Open Access
{"created":"2022-01-31T12:51:22.579170+00:00","id":"lit30509","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Stern, W.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 17: 436-442","fulltext":[{"file":"p0436.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechung.\nRichard Wahle. Da* Game der Philosophie and ihr Ende. Ihre fermichtBisse an die Theologie, Physiologie, Aesthetik und Staafipiiagogik- Zweite unver\u00e4nderte Auflage. Wien u. Leipzig, Braum\u00fcller. 539 S. 1896.\nDa beinahe zwei Drittel des W.\u2019sehen Buches der Psychologie gewidmet sind, so ist es wohl gerechtfertigt, wenn wir an dieser Stelle dar\u00fcber Bericht erstatten.\nFreilich ist es schwer, zu dem Werke Stellung zu nehmen. Tritt es doch mit einem so anspruchsvollen Selbstbewufstsein auf den Plan, daft einer ruhigen Kritik die Aufgabe recht erschwert wird. Der Verfasser vindicirt sich eine Art gottbegnadeten Prophetenthums, glaubt mit vollster innerster Ueberzeugung, nunmehr das letzte Wort in der Philosophie ein f\u00fcr allemal gesprochen und das j\u00fcngste Gericht \u00fcber Alles, was Philosophie, Speculation, Metaphysik, Psychologie heilst, abgehalten zu haben. \u201eI\u00dft das, was hier geboten ward, nichts \u2014 gut, so ist es Alles, was Menschen in dem Streben nach Orientirung im Ganzen je wissen werden. Die feine Linie wollten wir bleibend f\u00fcr alle Zeit ziehen, auf deren einer Seite sich unerlaubte Gedankenlosigkeit, auf deren anderer sich unerlaubte Gedanken\u00fcberhebung breitet... M\u00f6ge die Zeit anbrechen, in der man sagen wird, einst war Philosophie.\u201c\nSoll man hier\u00fcber mit dem Verfasser rechten? Soll man des Langen und Breiten auseinandersetzen, warum seine ungeheure Zuversichtlichkeit uns nicht mitzureifsen vermochte, warum durch die Lect\u00fcre der 539 Seiten unser Glaube an die Zukunft der Philosophie nicht ersch\u00fcttert wurde und warum uns die neue und definitive Lehre in ihren Grundgedanken gar nicht so neu und in ihrer Bedeutung gar nicht so definitiv erscheinen will?\nIch glaube den Lesern dieses Referats einen besseren Dienst zu leisten, wenn ich mich auf eine rein sachliche Berichterstattung beschr\u00e4nke. Ich werde das Buch nicht behandeln als das, was es sein will, sondern als das, was es ist, als ein Buch unter vielen, ein Buch, in dem ein weder besonders origineller noch besonders tiefgr\u00fcndiger Denker seine Ideen \u00fcber Gott und die Welt, \u00fcber seelisches Leben und menschliches Handeln, \u00fcber Wissen und Erkennen niedergelegt hat.","page":436},{"file":"p0437.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechung.\n437\nDae Resultat seines Unternehmens fafst W. zum Schlufs des Buches dahin zusammen: \u201eWir meinen, die Menschheit m\u00fcsse sich, armselig wie sie ohne Offenbarungen ist, mit einer nothd\u00fcrftigen wechselseitigen Ordnung der Entfaltung seiner Individualit\u00e4ten und einer Kenntnifs der Successionen ihres einzigen Datums, n\u00e4mlich der ausgedehnten sogenannten Vorstellungen \u2014 also einerseits mit einem gewissen Extensivismus \u2014 begn\u00fcgen ; und andererseits sei ihr die Kenntnifs beschieden, dafs alle Kr\u00e4fte und Factoren unerkannt wirken, dafs sie nicht einmal glauben d\u00fcrfe, sie sei ein Wissendes, sondern dafs sie nur schlechthin so sei, dafs ihr alle Principien verschlossen seien \u2014 was man einen Agnos-ticismus nennen k\u00f6nnte.\u201c\nSehen wir zu, wie W. diesen Satz durchf\u00fchrt.