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{"created":"2022-01-31T12:44:51.091427+00:00","id":"lit30536","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Lipps, Theodor","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 19: 1-40","fulltext":[{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"Tonverwandtschaft und Tonverschmelzung.\nVon\nTheodor Lipps.\nIm Nachfolgenden suche ich eine Verst\u00e4ndigung mit Stumpe\u2019s Consonanztheorie, wie sie neuerdings im ersten Heft der von ihm herausgegebenen ,,Beitr\u00e4ge zur Akustik und Musikwissenschaft\u201c Yorliegt. So bestimmt diese Consonanztheorie und die von mir in den \u201eGrundthatsachen des Seelenlebens\u201c und eingehender in meinen \u201ePsychologischen Studien\u201c vertretene Theorie der \u201eTonverwandtschaft\u201c sich entgegenzustehen scheinen, so halte ich doch eine solche Verst\u00e4ndigung nicht f\u00fcr ausgeschlossen.\nConsonanz von T\u00f6nen ist f\u00fcr Stumpe, wie man weifs, gleichbedeutend mit \u201eStufe der Verschmelzung\u201c der T\u00f6ne. Ich habe schon an anderer Stelle gefragt und frage hier wiederum : Was ist diese \u201eVerschmelzung\u201c? Darauf giebt Stumpe zun\u00e4chst die Antwort, die Verschmelzung von T\u00f6nen bestehe darin, dafs eine Mehrheit von T\u00f6nen f\u00fcr das Bewufstsein eine Einheit oder ein Ganzes bilden.\nIn der That nun bilden T\u00f6ne, gleichzeitige und successive, bald mehr bald minder f\u00fcr unser Bewufstsein eine \u201eEinheit\u201c. Sie erscheinen als etwas \u201eEinheitliches\u201c. Sie machen den \u201eEindruck\u201c einer Einheit oder eines Einheitlichen.\nUnd besteht darin die Consonanz? Darauf sage ich unbedenklich: Ja; wenn n\u00e4mlich unter der Consonanz das unmittelbare Bewufstsein der Consonanz, nicht etwa das diesem Bewufstsein zu Grunde Liegende, nicht das, was dies Bewufstsein bedingt oder erm\u00f6glicht, verstanden wird. Consonanz ist Einheit oder Einheitlichkeit von T\u00f6nen. \u201eConsonanz\u201c besagt, dafs mehrere T\u00f6ne eine Einheit oder ein Ganzes bilden. Consonanz ist \u2014 Consonanz, also Zusammenklingen oder Zusammenstimmen. Es ist ein Hinstreben von einem Ton zum anderen, ein Eingehen und in gewisser Weise ein Aufgehen von Mehreren\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XIX.\t1","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"2\nTheodor Lipps.\nin Einem. Dissonanz dagegen ist Anseinanderstreben, sich Vereinzeln etc. Es giebt fast keine STUMPu\u2019sche Charakterisirung des Consonanzbewufstseins, die ich mir nicht aneignen k\u00f6nnte. Und fasse ich diese Charakterisirungen zugleich als Beschreibungen der \u201eVerschmelzung\u201c, so kann ich sagen: Auch f\u00fcr mich, wie f\u00fcr Stumpf, ist \u201eConsonanz\u201c, so wie sie f\u00fcr unser Bewufstsein unmittelbar vorliegt, Verschmelzung.\nAber nun fragt es sich, wie alle diese Wendungen gemeint sind. Schon der Ausdruck \u201eBewufstsein\u201c der Consonanz ist ja nicht eindeutig. Dies Bewufstsein k\u00f6nnte sein ein Gef\u00fchl, eine aller Consonanz gegen\u00fcber gleichartige Weise, wie ich von T\u00f6nen an-gemuthet werde. Es k\u00f6nnte auch eine Empfindung sein. Consonanz k\u00f6nnte gef\u00fchlt, oder aber von uns, indem wir die T\u00f6ne h\u00f6ren, mitgeh\u00f6rt, in den T\u00f6nen, oder mit ihnen, als eine ihnen anhaftende Eigent\u00fcmlichkeit, empfunden werden. Es k\u00f6nnte auch sein, dafs diese beiden M\u00f6glichkeiten sich nicht so leicht mit voller Sicherheit unterscheiden liefsen. Es geschieht ja oft genug, dafs wir in Objecten eine Eigenschaft zu finden meinen, weil wir ein Gef\u00fchl haben, als ob das Object die Eigenschaft h\u00e4tte. So ist uns etwa tiefen T\u00f6nen gegen\u00fcber \u201eso zu Muthe, als ob\u201c in ihnen eine r\u00e4umliche Gr\u00f6fse w\u00e4re, d. h. wir haben ein Gef\u00fchl, wie wir es zun\u00e4chst r\u00e4umlichen Gr\u00f6fsen gegen\u00fcber haben, oder ein Gef\u00fchl, das uns vorzugsweise als ein an r\u00e4umlicher Gr\u00f6fse haftendes bekannt ist. Und dies kann uns dazu verf\u00fchren zu meinen, wir h\u00f6rten, indem wir T\u00f6ne h\u00f6ren, zugleich eine gewisse r\u00e4umliche Ausdehnung derselben.\nDiese Gefahr liegt auch hier vor. Ja sie ist hier doppelt grofs. In gewissen F\u00e4llen der Consonanz, n\u00e4mlich beim Zusammen klang consonanter T\u00f6ne, verh\u00e4lt es sich zweifellos so, dafs wir mit den T\u00f6nen zugleich, oder an ihnen, eine Eigenth\u00fcm-lichkeit h\u00f6ren oder empfinden, ein Ineinanderfliefsen, das wir \u201eVerschmelzung\u201c nennen k\u00f6nnen. Zugleich haben wir ein bestimmtes Consonanz g e f \u00fc h 1. Es ist uns diesen in der Empfindung verschmelzenden T\u00f6nen gegen\u00fcber eigenth\u00fcmlich zu Muthe. Indem wir uns nun von da zu anderen F\u00e4llen der Consonanz, etwa zur Consonanz successiver T\u00f6ne wenden, haben wir dasselbe Gef\u00fchl. Vielleicht finden wir gleichzeitig dieselbe Eigen-th\u00fcmlichlichkeit an den Empfindungsinhalten wieder. Vielleicht aber auch finden wir diese Eigenth\u00fcmliehkeit nicht wieder, sondern meinen nur sie wieder zu finden, weil wir wieder das gleiche","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"Tonverwandtschaft und TonverSchmelzung.\n3\nGef\u00fchl haben. Wir haben nun einmal dies Gef\u00fchl als an jener Eigenth\u00fcmlichkeit haftend kennen gelernt. Es ist uns darum jetzt so zu Muthe,- \u201eals ob\u201c oder \u201ewie wenn\u201c auch hier die gleiche Eigenth\u00fcmlichkeit von uns vorgefunden w\u00fcrde. Wir ana-lysiren nicht, d. h. wir scheiden nicht die empfundene Eigenth\u00fcmlichkeit von dem Gef\u00fchl, nehmen also Beides als Ganzes, und statuiren demnach das Vorhandensein des Ganzen, \u00fcberall da wo das Gef\u00fchl, \u2014 das uns auch sonst so oft in unseren Ur-theilen \u00fcber objective Thatbest\u00e4nde leitet, \u2014 sich vorfindet.\nStumpf nun scheint sicher zu sein, dafs ihm eine solche Verwechselung nicht begegnet ist. Er scheint unter dem Namen der \u201eVerschmelzung\u201c eine \u00fcberall, d. h. in jedem Falle des Con-sonanzbewufstseins wiederkehrende Eigenth\u00fcmlichkeit des Empfundenen oder Geh\u00f6rten, als solchen, mit Sicherheit zu statuiren. Nat\u00fcrlich mufs dann, da Verschmelzung ein eindeutiger Begriff sein soll, also ein Begriff, der \u00fcberall Dasselbe bezeichnet, eben diejenige Eigenth\u00fcmlichkeit, die in einem Falle an den consonanten T\u00f6nen gefunden und als Verschmelzung bezeichnet wurde, auch in allen anderen F\u00e4llen des Consonanzbewufst-seins in gleicher Weise, und falls das Consonanzbewufstsein in den verschiedenen F\u00e4llen gleich stark und sicher ist, auch in gleichem Grade und mit gleicher Sicherheit statuirt werden k\u00f6nnen.\nWas ist nun dies von Stumpf aufgefundene, \u00fcberall identische und wegen seiner Identit\u00e4t jedes Mal mit dem gleichen Namen \u201eVerschmelzung\u201c bezeichnete Empfindungselement der consonanten T\u00f6ne ? Es besteht, so h\u00f6ren wir, in einer Einheit, einer Einheitlichkeit der T\u00f6ne, es besteht darin, dafs die T\u00f6ne ein Ganzes bilden.\nAber auch, wenn wir vom \u201eGef\u00fchl\u201c der Einheit absehen, fehlt diesen Begriffen nicht die Mehrdeutigkeit. Vor Allem der Terminus \u201eEinheit\u201c geh\u00f6rt zu den aller vieldeutigsten. So grofs ist die Vieldeutigkeit dieser Ausdr\u00fccke, dafs dieselben immer zu Mifsverst\u00e4ndnissen, und vor Allem auch zu Selbstt\u00e4uschungen f\u00fchren k\u00f6nnen. Sie sind so vieldeutig, dafs ich w\u00fcnschen mufs, es m\u00f6chten in etwaiger weiterer Polemik diese Ausdr\u00fccke entweder gar nicht gebraucht werden, oder doch immer nur so, dafs jedes Mal v\u00f6llig unzweideutig gesagt wird, was damit gemeint sei.\nEine \u201eEinheit\u201c bildet f\u00fcr mein Bewufstsein Alles, was ich","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4\nTheodor Lipps.\ndenkend zur Einheit zusammenfasse. Und es giebt schliefslich nichts, das ich nicht denkend zur Einheit zusammenfassen k\u00f6nnte. Es giebt daneben eine r\u00e4umliche und eine zeitliche Einheit.\nAn alle solche Einheiten denkt Stumpf nicht, wenn er von Tonverschmelzung spricht. Was meint er dann mit letzterem Worte? Indem ich diese Frage stelle, \u00fcbersehe ich nicht, dafs Stumpf bei Bestimmung des Begriffs der Verschmelzung durchaus nicht bei dem allgemeinen Terminus \u201eEinheit\u201c bleibt, sondern sehr viel bestimmtere Erkl\u00e4rungen giebt. Aber mir liegt hier daran, was Stumpf meint, sicher festzulegen. Es liegt mir noch mehr daran, festzulegen, was Stumpf meinen mufs.\nDie Gestalt eines Menschen und seine Stimme bilden eine erfahrungsgem\u00e4fse Einheit. Ich habe nicht, wenn ich die Gestalt sehe und zugleich die Stimme h\u00f6re, das Bewufstsein, ich n\u00e4hme nur Eines wahr, sondern es sind f\u00fcr mein Bewufstsein die beiden Erlebnisse, Gestalt und Stimme, deutlich zwei Erlebnisse. Zugleich sind mir die beiden Erlebnisse qualitativ deutlich geschieden. Ich habe nur das Bewufstsein, diese beiden numerisch und qualitativ v\u00f6llig klar geschiedenen Bewufstseinsinhalte geh\u00f6ren zusammen; es besteht f\u00fcr mich eine f\u00fchlbare N\u00f6thigung sie zusammen vorzustellen oder zusammen zu denken. \u2014 Auch hieran denkt Stumpf nicht, wenn er von Tonverschmelzung spricht.\nAuch eine qualitative Einheit k\u00f6nnte zwischen der Stimme und der Gestalt bestehen. Sie haben vielleicht beide etwas eigenartig Geschmeidiges. Sie \u201estimmen\u201c hierin \u201e\u00fcberein\u201c. Qualitative Einheit ist Uebereinstimmung. Aber dafs zwei consonante T\u00f6ne, etwa ein Ton und seine Quinte etwas Uebereinstimmendes haben, mehr als derselbe Ton und seine Terz, oder seine Secunde, dies meint Stumpf durchaus leugnen zu m\u00fcssen.\nDann seheich nur noch eine M\u00f6glichkeit : \u201eVerschmelzung\u201c eines Grundtones und der mit ihm gleichzeitig geh\u00f6rten Octave ist der Ausdruck f\u00fcr die unmittelbare Bewufstseinsthatsache, dafs die beiden T\u00f6ne mir in gewissem Grade wie ein einziger Bewufstsein sin halt sich darstellen, dafs dasjenige, was ich h\u00f6re, in gewissem Grade so sich anh\u00f6rt, als werde von mir nicht Zweierlei, sondern nur Eines geh\u00f6rt, kurz dafs f\u00fcr mein Bewufstsein die Zweiheit in bestimmtem Grade der numerischen Einheit nahe kommt.","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"Tonvenvandtschaft und Tonverschmelzung.\no\nIch will ausdr\u00fccklich ein m\u00f6gliches Mifsverst\u00e4ndnifs meiner Worte ausschliefsen : Die Zweiheit kommt der numerischen Einheit nahe, dies heilst nicht nothwendig, die zwei T\u00f6ne klingen, als ob nur ein \u201eTon\u201c gegeben w\u00e4re. Sie haben vielleicht das Ansehen, oder haben ann\u00e4hernd das Ansehen eines einzigen Geh\u00f6rseindruckes, ohne dafs dieser Geh\u00f6rseindruck dasselbe w\u00e4re wie ein einfacher Ton. Auch ein einzelner Klang ist ein einziger Geh\u00f6rseindruck ; und Kl\u00e4nge und T\u00f6ne unterscheiden wir.\nIch vermuthe nun, dafs Stumpf sagen wird, eben dies, dafs mehrere T\u00f6ne wie ein einziger Geh\u00f6rseindruck erscheinen, oder sich f\u00fcr das Bewufstsein einem solchen n\u00e4hern, meine er mit dem Worte ,,Tonverschmelzung\u201c. In der That deuten seine bestimmteren Erkl\u00e4rungen darauf hin. Stumpf spricht ausdr\u00fccklich von Ann\u00e4herung an den Einklang. Und der \u201eEinklang\u201c besagt ja, dafs nicht Mehreres, sondern nur Eines geh\u00f6rt wird. Der Einklang bezeichnet eine numerische Einheit. \u2014 Stumpf wird es darnach vielleicht f\u00fcr v\u00f6llig \u00fcberfl\u00fcssig erkl\u00e4ren, dafs ich ihm hier einen Sinn seiner Worte aufn\u00f6thige, den er selbst bestimmt anerkannt hat.\nWas soll denn auch am Ende \u201eVerschmelzung\u201c bedeuten, wenn es nicht das eben Bezeichnete bedeutet? T\u00f6ne, die mir bestimmt als zwei und zugleich als qualitativ unterschieden sich darstellen, und nur, so wie die Gestalt und die Stimme eines Menschen, als zusammengeh\u00f6rig erscheinen, \u201everschmelzen\u201c doch thats\u00e4chlich nicht. Ebensowenig ist qualitative Ueberein-stimmung des numerisch Verschiedenen \u201eVerschmelzung\u201c. Sondern \u201eVerschmelzung\u201c ist \u2014 Verschmelzung. Das Wort besagt \u00fcberall, dafs zwei Bewufs.tseinsinhalte dem Bewufstsein nicht als zwei, nicht in zwei geschieden oder auseinandergehend, sondern in Eines zusammenfliefsend erscheinen, so als w\u00e4re nur ein einziger Bewufstseinsinhalt gegeben.\nJetzt nun ist unsere Aufgabe, diesen Begriff der Verschmelzung unerbittlich festzuhalten. Wir m\u00fcssen ihn festhalten insbesondere angesichts der \u201eVerschmelzungsstufen\u201c, die mit den Graden der Consonanz identificirt werden.\n\u201eStufen der Verschmelzung\u201c, dies k\u00f6nnte zun\u00e4chst heifsen: Stufen oder Grade, in denen dasjenige, wTas wir soeben als Verschmelzung bezeichneten, thats\u00e4chlich stattfindet. Zwei T\u00f6ne geh\u00f6ren einer bestimmten Verschmelzungsstufe an, dies hiefse dann : Das Bild, das ich von den zwei T\u00f6nen habe,","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6\nTheodor Lipps.