, Meinong und Witasek) geben zu mancherlei Bedenken Anlafs. Grundlegende Thatsachen der Musikwissenschaft mit H\u00fclfe der Aussagen U n -musikalischer zu untersuchen, ist immer eine mifsliche Sache. Dagegen hat directe Beobachtung durch musikalische Personen den Nachtheil, dafs auf diese Weise nur gr\u00f6bere Verschmelzungsunterschiede mit einiger Sicherheit bestimmt werden k\u00f6nnen. Zu Folge meiner eigenen directen Beobachtungen der Tonverschmelzung mufs ich Stumpf s Angabe durchaus beipflichten: \u201eDie feineren Verschmelzungsunterschiede, die innerhalb der Terzengruppe und der auf sie folgenden Gruppen bestehen m\u00f6gen, werden so kaum zu ermitteln sein.\u201c\nZweitens mufs es bei einigermaafsen kritischer Betrachtung Anstofs erregen, dafs bei allen bisherigen Versuchen, durch die man den Verschmelzungsgrad zweier T\u00f6ne bestimmen wollte, nicht nur diese beiden T\u00f6ne zu Geh\u00f6r gebracht wurden, sondern stets noch eine Reihe anderer von keineswegs verschwindend kleiner Intensit\u00e4t, die Differenzt\u00f6ne n\u00e4mlich und die Obert\u00f6ne.\nNun ist es ja wohl, wenn man die n\u00f6thige Uebung besitzt, bei directer Beobachtung m\u00f6glich, den beiden zu beurtheilenden T\u00f6nen die Aufmerksamkeit zuzuwenden und alle anderen T\u00f6ne mit bewufster Absicht zu vernachl\u00e4ssigen. Meinong und Witasek haben dies aber nach einer brieflichen Mittheilung, die ich Herrn Professor Meinong verdanke, keineswegs gethan, son-\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XVII.\t26","page":401},{"file":"p0402.txt","language":"de","ocr_de":"402\nMax Meyer.\ndem sich einfach dem Eindr\u00fccke des Klang-Ganzen hin-gegeben.\nSelbst wenn man jedoch dieses \u2014 meiner Ansicht nach fehlerhafte \u2014 Verfahren von Meinong und Witasek vermeidet, so hat man doch gar keine Sicherheit daf\u00fcr, dafs das Urtheil durch die Beit\u00f6ne unbeeinflufst geblieben sei.\nBei Unmusikalischen aber, die nicht im Analysiren ge\u00fcbt sind, ist es ganz selbstverst\u00e4ndlich, dafs die Differenz- und Obert\u00f6ne das Urtheil beeinflussen, da ein bewufstes Verhindern dieses Einflusses von vornherein ausgeschlossen ist.\nMessung von Reactionszeiten.\nDa es m\u00f6glich schien, dem Problem der Tonverschmelzung mit Verwendung gut musikalischer Personen auch auf andere Weise als durch directe Beobachtung n\u00e4her zu treten, so habe ich es unter Benutzung der verschiedensten Methoden versucht. Zun\u00e4chst bot sich dar die Methode der Reactionszeit-messung.\nNeun Flaschen von ausgesucht milder Klangfarbe waren abgestimmt, und zwar die tiefste auf den Ton von 250 Schwingungen, die anderen genau in den Intervallen 1:2, 2:3, 3:4, 4:5, 5:6, 5:8, 3:5, 4:7. Als mit diesen Intervallen bereits mehr als die H\u00e4lfte der gesammten Versuche gemacht worden war, wurde noch ein zehnter Flaschenton im Verh\u00e4ltnifs 5:7 hinzugef\u00fcgt Die T\u00f6ne wurden durch Regulirung der jeder Flasche zugef\u00fchrten Windmenge (vermittels Schlauchklemmen) und Einstellung der Anblasespalte gleichm\u00e4fsig stark' gemacht Als \u201eEin Ton\u201c wurde \u00fcbrigens immer der tiefste Ton 250 angegeben. Beobachtet wurde durch eine R\u00f6hrenleitung aus einem dritten Zimmer, um jedes H\u00f6ren der T\u00f6ne durch die Wand auszu-schliefsen. Da in Folge der Ver\u00e4nderung der Resonanz Verh\u00e4ltnisse die verschiedenen T\u00f6ne ihre St\u00e4rke in verschiedener Weise \u00e4ndern, falls der Beobachter das Ohr dicht an die R\u00f6hren\u00f6ffnung legt oder es etwas davon entfernt, so wurde das Ohr in etwa 10 cm Abstand von der Oeffnung fixirt Dafs in eben dieser Stellung auch die Gleichheit der Tonintensit\u00e4ten festgestellt wurde, ist selbstverst\u00e4ndlich.\nDie Versuche gingen folgendermaalsen von Statten. Der Experimentator brachte die tiefste Flasche allein oder auch eine der h\u00f6heren (auf drei Zweikl\u00e4nge kam insgesammt ein Einklang)","page":402},{"file":"p0403.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Tonverschmelzung und die Theorie der Consonanz.\n403\nzum T\u00f6nen, gab dem Beobachter (Dr. R. Hennig) ein Signal und l\u00f6ste ein Gewicht aus. Dies fiel 1 m tief auf ein Polster und \u00f6ffnete im letzten Augenblicke mit entsprechend grofser Geschwindigkeit einen die R\u00f6hrenleitung bis dahin verschlossen haltenden Schieber, der aus einer Metall- und zwei Lederplatten bestand und die T\u00f6ne hinreichend d\u00e4mpfte, so dafs der Beobachter, zumal da er das Ohr nicht dicht an das R\u00f6hrenende hielt, die T\u00f6ne vorher nicht h\u00f6ren konnte. Durch einen am Schieber befindlichen Contact wurde in dem Moment, wo der Schieber in Bewegung gerieth, der durch das Chronoskop gehende elektrische Strom unterbrochen. Sobald der Beobachter ein Urtheil dar\u00fcber gef\u00e4llt hatte, ob ihm ein oder mehrere T\u00f6ne zugef\u00fchrt worden waren, sollte er auf einen Knopf dr\u00fccken, wodurch der Strom wieder geschlossen und gleichzeitig eine am Ende der R\u00f6hre angebrachte Klappe ausgel\u00f6st wurde, die nun durch Federkraft getrieben die R\u00f6hre verschlofs und die T\u00f6ne dem Ohre des Beobachters entzog.\nDas Ergebnifg dieser Versuche zeigen uns die folgenden Tabellen.\nTabelle I.\n\t1:1\t1:2\t2:3\t3:4\t4:5\t5:6\t5:8\t3:5\t4:7\t6:7\nErstes Drittel\t824\t716\t780\t759\t641\t685\t568\t517\t555\t\u2014\nGeeammt* ergebnifs\t707\t625\t618\t601\t544\t642\t558\t511\t514\t\u2014\nLetztes Drittel\t568\t545\t489\t600\t484\t640\t553\t499\t503\t552\nKeactionszeiten f\u00fcr die Analyse von Zweikl\u00e4ngen.\nTabelle IL\n\tEinklang\tConsonanzI\tConsonanz II\nErstes Drittel\t824\t751\t683\nGesammtergebnifs\t707\t615\t554\nLetztes Drittel\t568\t511\t539\nMittelwerthe der Keactionszeiten f\u00fcr mehr und weniger\nconsonante Intervalle.\n26*","page":403},{"file":"p0404.txt","language":"de","ocr_de":"404\nMax Meyer.\nTabelle III\nIntervall j\tFehlerhafte Urtheile\n!\t8mal 2 Tone, aber Intervall nicht erkannt. 7mal Octavl.\nlmal Quinte, lmal Quarte. Imal Grofse Sexte.\n1 mal Grofse Sexte.\nf 2 mal Kleine Terz, lmal zweifelhaft, oh Grofse oder Kieme Terz.\n1\t1 mal 2 T\u00f6ne\u00bb aber Intervall nicht erkannt.\nh\t\u2019\n\\\\\ni lmal Quinte, lmal Kleine Ten.\nl\nlmal Octave. 