\nDie drei Hauptprobleme der Philosophie : das K\u00f6rperliche als solches, das Geistige als solches und der Procefs als solcher, sind nicht mehr als Probleme; von einer L\u00f6sung derselben durch die Philosophie und ihre Adnexe sei keine Rede. \u201eWissenschaften sind unendlich, die Philosophie aber mufs bald beendigt sein.\u201c \u2014 Die vielgepriesene Logik ist weder Wissenschaft noch Kunst; ihr einziger Werth liegt darin, eine Disciplin, d. h. eine Verstandes\u00fcbung f\u00fcr Sch\u00fcler zu sein. Das Ideal seiner Lehre soll die Sicherheit sein, welche die Mathematik besitzt. Deren Axiome sind aber nur deswegen so sicher, weil es rein analytische Urtheile sind, die lediglich auf dem Satz der Identit\u00e4t beruhen. So sind die geometrischen Axiome z. B. aus dem einen und einheitlichen Raume, in dem wir leben, abstrahirt. Dafs die Axiome wirklich ableitbar seien, will er nun dadurch erh\u00e4rten, dafs er ein Axiom: Die Grade ist die k\u00fcrzeste zwischen zwei Punkten \u2014 regelrecht beweist. Dieser Beweis wird freilich nur durch einen merkw\u00fcrdigen Widerspruch m\u00f6glich. Auf S. 52 n\u00e4mlich wird \u201egrade\u201c detinirt als das, was sich drehen kann ohne jede Ver\u00e4nderung, auf S. 57 aber wird Drehen durch Einnehmen einer neuen Lage, also durch Ver\u00e4nderung defmirt: wie will das stimmen?\nDas zweite Buch enth\u00e4lt nun W.\u2019s Metaphysik. Es zerf\u00e4llt in die Abschnitte \u201edie Welt\u201c und \u201edas Absolute\u201c. Es giebt nichts in der Welt als fl\u00e4chenhafte Vorkommnisse, und es ist dasselbe Vorkommnifs, das man entweder Gegenstand oder Empfindung nennen kann. W. vertritt somit einen Ph\u00e4nomenalismus, wie wir ihm oft begegnen. Bemerkenswerth ist aber, dafs in diese Lehre, welche die kritischste der kritischen sein will, das Postulat einer unbekannten Ursache der Erscheinungen mit naivem Dogmatismus eingef\u00fchrt wird. Diese unbekannten Ursachen nennt er Urfactoren. \u2014 Und was ist nun Seele, Individuum, Ich? Dafs wir Individuen sind, ist nur ein unbewiesenes Vorurtheil (S. 72); einen einheitlichen Tr\u00e4ger des Bewufstseins giebt es nicht; \u201eunter .Ich* versteht man F\u00fchlen, Urtheilen, Phantasievorstellungen, Willenskraft etc. So oft nun solche Gattungen von Vorkommnissen in verschiedenartigster Weise auftreten, hat man ein ,Ich\u2018\u201c. F\u00fcrwahr, eine einfache und bequeme L\u00f6sung dieses tiefsten und schwierigsten psychologischen Problems!\nAuf Grund dieser Voraussetzungen geht W. nun daran, mit der bisherigen Metaphysik abzurechnen, was dadurch geschieht, dafs ihre s\u00e4mmt-lichen allgemeinen Begriffe Raum, Zeit. Substanz. Urs\u00e4chlichkeit (die er","page":437},{"file":"p0438.txt","language":"de","ocr_de":"438\nBesprechung.\ndoch selbst zu seinen Urfactoren so noth wendig braucht), Form u. s. w. als widersinnig oder als leer oder als \u201etolle Fictionen\" hingestellt werden.\nDie Seele (S. 118) ist, wie schon gesagt, nicht eine einfache Substanz. \u201eDasjenige, was den Vorkommnissen vorsteht, die wir psychische Erscheinungen nennen, dasjenige, was die individuelle Sph\u00e4renabgrenzung bewirkt, das ist bei den Urfactoren.\u201c So begegnen wir immer und immer wieder dort, wo andere Theorieen eine den Thatsachen entsprechende Hypothese aufzustellen suchen, der allerdings viel bequemeren Zur\u00fcckschiebung auf die Urfactoren, bequemer deshalb, weil hier eine Differen-ziirung des Hypothetischen je nach der Eigenart des zu Erkl\u00e4renden \u00fcberfl\u00fcssig wird. Daraus wird auch jener Eindruck der Aermlichkeit verst\u00e4ndlich, den die W.