\nn\u00e4hert sich in gewissem Grade dem Bilde, das mir ein einziger Ton gew\u00e4hrt. Und da \u201eStufe der Verschmelzung\u201c und \u201eGrad der Consonanz\u201c identisch sind, so w\u00e4re auch der Grad der Con-sonanz gleichbedeutend mit diesem Grade der thats\u00e4chlichen Verschmelzung oder dieser Ann\u00e4herung an die numerische Einheit eines einzigen Tones bezw. Geh\u00f6rseindruckes. Der Grad der Consonanz w\u00e4re der Grad der jedesmal thats\u00e4chlich stattfindenden numerischen Un geschieden heit der T\u00f6ne in meinem Bewufstsein oder f\u00fcr mein Bewufstsein.\nDavon m\u00fcfste aufs Bestimmteste unterschieden werden: der Grad, in dem die Gef a hr der Verschmelzung besteht, oder was dasselbe sagt: die gr\u00f6fsere oder geringere M\u00f6glichkeit oder Leichtigkeit der Verschmelzung. Gesetzt, die \u201eStufen der Verschmelzung\u201c w\u00e4ren f\u00fcr Stumpe j eues Erstere, d. h. sie w\u00e4ren die Grade der thats\u00e4chlich stattfindenden Verschmelzung, so k\u00f6nnten sie unm\u00f6glich dieses Letztere sein ; es k\u00f6nnten damit unm\u00f6glich die Grade der M\u00f6glichkeit oder Leichtigkeit der Verschmelzung gemeint sein.\nK\u00f6nnen nun die Stufen der Verschmelzung, also die Grade der Consonanz f\u00fcr Stumpe die Grade der thats\u00e4chlich stattfindenden Verschmelzung sein? Stumpe sagt vielleicht: Ja. Ich sage: Unm\u00f6glich. St\u00fcmpe\u2019s Untersuchungen \u00fcber die Verschmelzungsstufen widersprechen dieser Auffassung durchaus.\nZwei T\u00f6ne, etwa ein Grundton und seine Octave, werden angeschlagen. Jetzt geschieht es, dafs der Eine einen, der Andere zwei T\u00f6ne zu h\u00f6ren glaubt. Es findet also im Bewufstsein Jenes eine Verschmelzung statt, im Bewufstsein Dieses keine oder eine geringere Verschmelzung. F\u00fcr das Bewufstsein des Zweiten sind die T\u00f6ne deutlich geschieden, f\u00fcr das Bewufstsein des Ersten sind sie es nicht. Darnach geh\u00f6rten beide T\u00f6ne wenigstens in diesem Augenblicke f\u00fcr beide Personen verschiedenen Verschmelzungsstufen an, oder bes\u00e4fsen verschiedene Grade der Consonanz.\nUnd da auch bei einem und demselben Individuum, je nach dem Grade der \u201eAufmerksamkeit\u201c, oder je nach der St\u00e4rke der T\u00f6ne, auch wohl je nach ihrer Dauer, diese \u201eVerschmelzung\u201c stattfinden und unterbleiben oder in minderem Grade stattfinden kann, so w\u00e4ren auch f\u00fcr dasselbe Individuum dieselben T\u00f6ne bald consonant, bald nicht oder minder consonant. Eine Consonanz oder einen Grad derselben als dauernde Eigenth\u00fcmlichkeit","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"Tonvenvandtschaft und Tonv er Schmelzung.\n7\nzweier T\u00f6ne g\u00e4be es gar nicht. Stumpf aber atuirt, soviel ich sehe, eine solche.\nDoch hier hahe ich wohl zu rasch geschlossen. Vielleicht ist der wirkliche oder von Stumpf gemeinte. Sachverhalt ein anderer: Zwei in irgend einem Grade consonante T\u00f6ne n\u00e4hern sich f\u00fcr die Empfindung einem einzigen Geh\u00f6rseindruck immer in demselben Grade; nur wird diese f\u00fcr die Empfindung immer in gleicher Weise bestehende Ann\u00e4herung nicht immer gleich deutlich erkannt oder \u201ewahrgenommen\u201c.\nIn der That scheint Stumpf etwas dergleichen zu meinen. Stumpf hat seine Versuche an \u201eUnmusikalischen\u201c, d. h. wohl an minder Musikalischen, angestellt. Diese \u201eUnmusikalischen\u201c w\u00e4hlte Stumpf, weil die Musikalischen \u201eh\u00f6chstens beim Octaven-intervall gelegentlich Einheitsurtheile abgaben\u201c, d. h. zwei T\u00f6ne f\u00fcr einen erkl\u00e4rten.\nDaraus w\u00fcrde ich, so wie ich bisher den Verschmelzungsbegriff gefafst habe, schliefsen m\u00fcssen : Also findet die Thatsache der Verschmelzung bei Unmusikalischen vollkommener und in weiterem Umfange statt als bei Musikalischen. Es m\u00fcfste demnach auch, wenn Verschmelzung mit Consonanz gleichbedeutend w\u00e4re, die Thatsache der Consonanz bei den Unmusikalischen vollkommener und in weiterem Umfange stattfinden. Stumpf dagegen scheint anderer Meinung. Er erkl\u00e4rt: \u201eDieselbe Eigenschaft der Zusammenkl\u00e4nge, welche f\u00fcr den Musiker, indem er sie wahrnimmt, den Consonanzunterschied ausmacht, dieselbe bedingt, ohne f\u00fcr sich wahrgenommen zu werden, die Unterschiede in den Procentzahlen der falschen Urtheile \u00fcber die Anzahl der gleichzeitig geh\u00f6rten \u201eT\u00f6ne\u201c. Unter diesen \u201efalschen Urtheilen\u201c versteht Stumpf offenbar speciell jene Einheitsurtheile der Unmusikalischen. Und die Eigenschaft der Zusammenkl\u00e4nge, von der Stumpf hier redet, ist dem Zusammenh\u00e4nge zufolge die \u201eVerschmelzung\u201c. Sie ist die Thatsache, dafs die Zusammenkl\u00e4nge sich bald mehr, bald weniger dem \u201eEindruck Eines Tones\u201c n\u00e4hern.\u201c\nDarnach scheint Stumpf sagen zu wollen: Die Verschmelzung findet statt bei den Unmusikalischen, wie bei den Musikalischen. Nur wird diese Verschmelzung von den letzteren nicht wahrgenommen.\nIch frage aber: Was soll dies heifsen? Die Verschmelzung ist doch f\u00fcr Stumpf eine Empfindungsthatsache: zwei","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8\nTheodor Lipps.\nT\u00f6ne werden als ineinanderfliefsend empfunden. Und \u201eEmpfinden\u201c heifst f\u00fcr Stumpf: bewufst empfinden. Etwas empfinden heifst, allgemeiner gesagt, es im Bewufstsein haben. Das Empfundene ist als solches Gegenstand des Bewufst-seins. Kann ich aber auch von der Verschmelzung ein Bewufstsein haben ohne die Verschmelzung wahrzunehmen? Besagt nicht auch das \u201eWahrnehmen\u201c, dafs ich von etwas ein Bewufstsein habe? W\u00e4re nicht eine Verschmelzung, die ich nicht wahrnehme, eine Verschmelzung, von der ich kein Bewufstsein habe?\nNur eine M\u00f6glichkeit sehe ich hier. Das \u201eWahrnehmen\u201c mufs den Sinn haben von \u201eErkennen\u201c oder \u201esich Rechenschaft geben\u201c. Aber auch diese M\u00f6glichkeit ist unter den obwaltenden Umst\u00e4nden ausgeschlossen. Ersetzen wir einmal die T\u00f6ne durch Farben. Ich sehe zwei Farben ineinander-fliefsen. Sie fliefsen ineinander \u2014 nicht objectiv ; darum handelt es sich ja hier nicht; sondern in meiner Empfindung oder f\u00fcr meine Empfindung. Dann kann es gewifs geschehen, dafs ich auf ihr Ineinanderfliefsen oder die Weise desselben nicht achte, und demnach mir dar\u00fcber keine Rechenschaft gebe. Aber angenommen, ich werde auf gefordert, eben dar\u00fcber Rechenschaft zu geben. Ich soll sagen, wie es mit der Weise der Farben, in meiner Empfindung sich zu einander zu verhalten, bestellt sei. Dann achte ich auf diese Weise des Verhaltens. Ist es dann m\u00f6glich, dafs ich diese von mir empfundene und beachtete Weise des Verhaltens nicht \u201ewahrnehme\u201c, d. h. dafs ich von dieser Eigent\u00fcmlichkeit meiner Empfindungsinhalte, auf welche - ich geflissentlich meine Aufmerksamkeit richte, keine Kenntnifs gewinne, nichts davon weifs, derart, dafs ich die Frage, wie es damit stehe, in einerWeise beantworte, die der Wirklichkeit meines Empfindens direct zuwiderl\u00e4uft?\nUnter eben solchen Umst\u00e4nden aber soll die Nichtwahrnehmung der empfundenen Tonverschmelzung bei den Unmusikalischen stattfinden. Die Frage, die an sie gestellt wird, lautet: H\u00f6rst Du einen oder zwei T\u00f6ne? Damit ist die Aufmerksamkeit gelenkt auf die Einheit oder Mehrheit der T\u00f6ne. Und nun soll das Verh\u00e4ltnifs, in welchem die T\u00f6ne zur \u201eEinheit\u201c und \u201eMehrheit\u201c stehen, oder die Weise, wie sie sich dem \u201eBegriffe\u201c der Einheit und Mehrheit unterordnen, unwahrgenommen bleiben?","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"Tonverwandtschaft und Tonverschmelzung.\n9\nDies ist eine Unm\u00f6glichkeit. Ich weifs mit dieser Annahme keinerlei Vorstellung zu verbinden, sondern ich mnfs sagen: Die Verschmelzung wird von den Unmusikalischen wahrgenommen, oder sie besteht in ihnen \u2014 vielleicht als unbewufste Thatsache, aber niemals als etwas, das in ihrer Empfindung, also in ihrem Bewufstsein stattfindet.\nIn Wahrheit wird ja nun aber auch die Verschmelzung von den Unmusikalischen sehr wohl wahrgenommen.\nDie Unmusikalischen sagen ja eben, die zwei T\u00f6ne seien f\u00fcr sie nur einer. Damit geben sie doch gewifs zu erkennen, dafs sich f\u00fcr sie, oder nach Aussage ihrer \u201eWahrnehmung\u201c, die zwei T\u00f6ne im h\u00f6chsten Grade \u201edem Eindruck Eines Tones n\u00e4hern\u201c, dafs also die T\u00f6ne f\u00fcr sie oder ihre Wahrnehmung in vollkommenster Weise verschmelzen. Ist \u201eAnn\u00e4herung an den Eindruck Eines Tones\u201c Verschmelzung, und vollkommenere Ann\u00e4herung an diesen Eindruck vollkommenere Verschmelzung, so ist ja doch zweifellos vollkommenste Ann\u00e4herung an diesen Eindruck, also Einklang, vollkommenste Verschmelzung. Die Unmusikalischen haben also das Bewufstsein. der Verschmelzung; demnach auch, falls \u201eGrad der Verschmelzung\u201c = \u201eGrad der Consonanz\u201c, das Bewufstsein der Consonanz im h\u00f6chsten Grade. Sie nehmen \u201eVerschmelzungen\u201c h\u00f6chsten Grades \u201ewahr\u201c.\nAber hier mifsverstehe ich Stumpf offenbar wiederum. Diese vollkommene Verschmelzung meint Stumpf nicht, wenn er Verschmelzung und Consonanz identificirt, sondern er meint die unvollkommene Verschmelzung, d. h. die Bewufstseinsthatsache, dafs zwei T\u00f6ne als zwei erkannt werden, zugleich aber f\u00fcr das Bewufstsein ineinanderfliefsen. Den Unmusikalischen nun fehlt nicht die Wahrnehung des Ineinanderfliefsens, aber die Wahrnehmung der Zweiheit, oder es fehlt f\u00fcr ihre Wahrnehmung dies bestimmte Ineinanderfliefsen von zwei gesonderten T\u00f6nen. Es fehlt f\u00fcr ihre Wahrnehmung, darum doch nicht f\u00fcr ihre be-wufste Empfindung.\nLassen wir uns nun diese n\u00e4here Bestimmung der Verschmelzung, einschliefslich der Sonderbarkeit eines bewufst Empfundenen und zugleich Beachteten, das doch nicht wahrgenommen oder nicht gewufst wird, gefallen. Dann ist doch noch zu bedenken, dafs die Unmusikalischen nicht immer, und vor Allem nicht allen.consonanten Zusammenkl\u00e4ngen gegen\u00fcber nur Einheitsurtheile f\u00e4llen. Auch f\u00fcr den Schlimmsten unter","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10\nTheodor Lipps.\nihnen giebt es einen minderen Grad der Consonanz, dem gegen\u00fcber er ebenso urtheilt, wie der Musikalische gegen\u00fcber der vollkommeneren Consonanz. Hier giebt es dann doch wohl auch f\u00fcr den Unmusikalischen \u201ewahrgenommene\u201c Verschmelzung, d. b. ein \u201ewahrgenommenes\u201c Nebeneinander von T\u00f6nen, die zugleich in gewissem Grade ineinanderfliefsen. Oder soll man annehmen, der \u201eUnmusikalische\u201c sei so sehr eine andere Menschenspecies, dafs bei ihm nur die beiden M\u00f6glichkeiten existiren: einerseits die \u201eWahrnehmung\u201c zweier T\u00f6ne als eines einzigen, und andererseits die deutliche \u201eWahrnehmung\u201c der Zweiheit derselben, ohne dafs zugleich f\u00fcr die \u201eWahrnehmung\u201c eine Ann\u00e4herung an den Eindruck Eines Tones stattfindet? M\u00fcssen sich nicht auch f\u00fcr die \u201eWahrnehmung\u201c des Unmusikalischen bei Abnahme der Consonanz die T\u00f6ne allm\u00e4hlich von einander l\u00f6sen? Dann ergiebt sich, dafs f\u00fcr den Unmusikalischen die vollkommeneren Con-sonanzen zu Einkl\u00e4ngen werden, daf\u00fcr aber die minder vollkommenen Consonanzen f\u00fcr seine \u201eWahrnehmung\u201c an die Stelle der vollkommeneren Consonanzen r\u00fccken. Seine Consonanz-wahrnehmung ist lediglich verschoben.\nJetzt fragt es sich, worum handelt es sich eigentlich hier? Um die Consonanz als eine Thatsache, die in uns besteht, ohne dafs wir sie \u201ewahrnehmen\u201c oder davon wissen, oder um die Consonanz, von der wir wissen? Ich denke doch, um das Letztere. Die Consonanz, die zwar als Thatsache unserer Empfindung da w\u00e4re, aber von uns, unbegreiflicherweise, nicht wahrgenommen w\u00fcrde, w\u00e4re f\u00fcr uns nicht da. Sie w\u00e4re eine Consonanz \u201ean sich\u201c, aber nicht eine Consonanz \u201ef\u00fcr uns\u201c. Oder: Sie w\u00e4re eine Consonanz, aber sie schiene es nicht zu sein, oder er-schiene nicht als solche. Und so lange sie keine solche zu sein schiene, h\u00e4tte sie f\u00fcr uns keine Bedeutung. Umgekehrt h\u00e4tte die Consonanz, die nicht da w\u00e4re, aber da zu sein schiene, also als Consonanz erschiene, f\u00fcr uns alle Bedeutung. Es m\u00fcfsten also f\u00fcr den Unmusikalischen die minderen Consonanzen alle Bedeutung haben. Sie w\u00e4ren f\u00fcr ihn die vollkommeneren Consonanzen. Sein Consonanzbewufstsein fehlte nicht, es w\u00e4re nur an minder vollkommene Consonanzen gebunden. \u2014 In der That findet, soviel ich weifs, das Umgekehrte statt.