4 mal Quinte. 1 mal Grofee Ter*, lmal Kleine jj Sexte, lmal zweifelhaft, ob Grofee oder Kleine Sexte.\ni\n!\t3 mal Grofse Sexte. 2 mal zweifelhaft, oh Grofee Sexte oder\nKleine Septime.\n\u00ab\ni\t_\n\u00ab\n. Tabelle I giebt uns eine Uebersicht der Reactionszeiten. Es sind die Mittelwerthe aus durchschnittlich 18 (bei 5:7 nur 6, beim Einkl\u00e4nge 48) Reactionen f\u00fcr jedes Intervall. Tabelle H ist zur leichteren Uebersicht des Verlaufs der Versuche ans Tabelle I gebildet, indem Octave, Quinte und Quarte zu einer Gruppe (Consonanz I), die \u00fcbrigen Intervalle zu einer anderen (Consonanz II) zusammengefafst wurden. Man sieht aus Tabelle H, dafs im Gesammtergebnifs die Erkennung des Einklanges die gr\u00f6fste Reactionszeit auf weist, die besser verschmelzenden Intervalle zeigen eine geringere, die schlechter verschmelzenden die kleinste Reactionszeit. Noch auff\u00e4lliger ist dieses Verh\u00e4ltnis im ersten Drittel, ganz verschwindend dagegen im letzten Drittel der Versuche. Hier n\u00e4hern sich die Reactionszeiten immer mehr einem bestimmten Werthe, indem sie beim Einkl\u00e4nge und den consonanteren Intervallen schneller abnehmen als bei den \u00fcbrigen. Dadurch verloren die Versuche nat\u00fcrlich ihr Interesse f\u00fcr uns, und wir h\u00f6rten mit ihnen auf.\n1:1\n1:2\n2:3\n3:4\n4:6\n6:6\n6:8\n3:6\n4:7\n6:7","page":404},{"file":"p0405.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Tonverschmelzung und die Theorie der Consonanz.\n405\nUnzweifelhaft ist es ein Leichtes, f\u00fcr dieses eigent\u00fcmliche Verhalten ein Dutzend Erkl\u00e4rungen zu geben. Da diese aber \u00fcber die Grenzen des Hypothetischen nicht weit hinauskommen d\u00fcrften, so will ich mich nicht weiter damit aufhalten.\nEs fragt sich nun, ob unsere Ergebnisse f\u00fcr die Verschmelzungsfragen \u00fcberhaupt verwertet werden k\u00f6nnen. Man wird diese Frage bejahen d\u00fcrfen, wenn man sich an das h\u00e4lt, was uns Tabelle II lehrt Unm\u00f6glich dagegen erscheint es, feinere Verschmelzungsunterschiede durch Reactionszeitmessung zu ermitteln (nach Tabelle I), da die zuf\u00e4lligen Schwankungen zu grofs sind und wegen der asymptotischen Ann\u00e4herung s&mmtlicher Zeiten an einen Grenzwerth durch Vergr\u00f6fserung der Zahl der Versuche nicht eliminirt werden k\u00f6nnen.\nSehr lehrreich ist auch Tabelle HI. Es war zwar nicht vom Beobachter verlangt worden, wenn zwei T\u00f6ne geh\u00f6rt wurden, auch das Intervall anzugeben; indessen notirte Herr Dr.Hennig hinter jedem Urteil auch noch seine Meinung \u00fcber das Intervall Die fehlerhaften Intervallurtheile nun sind in der Tabelle zusammengestellt. Ordnet man die weniger verschmelzenden Intervalle nach der Fehlerzahl, so erh\u00e4lt man folgende Reihe:\n1 Intervall\t8:6\t4:7\t4:5\t5:8\t5:6\nFehler\t8\t6\t3\t2\t1\nEeactionsseit\t611\t514\t544\t558\t642\nGenau dieselbe Reihe erh\u00e4lt man, wenn man diese Intervalle nach dem Gesammtergebnifs von Tabelle I anordnet, d. h. je k\u00fcrzer die Reactionszeit, um so unsicherer ist das Ur-theil \u00fcber das geh\u00f6rte Intervall; und zwar m\u00fcfste die Unsicherheit des Urteils die Folge der K\u00fcrze der Klangdauer sein, falls die ganze Ueberein Stimmung nicht \u2014 was mir wahrscheinlicher ist \u2014 auf Zufall beruht. Wenn man beide Thatsachen auf die Verschiedenheit der Verschmelzungsgrade als gemeinsame Ursache zur\u00fcckf\u00fchren wollte, so m\u00fcfste das Intervall 4:7 besser verschmelzen als 4:5, 5:8 oder 5:6, was Niemand behaupten wird. Die nicht sehr betr\u00e4chtliche Verschiedenheit der Reactionszeiten aber bei den Intervallen der Gruppe H wird man m jedem Fall auf Zufall zur\u00fcckf\u00fchren m\u00fcssen.\nBemerkenswert ist noch, d&Ts von 48 Einkl\u00e4ngen 8 f\u00fcr Zwei-","page":405},{"file":"p0406.txt","language":"de","ocr_de":"406\nMax Meyer,\nkl\u00e4nge erkl\u00e4rt wurden, ohne dafs jedoch der Beobachter das Intervall anzugeben vermochte.\nVerk\u00fcrzung der Klangdauer.\nNun versuchte ich es mit Verk\u00fcrzung der Klangdauer. Der die R\u00f6hrenleitung verschliefsende Schieber wurde durch zwei fallende Gewichte bewegt. Beide Gewichte, sowie ein zur Constanterhaltung und Messung der Klangdauer dienendes Pendel wurden im Ruhezust\u00e4nde durch Elektromagnete festgehalten. Nachdem der Beobachter das Signal erhalten hatte, wurde durch die Unterbrechung des elektrischen Stroms gleichzeitig das erste Gewicht und das Pendel ausgel\u00f6st Letzteres \u00f6ffnete nach beliebig zu w\u00e4hlender Zeit einen Contact und unterbrach so den das zweite Gewicht festhaltenden Strom. Da die Fallzeit beider Gewichte der gleichen Fallh\u00f6he (etwa */* m) wegen nicht wesentlich verschieden sein konnte, so darf man die Zeit zwischen Ausl\u00f6sung des Pendels und Contactunter-brechung als Zeit der Klangdauer betrachten.\nDie Klangdauer betrug 265 er. Wer einen so kurzen Mehrklang z\u00fcrn ersten Male h\u00f6rt, h\u00e4lt es f\u00fcr unm\u00f6glich, ihn auf Einheit oder Mehrheit hin zu beurtheilen; doch \u00fcbt man sich nach einigen Versuchen darauf ein.\nBei diesen Versuchen wurde kein feststehender Grundton angewandt. Vielmehr kam jedes Intervall innerhalb des Bereichs einer None zweimal vor und zwar in einer m\u00f6glichst hohen und in einer m\u00f6glichst tiefen Lage, so dafs sicher nicht aus der Klangh\u00f6he auf das Intervall geschlossen werden konnte. Als Einklang wurde bald dieser, bald jener Ton gegeben.\nTabelle IV.\n1 1 Urtheile ; i\tOctave 1:2\tQuinte 2:3\tQuarte 3:4\tGr. Terz 4:5\tTriton 18:25\t1 Ton\n1 Ton\t2\t10\t16\t13\t22\t54\n2 T\u00f6ne\t40\t31\t25\t28\t20\t16\nKlangdauer 265 e. Kein feststehender Grundton.\nDas Ergebnifs der Versuche zeigt uns Tabelle IV. Zun\u00e4chst sei bemerkt, dafs nicht etwa versehentlich die erste und","page":406},{"file":"p0407.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Tonverschmelzung und die Theorie der Consonanz.\n407\nzweite Reihe der Urtheile vertauscht worden sind. Vielmehr wurde in der That die Octave 40 mal f\u00fcr eine Mehrheit, der ganz dissonant klingende Tritonus (18:25) 22 mal f\u00fcr einen Einklang erkl\u00e4rt.