\u2019sche Lehre fast in allen Funkten macht.\nIm zweiten Hauptst\u00fcck behandelt die Metaphysik das Absolute, d. L die Gottheit. Nicht beweisen l\u00e4fst sich Gott, wohl aber l\u00e4lst sich die Existenz eines planvollen Principe, das den Actionen zu Grunde liegt, ahnen (S. 135). Denn Schmerz als das absolute Uebel und Liebe als das absolut Werthvolle m\u00fcssen wir im Absoluten anders vertheilt denken, als diese Welt sie uns zeigt. \u2014\n(S. 156). \u201eWir wollen nunmehr jene Psychologie darstellen, welche einzig und allein des wissenschaftlichen Betriebes f\u00e4hig ist, und es sollen dadurch alle anderen Psychologieen hinf\u00e4llig werden.\u201c Dieser Darstellung ist das dritte Buch gewidmet, welches in f\u00fcnf Hauptst\u00fccke gegliedert ist\nPsychologie ist nach W. gar keine eigentliche Wissenschaft; sie hat nichts zu erkl\u00e4ren, sondern nur \u201eden ph\u00e4nomenalen Bestand an Ereignissen zu ermitteln, f\u00fcr welche die Physiologie die Gesetze... eruiren soll\u201c. Sie ist demnach nichts als Handlangerin der Physiologie und wird hoffentlich bald \u00fcberfl\u00fcssig sein. Ihre einzige Methode ist die Selbstbeobachtung; vom Experiment, vom Studium der Geisteserzeugnisse wie Sprache und Sitten, von Psychopathologie u. s. w. ist nichts zu erhoffen. (So sagt W. schon im Vorwort: \u201eMit dem Rufe nach psychologischen Laboratorien streut die Psychologie nur Sand in die Augen.\u201c Ob W. den Arbeitsbetrieb psychologischer Laboratorien wohl anders als \u2014 durch H\u00f6rensagen oder durch Lect\u00fcre kennt?) \u2014 Wirkliche Erkl\u00e4rung des Psychologischen liegt nur dort vor, wo wir psychischen Erscheinungen physiologische Vorg\u00e4nge coordiniren. Dieses Coordinationssystem wird nicht etwa als Hypothese, sondern als selbstverst\u00e4ndliche Vorbedingung f\u00fcr alles Forschen hingestellt ; und die auf das Psychische selbst gerichtete Beobachtung wird immerfort durch den Gedanken beeinflufst: pafst diese Beobachtung auch ins Coordinationssystem? Da n\u00e4mlich, wie W. meint, den Bewegungen in Hirn und Nerven nur Vorstellungen entsprechen und nichts Anderes, so giebt es auch nur Vorstellungen und nichts Anderes; f\u00fcr alles Andere, z. B. f\u00fcr psychische Acte, f\u00fcr Gef\u00fchle, giebt es nichts coordinirbare8 Physiologisches, folglich existiren sie nicht. Alles Seelische ist somit nur Vorstellung oder Aggregat von Vorstellungen. Was nicht Aggregat-Psychologie ist, ist Pseudo- oder mifsrathene Psychologie, die ihre Ph\u00e4nomene nicht einmal beschreiben kann. Es giebt externe Vorstellungen (Empfindungen) und subjective, die er auch Miniaturen jener nennt. Aus diesen beiden Gruppen besteht das gesammte Seelenleben. \u2014","page":438},{"file":"p0439.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechung.\n439\nJede Vorstellung ist etwas absolut Einfaches; es ist Unsinn zu sagen, dafs in ihr zugleich ein Mehreres, etwa Intensit\u00e4t und Qualit\u00e4t enthalten sein solle. Was wir aufser der einfachen Qualit\u00e4t an der Vorstellung w*ahrzunehmen glauben, ist nichts als ihre Beziehung zu anderen. Aehnlichkeit und Gleichheit kommt nicht den Vorstellungen selbst zu, sondern bedeutet nichts als ihre \u201eVerw'echselbarkeit\u201c. (Was mir eine petitio principii zu sein scheint: denn warum sind sie verwechselbar? weil sie \u00e4hnlich sind.) \u2014 S. 186. \u201eEs giebt f\u00fcr wissenschaftlichen Betrieb nur die Summenpsychologie oder \u00fcberhaupt gar keine ; jede andere ist mystisch, alogisch.