\nSchliefslich ist aber eine Thatsache in unserer Frage v\u00f6llig entscheidend. Ich meine die Consonanz successive erklingender","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"Tonverwandtschaft und TonverSchmelzung.\n11\nT\u00f6ne. Stumpe giebt diese Consonanz zu. Aber sich folgende T\u00f6ne \u2014 ich nehme an, der eine h\u00f6re auf, ehe der andere beginnt \u2014 verschmelzen thats\u00e4chlich niemals. Znm mindesten k\u00f6nnte diese Verschmelzung nur v\u00f6llig unbewufst geschehen, also in einer Weise, die f\u00fcr Stumpe nicht in Betracht kommt.\nGewifs k\u00f6nnen successive T\u00f6ne als eine \u201eEinheit\u201c erscheinen oder den Eindruck der \u201eEinheitlichkeit\u201c machen. Sie k\u00f6nnen auch durchaus oder in bestimmtem Grade als qualitativ \u201eDasselbe\u201c erscheinen. Aber von diesen beiden M\u00f6glichkeiten ist ja hier keine Eede. Den vieldeutigen Ausdruck \u201eEinheit\u201c oder \u201eEinheitlichkeit\u201c d\u00fcrfen wir, wenn uns an klarer Einsicht liegt, speciell hier nicht gebrauchen. Und die qualitative Einerleiheit, die Uebereinstimmung oder Aehnlichkeit consonanter T\u00f6ne wird ja von Stumpe, wie schon gesagt, ausdr\u00fccklich ausgeschlossen.\nSondern die Frage lautet einzig: Habe ich, wenn zwei T\u00f6ne in der angegebenen Weise nach einander angeschlagen werden, das Bewufstsein, es seien mir zwei durchaus getrennte T\u00f6ne gegeben oder scheinen mir diese T\u00f6ne irgendwie in einander zu fliefsen? Habe ich ein, gleichg\u00fcltig ob mit dem \u201eEindruck\u201c der \u201eEinheitlichkeit\u201c verbundenes oder davon freies Bewufstsein einer klar geschiedenen Mehrheit von Geh\u00f6rseindr\u00fccken, oder habe ich das Bewufstsein einer Ann\u00e4herung an eine numerische Einheit von solchen?\nDarauf nun lautet meine Antwort : Ich habe in solchem Falle das vollkommen deutliche Bewufstsein einer Zweiheit. Und ich habe dies Bewufstsein in v\u00f6llig gleicher Weise, m\u00f6gen die T\u00f6ne consonant oder v\u00f6llig dissonant sein. Es ist mir in keinem Falle ann\u00e4hernd so, als h\u00e4tte ich nur einen einzigen Geh\u00f6rseindruck. Auch wenn die T\u00f6ne qualitativ \u201eDasselbe\u201c sind, h\u00f6re ich zwei, nur eben zwei gleiche T\u00f6ne. Niemals findet ein Analogon jenes Zusammenfliefsens statt, das ich bei Zusammenkl\u00e4ngen beobachte.\nDagegen kann nicht eingewendet werden, die Succession verwandle sich doch in unserer Auffassung in eine Gleichzeitigkeit. Gewifs halte ich, w\u00e4hrend ich den zweiten der aufeinanderfolgenden T\u00f6ne h\u00f6re, den ersten in der Vorstellung fest. Ich habe also Beides zumal : Das Wahrnehmungsbild des zweiten und das Vorstellungs- oder Erinnerungsbild des ersten Tones. Aber ich erinnere mich dabei, wie Stumpe selbst betont, des","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"12\nTheodor Lipps.\nersten Tones als eines vorangehenden. Ich erinnere mich seiner als eines zeitlich, und, unter der oben gemachten Voraussetzung, sogar als eines durch ein zeitliches Intervall vom zweiten geschiedenen. Ich erinnere mich also ganz gewifs des ersten Tones als eines numerisch vom zweiten vollkommen klar geschiedenen.\nStumpf sagt, die V or Stellung des ersten Tones verschmelze hier mit der Wahrnehmung des zweiten. Dies mag in gewissem Sinne so sein. D. h. der unbewufste Vorgang oder Act des Vorstellens, der dem Bilde jenes Tones zu Grunde liegt, mag mit der Empfindung des zweiten Tones, d. h. mit dem unbewufsten Vorgang oder Acte des Empfindens, der dem Bilde des zweiten Tones zu Grunde liegt, verschmelzen, obgleich ich davon nichts weifs. Aber die Frage lautet hier: Wie ist es mit den Inhalten meiner Vorstellung und Wahrnehmung, allgemeiner gesagt, mit den Inhalten meines Bewufstseins bestellt? Wovon habe ich ein Bewufstsein? Wie stellt sich der ganze Sachverhalt meinem Bewufstsein dar? Und da mufs ich f\u00fcr meinen Theil auf das Bestimmteste versichern: F\u00fcr mein Bewufstsein sind die beiden T\u00f6ne absolut geschieden, ich habe das klare Bewufstsein ihres Aufsereinander. Ich habe das Bewufstsein eines jetzt nicht mehr geh\u00f6rten, sondern nur noch vorgestellten Tones und gleichzeitig das Bewmfstsein eines davbn aufs Deutlichste getrennten jetzt eben geh\u00f6rten Tones. So gewifs ein Ton und seine Octave beim gleichzeitigen Erklingen f\u00fcr mein Bewufstsein ganz oder in gewissem Grade in einen einzigen Geh\u00f6rseindruck verschmelzen oder zusammenfliefsen k\u00f6nnen, so gewifs findet diese Thatsache bei der Succession dieser T\u00f6ne niemals statt. Es k\u00f6nnen also, wenn Consonanz mit that-s\u00e4chlich stattfindender Verschmelzung gleichgesetzt wird, aufeinanderfolgende T\u00f6ne niemals als consonant erscheinen, weder durchaus, noch in irgendwelchem Grade.\nStumpf giebt an einer Stelle zu verstehen, was den Sinn der \u201eVerschmelzung\u201c ausmache, k\u00f6nne man schliefslich mit Worten nicht eigentlich verst\u00e4ndlich machen. Wie die Verschmelzung sich ausnehme, m\u00fcsse man eben h\u00f6ren. In der That wird dies das letzte Mittel sein. Aber dies Mittel entscheidet zugleich am sichersten gegen die Identificirung von aetueller Verschmelzung und Consonanz. Ich h\u00f6re zw7ei T\u00f6ne gleichzeitig und finde in meiner Gesammtempfindung ein Verhalten derselben vor, das ich","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"Tonverwandtschaft und Tonverschmelzung.\n13\nmit Fug und Recht als Verschmelzung bezeichnen kann. Ich h\u00f6re dann die gleichen T\u00f6ne, nur dafs der eine schw\u00e4cher geworden ist, und finde ein anderes Verhalten, n\u00e4mlich ein st\u00e4rkeres Ineinanderfliefsen. Ich h\u00f6re zum dritten Male die gleichen T\u00f6ne, verwende aber auf ihre Auffassung geringere Aufmerksamkeit, und finde, wenn ich mich des Erlebten erinnere, wiederum dies zweite Verhalten. Ich h\u00f6re endlich die T\u00f6ne nacheinander und finde in meinem Gesammtempfinden von jenem Verhalten der T\u00f6ne zu einander, wie ich es beobachtete, als die T\u00f6ne gleichzeitig gegeben waren, schlechterdings gar nichts mehr. Ich weifs gar nicht einmal zu sagen, was \u00fcberhaupt es heifsen sollte, dafs jenes Zusammenfliefsen gleichzeitiger T\u00f6ne bei diesen f\u00fcr mein Bewufstsein zeitlich, ja durch ein zeitliches Intervall getrennten T\u00f6nen irgendwie wiederkehre. Die Zumuthung auch nur in meinen Gedanken jenes Zusammenfliefsen auf diese T\u00f6ne zu \u00fcbertragen, w\u00fcrde mir fast erscheinen, wie die Zumuthung die Rundheit des Kreises in meinen Gedanken auf das Quadrat zu \u00fcbertragen. Wie die Rundheit an den Kreis, so scheint mir jenes Zusammenfliefsen seiner Natur nach an die Gleichzeitigkeit der T\u00f6ne gebunden. \u2014 Die Consonanz der T\u00f6ne aber ist in allen diesen F\u00e4llen dieselbe.\nBetrachten wir jetzt die Sache noch von einer anderen Seite. Die Wohlgef\u00e4lligkeit der Consonanz will Stumpf nicht als ein entscheidendes Merkmal des Consonanzbegriffes angesehen wissen. Lassen wir also einstweilen diese \u201eWohlgef\u00e4lligkeit\u201c, und nehmen wir an, Consonanz und Verschmelzung treffen immer zusammen. Dann ist doch kein Zweifel, dafs f\u00fcr uns \u201eVerschmelzung\u201c als solche nicht gleichbedeutend ist mit \u201eConsonanz\u201c. M\u00f6chte auch der Begriff der Consonanz sprachlich urspr\u00fcnglich von der Verschmelzung, dem \u201eZusammenklingen\u201c in diesem Sinne, hergenommen sein, so verbindet sich damit f\u00fcr uns doch jederzeit noch ein anderes Merkmal, n\u00e4mlich das Merkmal eines bestimmten Gef\u00fchlseindruckes.\nWenn wir in der D\u00e4mmerung Farben nicht recht unterscheiden k\u00f6nnen, wenn beim Uebergang von einer Farbe zur anderen die \u201eVorstellung\u201c der einen mit der Wahrnehmung der anderen \u201everschmilzt\u201c, wenn bei schlechter Beleuchtung die Gliederung eines Geb\u00e4udes undeutlich wird, oder die Gegenst\u00e4nde unserer Umgebung zusammen oder ineinander \u201efliefsen\u201c, ist dies Consonanz? Nein. Und warum nicht? Weil uns hier\n/","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14\nTheodor Tipps.\nnicht so zu Muthe ist, wie uns bei der musikalischen Con-sonanz zu- Muthe zu sein pflegt.\nOder erzeugt umgekehrt deutliche Geschiedenheit von Eindr\u00fccken oder erzeugt die M\u00f6glichkeit Verschiedenes sicher als verschieden zu erkennen, den Eindruck der Dissonanz? Wiederum nicht. Das \u201eAufsereinander\u201c, die deutlich geschiedene Mehrheit ist da. Es fehlt nur die \u201eDissonanz\u201c.\nOder: Zwei Tasteindr\u00fccke, die nahe aneinander liegenden Hautstellen zugeh\u00f6ren, verschmelzen erst v\u00f6llig zu einem einzigen Eindruck. In der Folge erreiche ich es durch Uebung, dafs diese Eindr\u00fccke als gesonderte mir zum Bewufstsein kommen. Dazwischen liegen allerlei \u201eGrade der Verschmelzung\u201c. Warum reden wir hier nicht von Consonanz bezw. Dissonanz? Man antwortet vielleicht, weil Tasteindr\u00fccke nicht klingen. Aber so ist meine Frage nat\u00fcrlich nicht gemeint. Was ich wissen m\u00f6chte, ist, warum uns hier trotz der Verschmelzung nicht ein Analogon der musikalischen Consonanz und Dissonanz vorzuliegen scheint. Ich meine, dasselbe w\u00fcrde uns vorzuliegen scheinen, wenn wir das entsprechende Gef\u00fchl h\u00e4tten.\nOder endlich : ein schriller Klang klingt mir dissonant. Damit sind wir zum Gebiet der T\u00f6ne zur\u00fcckgekehrt. Indem ich den Klang dissonant nenne, will ich zun\u00e4chst nichts sagen als, dafs mir der Klang einen \u00e4hnlichen Eindruck macht wie die Dissonanz zweier T\u00f6ne. Er klingt mir dissonant, wegen der \u201edissonanten\u201c Theilt\u00f6ne. Und er thut dies, obgleich die dissonanten Theilt\u00f6ne verschmelzen. Dissonanz kann also bestehen bei v\u00f6lliger Verschmelzung. Und doch soll Verschmelzung mit Consonanz identisch sein.\nDoch hier erinnern wir uns wiederum : \u201eConsonanz\u201c ist nicht v\u00f6llige, sondern in einem bestimmten Grade stattfindende Verschmelzung. Aber es hindert mich ja nichts in unserem Falle die v\u00f6llige Verschmelzung aufzuheben. Ich verst\u00e4rke die Obert\u00f6ne, die jene Dissonanz verschulden. Ich verst\u00e4rke sie erheblich. Dann h\u00f6re ich sie vielleicht schliefslich deutlich heraus. Jetzt lasse ich sie allm\u00e4hlich wiederum schw\u00e4cher werden. Dann ergeben sich wachsende Grade der Verschmelzung. Ich kann die fraglichen Theilt\u00f6ne immer weniger von einander und von dem Klange \u201elosl\u00f6sen\u201c, sie \u201eheben sich\u201c immer weniger bestimmt von einander und von dem Klange \u201eab\u201c. Aber daraus ergiebt sich nicht etwa wachsende Consonanz, \u2014 wofern wir n\u00e4mlich","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"Tonverwandtschaft und Tonverschmelzung.\n15\nunter Consonanz das verstehen, was wir darunter zu verstehen pflegen.\nNoch ein Fall. Ich sitze im Eisenbahnwagen und mache mir das Vergn\u00fcgen aus dem Ger\u00e4usch desselben allerlei T\u00f6ne herauszuh\u00f6ren. Gelegentlich gelingt mir dies vortrefflich. Dann wiederum wollen sich die gesuchten T\u00f6ne nicht recht losl\u00f6sen. Sie bleiben in dem dissonanten Ger\u00e4usch mehr oder weniger stecken. Dieser h\u00f6here Grad der Verschmelzung macht mir doch nie den Eindruck der gr\u00f6fseren Consonanz.\nAlles dies best\u00e4tigt mir zun\u00e4chst das Recht der obigen Erkl\u00e4rung, Stumpf k\u00f6nne, wenn er die Grade der Consonanz mit Stufen der Verschmelzung identificire, unter diesen Stufen der Verschmelzung unm\u00f6glich die Grade der thats\u00e4chlich stattfindenden Verschmelzung verstehen.\nDann m\u00fcssen mit diesen Stufen der Verschmelzung oder den Graden der Consonanz gemeint sein die Grade der M\u00f6glichkeit der Verschmelzung, oder es mufs damit gemeint sein die Leichtigkeit des Verschmelzens. Es fragt sich dann, in welchem Sinne diese Termini gemeint sein k\u00f6nnen.\nDabei ist zu bedenken : M\u00f6glichkeit ist keine Thats\u00e4chlichkeit. \u201eM\u00f6glichkeit\u201c besagt, dafs etwas stattfinden kann, oder gegebenenfalls stattfindet. Das Thats\u00e4chliche an der M\u00f6glichkeit ist immer nur das, was die M\u00f6glichkeit begr\u00fcndet. Ebenso ist an der \u201eLeichtigkeit\u201c das Thats\u00e4chliche immer nur dasjenige, was die Leichtigkeit bedingt.\nWas ist nun in unserem Falle das der M\u00f6glichkeit oder Leichtigkeit zu Grunde liegende? Was ist das die Verschmelzung von T\u00f6nen Erm\u00f6glichende oder Erleichternde ? Darauf giebt es verschiedene Antworten. Eine kennen wir schon. Die Leichtigkeit der Verschmelzung nimmt ab mit dem Grade der Aufmerksamkeit. Mangel der Aufmerksamkeit ist ein die Verschmelzung erleichterndes Moment. Angenommen aber, die Consonanz w\u00e4re gleichbedeutend mit der durch den Mangel der Aufmerksamkeit gegebenen Leichtigkeit der Verschmelzung, so w\u00e4ren wiederum dieselben T\u00f6ne bald consonant, bald minder consonant. Dafs zwei T\u00f6ne ein f\u00fcr alle Mal einen bestimmten Grad der Consonanz besitzen, davon w\u00e4re keine Rede.