\nDer gut musikalisch gebildete und vielfach bew\u00e4hrte Beobachter, Herr Lehrer H. Giebing, konnte \u00fcber das Zustande-kommen seiner Urtheile nur die eine Aussage machen, er habe \u201e2 T\u00f6ne\u201c geurtheilt, wenn es harmonisch geklungen habe (er f\u00fchlte sich an eine Aeolsharfe erinnert), \u201e1 Ton\u201c, wenn dies nicht der Fall gewesen sei.1\nDen Zahlen nach mufs also die Octave am meisten, demn\u00e4chst die Quinte \u201eharmonisch\u201c geklungen haben, w\u00e4hrend dem Tritonus dieses Pr\u00e4dicat am wenigsten zuzusprechen war.\nDie Angabe der Intervalle bei den Mehrheitsurtheilen war vom Beobachter nicht verlangt, aber nach M\u00f6glichkeit gew\u00fcnscht worden. Ganz im Anf\u00e4nge ermangelten die Intervallangaben jeder Sicherheit und Richtigkeit. Sehr bald jedoch wurde die Octave fast ausnahmslos als solche bezeichnet, und auch die \u00fcbrigen Intervalle wurden vielfach richtig angegeben. Die Fehler bestanden gew\u00f6hnlich darin, dafs Intervalle von wenig verschiedener Distanz mit einander verwechselt wurden; so die Quarte mit der Quinte oder die Grofse Terz mit der Quarte. Aeufserst merkw\u00fcrdig jedoch ist, dafs der schauerlich dissonante Tritonus sehr h\u00e4ufig als Quarte oder Quinte bezeichnet wurde, sehr selten als Tritonus. Diese Beurtheilung des Tritonus als Quarte oder Quinte zeigte sich auch bei Professor Stumpf, als dieser unter denselben Versuchsumst\u00e4nden (mit etwas l\u00e4ngerer Klangdauer) einige Beobachtungen machte.\nEinkl\u00e4nge wurden insgesammt 70 zur Beurtheilung gegeben. Davon wurden 16 f\u00fcr Zweikl\u00e4nge gehalten.\n1 Der musikaliche Beobachter, der sehr wohl weife, dafs wirklich einfache T\u00f6ne nicht \u201eharmonisch\u201c klingen, kann in einem solchen Falle nat\u00fcrlich nicht das Urtheil \u201e1 Ton\u201c abgeben. Anders d\u00fcrfte dies bei Unmusikalischen sein, die keineswegs die Eigenth\u00fcmlichkeit wirklich einfacher T\u00f6ne stets im Ged\u00e4chtnifs haben. Diese pflegen in einem solchen Falle, wie wir sehen werden, nach der eigenth\u00fcmlichen durch die Verschmelzung bewirkten \u201eEinheitlichkeit\u201c des Klanges zu urtheilen, die sie an den Kl&ngen wahrzunehmen gewohnt sind, die man im gew\u00f6hnlichen Leben \u2014 eigentlich unberechtigter Weise \u2014 \u201e1 Ton\u201c nennt.","page":407},{"file":"p0408.txt","language":"de","ocr_de":"408\nMax Meyer.\nUntersuchung der Intensit\u00e4tsverh\u00e4ltnisse.\nDa h\u00f6here T\u00f6ne durch das Hinzukommen tieferer einen nicht unbetr\u00e4chtlichen Theil ihrer Intensit\u00e4t einb\u00fcfsen, so war mir das Bedenken entstanden, ob dies nicht vielleicht bei verschiedenen Intervallen verschieden sei und hierdurch eine Verschiedenheit des Einheiten oder Mehrheitsurtheils bei verschiedenen Intervallen bewirkt werde. Letzteres w\u00e4re ja leicht m\u00f6glich, denn wenn man einen starken und einen viel schw\u00e4cheren Ton gleichzeitig h\u00f6rt, so d\u00fcrfte der eine von ihnen (der schw\u00e4chere) eher unbemerkt bleiben, als wenn beide T\u00f6ne gleich stark sind Um nun den Intensit\u00e4tsverlust der h\u00f6heren T\u00f6ne recht kr\u00e4ftig zur Wirkung gelangen zu lassen, wurden diese schon an und f\u00fcr sich \u00e4ufserst schwach im Verh\u00e4ltnifs zum gemeinsamen Grundtone gemacht. Unter sich jedoch wurden die s\u00e4mmtlichen schwachen Intervallt\u00f6ne ihrer Intensit\u00e4t im Einzelklange nach m\u00f6glichst ausgeglichen.1\nBei diesen Versuchen wurde vom Beobachter (Giering) verlangt, dafs beim Urtheil \u201e2 T\u00f6ne\u201c das Intervall angegeben werde. Der damit verbundenen Erschwerung des Urtheils wurde entgegengewirkt durch eine Verl\u00e4ngerung der Klangdauer auf 520 a. Einkl\u00e4nge wurden niemals zur Beurtheilung gegeben.\nTabelle V.\nf Urtheile j\tOctave 1:2\tQuinte 2:3\tQuarte 3 : 4\tGr. Terz 4:6\tKl. Terz 5 :6\tTriton 6:7\tSeptime 4:7\n; 1 Ton j\t6\t\u2014\t\u2014\t\u25a0\u2014\t\t\t2\t4\nQuinte\t\u2014\t14\t\u2014\t\u2014\t\u2014\t4\t-\nQuarte j\t1\t\u2014\t11\t\u2014\t\u2014\t4\t2\nGr. Ter* j\t8\t\u2014\t2\t12\t6\t1\t8\nKl. Terz ! i\t\u25a0\u2014\t\u2014\t\u2014\t3\t8\t\u2014\t\u2014\nTriton\t\u2014\t\u2014\t1\t\u25a0\u2014\t\u2014\t2\t\u2014\nSeptime\t\u2014\t\u2014\t\u2014-\t\u2014\t\u2014\t\u2014\t1\nXJrtheile bei starkem Grundtone und schw\u00e4cheren Intervallt\u00f6nen. Klang-dauer 620 a. Alle Intervalle haben denselben Grundton.\n1 Die Octave schien damals allerdings etwas su schwach su sein. Die Flasche sprach bei etwas st\u00e4rkerem Winddrucke schlecht an, und ich verst\u00e4rkte den Ton daher nicht. Dieser Umstand d\u00fcrfte den in der Tabelle sum Ausdruck kommenden Unterschied \u00abwischen Octave und Quinte hervorgerufen haben.","page":408},{"file":"p0409.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Timverschmelzung und die Theorie der Consonanz.\n409\nDie Tabelle zeigt uns, dafs die Intervalle (abgesehen von der Octave) um so weniger gut erkannt wurden, je weniger consonant sie waren. Wollte man dies einer Verschiedenheit der Intensit\u00e4ten zuschreiben, so m\u00fcfste man annehmen, dafs die Intensit\u00e4t des Tritonus und der Septime im Zusammenklange am geringsten gewesen sei. Das w\u00fcrde aber den s\u00e4mmtlichen bisher an Unmusikalischen gemachten Beobachtungen widerstreiten, da die Unmusikalischen, wenn ihre Urtheile ebenfalls durch die Intensit\u00e4tsverh\u00e4ltnisse bedingt gewesen w\u00e4ren, Tritonus und Septime vorzugsweise f\u00fcr \u201e1 Tonu h\u00e4tten erkl\u00e4ren m\u00fcssen, wovon das Gegentheil richtig ist. Man wird somit annehmen m\u00fcssen, dafs weder bei den vorliegenden Versuchen noch bei denen an Unmusikalischen bedeutende Intensit\u00e4tsverschiedenheiten bei den verschiedenen Intervallen Vorlagen. Ich habe mich denn auch bei sp\u00e4teren Untersuchungen, \u00fcber die ich an anderer Stelle berichten werde, \u00fcberzeugt, dafs innerhalb einer Octave der Intensit\u00e4tsverlust der h\u00f6heren T\u00f6ne im Zusammenklange mit einem tieferen bei verschiedenen Intervallen keine betr\u00e4chtlichen Verschiedenheiten auf weist\nOctavenurtheile gab der Beobachter insgesammt 11 ab; doch sagte er, dafs er in Wirklichkeit das Urtheil \u201e1 Ton\u201c gef\u00e4llt und das Urtheil Octave nur deshalb abgegeben habe, weil er wufste, dafs keine Einkl\u00e4nge vorkamen. Dafs die Octave 8 mal f\u00fcr eine Grofse Terz erkl\u00e4rt wurde, ist merkw\u00fcrdig. Vielleicht lag hier eine unbeabsichtigte Resonanzwirkung der R\u00f6hrenleitung vor (doch habe ich eine solche nicht feststellen k\u00f6nnen), die dann jedenfalls auch die vielen Terzenurtheile bei der Septime veranlafst haben d\u00fcrfte.