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{"created":"2022-01-31T13:32:51.208866+00:00","id":"lit30538","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"P\u00f6tsch, Anna","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 19: 47-62","fulltext":[{"file":"p0047.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Farbenvorstellungen Blinder.\nVon\nAnna P\u00f6tsch.\nUm naheliegenden Einw\u00e4nden zu entgehen, mufs vorweg bemerkt werden, dafs wir hier mit dem Worte F\u00e4rbenvorStellung weniger eine bewufst und richtig reproducirte Farbenempfindung, als vielmehr dasjenige bezeichnen wollen, was sich der Nichtsehende unter Farbe vorstellt. Wir werden demnach von Ersatzbildern, von Surrogaten auf dem Gebiet der Farbe zu reden haben, die, mit gr\u00f6fserer oder geringerer Anlehnung an die Wirklichkeit, in dem Bewufstsein des Blinden entstehen. Farbenvorstellungen in diesem Sinne finden sich innerhalb der Blindenwelt zwar nicht allgemein, aber doch h\u00e4ufiger als der Fernerstehende f\u00fcr m\u00f6glich halten d\u00fcrfte; sie werden nicht nur von Sp\u00e4tererblindeten gebildet, sondern auch von solchen, die wT\u00e4hrend ihrer fr\u00fchesten Kindheit das Augenlicht verlieren.\nSelbstverst\u00e4ndlich besitzen die F\u00e4rb en vor Stellungen der ersteren einen gr\u00f6fseren Erfahrungsinhalt, denn der denkende Mensch, der seine Sehkraft langsam oder pl\u00f6tzlich schwinden f\u00fchlt, wird mit allen Kr\u00e4ften danach streben, m\u00f6glichst viel aus der farbenbunten Vergangenheit in die farblose Gegenwart her\u00fcber zu retten, er wird, was fortan dem leiblichen Auge verschlossen ist, um jeden Preis wenigstens dem geistigen zu erhalten suchen. Aber nicht nur sein lebhaftes Verlangen, das einst Besessene festzuhalten, kommt ihm hierbei zu H\u00fclfe, sondern auch die Thatsache, dafs bei geschlossenen Augen das Spiel der Erinnerungsbilder von selbst ein besonders reges, lebendiges ist.\nGoethe war z. B. im Stande, wenn er wollte, mit geschlossenen Augen und gesenktem Kopfe (eine Stellung, die der Blinde sehr h\u00e4ufig einnimmt) eine Blume zu erblicken, aus der sich, solange er es w\u00fcnschte, immer neue Blumen entfalteten; und der vor einigen Jahren verstorbene ber\u00fchmte Germanist Hildebrandt sagte mir, dafs sich ihm, sobald er namentlich in stiller Umgebung die Augen zumachte, stets eine F\u00fclle der farbenbuntesten, deutlichsten Bilder aufdr\u00e4ngte.","page":47},{"file":"p0048.txt","language":"de","ocr_de":"48\nAnna P\u00f6tsch.\nDas den Blinden best\u00e4ndig umgebende Dunkel beg\u00fcnstigt also sein inneres Schauen, den freieren Strom seiner Phantasie- und Erinnerungsbilder, in diesem Falle seiner Farbenerinnerungsbilder.\nWelch wichtige Rolle die letzteren in dem Seelenleben eines denkenden Nichtsehenden spielen k\u00f6nnen, in wie mannigfache Beziehung zur Wirklichkeit sie treten, geht unter den mir vorliegenden Berichten am klarsten aus dem eines jetzt einundzwanzigj\u00e4hrigen Oberprimaners hervor, der in seinem 6. Lebensjahre theilweise, in seinem 15. etwa vollst\u00e4ndig an Netzhautabl\u00f6sung erblindete.\nIch entnehme seinen Ausf\u00fchrungen Folgendes:\n\u201eGerade die Farben sind f\u00fcr mein geistiges Leben von gr\u00f6fster Bedeutung: fast Alles setzt sich vor meinem geistigen Auge in Farben um, d. h. nicht Alles, im Wesentlichen nur ah-stracte Begriffe, w\u00e4hrend ich von concreten entsprechende Vorstellung habe. Roth tritt besonders h\u00e4ufig und in den verschiedensten Nuancen auf : so habe ich bei den Begriffen Sonntag, Donnerstag, dem Buchstaben A, den Zahlen 3, 6, dem Begriffe Mathematik, dem Tone A etc. ein rothes Farbenbild vor Augen. Dabei unterscheidet sich z. B. das Roth des Donnerstags von dem des Sonntags ganz bedeutend. Jede Zahl, jeder Buchstabe, jedes Wort, kurz jeder abstracte Begriff ist bei mir in Farbe umgesetzt. Merkw\u00fcrdigerweise habe ich dabei wenig Empfindung von den Grundfarben. Roth tritt allerdings intensiv auf, w\u00e4hrend z. B. Blau nie rein, Gr\u00fcn \u00fcberhaupt nicht vorhanden ist. Meine ab-stracte Farben-Empfindung wird durch nichts Aeufserliches, d. h. rasche Bewegung, Ger\u00e4usch etc. bestimmt oder gest\u00f6rt, sie h\u00f6rt aber sofort auf, wenn sich mein Geist mit concreten Dingen besch\u00e4ftigt; ich habe alsdann die Vorstellung eines K\u00f6rpers, der mir so, wie er in seiner r\u00e4umlichen Gestalt und Ausdehnung ist, vor Augen steht. Hier wirken die Farben nicht als Ersatz, sondern als Theil des Ganzen. So sehe ich bei einer Fahne z. B. eine Stange und verschiedenes Tuch vor mir. Seltsam ist, dafs ich mir im Gegensatz zu dem vorhin Gesagten an Gegenst\u00e4nden besonders scharf ausgepr\u00e4gt die Grundfarben vorstelle, zusammengesetzte mir jedoch nicht denken kann.