\nNat\u00fcrlich ist dies nun nicht die Meinung der hier besprochenen Theorie. Die Leichtigkeit der Verschmelzung, die mit dem Grade der Consonanz identisch ist, das ist die Leichtig-","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16\nTheodor Lipps.\nkeit, die und sofern sie in den T\u00f6nen selbst gegr\u00fcndet ist. Die Consonanz oder die Verschmelzungsstufe ist die in den T\u00f6nen selbst liegende \u201eVers chm elz bar keit\u201c.\nDies nun kann nichts anderes heifsen, als sie ist die Beschaffenheit der T\u00f6ne, auf welcher es beruht, dafs die T\u00f6ne leichter als andere verschmelzen, dafs sie beispielsweise auch verschmelzen bei einem Grade der Aufmerksamkeit, bei dem andere T\u00f6ne nicht mehr verschmelzen. In der That ist dies die Interpretation der \u201eVerschmelzungsstufen\u201c, die sich unmittelbar ergiebt, wenn wir Zusehen, wie die verschiedenen \u201eVerschmelzungsstufen\u201c gewonnen worden sind. Es hat sich bei den Versuchen gezeigt, dafs es in der Natur gewisser T\u00f6ne liegt \u2014 nicht unter allen Umst\u00e4nden mehr zu verschmelzen, d. h. mehr verschmolzen zu sein als andere, sondern die Verschmelzung eher als andere zuzulassen oder zu erzwingen. Dafs sie diese Eigent\u00fcmlichkeit oder diese F\u00e4higkeit besitzen, dies wurde dann in dem Satze ausgedr\u00fcckt : Sie geh\u00f6ren einer h\u00f6heren \u201eVerschmelzungsstufe\u201c an.\nEinen Punkt in dem eben Gesagten mufs ich noch corrigiren. Ich sagte soeben, die \u201eBeschaffenheit\u201c der T\u00f6ne bedinge oder erleichtere die Verschmelzung. Dies ist mifsverst\u00e4ndlich. Die Beschaffenheit der einzelnen T\u00f6ne an sich kommt hier nicht in Frage. Es verh\u00e4lt sich ja nicht etwa so, dafs ein bestimmter Ton, weil er dieser bestimmte Ton ist, allgemein d. h. mit beliebigen anderen T\u00f6nen zu verschmelzen geneigt w\u00e4re. Sondern jeder Ton ist geneigt zur Verschmelzung mit bestimmten anderen T\u00f6nen. Ein Verh\u00e4ltnifs oder eine Beziehung von T\u00f6nen zu einander ist also das die Verschmelzung Bedingende oder Erleichternde. Und in diesem Verh\u00e4ltnifs oder dieser Beziehung besteht die Verschmelzungsstufe oder besteht das eigentliche Wesen der Consonanz.\nFasse ich nun Stumpu\u2019s Meinung so, \u2014 und ich mufs sie nach dem oben Gesagten so fassen \u2014 dann besteht hinsichtlich der Identification von Verschmelzungsstufe und Consonanz zwischen Stumpe und mir durchaus kein Streit mehr. Denn dafs dasjenige an oder in den T\u00f6nen, was die Verschmelzung bedingt oder erleichtert, oder genauer, dafs ein die Verschmelzung bedingendes oder erleichterndes Verh\u00e4ltnifs der T\u00f6ne die \u201eConsonanz\u201c sei, dies ist auch meine Meinung. Nur dafs ich diesen Grund der Verschmelzung oder dies die Geneigtheit zur","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"Tonverwandtschaft und Tonverschmelzung.\n17\nVerschmelzung Bedingende oder Involvirende in einer Weise bestimme, die' Stumpe unzul\u00e4ssig erscheint.\nAuch Stumpe bestimmt diesen Grund der Verschmelzung, aber nicht psychologisch, sondern physiologisch. Er thut es durch seinen Begriff der \u201eSynergie\u201c. Dieser Begriff ist ein ziemlich unbestimmter. Er ist auch lediglich ad hoc eingef\u00fchrt ; die Existenz dieser Synergie ist nicht etwa an sich wahrscheinlich. Endlich wissen wir nicht, wiefern eine solche Synergie die Verschmelzung bedingen soll. Noch weniger wissen wir, wie sie das Gef\u00fchl der Consonanz bedingen soll. Wir haben f\u00fcr Beides keine Analogie. Kurz die Erkl\u00e4rung der Verschmelzung und Consonanz aus der \u201eSynergie\u201c ist eine sehr fragliche Sache.\nDa stelle ich dann lieber folgende Frage. Diese Frage dr\u00e4ngt sich ja in jedem Falle auf. Das Verh\u00e4ltnifs der T\u00f6ne, in welchem die Consonanz besteht, bedingt die Verschmelzung. Was f\u00fcr Verh\u00e4ltnisse von psychischen Inhalten pflegen nun, soweit wir wissen, sonst die Verschmelzung zu bedingen? Darauf finde ich sofort die Antwort: Uebereinstimmendes verschmilzt. Ich finde z. B. eine Tendenz der Verschmelzung bei \u00fcbereinstimmenden Bildern beider Augen. Ich finde, dafs \u00e4hnliche Vorstellungen verschmelzen u. s. w. Ich schliefse : Also werden wir zun\u00e4chst annehmen m\u00fcssen, dafs auch bei T\u00f6nen eine Art der Ueberein-stimmung die Verschmelzung bedingt. Diese Uebereinstimmung ist dann die Consonanz.\nDazu kommen sogleich weitere Thatsachen. Es geschieht mir leicht, dafs ich Grundton und Octave verwechsele, oder identificire. Der eine Ton schiebt sich mir dem anderen unter. Ich meine, wenn ich den einen nach dem anderen h\u00f6re, ich h\u00f6re Dasselbe. Oder ich reproducire statt eines Tones seine h\u00f6here oder tiefere Octave. Auch dergleichen pflegt zu geschehen, bei dem, was in gewissem Grade \u00fcbereinstimmt, sich gleich oder \u00e4hnlich ist.\nHier ist wiederum eine Zwischenbemerkung erforderlich. Stumpe betont: \u201eAehnlichkeit ist wohl einer der Factoren, die daran Schuld sein k\u00f6nnen, wenn wir zwei Eindr\u00fccke nicht unterscheiden. Aber es giebt noch andere. Wenn z. B. zwei gleichzeitige Eindr\u00fccke sehr kurz dauern, werden sie nicht so leicht unterschieden, als wenn sie l\u00e4nger dauern ... Ja selbst ein momentanes Nachlassen der Aufmerksamkeit kann uns die n\u00e4mlichen zwei Empfindungen, die wir sonst leicht unterscheiden,\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XIX.\t2","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18\nTheodor Lipps.\nals eine erscheinen lassen\u201c. Auf die zweite der hier angef\u00fchrten Thatsachen wurde schon R\u00fccksicht genommen. Aber auch die erste sagt nichts gegen meine Behauptung. Die Verschmelzung, um die es sich hier handelt, ist ja unabh\u00e4ngig von der Dauer der T\u00f6ne. Wir reden hier von der Neigung zur Verschmelzung oder Verwechselung, die lediglich mit der relativen H\u00f6he der T\u00f6ne gegeben ist. Und hierf\u00fcr allerdings kommen keine der aufzeigbaren Bedingungen der Verschmelzung oder Verwechselung in Betracht aufser der Aehnlichkeit oder Uebereinstimmung.\nIch f\u00fcge weiter noch einen dritten Punkt hinzu. Wenn ich nach einem Tone seine Octave h\u00f6re, so halte ich jenen leichter neben diesem fest, als wenn die T\u00f6ne sich musikalisch v\u00f6llig fremd sind. Dies gilt auch von einfachen T\u00f6nen. Ich halte eine ganze Reihe von T\u00f6nen leichter fest, wenn die T\u00f6ne durch Verh\u00e4ltnisse der Consonanz an einander gebunden sind. Ich finde auch von einem Tone aus einen zu ihm consonanten leichter. Dies Alles nun pflegt der Fall zu sein, wenn psychische Inhalte durch Aehnlichkeit an einander gebunden sind. Ich verstehe also die bindende Kraft der Consonanz, wenn ich sie als bindende Kraft einer Art der Aehnlichkeit oder Uebereinstimmung betrachte. Sie bleibt mir anderenfalls unverst\u00e4ndlich.\nVor Allem wichtig aber ist mir die Thatsache, dafs es sich hier um \u201eConsonanz\u201c handelt. Ich kehre damit zur\u00fcck zur Frage: Was eigentlich ist Consonanz f\u00fcr unser unmittelbares Bewufstsein? Zweifellos ist Consonanz f\u00fcr dieses eine Zusammengeh\u00f6rigkeit, eine Einheitlichkeit. Eine Zusammengeh\u00f6rigkeit nun besteht, wie schon oben gesagt, f\u00fcr unser Bewufstsein auch zwischen der Gestalt eines Menschen und der Stimme desselben Menschen. Sie besteht auch, wenn die Gestalt fein und die Stimme grob ist.\nAber diese Zusammengeh\u00f6rigkeit ist keine Consonanz. Die Zusammengeh\u00f6rigkeit der feinen Gestalt und der groben Stimme ist eine thats\u00e4chliche aber keine nat\u00fcrliche, eine \u00e4ufserliche aber keine \u201einnere\u201c; beide geh\u00f6ren nicht \u201eihrer Natur nach\u201c zusammen. Kurz, sie \u201estimmen\u201c nicht zusammen. Und Consonanz ist eben doch ein Zusammenstimmen. Dagegen w\u00fcrden die feine Gestalt und die zarte Stimme zusammen zu stimmen scheinen. Wie nun hier, so wird auch bei der musikalischen Consonanz das \u201eZusammenstimmen\u201c auf \u201eUebereinstimmung\u201c beruhen.","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"Tonverivandtschaft und Tonverschmelzung.\n19\nDoch gehen wir wiederum nicht zu rasch vorw\u00e4rts. Die feine Gestalt und die derbe Stimme, so sagte ich, geh\u00f6ren f\u00fcr unser Be-wufstsein nicht \u201einnerlich\u201c oder \u201eihrer Natur nach\u201c zusammen. Hierin liegt zugleich etwas Anderes: Das Zusammensein beider erscheint uns als etwas, das nicht sein sollte, es st\u00f6rt uns; beide, sagen wir, passen nicht zusammen, ihr Zusammensein \u201ewiderstrebt\u201c uns, es giebt uns mit einem Wort ein Gef\u00fchl der Unbefriedigung. Dagegen ist die Consonanz eine Zusammengeh\u00f6rigkeit in dem Sinne, dafs das Zusammensein uns \u201ein der Ordnung\u201c oder als etwas sein Sollendes erscheint. Das Consonirende \u201epafst\u201c zusammen; kurz sein Zusammensein befriedigt.\nNun frage ich, worauf pflegt sonst das Bewufstsein der Befriedigung an einem Zusammen von Elementen zu beruhen, soweit n\u00e4mlich wir dar\u00fcber Rechenschaft geben k\u00f6nnen? Darauf laut\u00f6t die Antwort wiederum: Auf der Uebereinstimmung der Elemente. Also werden consonante T\u00f6ne irgendwie \u00fcbereinstimmende T\u00f6ne sein.\nHier aber ist ein erster Angriffspunkt f\u00fcr Stumpf\u2019s Kritik. Consonanz ist, so sage ich, ihrer Natur nach begleitet von einem Gef\u00fchl der Befriedigung. Consonanz ist ein Verh\u00e4ltnifs zwischen T\u00f6nen, in dessen Natur es liegt, Befriedigung zu erzeugen. Jede Theorie der Consonanz mufs also zugleich diese Befriedigung erkl\u00e4ren. Darauf wird erwidert: W\u00e4re es so, w\u00e4re Consonanz als solche ein Grund der Befriedigung, so m\u00fcfste vollkommenste Consonanz gr\u00f6fste Befriedigung gew\u00e4hren. Dies ist aber nicht der Fall. Grundton und Octave bilden die vollkommenste Consonanz und diese Consonanz ist wenig befriedigend. Sie ist leer, langweilig.\nLetzteres wird wohl zutreffen. Aber folgt daraus wirklich, was man daraus erschliefst ? Ich sehe hier eine Regel aufgestellt, deren Recht mir nicht einleuchtet: Wenn irgend etwas seiner Natur nach Grund der Befriedigung ist, so soll die Befriedigung nothwendig um so gr\u00f6fser sein, je reiner dieser Grund der Befriedigung gegeben ist. Nun mag wohl, wenn irgend ein Grund der Befriedigung reiner gegeben ist, die Befriedigung eine reinere sein. Aber warum eine h\u00f6here? K\u00f6nnte nicht der menschliche Geist so merkw\u00fcrdig eingerichtet sein, dafs dann, wenn Bedingungen der Lust rein gegeben sind, die Lust nothwendig leer, mit einem Charakter der \u201eLangeweile\u201c behaftet, \u201eun-\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\nTheodor Tipps.\ninteressant\u201c, ohne Gr\u00f6fse, ohne H\u00f6he oder Tiefe, ohne Nachhaltigkeit bliebe; und dafs umgekehrt h\u00f6heres \u201eInteresse\u201c am Gegenstand der Lust, Gr\u00f6fse, H\u00f6he oder Tiefe der Lust erst entst\u00e4nde, wenn mit den Bedingungen der Lust in gewissem Maafse und in bestimmter Weise Bedingungen der Unlust verbunden sind?\nIn der That besteht diese merkw\u00fcrdige Einrichtung des menschlichen Geistes. Und es scheint mir Zeit, dafs dieselbe zum Gegenstand eingehender Untersuchung gemacht w\u00fcrde. Einige Andeutungen dar\u00fcber habe ich in meinem Buche \u201eKomik und Humor\u201c gemacht. Hier kann ich nicht dabei verweilen.\nAber es gen\u00fcgt vielleicht die Erinnerung an einige That-sachen, die Jedermann kennt. F\u00fcr mich ist die Consonanz eine Art der Uebereinstimmung, und diese Uebereinstimmung ist die Bedingung der Lust. Nun achten wir einmal auf andere F\u00e4lle, in denen Uebereinstimmung zweifellos besteht und befriedigt. Denken wir etwa an den regelm\u00e4fsigen musikalischen Rhythmus. Die Regelm\u00e4fsigkeit erfreut, die Regellosigkeit w\u00e4re mifsf\u00e4llig. Aber einfache ununterbrochene Regelm\u00e4fsigkeit ist leer, langweilig. Sie ist ohne Salz. Wir fordern Unterbrechungen; St\u00f6rungen, die doch nicht zerst\u00f6ren. Wir fordern Durchbrechungen der Regel, die doch die Regel nicht aufheben.\nDann wird es sich mit der \u201eConsonanz\u201c ebenso verhalten. Nicht reine Consonanz, sondern Consonanz mit einem Quantum des Gegentheils roufs auch hier dasjenige sein, was die reichere und eindrucksvollere Befriedigung giebt. Wir d\u00fcrfen sagen : Ist es wahr, dafs Consonanz Uebereinstimmung, und dafs diese Uebereinstimmung Grund der Befriedigung ist, dann mufs es mit den Graden der Befriedigung, welche die Consonanzen gew\u00e4hren, ungef\u00e4hr so sich verhalten, wie es sich thats\u00e4chlich verh\u00e4lt. Dagegen sehe ich nicht, wie sonst man diese Grade der Befriedigung erkl\u00e4ren will.\nIch erinnere auch noch an einen anderen, ferner liegenden Fall. Ich meine die Bedeutung der St\u00f6rung, des Conflictes, des Leidens, des B\u00f6sen f\u00fcr den poetischen Genufs. Das Leiden der tragischen Pers\u00f6nlichkeit ist f\u00fcr uns an sich nicht erfreulich, sondern schmerzlich. Auch hier also ist den Gr\u00fcnden der Befriedigung ein Grund der Unlust beigemischt. Daraus ergiebt sich aber nicht eine Minderung des Genusses, sondern zun\u00e4chst eine Aenderung seines Charakters und damit zugleich eine","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"Tonverwandtschaft und Tonverschmelzung.