\u201c Eine wahre Summenpsychologie aber, meinen wir, w\u00e4re v\u00f6llig unzureichend. Weifs denn W. nicht, dafs das Wesen der Summe darin besteht, dafs die Glieder da sind, ganz gleich, in welcher Reihenfolge und Anordnung? Und wird nicht das psychische Leben gerade dadurch in seiner Eigenart bestimmt, dafs die Elemente in ganz bestimmten Constellationen und Beziehungen zu einander stehen? Wenn W., was oft geschieht, von \u201eConstellationen\u201c spricht, giebt er damit nicht, ohne Wissen und Willen, die \u201eSumme\u201c auf? Es geht eben nicht ohne einen formalen Gesichtspunkt, und wenn man ihn auch \u00f6ffentlich perhorrescirt, so dr\u00e4ngt er sich in-officiell wieder ein.\nIm n\u00e4chsten Kapitel bek\u00e4mpft W. den Begriff der Empfindungsintensit\u00e4t, wozu namentlich der alte Einwand lierhalten mufs, dafs man nicht sagen k\u00f6nne, eine Empfindung betrage das Vielfache einer anderen. Und da Intensit\u00e4t nicht existirt, so ist sie nat\u00fcrlich auch nicht mefsbar. Die Frage Weber\u2019s gehe im Grunde gar nicht auf Empfindungsabstufungen, sondern habe die Bedeutung: Bei welcher Aenderung eines Reizes entsteht eine Aenderung der Empfindung?\nDas zw\u2019eite Hauptst\u00fcck behandelt die Empfindungen und stellt an die Spitze die Er\u00f6rterung ihrer Fl\u00e4chenhaftigkeit. Wer sich zum r\u00e4umlichen Nativismus bekennt, wird mit Vielem einverstanden sein, wenn man auch der Einseitigkeit, mit der das r\u00e4umliche Element betont und von jeder Empfindungsgattung behauptet wird, nicht zustimmen kann. Die Physiologie hat die Extensit\u00e4t als prim\u00e4res Datum hinzunehmen, und dazu die Coordination zu suchen. \u2014 Da die Netzhaut eine zusammenh\u00e4ngende Fl\u00e4che liefert, so sehen wir auch an der Stelle des blinden Flecks, n\u00e4mlich ein \u201eDunkel-grau-violett\u201c. (Ob das, was W. hier sieht, nicht einfach dem Gesichtsfeld des anderen Auges zuzuschreiben ist?) \u2014 Es folgt eine lange Auseinandersetzung \u00fcber das einfache Sehen mit zwei Augen, wobei ein Autor, vermuthlich Helmholtz, seitenlang in Anf\u00fchrungsstrichen citirt und kritisirt, aber nicht genannt wird. Dies sich wiederholende Verschweigen der Namen excerpirter und bek\u00e4mpfter Forscher wirkt st\u00f6rend und \u2014 verstimmend. \u2014 Das einzige directe optische Raumdatum ist die Fl\u00e4che. \u201eDie Tiefe ist eine Gedankenzugabe, die das Ich zur Fl\u00e4che hinzuftigt, eine Anzeige des Ich, in den verschiedensten Abk\u00fcrzungen ausgedrtickt, dafs es in einem gewissen Bewegungsverh\u00e4ltnisse zu dieser Fl\u00e4che steht.\u201c (S. 233.) Und zwar ist diese optische Fl\u00e4che eine Planfl\u00e4che. (Die Differen-ziirung von \u201eplan\u201c und \u201egewr\u00f6lbt\u201c ist ja auch erst durch die Tiefendimension m\u00f6glich! Ref.) Im Weiteren wendet sich Verf gegen die Theorie","page":439},{"file":"p0440.txt","language":"de","ocr_de":"440\nBesprechung.\nder \u201eNach-aufsen-Projicirung\u201c unserer Gesichtseindr\u00fccke. Das Bild ist nicht in der Netzhaut, sondern prim\u00e4r da draufsen.