\nDie h\u00e4ufige Verwechselung des Tritonus mit der Quinte und Quarte (auch bei den Urtheilen der Tabelle IV) wird man wohl darauf zur\u00fcckf\u00fchren m\u00fcssen, dafs dieses Intervall eben verh\u00e4lt-nifsm\u00e4fsig selten vorkommt und daher weniger leicht reproducir-bar ist als die benachbarten consonanten Intervalle.\nAlle Erkl\u00e4rungen, die ich im Uebrigen f\u00fcr Tabelle V versucht habe, scheinen mir nicht widerspruchsfrei zu sein, weshalb ich auf ihre Wiedergabe verzichte.","page":409},{"file":"p0410.txt","language":"de","ocr_de":"410\nMax Meyer.\nBeobachtung eines Unmusikalischen bei je ein-ohrigem H\u00f6ren der Intervallt\u00f6ne.\nNachdem all die anf\u00e4nglich so viel versprechenden Methoden, mit H\u00fclfe musikalisch geschulter Beobachter die Verschmelzung\u00bb-grade zu ermitteln, die Erwartung so arg get\u00e4uscht hatten, kehrte ich zur\u00fcck zu der urspr\u00fcnglichen Methode der Verwendung unmusikalischer Beobachter. Diese Methode kann aber, wie ich schon einleitungsweise erw\u00e4hnte, nur dann der Kritik Stand halten, wenn man den Beobachter auch wirklich nur die beiden T\u00f6ne h\u00f6ren l\u00e4fst, deren Verschmelzungsgrad man bestimmen will, nicht aber gleichzeitig noch ein halbes oder ganzes Dutzend anderer, und wenn man Schwebungen, die ein indirectes Urtheil hervorrufen k\u00f6nnen, nach M\u00f6glichkeit vermeidet\nHieraus folgt, dafs Versuche \u00fcber Tonverschmelzung nur dann ein wandsfrei sind, wenn man erstens nur solche T\u00f6ne benutzt, bei denen keine Obert\u00f6ne herausgeh\u00f6rt werden k\u00f6nnen, und wenn man zweitens jeden der beiden T\u00f6ne nur auf Ein Ohr wirken l\u00e4fst, damit keine Differenzt\u00f6ne entstehen k\u00f6nnen.\nDer ersten Bedingung kann man leicht gen\u00fcgen durch Verwendung schwach angeblasener Flaschen von geeigneter Gestalt\nDie zweite Bedingung habe ich durch folgende Anordnung zu erf\u00fcllen versucht. Die Tonquellen befanden sich in zwei allseitig gepolsterten K\u00e4sten, aus denen je eine mit Watte bewickelte R\u00f6hre zum einen bezw. anderen Ohre des Beobachters f\u00fchrte. Die Enden waren an den Ohren in unver\u00e4nderter Weise fixirt Allerdings war die D\u00e4mpfung der T\u00f6ne nicht so stark, dafs ein Eindringen der T\u00f6ne in die falsche Leitung absolut ausgeschlossen war. Vielmehr h\u00f6rte man auch aus der falschen R\u00f6hre einen Rest jedes Tones. Indessen war doch das Auftreten von Differenzt\u00f6nen auf diese Weise verhindert.\nHerr Privatdocent Dr. R., der sich als hinreichend unmusikalisch bew\u00e4hrte (hat in der Jugend Clavier gespielt, auch Studentenlieder gesungen), stellte sich als Beobachter zur Verf\u00fcgung. Zun\u00e4chst zeigte sich, dafs die Zeit von 900 a als Klangdauer1 f\u00fcr unsere Zwecke zu klein war, da fast nur Ur-\n1 Der Verschlufs der beiden Leitungen nach Ablauf der gew\u00fcnschten Zeit wurde wiederum automatisch durch Stromunterbrechung vermittelst eines Pendels bewirkt.","page":410},{"file":"p0411.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Tonverschmelzung und die Theorie der Consonanz.\n411\ntheile auf \u201e1 Ton\u201c abgegeben wurden. Nachdem die Klangdauer auf 1400 <r gebracht worden war, kamen wir zu folgendem Ergebnifs :\nTabelle VI.\nUrtheile\t1 : 2\t6:11\t2:3\t8:11\n1 Ton\ti 54\t35\t56\t32\n2 T\u00f6ne\t8\t26\t7\t26\n2 oder 3 T\u00f6ne\t1\t2\t\u2014\t5\nUm recht scharfe Gegens\u00e4tze zu haben, wandte ich die beiden consonantesten Intervalle an, Octave und Quinte, und zwei ganz dissonante, aber von jenen der Distanz nach nicht zu sehr verschiedene, 6:11, ein Intervall, das zwischen Grofser und Kleiner Septime in der Mitte liegt, und 8:11, eine um das Intervall 32:33, einen Viertelton, vergr\u00f6fserte Quarte. Einkl\u00e4nge kamen gar nicht vor. Insgesammt wurden nur vier T\u00f6ne, g, c\\ erh\u00f6htes /*', g' angewandt; die beiden tiefsten wurden zum linken, die beiden h\u00f6heren zum rechten Ohre geleitet.\nDer Beobachter wufste \u00fcber den Versuchsplan nichts. Er wurde auf gef ordert zu notiren, wieviel T\u00f6ne er zu h\u00f6ren glaube. Auf welchem Ohre er die T\u00f6ne h\u00f6rte, vermochte er nicht sicher anzugeben, sagte aber, er k\u00f6nne sich wohl einbilden, wenn er wolle, den ganzen Klang rechts zu h\u00f6ren, nicht aber ebenso links. Dafs das rechte Ohr mitbetheiligt war, hielt er f\u00fcr sicher. Dafs er \u00fcberhaupt nur vier T\u00f6ne zu h\u00f6ren bekommen hatte, war ihm unbemerkt geblieben. Bei den Zweikl\u00e4ngen der Octave und Quinte notirte er einige Male neben dem Urtheil \u201e1 Ton\u201c, dies sei ein \u00f6fter vorkommender Ton. Wahrscheinlich kam ihm eine Eigenth\u00fcmhchkeit des Klanges (wie bei Giering: \u201eharmonisch\u201c) bekannt vor, weil sie sein Interesse erregt hatte, w\u00e4hrend Kl\u00e4nge mit anderen Eigenschaften ihm gleichg\u00fcltig geblieben waren.\nSehr auff\u00e4llig ist der Unterschied zwischen den Consonanzen und Dissonanzen. Dagegen ist von dem erwarteten Unterschiede zwischen der Octave und der Quinte nichts zu sehen; bei der Quinte sind sogar noch zwei Urtheile auf \u201e1 Ton\u201c mehr vorhanden als bei der Octave.","page":411},{"file":"p0412.txt","language":"de","ocr_de":"412\nMax Meyer.\nKritik der bisher zur Untersuchung der Tonverschmelzung angewandten Methoden.