\t21\nSteigerung seiner Eindringlichkeit, seiners \u201eInteresses\u201c, seiner Tiefe.\nNoch zwei andere Einw\u00e4nde macht Stumpf gegen die Meinung, dafs Consonanz Annehmlichkeit sei. \u201eNichts ist variabler als der Gef\u00fchlseindruck. Es kann eine Consonanz ab-stofsend und eine Dissonanz s\u00fcfs und entz\u00fcckend sein je nach dem Zusammenhang.\u201c Ich mufs gestehen, dafs ich einiger-maafsen verwundert war, als ich diese Bemerkung las. Gewifs ist es so, wie Stumpf sagt. Aber wenn ich erkl\u00e4re, die Consonanz zweier T\u00f6ne sei angenehm, so meine ich nat\u00fcrlich eben diese Consonanz, d. h. ich meine das Consonanzverh\u00e4ltnifs dieser zwei T\u00f6ne. Ich denke nicht an T\u00f6ne, die in einem Zusammenh\u00e4nge stehen. Stehen T\u00f6ne in einem Zusammenhang, so sind sie eben nicht mehr blos diese zwei T\u00f6ne, sondern Elemente des Zusammenhanges. Die Frage lautet also dann nicht mehr: Welche Consonanz besteht zwischen diesen beiden T\u00f6nen? sondern: .In welchen Verh\u00e4ltnissen der Consonanz und Dissonanz stehen die T\u00f6ne innerhalb dieses Zusammenhanges, oder : In welches Gewebe von Consonanzen und Dissonanzen f\u00fcgen sich die T\u00f6ne innerhalb dieses Zusammenhanges ein, und wie f\u00fcgen sie sich in dasselbe ein?\nDiese Frage ist aber unter Umst\u00e4nden keine so leicht zu beantwortende. So einfach die Frage sein mag nach der Consonanz zweier T\u00f6ne, so wenig einfach ist die Frage nach der Consonanz oder Dissonanz zwischen einem Tone und einem mehr oder weniger umfassenden Ganzen aus T\u00f6nen, etwa einer Melodie. Sie ist vor Allem auch darum so wenig einfach, weil die Consonanz bezw. Dissonanz zwischen einem Tone und einem solchen Ganzen nicht etwa einfach als Consonanz oder Dissonanz zwischen diesem Tone und den sonstigen einzelnen T\u00f6nen des Ganzen gefafst werden darf, sondern zugleich als Consonanz oder Dissonanz zwischen ihm und den Verbindungen von einzelnen T\u00f6nen genommen werden mufs. Sind die einfachen Consonanzen und Dissonanzen festgestellt und ihre Wirkungen erkl\u00e4rt, so ist also die Aufgabe, die Wirkung der Consonanz und Dissonanz \u00fcberhaupt verst\u00e4ndlich zu machen, nicht etwa gel\u00f6st, sondern man kann nun versuchen, an sie heranzutreten. Schon das psychologische Verst\u00e4ndnifs eines Accordes aus drei T\u00f6nen oder einer einfachsten Melodie, und der Wirkung, welche ein einzelner Ton in dem Zusammenh\u00e4nge eines solchen wenig","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\nTheodor Lipps.\numfassenden Ganzen \u00fcbt, ist eine neue und eigenartige Aufgabe. \u2014 Doch das sind Dinge, \u00fcber die ich Stumpf sicher nicht zu belehren brauche.\n\u201eHierzu kommt\u201c, so wendet Stumpf weiter ein, \u201edafs die isolirten Intervalle ihren Gef\u00fchlswerth seit dem Alterthum wesentlich ver\u00e4ndert haben. Bei den Alten finden wir die Octave als angenehmste und sch\u00f6nste Consonanz bezeichnet. Im Mittel-alter wurden eine Zeitlang die Quinte als sch\u00f6nster Zusammenklang gepriesen. Gegenw\u00e4rtig werden wir geneigt sein die Terz als das s\u00fcfseste, wohllautendste Intervall zu bezeichnen.\u201c\nAuch hierbei scheint mir ein Moment \u00fcbersehen. Meine Bewerthung eines Wahrgenommenen, mein Vorziehen Eines vor einem Anderen, ist jederzeit nicht blos davon abh\u00e4ngig, welche Befriedigung das Wahrgenommene seiner Natur oder Beschaffenheit nach auf mich auszu\u00fcben vermag, sondern auch davon, welche Art der Befriedigung ich, meiner besonderen Natur, Stimmung, Disposition, meiner Erziehung und Charakterrichtung, schliefslich meiner ganzen Lebensauffassung zu Folge, vor anderen suche. Der in einfacherer Cultur Lebende, einfacher, urspr\u00fcnglicher Empfindende wird an dem Einfacheren, Klareren, leichter Auf-fafsbaren und geistig zu Bew\u00e4ltigenden, sonach unmittelbarer Befriedigenden zun\u00e4chst seine Freude haben. Der weniger Einfache, der in einer complicirteren Welt Lebende, darum compli-cirter Empfindende, der am Einfachen Uebers\u00e4ttigte, kurz der modernere Mensch, gar der v\u00f6llig Moderne, der Mensch \u201efin de siede\u201c, oder der \u201eDekadent\u201c wird complicirtere Erregungen, neue, \u201eintimere\u201c Reize suchen, schliefslich im Krankhaften f\u00fcr seine krankhafte Stimmung Nahrung suchen. Jenem ist dann das einfach Klare, diesem das in dieser oder jener Weise com-plicirt Stimmungsvolle sympathisch oder \u201es\u00fcfs\u201c.\nSolche Thatsachen k\u00f6nnen aber nat\u00fcrlich das Recht, den Unterschied der Consonanz und Dissonanz als einen Unterschied der F\u00e4higkeit zur Erzeugung bestimmter Gef\u00fchlswirkungen zu charakterisiren, nicht auf heben. Sie weisen nur auf die auch abgesehen davon einleuchtende Wahrheit hin, dafs es hier wie sonst mit dem Gegensatz der Wohlgef\u00e4lligkeit und Mifsf\u00e4lligkeit oder dem Gegensatz von \u201eAngenehm\u201c und \u201eUnangenehm\u201c nicht gethan ist, sondern aufserdem jener soeben hervorgehobene Unterschied im Charakter des Angenehmen und Unangenehmen besteht. Beachten wir diesen Unterschied und beachten","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"Tonverwandtschaft und Tonverschmelzung.\n23\nwir zugleich den Unterschied der besonderen \u201eResonanz\u201c, die das in dieser oder jener Art Angenehme in Menschen je nach ihrem besonderen Wesen finden kann und finden mufs, so erkl\u00e4ren sich die fraglichen Thatsachen nicht nur, sondern sie dienen eben jener Theorie, die in der M\u00f6glichkeit einer bestimmten Gef\u00fchlswirkung den urspr\u00fcnglichsten Sinn der \u201eCon-sonanz\u201c und \u201eDissonanz\u201c findet, zur deutlichen Best\u00e4tigung.\nStumpf legt Gewicht darauf, dafs trotz jener Verschiebung der relativen Bewerthung der Consonanzen doch zu jeder Zeit die Octave als die vollkommenste, die Quinte als zweitvollkommenste, die Terz als unvollkommene Consonanz bezeichnet worden ist. Aber dies beweist lediglich, dafs die Menschen, mochten sie nun das einfacher, klarer, unmittelbarer Befriedigende oder das weniger einfach Befriedigende, das Stimmungsvollere, \u201eInteressantere\u201c, bevorzugen, doch Beides zu unterscheiden wufsten, und dafs sie als vollkommener \u201econsonant\u201c Jenes, als minder vollkommen consonant Dieses hezeichneten, dafs sie mit einem Worte von der Thatsache des verschiedenen Charakters der Befriedigung ein Bewufstsein hatten, und dafs das Pr\u00e4dicat der \u201eVollkommenheit\u201c der Consonanz eben auf diesen Charakter, nicht auf ihr Vorziehen oder ihre Bewerthung sich bezog. \u2014 Ich meine damit diese Bedenken Stumpf s beseitigt zu haben.\nNun aber zur Hauptfrage : Besteht thats\u00e4chlich zwischen consonanten T\u00f6nen eine dem Grade ihrer Consonanz entsprechende Aehnlichkeit ? Sind ein Grundton und seine Octave einander \u00e4hnlicher als derselbe Grundton und seine Septime oder gar seine Secunde? Kann eine solche Aehnlichkeit wenigstens angenommen werden? Mit Recht bezeichnet Stumpf diese Frage als die entscheidende.\nMan sieht aber leicht den genaueren Sinn der eben gestellten Frage. Verstehen wir unter \u201eT\u00f6nen\u201c die Bewufstseins-inhalte, die wir zun\u00e4chst als T\u00f6ne zu bezeichnen pflegen, so mufs jene Frage, also die Frage, ob T\u00f6ne, die sich wie Grundton und Octave verhalten, eine \u201especifische\u201c, d. h. ihrem zweifellos bestehenden Consonanzverh\u00e4ltnifs entsprechende Aehnlichkeit besitzen, selbstverst\u00e4ndlich verneint werden. Der Sinn unserer Frage mufs also ein anderer sein. Die Frage kann sich nicht beziehen auf Bewufstseinsinhalte, sondern sie mufs sich beziehen auf psychische \u201eVorg\u00e4nge\u201c, n\u00e4mlich die Vorg\u00e4nge, die den Be-","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nTheodor Tipps.\nwufstseinsinhalten zu Grunde liegen. Die Frage w\u00fcrde also genauer lauten: Besitzen die Tonempfind ungs Vorg\u00e4nge eines Grundtones und seiner Octave, d. h. die Vorg\u00e4nge, denen diese Empfindungsinhalte ihr Dasein verdanken, eine specifische Aehnlichkeit, obgleich an diesen Empfindungsinhalten selbst eine solche von uns nicht angetroffen wird ? Oder allgemeiner : Giebt es in Empfindungsvorg\u00e4ngen Aehnlichkeiten, denen keine Aehnlichkeit in den zugeh\u00f6rigen Bewufstseinsinhalten entspricht ?\nSchon indem ich diese Frage ausspreche, stofse ich auf Widerspruch. Aber ich wage die Behauptung : Das Schicksal der Psychologie wird sehr wesentlich davon abh\u00e4ngen, dafs dieser Widerspruch \u00fcberwunden wird.\nWie ich dies meine, dar\u00fcber habe ich wiederum in meinem Buche \u00fcber \u201eKomik und Humor\u201c Einiges angedeutet. Einiges Weitere sage ich in der Arbeit \u00fcber \u201eSuggestion und Hypnose\u201c, die in diesem Jahre in den Sitzungsberichten der M\u00fcnchener Akademie erschienen ist. Ich darf aufserdem verweisen auf einen Aufsatz Deffner\u2019s in dieser Zeitschrift XVIII, S. 235 ff. Hier mufs eine kurze Bemerkung gen\u00fcgen.\nWenn der Psychologe von Empfindungen spricht, so meint er damit, wenn auch vielleicht ohne es zu wissen, bald die Empfindungsinhalte, bald die Vorg\u00e4nge, denen diese ihr Dasein verdanken. Das Wort Empfindung schliefst eben Beides in sich.\nIn der That nun m\u00fcssen wir Beides wohl unterscheiden Man sagt wohl, die Psychologie habe es mit Bewufstseinsinhalten also auch mit Empfindungsinhalten \u201ezu thun\u201c. Dies ist richtig, sofern die Psychologie, wie jede Wissenschaft \u00fcberhaupt, von Bewufstseinsinhalten ausgeht. Aber so wenig wie irgend eine Wissenschaft \u2014 aufser der Mathematik, deren einzigartige Stellung eben hierin besteht, \u2014 so wenig bleibt die Psychologie dabei stehen. Sondern f\u00fcr sie, wie f\u00fcr jede Wissenschaft aufser der Mathematik, also f\u00fcr jede Wissenschaft vom Wirklichen, sind die Bewufstseinsinhalte Zeichen. Sie sind f\u00fcr die Psychologie Zeichen der zu Grunde liegenden psychischen \u2014 f\u00fcr den Physiologen vielleicht physiologischen \u2014 Vorg\u00e4nge. Diese Vorg\u00e4nge sind das allein psychisch Wirksame ; sie allein bilden den psychischen Causalzusammenhang.\nDiese psychischen Vorg\u00e4nge \u2014 ich habe soeben zugestanden, dafs sie f\u00fcr die physiologische Erkenntnifs mit bestimmten physiologischen Vorg\u00e4ngen zusammenfallen m\u00f6gen \u2014 zielen","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"Tonverwandtschaft und TonverSchmelzung.\n25\nihrer Natur nach auf die \u201eErzeugung\u201c, oder wenn man dies Wort scheut, auf das Dasein entsprechender Bewufstseinsinhalte \u2014 Empfindungs- oder Vorstellungsinhalte \u2014 ab. Ob sie dies Ziel erreichen, h\u00e4ngt von der Gunst der Umst\u00e4nde ab. Erreichen sie es nicht, so besteht von der \u201eEmpfindung\u201c oder \u201eVorstellung\u201c nichts, als der unbewuiste Vorgang. Aber auch, wenn sie jenes Ziel erreichen, wenn also den \u201eVorg\u00e4ngen\u201c ein Bewufst-seinsinhalt entspricht, oder ein Bewufstseinsph\u00e4nomen \u2014 ein \u201epsychisches\u201c Ph\u00e4nomen im engeren Sinne \u2014 \u201eparallel\u201c l\u00e4uft, sind diese Vorg\u00e4nge an sich unbewufst, also jedesmal nur aus dem, was im Bewufstsein angetroffen wird, zu erschliefsen.\nSind, wie ich sage, die an sich unbewufsten psychischen Vorg\u00e4ngen das allein psychisch Wirksame, so besitzen auch Beziehungen der Aehnlichkeit oder Uebereinstimmung psychische Wirkungsf\u00e4higkeit, nur sofern sie zwischen diesen \u201eVorg\u00e4ngen\u201c bestehen.\nDabei ist aber dies zu bedenken : Da die Bewufstseinsinhalte den psychischen Vorg\u00e4ngen ihr Dasein verdanken, so kann es keine Eigenth\u00fcmlichkeit von Bewufstseinsinhalten geben, denen nicht eine Eigenth\u00fcmlichkeit der psychischen Vorg\u00e4nge entspr\u00e4che. Dagegen gilt nicht das Umgekehrte. Sondern psychische Vorg\u00e4nge k\u00f6nnen recht wohl Eigent\u00fcmlichkeiten besitzen, die in den zugeh\u00f6rigen Bewufstseinsinhalten kein Correlat haben. In der That nimmt die Psychologie, wenn auch vielfach ohne es ausdr\u00fccklich zuzugestehen, allerlei solche im Bewufstsein nicht vertretene Eigent\u00fcmlichkeiten der psychischen Vorg\u00e4nge an. Und die Thatsachen geben ihr dazu alles Recht.\nK\u00f6nnen nun psychische Vorg\u00e4nge Eigent\u00fcmlichkeiten haben, die in den zugeh\u00f6rigen Bewufstseinsinhalten kein Correlat haben, dann k\u00f6nnen auch Aehnlichkeiten zwischen psychischen Vorg\u00e4ngen bestehen und psychisch wirken, denen keine Aehnlichkeiten zwischen den zuh\u00f6rigen Bewufstseinsinhalten entsprechen. Solche Aehnlichkeiten lassen sich mehrfach aufzeigen. Zu ihnen geh\u00f6rt aber vor Allem die Aehnlichkeit oder Uebereinstimmung, in welcher das Wesen der Consonanz besteht.