\nBei der Eintheilung der Empfindungen beh\u00e4lt W. die alte F\u00fcnfzahl bei, indem er Tast-, Druck-, Temperatur-, Muskel- und andere Empfindungen als \u201eLeibesempfindungen\u201c zusammenfafst. Diese Terminologie scheint nicht empfehlenswerth, da durchaus nicht alle hierhergeh\u00f6rigen Eindr\u00fccke auf die subjective Beschaffenheit des Leibes bezogen werden. Die Rauhigkeit, die ioh taste, k\u00fcndet mir ebenso etwas Externes, wie die Farbe, die ich sehe. Auch die Leibesempfindungen sind nach W. an sich extensiv; doch ist die Formung der Leibesfl\u00e4che nach der dritten Dimension ebensowenig Empfindungsthatsache wie die Tiefe des gesehenen Raumes. \u2014 Die Empfindungen des Leibes sind nach den Stellen qualitativ verschieden. Die Temperaturempfindungen sind nicht etwa intensiv verschieden abgestuft, sondern bilden lauter eigenartige Qualit\u00e4ten. Lust- und Unlustempfindung sind \u201enicht eine unmittelbare Qualit\u00e4t, sondern die Reaction unserer Pers\u00f6nlichkeit auf eine Qualit\u00e4t mittels Vorstellungen und Bewegungstendenzen, das, was wir zu einer Qualit\u00e4t sagen . ..\u201c (S. 301. Dies merkw\u00fcrdige \u201eWir\u201c und die mystische \u201ePers\u00f6nlichkeit\u201c sind in einer Aggregatspsychologie eigentlich nicht zuzulassen. Gefragt w\u00fcrde W. allerdings sagen, dafs er darunter etwas Aehnliches verstehe, wie das, was Herbart als \u201eApperceptionsmasse\u201c gegen\u00fcber der neu zu appercipirenden Vorstellungen bezeichnet. Correct also m\u00fcfste W. sagen: \u201eUnter Lust- und Unlustempfindung ist zu verstehen die Reaction gewisser Vorstellungen auf eine Vorstellung mittels Vorstellungen.\u201c So sehen die Consequenzen einer wirklich durchgef\u00fchrten Vorstellungs-Aggregat-Psyehologie aus.)\nNachdem die Psychologie der Zukunft die Ger\u00fcche und Geschm\u00e4cke auf einer halben Seite abgethan hat, werden die T\u00f6ne er\u00f6rtert, denen wieder in erster Linie Extensit\u00e4t zugeschrieben wird. Damit meint W. nicht etwa nur ein quasi-r\u00e4umliches Moment im Tone (Massigkeit und Spitzheit [Stumpf] ) ; nein, f\u00fcr ihn ist der Schall genau in eben solcher Weise fl\u00e4chenhaft, wie die Farbe; W. spricht \u00f6fter von einer Schallebene (also auch die Formation dieser Fl\u00e4che kennt er), die freilich in Bezug auf Sch\u00e4rfe der Abgrenzung mit den Conturen von fliefsendem Wachs zu vergleichen ist. Urspr\u00fcnglich ist die Schallfl\u00e4che schlechthin da; ihren bestimmten Platz, ihre Distanz von mir bekommt sie erst auf Grund von Relationen zu anderen Sinneseindr\u00fccken. \u2014 Es folgt eine Analyse der T\u00f6ne, die unter Annahme der HELMHOLTz\u2019schen Hypothese nicht viel Neues bietet. Die Verwandtschaft der T\u00f6ne wird wesentlich auf ihre Verwechsel-barkeit reducirt. Die T\u00f6ne verschiedener Octaven bezeichnet er, warum, wird nicht klar, als Klaffungst\u00f6ne.\nIn der Farbe sind nicht etwa S\u00e4ttigung und Intensit\u00e4t als besondere Momente zu unterscheiden; Alles sind verschiedene Qualit\u00e4ten, \u00fcber die man, zur Vorbereitung ihrer physiologischen Erforschung, ein Farben-lexicon anlegen m\u00fcfste.\nW. glaubt in der Theorie ohne Grundfarben auszukommen, doch ist seine Theorie, in der er die Farbenoctaven in gewisse Analogie zu den Tonoctaven bringt, nicht ganz einleuchtend.\nDen sogenannten Gef\u00fchlen ist eine ganze Seite gewidmet; sie sind","page":440},{"file":"p0441.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechung.\n441\nf\u00fcr den Verfasser nichts als Leibesempfindungen, bezw. deren Reste, verbunden mit Phantasie* und Erinnerungsvorstellungen Es folgt die Besprechung dieser letzteren; die M\u00f6glichkeit ihrer verschiedenen Localisation, w\u00e4hrend sie doch im Gehirn immer denselben Platz einnehmen, wird eingehend er\u00f6rtert.