\nBei directer Beobachtung der Verschmelzung zweier T\u00f6ne mufs man einfache T\u00f6ne anwenden; und zwar ist es am besten, um auch die Differenzt\u00f6ne zu vermeiden, wenn man Gabeln ohne Resonanzkasten benutzt und an beide Ohren vertheilt. Auf diese Weise komme ich bei directer Beobachtung genau zu denselben Ergebnissen, wie sie Stumpf in seiner Abhandlung \u201eNeueres \u00fcber Tonverschmelzung\u201c auf Grund seiner eigenen Beobachtungen dargelegt hat Wenn man Obert\u00f6ne und Differenzt\u00f6ne nicht ausschliefst, so hat man nie die Gewifsheit, dafs man von diesen unbeeinflufst geblieben sei, auch wenn man sie absichtlich vernachl\u00e4ssigt. Dafs das Verfahren von Meinong und Witasek, Zungen- und Violint\u00f6ne zu benutzen und dann einfach den ganzen Klang mit Einschlufs der Ober- und Differenzt\u00f6ne zu beurtheilen, verworfen werden mufs, liegt auf der Hand. Die feineren Unterschiede, die auf solche Weise bestimmt werden, als Unterschiede im Verschmelzungsgrade der beiden Grundt\u00f6ne allein zu betrachten, hat man nicht das mindeste Recht\nBei indirecter Beobachtung der Tonverschmelzung durch Unmusikalische ist es ganz unbedingt nothwendig, nur die beiden T\u00f6ne zu Geh\u00f6r kommen zu lassen, deren Ver* schmelzungsgrad man feststellen will. Dann wird man nicht dazu verf\u00fchrt werden, Gesetze aufzustellen, wie das Faist\u2019s: \u201eDurch das Hinzutreten der Obert\u00f6ne wird die Verschmelzung der h\u00f6heren Verschmelzungsstufen vergr\u00f6fsert, die der niedrigeren aber herabgesetzt.\u201c Wenn zwei gerade Linien einen gewissen Winkel einschliefsen, so wird dieser dadurch weder kleiner noch gr\u00f6fser, dafs man vom Scheitel aus noch beliebig viele andere Geraden zieht Was sich \u00e4ndert, ist h\u00f6chstens das Urtheil. Dasselbe gilt auch f\u00fcr eine Beziehung zwischen zwei T\u00f6nen.\nUm zur Klarheit zu kommen \u00fcber die Bedeutung der Oberund Differenzt\u00f6ne bei Verschmelzungsversuchen an Unmusikalischen, m\u00fcssen wir uns vergegenw\u00e4rtigen, auf welche Weise derartige Personen zu einem Urtheile auf \u201e1 Ton\u201c oder \u201emehrere T\u00f6ne\u201c gelangen. Vorausgesetzt ist, dafs wir water \u201eUnmusikalischen;44 solche Personen verstehen, die bei beschr\u00e4nkter Klangdauer nur ausnahmsweise im Stande sind zu analysiren, d. h. jeden einzelnen","page":412},{"file":"p0413.txt","language":"de","ocr_de":"Leber Tonverschmelzung und die Theorie der Consonanz.\n413\nthats\u00e4chlich h\u00f6rbaren einfachen Ton als wirklich geh\u00f6rt zu be-urtheilen.\nIn der fr\u00fchesten Jugend, wo die Sprache sich entwickelt und das Kind die wichtigsten Begriffe bildet, bekommt bedauerlicherweise kein Mensch \u2014 er m\u00fcfste denn unter Stimmgabelfabrikanten oder Akustikern aufwachsen \u2014 einzelne T\u00f6ne ohne gleichzeitige andere zu h\u00f6ren. Das Kind gew\u00f6hnt sich nun daran, gewisse Summen von Tonempfindungen als \u201eTon\u201c, gewisse andere als \u201eT\u00f6ne\u201c zu benennen. Das allen Empfindungen der ersteren Gruppe gemeinsame Merkmal ist aber nicht nothwendiger Weise ein Inhalt der Empfindung, sondern gew\u00f6hnlich wohl die Art der Hervorbringung des Klanges.1 Wird die Tonsumme von Einer menschlichen Stimme oder von Einem Instrumente hervorgebracht, so lernt das Kind diese Tonsumme als \u201eTon\u201c bezeichnen. Sind mehrere menschliche Stimmen oder mehrere Instrumente (z. B. mehrere Kindertrompeten, f\u00fcr die unmusikalische Kinder sicherlich mehr Interesse haben als f\u00fcr das sch\u00f6nste harmonisch spielende Streichquartett) beth\u00e4tigt, so erh\u00e4lt die Empfindungssumme den Namen \u201eT\u00f6ne\u201c. Wenn aber dem Kinde dieses Merkmal fehlt, wenn es nicht weife, auf welche Weise der Klang hervorgebracht wird, und trotzdem ein Urtheil f\u00e4llen soll, so wird es dann das Urtheil \u201e1 Ton\u201c f\u00e4llen, wenn der zu be-urtheilende Klang ihm gr\u00f6fsere Aehnlichkeit zu haben scheint mit denjenigen Empfindungssummen, die es sonst als \u201eTon\u201c zu bezeichnen pflegte, das Urtheil \u201emehrere T\u00f6ne\u201c (eine Zahl kann es nat\u00fcrlich nur rathen oder vermuthen), wenn der Klang ihm gr\u00f6fsere Aehnlichkeit zu* haben scheint mit denjenigen Empfindungssummen, die es sonst als \u201eT\u00f6ne\u201c zu bezeichnen pflegte. Diese beiden Gruppen kann das Kind freilich nicht streng unterscheiden2 3; vielmehr besteht von der einen zur anderen Gruppe\n1 Dafs die Association der Benennung \u201eTon\u201c mit Kl\u00e4ngen von bestimmter Eigent\u00fcmlichkeit, der Benennung \u201eT\u00f6ne\u201c mit Kl\u00e4ngen von entgegengesetzter Eigenth\u00fcmlichkeit auch noch auf viele andere Weisen geschehen kann, d\u00fcrfte unbestreitbar sein. Nur ist es unm\u00f6glich, alle Gelegenheiten zu einer derartigen Association anzugeben, ohne eine ganze \u201ePsychologie des Kindes\u201c zu schreiben. Die Thatsache, dafs eine solche\nAssociation besteht, scheint mir unanfechtbar.\n3 Dies zeigt sich auch bei unmusikalischen Erwachsenen. Z. B. nannte Dr. R. Zungent\u00f6ne zun\u00e4chst \u201e1 Ton\u201c. Als er aber eine Reihe einfacher T\u00f6ne geh\u00f6rt und nat\u00fcrlich ebenfalls f\u00fcr je \u201e1 Ton\u201c erkl\u00e4rt hatte, hielt er","page":413},{"file":"p0414.txt","language":"de","ocr_de":"414\nMax Meyer.\nein durchaus stetiger Uebergang. Aber die erste Gruppe hat doch eine besondere im Ged\u00e4chtnifs des Kindes haftende Eigent\u00fcmlichkeit, deren st\u00e4rkeres oder geringeres Auftreten das Ur-theil des Kindes bestimmt : Alle oder doch wenigstens die meisten und st\u00e4rksten (im Allgemeinen) Einzelempfindungen \u201everschmelzen\u201c* 1 untereinander (je geringer die Verschmelzung ist, um so geringer ist auch die Intensit\u00e4t), und die Folge davon ist ein eigenth\u00fcmlicher Eindruck, den ich geneigt bin zu identifi-ciren mit dem Pr\u00e4dicat \u201eharmonisch\u201c Gieklng\u2019s. 2 (Vgl. dazu auch die oben erw\u00e4hnte Bemerkung von Dr. R.: die Kl\u00e4nge k\u00e4men ihm bekannt vor.)\nDer wenig musikalisch Veranlagte (und auch der wenig gebildete Musiker) kommt \u00fcber diesen Standpunkt des Kindes zeitlebens nicht weit hinaus.s\nNat\u00fcrlich wird beim Musiker sehr oft (und seltener auch beim Unmusikalischen) wirkliche Analyse stattfinden. Und dies um so leichter, je weniger die Einzelt\u00f6ne eines Klanges sich an Intensit\u00e4t unterscheiden. So wird ein Musiker einen Stimmgabel-\neinen Zungenton, den er nun wiederum zu h\u00f6ren bekam, f\u00fcr eine Mehrheit von T\u00f6nen.