\nNur ein einziges anderes Beispiel einer solchen Aehnlichkeit will ich hier anf\u00fchren. Ich meine die Aehnlichkeit eines tiefen Tones und einer tiefen Farbe, genauer: die Aehnlichkeit, die wir damit bezeichnen, dafs wir einen am Anfang der Skala liegenden Ton, und gewisse Farben, etwa ein bestimmtes Blau,","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nTheodor Lipps.\ndurch das gleiche Beiwort \u201etief\u201c charakterisiren. Man wird sagen, die \u201eAehnlichkeit\u201c bestehe hier in einer Aehnlichkeit des Gef\u00fchls, oder der Art, wie uns der tiefe Ton und die tiefe Farbe an-muthet. Eine solche Aehnlichkeit besteht gewifs. Aber das fragliche Gef\u00fchl, oder die fragliche Art wie wir uns angemuthet f\u00fchlen, mufs ihren Grund haben. Und wir f\u00fchren, wie sonst, so auch hier, naturgem\u00e4fs Gleiches auf Gleiches zur\u00fcck. Der tiefe Ton vermag uns \u00e4hnlich anzumuthen, wie die tiefe Farbe, weil in beiden etwas Gemeinsames liegt, das diese gleichartige Wirkung hervorzubringen vermag. Dies Gemeinsame findet sich nun aber nicht in den Bewufstseinsinhalten, \u201etiefer Ton\u201c und \u201etiefe Farbe\u201c genannt. Diese sind v\u00f6llig disparat. Sondern dasselbe mufs bestehen in einer gleichartigen oder verwandten Weise, wie wir erregt sind, oder wie die psychische \u201eBewegung\u201c verl\u00e4uft, wenn wir jene Bewufstseinsinhalte haben, kurz in einer im Uebrigen nicht n\u00e4her definirbaren gemeinsamen Charakteristik der an sich unbewufsten psychischen Vorg\u00e4nge, denen die Bewufstseinsinhalte \u201eparallel\u201c laufen, oder entsprechen. Diese gemeinsame Charakteristik macht dann auch zugleich die That-sache verst\u00e4ndlich, dafs der tiefe Ton und die tiefe Farbe aneinander leicht zu erinnern verm\u00f6gen, und ebenso die That-sache, dafs beide zwar in keinem Grade \u201everschmelzen\u201c, aber umso sicherer, analog wie consonante T\u00f6ne, consoniren oder zusammenstimmen, und das Gef\u00fchl des Zusammen-stimmens ergeben.\nWegen anderer Beispiele, desselben Sachverhaltes verweise ich auf die schon vorhin erw\u00e4hnte Arbeit von Deffnee in dieser Zeitschrift XVIII, S. 235 ff.\nJetzt bleibt noch eine letzte Hauptfrage: Ist die Annahme, dafs consonanten T\u00f6nen, ich meine den ihrem bewufsten Dasein zu Grunde liegenden Empfindungsvorg\u00e4ngen, eine specifisehe Art der Uebereinstimmung anhaftet, nicht nur zur Erkl\u00e4rung der Wirkung der Consonanz erforderlich, sondern auch an sich zul\u00e4ssig? Diese Frage habe ich in meinen \u201ePsychologischen Studien\u201c und dem Aufsatz \u00fcber den Begriff der Tonverschmelzung, in den Philos. Monatsheften XXVIII, 547 ff., eingehend er\u00f6rtert und bejaht. Ich versuche aber auch diese Bejahung hier kurz zu rechtfertigen.\nNat\u00fcrlich sind die Schwingungsverh\u00e4ltnisse der T\u00f6ne der Punkt, von dem wir dabei ausgehen m\u00fcssen. Ein Ton ergebe","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"Tonverivandtschaft und Ton verschmelzung.\n27\nsich aus 100, dann ergiebt sich seine Octave aus 200 Schwingungen in der Secunde. Zwischen diesen beiden Schwingungsfolgen besteht eine vollkommen klare Art der Uebereinstimmung. Jedes Element der einen Folge deckt sieh hinsichtlich seiner Zeitdauer mit einer Einheit von zwei Elementen der zweiten Folge.\nBesteht nun diese Uebereinstimmung zwischen den Schwingungsfolgen, so ist es nicht eine unberechtigte, sondern eine sehr nat\u00fcrliche Vermuthung, dafs dieser Uebereinstimmung eine Uebereinstimmung in den zugeh\u00f6rigen \u201epsychischen Vorg\u00e4ngen\u201c, also in unserem Falle in den Vorg\u00e4ngen, die der bewufsten Empfindung eines Tones und seiner Octave zu Grunde liegen, entspricht. Diese Uebereinstimmung bezeichne ich als \u201eTonverwandtschaft\u201c. Und in dieser Tonverwandtschaft sehe ich das Wesen der Consonanz. Man sieht leicht, wiefern diese Tonverwandtschaft mit der Einfachheit der SchwingungsVerh\u00e4ltnisse wachsen mufs.\nIndem ich eine solche Tonverwandtschaft statuire, habe ich nun weiterhin die Wahl zwischen zwei M\u00f6glichkeitem Ich kann mich begn\u00fcgen, die Tonverwandtschaft einfach zu statuiren und jede Antwort auf die Frage, wie sie aussehe, welcher Art also jene Uebereinstimmung der psychischen Vorg\u00e4nge sei, zu verweigern. Oder aber ich versuche diese Frage zu beantworten, versuche also die Theorie der \u201eTonverwandtschaft\u201c weiter auszudeuten. Thue ich jenes, so leistet meine Theorie, soviel ich sehe, vollst\u00e4ndig, was die sonstigen Theorien der Consonanz, vor Allem die SruMPr\u2019sche, irgend zu leisten meinen k\u00f6nnen, d. h. sie l\u00e4fst die Consonanz und die Grade der Consonanz aus einer an sich plausiblen Voraussetzung nach sonst wohl bekannter psychologischer Gesetzm\u00e4fsigkeit sich ergeben. Es bleiben dann freilich allerlei speciellere Fragen unbeantwortet. Aber auf diese giebt ja auch keine sonstige Theorie eine Antwort.\nThue ich dagegen das andere, d. h. versuche ich eine n\u00e4here Bestimmung der Natur der Tonverwandtschaft und gelingt es mir, auf Grund davon jene specielleren Fragen in annehmbarer Weise zu beantworten, so leistet die Theorie der Tonverwandtschaft mehr, als die sonstigen Theorieen, falls sie an sich m\u00f6glich w\u00e4ren, zu leisten beanspruchen k\u00f6nnten.\nWas ich hier sage, bitte ich wohl zu beachten. Ich betone ausdr\u00fccklich, dafs das Princip der \u201eTonverwandtschaft\u201c in","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"/\n28\tTheodor Lipps.\ndem oben bezeichneten Sinne dieses Wortes seinen Wert und sein Recht behauptet, auch wenn jeder Versuch der genaueren Ausdeutung desselben mifslingen sollte. Es w\u00e4re ja recht wohl m\u00f6glich, dafs eine der Uebereinstimmung der Schwingungsfolgen entsprechende Uebereinstimmung der an sich unbewufsten Vorg\u00e4nge der Tonempfindung stattf\u00e4nde, uns aber jedes Mittel fehlte, sie \u2014 selbstverst\u00e4ndlich nur hypothetisch \u2014 n\u00e4her zu bezeichnen. Man darf also auch nicht meinen, es k\u00f6nne durch die Kritik eines Versuches der n\u00e4heren Ausdeutung meines Er-kl\u00e4rungsprincips ohne Weiteres das Recht dieses Princips \u00fcberhaupt ersch\u00fcttert werden, sondern es mufs auch die Kritik zwischen dem allgemeinen Princip und seiner specielleren Ausdeutung wohl unterscheiden.\nIch hahe nun diese speciellere Ausdeutung thats\u00e4chlich versucht. Und ich gehe auch darauf hier noch kurz ein. Die Seele, sagt man, weifs von der rhythmischen Uebereinstimmung der physikalischen Schwingungsfolgen nichts. Zweifellos. Aber ob die Seele davon etwas weifs, thut nach dem oben Gesagten nichts zur Sache. Die Frage ist einzig, ob sie etwas Dergleichen, sei es auch noch so unbewufst, erfahren oder erleben kann.\nDies kann sie nun zweifellos. Freilich scheint man die Grundvoraussetzung hierf\u00fcr zu bezweifeln: Der Rhythmus der Folge von physikalischen Schwingungen kehre im Nerven und dem Centralorgan nicht wieder. Aber dafs er da in keiner Weise wiederkehre, kann man unm\u00f6glich meinen. In den physiologischen Organen geschieht doch etwas, wenn die physikalischen Schwingungen auf sie wirken. Jedes physische Geschehen aber ist, falls es nicht in einer gleichm\u00e4fsigen r\u00e4umlichen Fortbewegung besteht, nothwendig ein Wechsel von Zust\u00e4nden, und es ist, falls es ein gleichartiges Geschehen ist, ein gleichartiger, also regel-m\u00e4fsiger Wechsel von Zust\u00e4nden, es hat seinen regelm\u00e4fsigen \u201eRhythmus\u201c.\nOder soll man sich das, was die physikalischen Schwingungen in den physiologischen Organen hervorrufen, als einen unver\u00e4ndert dauernden Zustand denken? Dies ist unm\u00f6glich. Gesetzt dieser Zustand sei hervorgerufen nach dem Ablauf der ersten, oder der beiden, oder der drei ersten Schwingungen oder Tonwellen. Bleibt dann dieser Zustand unver\u00e4ndert bis zur folgenden Welle? Was leisten dann die folgenden Wellen? Sie k\u00f6nnten offenbar nur diesen Zustand steigern. Und die","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"Tonverivandtschaft und Tonverschmelzung.\n29\npsychische Wirkung dieser Steigerung k\u00f6nnte nur eine successive Steigerung der Tonempfindung sein. Da diese nicht stattfindet, so bleibt nur \u00fcbrig, dafs der von der ersten oder den ersten Wellen erzeugte physiologische Zustand abnimmt oder sonst eine Ver\u00e4nderung erf\u00e4hrt, und die folgenden ihn wiederherstellen. Und dann haben wir wiederum das \u201eGeschehen\u201c und den \u201eRhythmus\u201c des Geschehens.\nNun \u00fcbertr\u00e4gt sich freilich der Rhythmus der physikalischen Schwingungen in den physiologischen Organen in eine andere Sprache. Er \u00fcbersetzt sich gar innerhalb der \u201epsychischen Vorg\u00e4nge\u201c, die den Tonempfindungen unmittelbar zu Grunde liegen, in eine, jedenfalls dem Psychologen v\u00f6llig unbekannte Sprache. Und der fragliche Rhythmus k\u00f6nnte in dieser Sprache ein recht ver\u00e4ndertes Ansehen gewinnen. Aber die M\u00f6glichkeit besteht, und es ist die einfachste Annahme, die wir machen k\u00f6nnen, dafs der Rhythmus dieser psychischen Vor-g\u00e4nge dem Rhythmus der physikalischen Schwingungen analog bleibt, so weit zum mindesten, dafs das Verh\u00e4ltnifs der psychischen Rhythmen mit dem Verh\u00e4ltnifs der physikalischen Rhythmen in Vergleich gestellt werden kann. Dies heifst: Wir k\u00f6nnen annehmen, dafs nicht nur der psychische Vorgang, der einer bestimmten Tonempfindung zu Grunde liegt, in analoger Weise, wie der physikalische Vorgang, in unterschiedene und regelm\u00e4fsig sich folgende Phasen oder Theilvorg\u00e4nge sich zerlegt oder solche in sich enth\u00e4lt, sondern dafs auch zwei Folgen solcher psychischen Phasen oder Theilvorg\u00e4nge hinsichtlich ihres Rhythmus in analoger Weise sich zu einander verhalten oder sich in einander einordnen, wie die entsprechenden Folgen physikalischer Theilvorg\u00e4nge, d. h. physikalischer Wellen.\nMachen wir also diese Annahme. Was ergiebt sich dann? Nat\u00fcrlich m\u00fcssen wir die Beantwortung dieser Frage der Betrachtung der uns bekannten rhythmischen Reihen entnehmen. Und diese k\u00f6nnen nur solche sein, in welchen der Rhythmus im Grofsen sich uns darstellt, in welchen also \u2014 nicht dem unmittelbaren Bewusstsein entr\u00fcckte psychische Theilvorg\u00e4nge, sondern bewufste Empfindungen rhythmisch geordnet erscheinen. Und nur das allgemeine Princip k\u00f6nnen wir daraus gewinnen.\nNun finden wir rhythmische Reihen bewufster Empfindungen in der Musik selbst: n\u00e4mlich regelm\u00e4fsige Folgen von T\u00f6nen.","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30\nTheodor Lipps.\nSind zwei solche Folgen yon T\u00f6nen neben einander gegeben, so \u201estimmen\u201c sie zusammen, d. h. wir f\u00fcgen sie leicht oder ohne allzu grofse innere Hemmung in einander ein, und sind dem-gem\u00e4fs von ihrem Nebeneinanderhergehen befriedigt, wenn jedesmal Gruppen von wenig Elementen der einen mit Gruppen von wenig Elementen der anderen Folge die gleiche Zeitstrecke erf\u00fcllen. Das Gleiche gilt, wenn f\u00fcr unser Bewufstsein regel-m\u00e4fsige Reihen von T\u00f6nen einerseits und regelm\u00e4fsige Reihen irgendwelcher Bewegungen, etwa Gehbewegungen, andererseits neben einander gegeben sind.\nAlso wird es sich beim Nebeneinanderhergehen von Reihen jener psychischen Theilvorg\u00e4nge analog verhalten. Nat\u00fcrlich k\u00f6nnen wir, da diese Theilvorg\u00e4nge eben doch zugleich etwas Anderes sind, als jene Empfindungen, nicht zugleich schliefsen, wie grofs bei den ersteren die Gruppen sein d\u00fcrfen, wenn noch das Gef\u00fchl der Consonanz entstehen soll.\nIch sage: Wir k\u00f6nnen \u201enat\u00fcrlich\u201c keinen solchen Schlufs ziehen. Stumpf findet dies nicht nat\u00fcrlich. Er tadelt mich, dafs ich das allgemeine Gesetz, das die Befriedigung oder Unbefriedigung an nebeneinanderhergehenden regelm\u00e4fsigen Reihen beherrscht, von den Reihen von Empfindungen auf die Reihen der psychischen \u201eTheilvorg\u00e4nge\u201c \u00fcbertrage, dagegen die speciellere Gestalt, welche das Gesetz in jenem Falle er-fahrungsgem\u00e4fs annimmt, auf diesen andersgearteten Fall nicht \u00fcbertragen will. Stumpf sagt: \u201eDas ist eben die vortheilhafte Taktik, welche die Anh\u00e4nger solcher Erkl\u00e4rungen befolgen k\u00f6nnen: Wo die Analogie der Bewufstseinserscheinungen einiger-maafsen zutrifft, da gestattet sie einen zwingenden Schlufs auf das Unbewufste, wo sie aber im Stiche l\u00e4fst, da ist es eben \u2014 etwas Anderes.\u201c\nDieser Tadel trifft mich ganz gewifs nicht; von einer \u201eTaktik\u201c ist hier keine Rede, sondern lediglich von der Befolgung einer mir selbstverst\u00e4ndlich scheinenden methodischen Regel. Wo verschiedene Thatsachen als specielle F\u00e4lle einer allgemeineren Thatsache erscheinen, kann jederzeit die diese allgemeine Thatsache betreffende allgemeine Regel von dem einen Falle auf den andern \u00fcbertragen werden, niemals aber kann aus der specielleren Gestaltung, welche diese Regel in dem einen speciellen F alle lediglich erfahrungsgem\u00e4fs annimmt, auf die specielle Gestalt, welche dieselbe in dem anderen speciellen","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"Tonverwandtschaft imd Tonverschmelzung.