\nNachdem W. so die Elemente des Seelenlebens hat Revue passiren lassen, geht er nunmehr daran, sie zu h\u00f6heren Gebilden zusammenzusetzen. Wodurch unterscheidet sich die Vorstellung von dem Wissen von ihr, von ihrer Constatirung? Nicht dadurch, dafs hier ein neuer eigenartiger Act, eine Th\u00e4tigkeit, die sich ihrer bem\u00e4chtigt, hinzuk\u00e4me, sondern nur dadurch, dafs wir \u201eeinerseits Vorstellungen schlechthin haben, andererseits Vorstellungen mit der Geschichte ihres Erreichens, Erlangens haben\u201c. (S. 354.) In der Ausf\u00fchrung freilich vertritt W. dann doch Anschauungen, die sich von dieser, allerdings auch unbeweisbaren, These ziemlich weit entfernen. Z. B. : \u201eWir k\u00f6nnen ihn [den Begriff ,gewuf8t\u2018] reduciren auf Actionen, auf ein Herstellen von Beziehungen\u201c. (S. 359. Und wer agirt? Wer oder was stellt Beziehungen her??) \u2014 Zum Zustandekommen der abstracten Vorstellungen ist n\u00f6thig eine concrete Vorstellung bestimmter Beschaffenheit und ein eigenth\u00fcmlicher Index resp. Pro ce f s, welcher sich an diese Vorstellung anschliefst, (fl. 363. Was soll in einer Psychologie der Vorstellungssummen ein Index oder Procefs neben den Vorstellungen?) \u2014 Er schreitet nun in seinen Synthesen weiter. Die psychischen Vorkommnisse gruppiren sich zu zwei Hauptarten psychischer Reihen, die er als die des Erstrebens und die des Erreichens bezeichnet; dort dominiren die Empfindungen der Unruhe, hier die des Wohlbehagens. Wir d\u00fcrfen es uns wohl versagen, im Speciellen darauf einzugehen, wie die verschiedenen Formen der Erreichungs- und Erstrebungsreihen zu Stande kommen ; man wird vielf\u00e4ltig an HERBAiiT\u2019sche Constructionen erinnert. Die Liebe, der er einen besonderen Excurs widmet, ist nicht ein Gef\u00fchl, sondern eine \u201eStellungnahme\u201c zu dem geliebten Wesen. Wie man aber Stellungnahme als blofse Vorstellungssumme definiren will, bleibt mir unerfindlich.\nDas Urtheil ist \u201edas Verschwinden der Unruhe der Bed\u00fcrfnifsaction nach Eintritt einer Vorstellung\u201c. (S. 384.) \u2014 Stimmungen sind Gef\u00fchle ohne Gegenstand des Gef\u00fchls. (S.392.) \u2014 Ueber das \u201eSch\u00f6ne\u201c lehrt er uns Folgendes (S. 396/97): Das Bed\u00fcrfnifs, Lust und ihre Vorstellungen festzuhalten, heilst Empfindung des Sch\u00f6nen oder Gefallen. (Also : Da\u00df Bed\u00fcrfnifs heifst Empfindung, ist demnach ein Vorstellungsgebilde. Empfindung des Sch\u00f6nen ist somit die Vorstellung, welche eine andere Vorstellung festh\u00e4lt!) \u2014 An diese Betrachtung schliefst sich ein l\u00e4ngeres \u00e4sthetisches Intermezzo \u00fcber das Natur- und Menschensch\u00f6ne und \u00fcber die verschiedenen K\u00fcnste.\nDas vierte Hauptst\u00fcck seiner Psychologie handelt: Ueber die Gesetze des geistigen Lebens. Eigentlich giebt es Gesetze des geistigen Lebens, das ja nur ein Vorstellungsmosaik ist, \u00fcberhaupt nicht. Der Versuch Herbart\u2019s, die Mechanik der Vorstellungen gesetzm\u00e4fsig festzulegen, mufs als gescheitert angesehen werden. Auch f\u00fcr die Willenshandlungen besteht keine Gesetzm\u00e4fsigkeit ; es giebt keine klarere Sache als den Indeterminismus. Nicht das widerstreitende Spiel der Motive, sondern die","page":441},{"file":"p0442.txt","language":"de","ocr_de":"442\nBesprechung.