\n1 Ich verstehe unter \u201eVerschmelzung\u201c jene Eigenth\u00f6mlichkeit des Klanges, worin der Terzenzwei klang vom Quintenzweiklang und letzterer vom Octavenzweiklang \u00fcbertroffen wird. Die Zweckm\u00e4\u00dfigkeit des Ausdrucks Verschmelzung begr\u00fcnde ich damit, dafs diese Eigent\u00fcmlichkeit mir in einer mehr oder weniger grofsen Einheitlichkeit des Klanges zu bestehen scheint, Einheitlichkeit in \u00e4hnlichem Sinne, wie auf r\u00e4umlichem Gebiete ein regul\u00e4res Dreieck mir einheitlfcher erscheint als ein unregel-m\u00e4fsiges. Die Eigent\u00fcmlichkeit, die ich unter \u201eTonverschmelzung\u201c verstehe, ist mir nicht nur dann wahrnehmbar, wenn ich analysire, die einzelnen verschmelzenden Theilt\u00f6ne unterscheide, sondern auch dann, wenn eine solche Unterscheidung nicht stattfindet.\n*\tDer Klang hatte nach Giebing die Eigent\u00fcmlichkeit \u201eharmonisch\u201c zu klingen, obwohl G. nicht deutlich mehrere T\u00f6ne wahmahm.\n*\tDafs die Bef\u00e4higung zu wirklicher Analyse so selten, das Interesse daran so gering und infolgedessen \u2014 trotz der grofsen Verbreitung der Claviere und sonstigen Musikinstrumente \u2014 die Zahl der Musikalischen so klein ist, l\u00e4fst sich auch entwickelungsgeschichtlich leicht begreifen. Die F\u00e4higkeit der Unterscheidung der einzelnen Theile einer Tonempfindung ist f\u00fcr das blofse Dasein von verschwindend kleiner Bedeutung, w\u00e4hrend z. B. die r\u00e4umliche Unterscheidung von Gesichtsempfindungen, etwa einer Schlange oder eines wilden Thieres von den Bl\u00e4ttern und Zweigen des Geb\u00fcsches eine unentbehrliche Bedingung des Daseins ist","page":414},{"file":"p0415.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Tonvergehmelzung und die Theorie der Contonanz.\n415\ndreiklang von gleich starken T\u00f6nen leichter analysiren als den Klang Eines gew\u00f6hnlichen musikalischen Instruments \u2014 wegen der geringeren Intensit\u00e4t der Obert\u00f6ne. Findet nun wirkliche Analyse statt, so ist das Urtheil \u201e1 Ton\u201c selbstverst\u00e4ndlich ausgeschlossen. Hat aber noch keine Analyse stattfinden k\u00f6nnen, und wird doch ein Urtheil verlangt, so wird sich der Beobachter nach der durch die Verschmelzung bewirkten Eigent\u00fcmlichkeit des Klanges richten. Und Letzteres d\u00fcrfte bei den Unmusikalischen gew\u00f6hnlich der Fall sein.\nSo erkl\u00e4ren sich die Urtheile der Unmusikalischen \u00fcber Einheit und Mehrheit sehr leicht; zun\u00e4chst bei Dr. R. (denn der Zweiklang der Octave oder Quinte hat sicherlich bei Weitem mehr Aehnlichkeit mit den im gew\u00f6hnlichen Leben als \u201eTon\u201c bezeichneten Empfindungssummen als der Zweiklang 6 : 11 oder 8 : 11), aber auch bei den Unmusikalischen von Stumpf und FAist, die nicht allein mit den beiden Intervallt\u00f6nen, sondern noch mit gleichzeitigen anderen T\u00f6nen arbeiteten. Wenn wir zu einem scharfen Tone die h\u00f6here Octave in gleicher Klangfarbe hinzuf\u00fcgen, so \u00e4ndert sich dadurch nicht viel mehr, als dafs ein Theil der Obert\u00f6ne verst\u00e4rkt wird. Die vorzugsweise verst\u00e4rkten Obert\u00f6ne sind aber gerade die am st\u00e4rksten verschmelzenden. Es ist also kein Wunder, dafs der Klang die Eigent\u00fcmlichkeit in hohem Grade besitzt, von der die Unmusikalischen zum Urtheil \u201eTon\u201c bewogen werden. Ein Differenzton entsteht bei der Octave nicht, wohl aber bei der Quinte (2 : 3) ; er ist hier die untere Octave des tieferen Intervalltons. F\u00fcr das Zustandekommen eines Einheitsurtheils ist dies ebenso g\u00fcnstig wie der Umstand, dafs die st\u00e4rksten (weil zusammenfallenden) Theilt\u00f6ne des Gesammtklanges s\u00e4mmtlich stark verschmelzen. Indessen tritt hier schon der (im Allgemeinen ziemlich starke) dritte Theil-ton von 3 in Folge seiner geringen Verschmelzung mit den \u00fcbrigen st\u00e4rksten T\u00f6nen des Klanges st\u00f6rend auf. So erkl\u00e4rt es sich, dafs Unmusikalische jene Eigent\u00fcmlichkeit des Klanges bei der Quinte h\u00e4ufiger vermissen als bei der Octave und leichter zu dem Urtheil \u201eT\u00f6ne\u201c bewogen werden. Bei der Quarte (3 : 4) ist der Differenzton 1. Es fehlt nun aber in dem Gesammt-klange die Octave 2, wodurch der Klang denjenigen Empfindungssummen schon ziemlich un\u00e4hnlich wird, die Unmusikalische als \u201eTon\u201c zu bezeichnen sich gew\u00f6hnt haben. Wenn man diese Betrachtung weiter fortsetzt, namentlich auch bei Intervallen,","page":415},{"file":"p0416.txt","language":"de","ocr_de":"416\nMax Meyer.\ndie \u00fcber die Octave hinausgeben, so wird man sie in vollst\u00e4ndiger Uebereinstimmung mit den Urtheilsthatsachen finden.\nF\u00fcr die Richtigkeit unserer Annahmen kann man noch einige Feststellungen Faist\u2019s ins Feld f\u00fchren. Je geringer die Verschmelzung ist, je mehr also einem Klange jene Eigenth\u00fcmlieh-keit fehlt, die zum Einheitsurtheile antreibt, um so mehr T\u00f6ne wird der Urtheilende zu h\u00f6ren vermuthen. In Uebereinstimmung hiermit betont Faist, dafs \u201eman allgemein um so mehr T\u00f6ne zu h\u00f6ren glaubt, je geringer die Verschmelzung der Com-ponenten des betreffenden Zusammenklanges ist.\u201c Ebenso f\u00e4llte Dr. R. das Urtheil \u201e2 oder 3 T\u00f6ne\u201c (obwohl er stets nur zwei zu h\u00f6ren bekam) 7mal bei den geringen, nur lmal bei den gr\u00f6fseren Verschmelzungsgraden.\nDafs die beiden Gruppen \u201eTon\u201c und \u201eT\u00f6ne\u201c eine schwankende Grenze haben, zeigt sich auch daran, dafs bei Faist\u2019s Versuchen die Quarte h\u00e4ufiger f\u00fcr eine Mehrheit gehalten wurde, als sie auf den Einklang oder die Duodecime folgte, f\u00fcr eine Einheit, als sie auf die Kleine Sexte oder die Grofse Secunde folgte. Ebenso erkl\u00e4rte Dr. R. einen Zungenton f\u00fcr eine Mehrheit, als er vorher einige einfache T\u00f6ne geh\u00f6rt hatte. Diese Thatsachen durfte schwerlich Jemand erkl\u00e4ren k\u00f6nnen, der die Urtheile der Un-musikalischen darauf zur\u00fcckf\u00fchrt, dafs die Verschmelzung die \u201eAnalyse\u201c erschwere (eine Annahme Stumpf\u2019s, der Faist sich angeschlossen hat). Warum soll denn die Analyse leichter sein, wenn ich sie beim vorigen Versuch nicht ausf\u00fchren konnte, schwerer, wenn sie mir eben vorher gelang?