\n31\nFalle annehmen m\u00fcsse, geschlossen werden. \u2014 Ich nehme an, dafs Stumpf\u2019s Vorwurf sich auf ein, vielleicht durch meine Ansdrucksweise verschuldetes Mifsverst\u00e4ndnifs gr\u00fcndet. Nur so ist er mir verst\u00e4ndlich.\nAchten wir nun endlich auch noch auf die speciellen Einw\u00e4nde Stumpf\u2019s. Es ist Thatsache, dafs wenig verstimmte Con-sonanzen \u00e4hnlich wirken wie reine. Wie vertr\u00e4gt sich dies mit meiner Theorie? Ich k\u00f6nnte die Gegenfrage stellen: Wie vertr\u00e4gt sich dies mit Stumpf\u2019s Theorie? Aber ich will lieber zeigen, dafs die fragliche Thatsache aus meiner Theorie v\u00f6llig verst\u00e4ndlich wird.\nIch brauche zu dem Zwecke nur daran zu erinnern, worauf es meiner Theorie zufolge eigentlich ankommt, d. h. worin eigentlich ich den Grund des Gef\u00fchls der Consonanz und der Dissonanz finde.\nDie Schwingungsanzahlen zweier T\u00f6ne m\u00f6gen sich verhalten wie m : n\\ d. h. m und n seien die kleinsten ganzen Zahlen, durch welche das Schwingungsverh\u00e4ltnifs ausgedr\u00fcckt werden kann. Der Einfachheit halber nehme ich an, es treffen im Anfangspunkt der Zeiteinheit \u00a3, die jedes Mal von den m Schwingungen des ersten und den n Schwingungen des zweiten Tones ausgef\u00fcllt ist, eine jener Schwingungen mit einer dieser Schwingungen genau zusammen. Dann treffen die folgenden Schwingungen der beiden Gruppen von m und n Schwingungen nicht zusammen, sondern das zeitliche Verh\u00e4ltnifs derselben verschiebt sich best\u00e4ndig. Erst am Ende von z findet wiederum ein genaues Zusammentreffen der Schwingungen statt.\nIch rede hier von Schwingungen. Aber wir haben uns das Recht zugesprochen, die ,,Theilvorg\u00e4ngeu zweier Tonempfindungsvorg\u00e4nge hinsichtlich ihres rhythmischen Verh\u00e4ltnisses den Schwingungen analog zu denken. Und wir wollen im Folgenden der Einfachheit des Ausdrucks und der Erh\u00f6hung der Anschaulichkeit wegen die Analogie zur Gleichheit steigern ; also die Verh\u00e4ltnisse der Schwingungen auf die psychischen Theilvorg\u00e4nge unmittelbar \u00fcbertragen. Den Arten, wie die Schwingungen sich zeitlich zu einander verhalten, d. h. wie Schwingungen des einen Tones mit Schwingungen des anderen zeitlich sich zusammenordnen, entsprechen dann auf der psychischen Seite ebensolche Arten der zeitlichen Zusammenordnung von Phasen oder Theilvorg\u00e4ngen der Tonempfindungsvorg\u00e4nge. Ich hoffe, Nie-","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nTheodor Lipps.\nmand wird in dieser Betraehtungs- oder Darstellnngsweise eine Erschleichung wittern.\nErsetzen wir also im Obigen die Weisen der zeitlichen Zu-sammenordnung von Schwingungen durch die Weisen der zeitlichen Zusammenordnung jener ,,Theilvorg\u00e4nge\u201c. Fragen wir dann nach den Momenten der Consonanz und Dissonanz, so lautet die Antwort: Consonanz besteht, sofern nach Ablauf von immer wieder dieselben zeitlichen Zusammenordnungen ein-treten und zugleich in derselben Weise sich folgen. Dissonanz besteht, sofern innerhalb der Zeitstrecke z die Weisen der zeitlichen Zusammenordnung best\u00e4ndig wechseln.\nIch mache dies verst\u00e4ndlicher : Jede von mir innerlich vollzogene Weise der Zusammenordnung von Teilvorg\u00e4ngen erleichtert den Vollzug der folgenden gleichen Weise der Zusammenordnung. Dagegen ist der Vollzug einer neuen Weise der Zusummenordnung, nachdem eine bestimmte Weise der Zusammenordnung eben vollzogen wurde, jedes Mal eine Art von Zumuthung. Der Zwang, immer neue Zusammenordnungen zu vollziehen, widerstreitet der nat\u00fcrlichen Tendenz des psychischen Geschehens, gleichartig weiterzugehen. Zugleich wird der Grad, in welchem die successiven gleichen Zusammenordnungen sich vorbereiten und ihren Vollzug erleichtern, durch jede der dazwischen tretenden ungleichen Zusammenordnungen vermindert. Die Unterst\u00fctzung, die einer Zusammenordnung durch eine ihr gleiche vorangehende Zusammenordnung zu Theil wird, ist ja naturgem\u00e4fs bedingt durch den Grad, in welchem diese letztere nach wir kt. Diese Nachwirkung wird aber durch jede dazwischen tretende anders geartete Zusammenordnung gest\u00f6rt.\nNun nehmen wir an, m sei = 1, n = 2. Dann wiederholt sich jede einmal vollzogene Weise der Zusammenordnung, nachdem nur ein Theilvorgang, der eine andere Art der Zusammenordnung fordert, dazwischen getreten ist. Es findet also hier ein hoher Grad der Consonanz statt.\nDann lassen wir die Zahlen m und n sich vergr\u00f6fsern. Dabei mehrt sich die Zahl der ungleichen Zusammenordnungen, die sich jedes Mal' zwischen zwei v\u00f6llig gleiche einschieben, best\u00e4ndig. Es mindert sich also die Consonanz, und mehrt sich die Dissonanz.\nEndlich sei m = 100, n \u2014 201. Dann ist die Zahl der ungleichen Zusammenordnungen, die sich zwischen je zwei v\u00f6llig","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"Tonverw andtschaft und Tonverschmelzung.\n33\ngleiche einschieben, sehr grofs. Zugleich aber hat sich der Unterschied zwischen jenen ungleichen Zusanunen-ordnungen vermindert. Insbesondere sind die erste, dritte, f\u00fcnfte etc., ebenso die zweite, vierte, sechste etc. Zusammenordnung einander ann\u00e4hernd gleich. Die Verschiebung, die innerhalb dieser beiden Reihen von Zusammenordnungen stattfindet, ist eine allm\u00e4hliche und damit unmerkliche geworden. Und daraus ergiebt sich ein Consonanzgef\u00fchl, das demjenigen sich ann\u00e4hert, und in beliebigem Grade sich ann\u00e4hern kann, das sich ergab, als m = 1 und n = 2 war. Dabei ist zu bedenken, dafs ann\u00e4hernde Uebereinstimmungen \u00fcberall innerhalb gewisser Grenzen ann\u00e4hernd wie v\u00f6llige Uebereinstimmungen wirken. Die Ann\u00e4herung etwa an das regelm\u00e4fsige Sechseck wirkt, wenn die Ann\u00e4herung gen\u00fcgend grofs ist, wie das reine regelm\u00e4fsige Sechseck.\nVon hier aus will ich nun auch noch einmal zur\u00fcckkehren zu der bereits oben ber\u00fchrten Thatsache : Die Schwingungsanzahlen eines Tones und seiner kleinen Terz verhalten sich wie 5 : 6. Angenommen zwei regelm\u00e4fsige Reihen von T\u00f6nen gingen nebeneinander her in der Weise, dafs immer 5 T\u00f6ne der einen Reihe mit 6 T\u00f6nen der anderen Reihe das gleiche Zeitinterv\u00e4ll ausf\u00fcllten, so w\u00fcrde das Nebeneinanderhergehen dieser Reihen wohl nicht mehr als befriedigend empfunden werden. Dagegen erscheint uns die kleine Terz noch als ein befriedigendes Intervall.\nIch bemerkte nun schon oben, dafs dies nichts gegen meine Theorie beweisen k\u00f6nne, da man die besondere Gestaltung der gesetzm\u00e4fsigen Beziehung zwischen Einfachheit der rhythmischen Verh\u00e4ltnisse von Reihen auf der einen, und Wohlgef\u00e4lligkeit des Nebeneinanderhergehens der Reihen auf der anderen Seite, nicht ohne Weiteres von den Reihen von bewufsten Empfindungen auf die Reihen der unbewufsten psychischen Theilvorg\u00e4nge \u00fcbertragen d\u00fcrfe. Ich will jetzt weiter gehen und zu zeigen versuchen, dafs der bezeichnete Unterschied nicht nur meiner Theorie nicht widerspricht, sondern sich aus ihr in einfachster Weise rechtfertigt.\nBezeichnen wir die Theilvorg\u00e4nge, die wir innerhalb eines an sich unbewufsten Tonempfindungsvorganges nach Analogie der physikalischen Theilvorg\u00e4nge unterscheiden, kurz als \u201eElemente der Tonempfindung\u201c. Dann sind, wie wir oben sahen, zwei T\u00f6ne, die so beschaffen sind, dafs m Elemente des einen mit\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XIX.\t3","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34\nTheodor Lipps.\nn Elementen des anderen die gleiche Zeitstrecke z ansf\u00fcllen, consonant, sofern die in uns stattfindenden zeitlichen Zusammenordnungen von Elementen beider T\u00f6ne nach Ablauf von z gleichartig und in gleicher Folge wiederkehren; sie sind dissonant, sofern innerhalb der Zeitstrecke z best\u00e4ndig neue zeitliche Beziehungen von uns aufgefafst oder best\u00e4ndig neue zeitliche Zusammenordnungen von uns psychisch vollzogen werden m\u00fcssen.\nDas letzte Moment, die Dissonanz, hat, so sahen wir weiter, seinen Grund darin, dafs jedes Zeitverh\u00e4ltnifs oder jede Weise der zeitlichen Zusammenordnung, die auf eine ihr vorangehende anders geartete zeitliche Zusammenordnung folgt, zur Tendenz, bei der einmal vollzogenen Weise der Zusammenordnung zu bleiben, in Gegensatz steht. Jetzt fragt es sich: Wodurch ist die Sch\u00e4rfe dieses Gegensatzes bedingt?\nDarauf lautet die Antwort zun\u00e4chst: Dieser Gegensatz mufs umso sch\u00e4rfer sein, je gr\u00f6fser jene Tendenz ist. Die Tendenz von einem psychischen Vorgang zu einem gleichartigen fortzugehen ist aber nothwendig umso gr\u00f6fser, je gr\u00f6fsere Kraft dieser Vorgang hat, jemehr also von der in dem gegebenen Augenblick in mir vorhandenen \u201epsychischen Kraft\u201c von diesem Vorgang in Anspruch genommen wird. Es ist genau Dasselbe, wenn ich sage: Je gr\u00f6fser die von dem Vorgang absorbirte Aufmerksamkeit ist. Denn Aufmerksamkeit ist eben nichts als psychische Kraft \u00fcberhaupt.\nIst irgend ein psychischer Vorgang schwach, ist seine \u201epsychische H\u00f6he\u201c gering, \u201eerf\u00fcllt\u201c oder \u201ebesch\u00e4ftigt\u201c er mich wenig, ist in ihm wenig von dem, in dem gegebenen Moment \u00fcberhaupt in mir m\u00f6glichen psychischen Geschehen verwirklicht, oder, um die eben gebrauchten Ausdr\u00fccke zu wiederholen, ist in ihm wTenig \u201epsychische Kraft\u201c oder \u201eAufmerksamkeit\u201c actuell, so wirkt er in geringerem Maafse nach. Wir \u201eerwarten\u201c nicht in demselben Maafse, dafs nach ihm ein gleichartiger psychischer Vorgang in uns sich vollziehe, oder dafs Aehnliches uns psychisch zu eigen werde, wie dies der Fall ist, wenn der Vorgang unsere Aufmerksamkeit in h\u00f6herem Maafse in Anspruch nimmt. Und es unterliegt keinem Zweifel: Je gr\u00f6fser diese Erwartung ist, umso sch\u00e4rfer und f\u00fchlbarer ist jedes Mal der Gegensatz, wenn jener Tendenz oder dieser Erwartung durch das thats\u00e4chlich Erlebte also den thats\u00e4chlich eintretenden psychischen Vorgang widersprochen wird.","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"Tonverwandtschaft und Tonverschmelzung.\n35\nAndererseits mufs jener Gegensatz aber auch umso sch\u00e4rfer sein, je gr\u00f6fsere Kraft derjenige psychische Vorgang, oder je gr\u00f6fsere \u201epsychische H\u00f6he\u201c dasjenige Erlebnifs besitzt, das der Tendenz des Fortgangs von einem psychischen Vorgang zu einem gleichartigen in den Weg tritt. \u201eAchte\u201c ich nicht oder wenig auf das, was meiner \u201eErwartung\u201c zuwiderl\u00e4uft, hat also dies der Erwartung Zuwiderlaufende, oder genauer: der Vorgang, in welchem der psychische Vollzug desselben besteht, geringe Kraft, so ist die \u201eEntt\u00e4uschung\u201c meiner Erwartung in geringerem Grade f\u00fchlbar.\nHier nun ist zun\u00e4chst gedacht an psychische Totalvorg\u00e4nge, insbesondere an bewufste Empfindungen oder Wahrnehmungen. Wir haben aber in diesem Zusammenh\u00e4nge zu thun nicht mit solchen Total Vorg\u00e4ngen, sondern mit psychischen Theilvorg\u00e4ngen ; ich kann kurz sagen: wir haben hier zu thun nicht mit \u201emakro-psychischen\u201c sondern mit \u201emikropsychischen\u201c Elementen, n\u00e4mlich den \u201eElementen der Tonempfindung\u201c.\nDiese Tlieilvorg\u00e4nge oder Tonempfindungselemente nun sind im Vergleich mit allen makropsychischen Elementen \u201ekleine\u201c Elemente. Und die fraglichen Theilvorg\u00e4nge sind kleine Elemente speciell in dem Sinne, dafs jedes dieser Elemente f\u00fcr sich nur einen kleinen, wir k\u00f6nnten sagen einen mikroskopischen Theil des in mir gleichzeitig m\u00f6glichen psychischen Geschehens verwirklicht, oder nur einen kleinen Theil der in dem gegebenen Augenblick in mir vorhandenen psychischen Kraft absorbirt, n\u00e4mlich einen kleinen im Vergleich mit den Gesammtvorg\u00e4ngen, insbesondere auch mit denjenigen, die den bewufsten Empfindungen eines l\u00e4nger oder k\u00fcrzer dauernden Tones zu Grunde liegen. Es leuchtet ja ein: Absorbirt dieser ganze Vorgang einen bestimmten Theil der psychischen Kraft, so kann der Theilvorgang nur einen entsprechenden Theil dieses Theiles absorbiren.\nWas nun von diesen \u201ekleinen Elementen\u201c oder diesen Theilvorg\u00e4ngen im Vergleich mit den ganzen Vorg\u00e4ngen, n\u00e4mlich den ganzen Tonempfindungen gilt, dies gilt nothwendig ebenso von den Zusammenordnungen jener Theilvorg\u00e4nge im Vergleich mit Zusammenordnungen dieser Gesammtvorg\u00e4nge. Jene Zusammenordnungen bedeuten ja, ebenso wie diese, eine eigene Art des psychischen Geschehens. Der psychische Vollzug jeder Weise des zeitlichen Zusammen jener Theilvorg\u00e4nge ist,\n3*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36\nTheodor Lipps.