\nwechselnde Constitution des K\u00f6rpers wirkt entscheidend auf die Willens-handlungen. Endlich sind auch die Associationsformen keine wahren Gesetze; denn die Vorstellungen sind ja nicht das Wirksame, was andere Vorstellungen hervorruft. Im Allgemeinen wird eine fr\u00fcher dagewesene Vorstellung dann actuell, wenn sie gleichzeitig von mindestens zwei verschiedenen Seiten her angeregt wird.\nDer n\u00e4chste Abschnitt besch\u00e4ftigt sich mit der Coordination von Gehirnelementen zu psychischen Successionen. Das allgemeine Schema des physiologischen Substrates stellt der Reflexbogen dar. Die folgende Darstellung giebt zwar nur die allgemeinsten bekannten Z\u00fcge der G eh imlehre, macht aber, zum Theil ganz treffend, auf manche Schwierigkeiten und Bedenklichkeiten aufmerksam, die bei der Durchf\u00fchrung der Coordination sich ergeben. Namentlich findet die Deponirungstheorie wieder einmal berechtigte Bek\u00e4mpfung. W. kann nicht glauben (und ich auch nicht), dafs jede Vorstellung ihre disponible Depotzelle habe; er stellt daf\u00fcr die Hypothese auf, \u201edafs die Sinnestracte der Hirnrinde als ganze zugeordnet sind der jeweiligen Vorstellung, die von dem betreffenden Sinnesorgan als Ganzes dargeboten wird\u201c. (S. 463.) Der Verschiedenartigkeit der Vorstellungen entsprechen dann nicht verschiedene Zellen, sondern verschiedene Bewegungs- und Erregungsformen in den ganzen Hirnpartieen.\nDas f\u00fcnfte und letzte Hauptst\u00fcck der Psychologie ist der \u201eTotalit\u00e4t eines individuellen Geisteslebens\u201c gewidmet. \u2014 Die Geisteskrankheiten, die oft noch falsch erkl\u00e4rt werden, sind nach W. dadurch dem Verst\u00e4ndnifs n\u00e4her zu r\u00fccken, dafs man die Analogie dazu im normalen Seelenleben angiebt. \u2014 In kurzen Ausf\u00fchrungen \u00fcber Charakter, Talent und Genie findet seine Psychologie ihren Abschlufs.\nZiehen wir ein Facit aus unserer Besprechung derselben, so m\u00fcssen wir sagen : W.\u2019s Psychologie bietet im Einzelnen manches Richtige, einiges Bemerkenswerthe, wenig Neues, im Ganzen ist sie verfehlt. Die Atomisirung des Seelenlebens ist so und so oft erfolglos versucht worden; und W. hatte eher weniger als mehr Gl\u00fcck, denn seine Vor- und Mitg\u00e4nger. Die scheinbare L\u00f6sung zahlreicher und gerade der tiefsten Probleme wurde nur durch stillschweigende, ihm selber unbewufste Abbiegung von seinen Voraussetzungen m\u00f6glich, und trotzdem ist die positive Ausbeute so \u00e4rmlich, dafs wir darin alles Andere als das Ideal und Endziel psychologischer Forschung zu sehen verm\u00f6gen. Wer die Sache schwerer nimmt, hat auch schwerer mit ihr zu ringen als es W. thut.\nlieber das vierte Buch seines Werkes, die Ethik, die alle wissenschaftlichen Ethiken als \u201eL\u00e4cherlichkeiten\u201c geifselt und nur einige d\u00fcrftige Vorschl\u00e4ge zu einer\u00ab,Staatsp\u00e4dagogik\u201c bringt, d\u00fcrfen wir an dieser Stelle schweigen.\nWir sind am Ende des seltsamen Buches, nicht aber, trotz Wahle, am Ende der Philosophie. Um dieses Werkes willen sollten die philosophischen Berge durch Jahrtausende gekreifst haben? Nein, wahrlich nicht! La philosophie est morte \u2014 vive la philosophie!\nW. Stern (Breslau).","page":442}],"identifier":"lit30509","issued":"1898","language":"de","pages":"436-442","startpages":"436","title":"Richard Wahle: Das Ganze der Philosophie und ihr Ende. Ihre Verm\u00e4chtnisse an die Theologie, Physiologie, Aesthetik und Staatsp\u00e4dagogik. Zweite unver\u00e4nderte Auflage. Wien u. Leipzig, Braum\u00fcller. 539 S. 1896","type":"Journal Article","volume":"17"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:51:22.579175+00:00"}