\nSelbstverst\u00e4ndlich ist dagegen das geschilderte Verhalten der Unmusikalischen nach unserer obigen Erkl\u00e4rung ihrer Urtheile. Sobald sie einige stark verschmelzende Tonsummen (obertonreichen Einklang oder Duodecime) geh\u00f6rt haben, betrachten sie diese als Repr\u00e4sentanten der ersten Gruppe (\u201eTon\u201c). In Folge dessen rechnen sie die Quarte zur zweiten (\u201eT\u00f6ne\u201c). Haben die Beobachter aber mehrere schlechter verschmelzende Tonsummen geh\u00f6rt, so betrachten sie diese als Repr\u00e4sentanten der zweiten Gruppe und erkl\u00e4ren in Folge dessen den Quartenklang f\u00fcr eine Einheit.\nVon Analyse zu sprechen halte ich nur dann f\u00fcr richtig, wenn der Beobachter die zwei, drei, vier oder mehr T\u00f6ne, die .er geh\u00f6rt zu haben behauptet, (zum Mindesten zwei) singend angeben oder, falls sie aufserhalb seines Stimmumfanges liegen, sie in Stimm-","page":416},{"file":"p0417.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Tonverschmelzung und die Theorie der Consonanz.\n417\ngabelt\u00f6nen wiedererkennen kann, wobei nat\u00fcrlich Urtheilsfehler innerhalb gewisser Grenzen wie bei jedem Tonurtheile Vorkommen k\u00f6nnen. Dazu sind aber Unmusikalische (der Begriff ist freilich schwankend) bei T\u00f6nen von beschr\u00e4nkter Dauer fast ausnahmslos unf\u00e4hig. Welches sollte denn auch z. B. der dritte Ton sein, den Dr. R. bei meinen Versuchen herausanalysirt h\u00e4tte ? Die Zahlenangabe ist bei Unmusika\u00fcschen in solchen F\u00e4llen einfach errathen.\nZur Erkl\u00e4rung der Urtheile der Unmusikalischen ist, wie ich gezeigt habe, die Annahme gar nicht n\u00f6thig, die Analyse sei ihnen bei dem einen Intervall \u00f6fter, bei dem anderen weniger oft mifslungen. Sie haben (von Ausnahmen abgesehen) \u00fcberhaupt nicht analysirt Verschiedene Urtheile zu f\u00e4llen, ist deshalb keineswegs unm\u00f6glich. Kann man doch auch einen Fl\u00f6ten-, einen Geigen- und einen Klarinettenton als solchen wiedererkennen, ohne zu analysiren. Das Mittel zur Erkennung d\u00fcrfte eben der eigenth\u00fcmliche Eindruck der Verschmelzung sein (nicht blos der Verschmelzung zweier, sondern auch der Verschmelzung mehrerer T\u00f6ne, worauf ich im n\u00e4chsten Abschnitte zur\u00fcckkomme).\nDie Behauptung, dafs die Verschmelzung die Analyse erschwere, glaubte Stumpf 1 auf stellen zu m\u00fcssen, da ihm andere Erkl\u00e4rungen f\u00fcr die Einheits- und Mehrheitsurtheile der Unmusikalischen als die Erkl\u00e4rung durch mehr oder weniger gehinderte Analyse nicht ausreichend zu sein schienen. Ich kann mich jedoch dieser Annahme einer Erschwerung der Analyse durch das Consonanzverh\u00e4ltnifs weder nach meinen eigenen directen Beobachtungen anschliefsen, noch sehe ich sie in Ueber-einstimmung mit den hier gefundenen Versuchsergebnissen. Wenn die Verschmelzung die Analyse \u00fcberhaupt erschwert, so mufs sie dies auch bei Musikalischen thun (dieser Schlufs ist bisher allseitig zugegeben worden). Nun wollen wir uns darauf hin unsere Tabellen ansehen*\nTabelle III zeigt uns, dafs die 3 Intervalle der Octave,\n1 Tonpsychologie, II, S. 152. S. 235 weist Stumpf darauf hin, dafs man h\u00e4ufig den 7. Theilton eines Klanges leichter heraush\u00f6ren k\u00f6nne als den 6., den 9. leichter als den 8. Derartige Beobachtungen habe ich auch oft gemacht. Doch schien mir in solchen F\u00e4llen der 7. bezw. 9. Theilton auch eine gr\u00f6fsere Empfindungsst\u00e4rke als der 6. bezw. 8. zu haben, was das leichtere Heraush\u00f6ren erkl\u00e4ren w\u00fcrde.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XVII.\n27","page":417},{"file":"p0418.txt","language":"de","ocr_de":"418\tifiwe Meyer.\nQuinte und Quarte insgesammt nur 1 mal falsch beurtheilt wurden, w\u00e4hrend bei den 5 weniger verschmelzenden Intervallen (6 : 7 kam erst gegen Ende der Versuche hinzu) 19 falsche Ur-theile eintraten. Freilich war die Klangdauer im ersten Fall etwas gr\u00f6fser, aber nicht um so viel, dafs dieser Unterschied die Wirkung der Verschmelzung auf die Analyse, wenn eine solche Wirkung vorhanden gewesen w\u00e4re, in ihr genaues Gegentheil h\u00e4tte verwandeln k\u00f6nnen.\nFerner m\u00fcssen wir Tabelle V heranziehen. Wenn die Verschmelzung die Analyse erschwert, warum ist denn die Quinte und Quarte (bei der Octave d\u00fcrfte ein st\u00f6render Factor besonderer Art mitgewirkt haben) fast ausnahmslos richtig, Tri tonus und Septime in gleichem Grade falsch analysirt worden?\nAus den obigen Ausf\u00fchrungen geht hervor, dafs wir aus den bisherigen Verschmelzungsversuchen an Unmusikalischen nur mit grofser Vorsicht Schl\u00fcsse \u00fcber die Verschmelzung zweier T\u00f6ne ziehen k\u00f6nnen, da das Urtheil wohl selten durch nur zwei T\u00f6ne bestimmt wurde. Aus meinen eigenen Versuchen an Dr. R kann man aber nichts weiter schliefsen, als dafs die Verschmelzung bei der Octave und Quinte gr\u00f6fser ist als bei den beiden anderen Intervallen. Vielleicht k\u00f6nnte man durch Vermehrung der Zahlen deutlichere Zahlenunterschiede finden. Aber \u00fcber die Grenzen des durch directe Beobachtung Feststellbaren wird man dabei nicht hinauskommen. Diejenigen Versuche Faist's, die den meinigen am n\u00e4chsten stehen, bei denen Faist milde Klangfarben in Anwendung brachte (auch die Differenzt\u00f6ne sind bei milden in der Regel relativ schw\u00e4cher als bei scharfen Klangfarben), zeigen auch in den Ergebnissen die Ueberein-stimmung mit den meinigen, dafs die Unterschiede in der Zahl der Einheitsurtheile bei den verschiedenen Intervallen sehr gering sind, viel geringer als bei obertonreichen Kl\u00e4ngen.1 Der Unterschied zwischen Octave (25) und Quinte (21) verschwindet fast Es bleibt daher keine Hoffnung, an Unmusikalischen ver-\n1 Wenn man die Urtheile durch Erschwerung und Erleichterung der Analyse erkl\u00e4rt, so bleibt dieses Verhalten r\u00e4thselhaft; nicht aber nach der von mir gegebenen Erkl\u00e4rung der Urtheile. Man kann sich leicht davon \u00fcberzeugen, dafs ein Octaven- oder Quintenzweiklang mit einem Einkl\u00e4nge viel gr\u00f6fsere Aehnlichkeit hat bei Zungent\u00f6nen als bei einfachen T\u00f6nen.","page":418},{"file":"p0419.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Tonverschmelzung und die Theorie der Consonant.\n419\nmittels einer exacten Methode feinere Unterschiede in der Ver* Schmelzung zweier T\u00f6ne zu ermitteln. Wir bleiben am besten bei der einfachsten Methode, der directen Beobachtung durch Musikalische, angestellt nat\u00fcrlich an einfachen T\u00f6nen und mit aller erforderlichen Vorsicht\nUeber Stumpf\u2019s Consonanztheorie und die Verschmelzung von mehr als zwei T\u00f6nen.