\nebenso wie der psychische Vollzug jedes zeitlichen Verh\u00e4ltnisses dieser Gesammtvorg\u00e4nge, d. h. der bewufsten Tonempfindungen, selbst wiederum ein eigener psychischer T h e i 1 y o r g a n g. Jene Zusammenordnungen der Elemente der Tonempfindungen verhalten sich aber zu diesen Zusammenordnungen von Tonempfindungen, ebenso wie die Elemente der Tonempfindungen zu den Tonempfindungen, d. h. so wie das Kleine zum Grofsen. Jene sind also im Vergleich mit diesen ein psychisches Geschehen oder sie sind psychische ,,Theilvorg\u00e4ngeu von geringerer Kraft, also geringerer Wirkungs- oder Eindrucksf\u00e4higkeit. Jene Zusammenordnungen von Elementen der Tonempfindungen k\u00f6nnen wir wiederum als ,,mikropsychische\u201c Elemente bezeichnen, n\u00e4mlich als Elemente des gesammten Geschehens, das in uns sich vollzieht, wenn zwei T\u00f6ne zusammenklingen, also in uns nebeneinander hergehen. Sie sind dies, ebenso wie die Zusammenordnungen der ganzen Tonempfindungen makropsychische Elemente sind in dem gesammten Geschehen, das in uns sich abspielt, wenn Reihen von T\u00f6nen nebeneinander hergehen. Ich kann also auch sagen: Die mikropsychischen Elemente des einfachen Zusammenklanges sind Elemente von geringerer Kraft, also auch von geringer Wirkungsf\u00e4higkeit, im Vergleich mit den makropsychischen Elementen des Zusammen von zwei Tonreihen.\nDaraus nun folgt das Doppelte : Einmal, dafs die Tendenz des Fortgangs von einer Zusammenordnung von Theilvorg\u00e4ngen zweier Tonempfindungsvorg\u00e4nge zu einer gleichartigen Zusammenordnung gering ist im Vergleich mit der Tendenz des Fortganges von einer Zusammenordnung von T\u00f6nen zweier Tonreihen zu einer gleichartigen Zusammenordnung. Und zweitens: dafs auch die Kraft, mit welcher jede andersgeartete Zusammenordnung dieser Tendenz sich wider setzt, in jenem Falle geringer ist als in diesem. Und da nun die Sch\u00e4rfe des Gegensatzes, wie wir sahen, einerseits durch die St\u00e4rke jener Tendenz, andererseits durch die Gr\u00f6fse dieser Kraft bedingt ist, so mufs, aus diesem doppelten Grunde, die Sch\u00e4rfe des Gegensatzes bei den nebeneinander hergehenden Reihen von ,,Elementen\u201c zweier Tonempfindungen, d. h. beim einfachen Zusammenklang, unter im Uebrigen gleichen Umst\u00e4nden geringer sein, als die Sch\u00e4rfe des Gegensatzes beim Nebeneinander zweier Reihen von T\u00f6nen. Und da in diesem Gegensatz die Dis-","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"Tonverwandtschaft und Tonverschmelzung.\n37\nsonanz besteht, so m\u00fcssen Tonzusammenkl\u00e4nge vom Eindruck einer st\u00f6renden Dissonanz frei sein k\u00f6nnen auch bei einem rhythmischen Verh\u00e4ltnifs der Elemente, bei welchem nebeneinanderhergehende Reihen von T\u00f6nen bereits von diesem Eindruck begleitet sind. D. h. die von Stumpf meiner Theorie entgegengehaltene Thatsache findet eben in dieser Theorie ihre Rechtfertigung.\nSetzen wir diese ,,mikropsychologische\u201c Betrachtungsweise weiter fort, so gelangen wir endlich auch zur Beantwortung eines letzten Einwandes Stumpf\u2019s. Stumpf fragt: \u201eWie kommt es, dafs wir gerade bei den tiefsten T\u00f6nen, wo wir den Schwingungsrhythmus noch, wenn auch nur als Begleiterscheinung, wahrnehmen k\u00f6nnen, die consonanten Intervalle keineswegs angenehmer finden, als die dissonanten, w\u00e4hrend gerade bei den h\u00f6heren T\u00f6nen, wo die Schwingungsrhythmen sicherlich nicht mehr wahrgenommen werden, der Unterschied hervortritt? \u2014 Sollte es wirklich an den Schwingungsrhythmen liegen?\nIch antworte darauf: Eben weil es an den Schwingungsrhythmen liegt, findet jene Thatsache statt. Zun\u00e4chst brauche ich nicht zu sagen, dafs die Wahrnehmbarkeit des Schwingungsrhythmus hier nichts zur Sache thut, da wir ja hier mit dem im Bewufstsein Gegebenen gar nicht operiren. Sondern die Frage ist einzig, was von den an sich unbewufsten Vorg\u00e4ngen, die den bewufsten Tonempfindungen zu Grunde liegen, ausgesagt oder angenommen werden kann.\nIm Uebrigen bitte ich Folgendes zu ber\u00fccksichtigen: Seien wiederum m und n die kleinsten ganzen Zahlen, durch welche sich das Schwingungsverh\u00e4ltnifs zweier zusammenklingender T\u00f6ne bezeichnen l\u00e4fst; und z das im einen Ton von m, im anderen von n Schwingungen ausgef\u00fcllte Zeitintervall. Dann, sage ich, bereitet jede Zusammenordnung eines Elementes der einen Tonempfindung mit einem Elemente der andern Tonempfindung die ihr nach Ablauf von \u00ab folgende gleiche Zusammenordnung vor. Von dieser Vorbereitung nun hat die nachfolgende Zusammenordnung um so mehr, d. h. sie, bezw. der psychische Vollzug derselben wird dadurch um so mehr unterst\u00fctzt, je rascher sie nachfolgt, d. h. je k\u00fcrzer z ist. Die Tendenz von einem psychischen Geschehen zu einem gleichartigen fortzugehen ist ja natur-gem\u00e4fs in jedem auf dies Geschehen folgende Zeitpunkt um so st\u00e4rker, je mehr \u00fcberhaupt in diesem Zeitpunkt jenes Geschehen\n/","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38\nTheodor Lipps.\nnoch nachwirkt. Und diese Nachwirkung mindert sich mit der Zeit. Je gr\u00f6fser aber diese Tendenz ist, umso mehr kann sie dem nachfolgenden gleichartigen Geschehen zu Gute kommen.\nUnd damit zugleich ist auch das Andere gegeben : Folgt auf eine Weise der Zusammenordnung eine andersgeartete, also der Tendenz des Fortganges zu einer gleichartigen Zusammenordnung widerstreitende Weise der Zusammenordnung, so ist dieser Widerstreit umso heftiger; je unmittelbarer diese widerstrebende Weise der Zusammenordnung sich jener Tendenz entgegenstellt, also wiederum, je rascher die Elemente der Tonempfindung sich folgen, oder je k\u00fcrzer, unter im Uebrigen gleichen Umst\u00e4nden, 0 ist.\nBer\u00fccksichtigen wir nun wiederum, dafs in jener Unterst\u00fctzung oder Vorbereitung das Wesen der Consonanz, in diesem Widerstreit das Wesen der Dissonanz besteht, so ergiebt sich: Sowohl die Consonanz als die Dissonanz, also auch der Unterschied zwischen Consonanz und Dissonanz nimmt zu, nimmt also auch ebenso ab, mit der L\u00e4nge der Zeitstrecke z. Und da 0 unter im Uebrigen gleichen Umst\u00e4nden umso l\u00e4nger ist, je tiefer die zusammenklingenden T\u00f6ne liegen, so heifst dies : Die Consonanz und die Dissonanz, also auch der Unterschied beider nimmt ab mit wachsender Tiefe der T\u00f6ne. #\nEntstehen etwa zwei T\u00f6ne aus 200 und 300, zwei andere aus 20 und 30 Schwingungen in der Secunde, so ist beim letzteren Intervall das z zehnmal so grofs als beim ersteren. Kehrt dort jede Zusammenordnung von Elementen der einen Tonempfindung mit Elementen der anderen Tonempfindung in der Secunde 200 Mal, so kehrt sie hier in der Secunde nur 20 Mal in gleichartiger Weise vfieder. Es sind also dort die gleichen Zusammenordnungen 10 Mal enger aneinander gebunden. Andererseits folgen dort jeder Zusammenordnung die ihr ungleichen Zusammenordnungen 10 Mal rascher. Es sind also dort die Bedingungen der Consonanz ebenso wie die der Dissonanz st\u00e4rker, hier geringer. Damit ist zugleich gesagt, dafs dann, wenn wir von dem hier vorausgesetzten Intervall \u2014 der Quinte \u2014 zu consonanteren Intervallen \u00fcbergehen, in h\u00f6herer Lage die Consonanz rascher zunimmt, die Dissonanz rascher abnimmt, als in tiefer Lage ; umgekehrt dafs dann, wenn wir zu dissonanteren Intervallen \u00fcbergehen, in h\u00f6herer Lage die Dissonanz rascher znnimmt, die Consonanz rascher","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"Tonverwandtschaft und TonverSchmelzung.\n39\nabnimmt als in tiefer Lage. Die tiefsten T\u00f6ne sind also die vom Gegensatz der Consonanz und Dissonanz am wenigsten ber\u00fchrten. Stumpf\u2019s Einwand verwandelt sich also auch hier wie im vorigen Falle in eine Best\u00e4tigung der \u201eRhythmus-Theorie\u201c.\nHiermit sind, soviel ich sehe, Stumpf\u2019s Bedenken gegen meine Theorie beantwortet, soweit wenigstens sie ohne eingehendere Er\u00f6rterung der ber\u00fchrten principiellen Fragen beantwortet werden k\u00f6nnen. Ich w\u00fcnsche aufs Lebhafteste, dafs diese principiellen Fragen in Flufs kommen. Davon erh\u00f6he ich auch die Erf\u00fcllung des Wunsches, dafs hinsichtlich der musikalischen Consonanz schliefslich kein ernstlicher Gegensatz zwischen Stumpf, dem vor Anderen berufenen Musikpsychologen, und mir bestehen bleiben m\u00f6ge.\nEine Frage noch stelle ich an Stumpf. Angenommen, die Consonanz erkl\u00e4rte sich aus der Verschmelzung oder der Neigung zur Verschmelzung. Ist dann die Dissonanz ohne Weiteres aus dem Mangel der Verschmelzung oder dem Mangel der Neigung zur Verschmelzung erkl\u00e4rt? Macht Alles den Eindruck der Dissonanz, was nicht verschmilzt und seiner Natur nach nicht verschmelzen kann? Es ist ja kein Zweifel: Eine Theorie der Consonanz mufs zugleich eine Theorie der Dissonanz sein. Und Dissonanz ist nicht etwa einfach Mangel der Consonanz.\nUnd dazu f\u00fcge ich noch Eines: Werden die specielleren musikalischen Thatsachen aus Stumpf\u2019s Theorie bezw. werden dieselben unter der Voraussetzung, dafs meine Deutung und Erg\u00e4nzung dieser Theorie abgewiesen bleibt, verst\u00e4ndlich werden? Ich denke vor Allem an gewisse Thatsachen, die mir von jeher besonders merkw\u00fcrdig waren; etwa daran, dafs die Folge eines Tones und seiner Quinte musikalisch oder f\u00fcr unser Gef\u00fchl etwas so ganz Anderes ist, als die umgekehrte Folge. Sicher gen\u00fcgt es zur Erkl\u00e4rung solcher Thatsachen nicht, dafs man sagt, die Musiker sind darin oder darin \u201e\u00fcbereingekommen\u201c oder: man hat sich an dieses oder jenes \u201egew\u00f6hnt\u201c. Mein unmittelbares und zwingendes \u00e4sthetisches Gef\u00fchl l\u00e4fst sich durch kein Uebereinkommen der Musiker und keine Gewohnheit erkl\u00e4ren Solches \u201eUebereinkommen\u201c und solche \u2022 \u201eGewohnheit\u201c sind nur Verlegenheitswendungen, solange wenigstens, als man nicht gezeigt hat, nach welcher sonst auf zeigbaren psychologischen Gesetzm\u00e4fsigkeit das, was die Worte bezeichnen, die behauptete Wirkung haben kann.","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"/\n40\tTheodor Lipps.\nAuch Stumpf gebraucht gelegentlich solche Wendungen. Ich bin sicher, dafs er in diesem Punkte das von ihm Vers\u00e4umte noch nachzuholen versuchen wird. Einstweilen behaupte ich, dafs den bezeichneten Begriffen in der Musikpsychologie, ebenso wie \u00fcberall sonst, jegliche erkl\u00e4rende Kraft abgeht. Ich finde auch bei Stumpf \u00fcberall, wo diese Begriffe zur Erkl\u00e4rung verwendet werden, einstweilen nichts als L\u00fccken in der Erkl\u00e4rung.\nWas den soeben speciell bezeichneten Punkt angeht, so habeich in meinen \u201ePsychologischen Studien\u201c einen Ansatz zur Erkl\u00e4rung gemacht. Vielleicht ergiebt sich einmal Gelegenheit, deutlicher zu sagen, wie sich die Erkl\u00e4rung der fraglichen Thatsache aus meiner Anschauung ergiebt. Hier mufs ich darauf verzichten.\nIch brauche nicht zu sagen, dafs auch dann, wenn ich Recht habe, Stumpf\u2019s Untersuchungen \u00fcber die \u201eVerschmelzung\u201c und die Stufen derselben nichts von ihrem Werthe verlieren. Die Verschmelzung erkl\u00e4rt nichts, sondern ist das zu Erkl\u00e4rende. Aber sie charakterisirt, so wie \u00fcberhaupt Symptome charakteri-siren. Und f\u00fcr mich ist die Verschmelzung ein Symptom, n\u00e4mlich ein Symptom dessen, was das eigentliche Wesen der Consonanz ausmacht. Aber auch Stumpf will ja mit der Verschmelzung schliefslich keine Erkl\u00e4rung geben. Er verzichtet auf die Erkl\u00e4rung, w\u00e4hrend ich sie zu geben versuche. Ob dieser mein Versuch stichhaltig ist, das ist der eigentliche Gegenstand des Streites. Hoffen wir, \u201edafs nach und nach auch unter den Musiktheoretikern der Dualismus der Parteien in einheitliche Verschmelzung \u00fcbergehe\u201c. Mit diesem Schlufswort Stumpf\u2019s kann auch ich schliefsen. Nur verstehe ich dabei unter \u201eVerschmelzung\u201c nicht das Ineinander\u00fcberfliefsen, sondern die Verschmelzung im Sinne der Consonanz, d. h. der Ueberein-stimmung. Ich vermuthe, dafs Stumpf in seinem Schlufsworte mit der \u201eVerschmelzung\u201c dasselbe meint. Sollte er vielleicht \u00fcberall im letzten Grunde dasselbe meinen? Dann w\u00fcrde diese Consonanz mich befriedigen, wie jede Consonanz mich befriedigt. Das blofse Zusammenfliefsen w\u00fcrde in mir nur das gegentheilige Gef\u00fchl wecken k\u00f6nnen. Um diesem zu entgehen, habe ich hier den Gegensatz' m\u00f6glichst scharf bezeichnet.\n(.Eingegangen am 16. Juli 1898.)","page":40}],"identifier":"lit30536","issued":"1899","language":"de","pages":"1-40","startpages":"1","title":"Tonverwandtschaft und Tonverschmelzung","type":"Journal Article","volume":"19"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:44:51.091433+00:00"}