\nRiemann hat gegen Stumpf\u2019s Consonanztheorie den Einwand erhoben, dafs nach ihr ein aus lauter Consonanzen bestehender Dreiklang (der temperirte \u00fcberm\u00e4fsige Dreiklang, c\u2014e\u2014\u25a0gis) als Ganzes eine entschiedene Dissonanz repr\u00e4sentire. Stumpf sucht diesen Einwand abzuschw\u00e4chen, indem er behauptet , dafs das bei Clavieraccorden sonst so geduldige und abgestumpfte Ohr gerade hier bestimmt gis als gis und nicht als as fasse. \u201eDas kann man nicht verlangen, dafs wir den h\u00f6chsten Ton in Beziehung zu c als as und gleichzeitig in Beziehung zu e als gis h\u00f6ren; das hiefse einem vern\u00fcnftigen Ohre zu viel zumuthen.\u201c Indessen, auch das unvern\u00fcnftige Ohr, das weder c noch e noch as noch gis h\u00f6rt, sondern einfach drei gleichzeitige T\u00f6ne, h\u00f6rt diesen Accord als Dissonanz.\n- Wenn man den Weg der Beobachtung, den Stumpf uns gewiesen hat, weiter fortsetzt, so findet man gar keinen Grund, warum man den \u00fcberm\u00e4fsigen Dreiklang nicht als dissonant anerkennen sollte, obwohl seine s\u00e4mmtlichen Bestandteile paarweise consonant sind.\nIch ziehe eine Zusammenstellung r\u00e4umlicher Gebilde als Analogie heran.\n(a -f- b) ist eine symmetrische Figur, (b -}- c) gleichfalls, (a c)\nebenso. Niemand findet es deshalb verwunderlich, dafs (a -f- b -f* c) \u2022\n21*","page":419},{"file":"p0420.txt","language":"de","ocr_de":"420\nMax Meyer,\nkeine symmetrische Figur ist. Dafs aber die Claviert\u00f6ne (r + e -f- gis) eine Dissonanz bilden, dar\u00fcber wundert man sichl\nDafs der \u00fcberm\u00e4fsige Dreiklang eine Dissonanz ist, ist eine Thatsache, mit der wir uns abfinden m\u00fcssen. Wir k\u00f6nnen nun diese Thatsache verst\u00e4ndlich machen, wenn wir nur die (weder durch logische noch durch erfahrungsm\u00e4fsige Gr\u00fcnde geforderte) Beschr\u00e4nkung aufgeben, dafs man von Verschmelzung nur bei zwei T\u00f6nen sprechen d\u00fcrfe.\nIch habe schon in den fr\u00fcheren Capiteln, wo von Verschmelzung die Rede war, \u2014 ohne es jedes Mal besonders zu vermerken \u2014 Verschmelzung von mehr als zwei T\u00f6nen damit gemeint, und man wird sich vielleicht \u00fcberzeugen, dafs gerade diese Auffassung in das sonst kaum zu kl\u00e4rende That-sachenchaos Licht hinein bringt.\nEs l\u00e4fst sich nicht leugnen, dafs auch der theoretisch ganz Ungebildete den \u00fcberm\u00e4fsigen Dreiklang f\u00fcr dissonant erkl\u00e4rt, und zwar einfach aus dem Grunde, weil dieser Klang als Dreiheit einen \u00e4ufserst geringen Grad von Verschmelzung besitzt.\nVergleicht man den aus zwei Grofsen Terzen zusammengesetzten Dreiklang mit dem aus zwei Kleinen Terzen gebildeten (/\u2014dis\u2014fis in temperirter Stimmung), so wird man zugeben m\u00fcssen \u2014 noch Jeder, den ich darum befragte, hat es gethan \u2014, dafs letzterer Accord bei Weitem consonanter klingt, einen viel h\u00f6heren Grad von Verschmelzung zeigt, als ersterer. Und doch enth\u00e4lt der Accord c\u2014e\u2014g is nur consonants Intervalle, r\u2014dis-\u2014fis dagegen den dissonanten Tritonus. Auch mit dieser Thatsache mufs die Theorie rechnen.\nIch habe die vier Dreikl\u00e4nge c\u2014dis\u2014g, c\u2014dis\u2014fis, c\u2014f\u2014gis, c\u2014e\u2014gis, alle in temperirter Stimmung, auf ihre Verschmelzung hin gepr\u00fcft. F\u00fcr den, der es gleichfalls thun m\u00f6chte, betone ich nochmals, wie schon fr\u00fcher, dafs Ober- und Differenzt\u00f6ne das Urtheil nicht beeinflussen d\u00fcrfen und nach M\u00f6glichkeit vermieden werden m\u00fcssen. Ich bin dabei zu dem Ergebnifs gekommen, dafs der Accord c\u2014e\u2014gis am wenigsten verschmilzt Zwischen den drei \u00fcbrigen kann ich Unterschiede der Verschmelzung mit Sicherheit nicht behaupten. Da nun der Accord c\u2014e\u2014g a]ie vier oben genannten unzweifelhaft an Verschmelzung \u00fcbertrifft, so haben wir immerhin bereits drei Gruppen von Dreikl\u00e4ngen hinsichtlich der Verschmelzung.","page":420},{"file":"p0421.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Tonverschmelzung und die Theorie der Consonanz.\n421\nNun hat es gar keine Schwierigkeit, die Verschiedenheit der Verschmelzung bei diesen drei Gruppen auch durch deductive Ableitung verst\u00e4ndlich zu machen. Nach Stumpf ist die Verschmelzung abh\u00e4ngig von den Schwingungszahlverh\u00e4ltnissen. Sie ist es sicherlich auch bei Dreikl\u00e4ngen. Wir k\u00f6nnen nun die besprochenen f\u00fcnf Dreikl\u00e4nge folgendermaafsen in Verh\u00e4ltnifs-zahlen ausdr\u00fccken (wobei, wie immer, kleine Abweichungen der wirklichen T\u00f6ne gestattet sind):\nI. c\u2014e\u2014g\t4\u20145\u20146\nc\u2014dis\u2014ft 8 5\u20146\u20147 II. \u2022 c\u2014dis\u2014g 10\u201412\u201415 c\u2014f\u2014gis 15\u201420\u201424 UI. c\u2014e\u2014gis 12\u201415\u201419\nDer letzte Dreiklang d\u00fcrfte durch ein einfacheres Zahlen-verh\u00e4ltnifs kaum auszudr\u00fccken sein. Den zweiten habe ich durch das Verh\u00e4ltnifs 5\u20146\u20147 ausgedr\u00fcckt, weil die temperirten T\u00f6ne, wie man aus folgender Zusammenstellung sieht, nur wenig davon abweichen.\n500\u2014600\u2014700 temperirt 500\u2014594\u2014707\nWenn man diesen Dreiklang als 5\u20146\u20147, temperirt oder aus reinen Kleinen Terzen zusammengesetzt 25\u201430\u201436 h\u00f6rt, so zeigt er im letzten Falle am wenigsten, im ersten am meisten Verschmelzung.\nMan wird aus obigen Zahlen vielleicht folgendes Gesetz ableiten k\u00f6nnen:\nEin Dreiklang zeigt um so gr\u00f6fsere Verschmelzung, je gr\u00f6fser die Einfachheit des Zahlenverh\u00e4ltnisses sowohl im Ganzen als auch paarweise ist\nDoch spreche ich dieses Gesetz vorl\u00e4ufig mit aller Zur\u00fcckhaltung aus, werde indessen n\u00e4her darauf eingehen, sobald die Vermehrung des Beobachtungsmaterials es gestattet.\n(Eingegangen den 2. April 1898.)","page":421}],"identifier":"lit30507","issued":"1898","language":"de","pages":"401-421","startpages":"401","title":"Ueber Tonverschmelzung und die Theorie der Consonanz","type":"Journal Article","volume":"17"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:50:30.908736+00:00"}