\nDie umfassende Farbenvorstellung f\u00fcr abstracte Begriffe habe ich erst, seitdem ich g\u00e4nzlich erblindet bin. Anf\u00e4nge dazu zeigten sich freilich schon fr\u00fcher, besonders erinnere ich mich dessen aus meinen ersten Klavierstunden ; da erschienen mir","page":48},{"file":"p0049.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Farbenvorstellungen Blinder.\n49\ndie einzelnen T\u00f6ne, als ich sie lernte, wie Farben, ja auch die einzelnen St\u00fccke, deren Farbe ich heute noch anzugeben vermag.\nDer Farbensinn ist f\u00fcr mich von h\u00f6chster Wichtigkeit, er ist eine wunderbare Handhabe meines Ged\u00e4chtnisses, was ich besonders bei dem Behalten von Zahlen und Daten empfinde.\u201c\nWie aus Vorstehendem ersichtlich ist, associirt sich f\u00fcr den Blinden die Farbe allm\u00e4hlich mit allerhand abstracten Begriffen, namentlich mit solchen von Tagen, Monaten, Zahlen und Buchstaben, was seinem Innenleben eine gr\u00f6fsere Mannigfaltigkeit verleiht. Je mehr diese Verbindungen Boden gewinnen, desto mehr tritt wahrscheinlich die Farbe als solche, als Erinnerungsbild zur\u00fcck. Verschiedene Blinde, die fr\u00fcher bei entwickeltem Bewufstsein gesehen haben, glauben zwar, noch 20, ja 30 Jahre nach Verlust ihres Augenlichts von den meisten Farben eine der Wirklichkeit entsprechende Vorstellung zu besitzen; bei besonders stark entwickeltem Farbensinn und aufs er ordentlicher Erinnerungsf\u00e4higkeit ist dies ja nicht unm\u00f6glich, im Allgemeinen aber d\u00fcrften die Farben Vorstellungen doch mit der Zeit verblassen, das beweist schon ihre krampfhafte Tendenz, sich mit allerlei sonstigen Bewufstseins-Inhalten zu verbinden. So wurde mir beispielsweise von einer Nichtsehenden erz\u00e4hlt, dafs sie, allerdings geraume Zeit nach ihrer Erblindung, ganz entz\u00fcckt von dem \u201ewundervollen Blau der Kleeblume\u201c gesprochen habe, und der weiter oben citirte Oberprimaner Ludwig C. sagt aus: \u201eIch wage nicht zu behaupten, dafs ich heute, ungef\u00e4hr sechs Jahre nach meiner v\u00f6lligen Erblindung, noch dasselbe Blau nenne, was ich einst, da ich noch Farben unterscheiden konnte, so bezeichnete.\u201c\nEs mufs also, selbst wenn von Sp\u00e4tererblindeten die Rede ist, die Eingangs aufgestellte Definition des Begriffes Farbenvorstellung festgehalten werden, denn nicht, ob und in wie weit der Nichtsehende Farben richtig vorstellt, sondern was er unter ihnen vorstellt, was er mit ihnen verbindet, ist Gegenstand dieser Untersuchung.\nJenes Was nun stimmt, wenigstens bez\u00fcglich seiner Elemente, in den meisten F\u00e4llen \u00fcberein, denn es sind theils Kl\u00e4nge (die Klangfarbe einzelner Instrumente, Tonarten, Menschenstimmen), theils die bereits fr\u00fcher n\u00e4her bezeichneten Abstracta, mit denen der Blinde seine Farbenvorstellungen identificirt. Trotz dieser Uebereinstimmung im Allgemeinen aber kommen im Einzelnen wesentliche Abweichungen vor: so verbindet z. B.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XIX.\t4\n/","page":49},{"file":"p0050.txt","language":"de","ocr_de":"50\nAnna P\u00f6tsch.\nLudwig C. mit dem Begriff Februar eine schwarze, Richard H. eine rothe, Georg Sch. eine braune Farbenyorstellung ; Linna C. charakterisirt sich Blau durch D-, Marie K. durch F-Dur u. s. w. Diese Unterschiede k\u00f6nnen nicht \u00fcberraschen, wenn man bedenkt, dafs der Blinde seine Farbensurrogate gr\u00f6fstentheils aus sich heraus schafft, dafs diese Sch\u00f6pfungen folglich wesentlich von der Individualit\u00e4t und den Erlebnissen des Einzelnen abh\u00e4ngen\nSo fand ich beispielsweise Gelegenheit, vier Blinde aus einer Familie zu beobachten^ die noch dazu auf gleiche Weise das Augenlicht verloren hatten, aber selbst hier erwiesen sich die Farbenvorstellungen von Fall zu Fall verschieden, sowohl was die Reichhaltigkeit als auch was die Ausgestaltung derselben betraf.\nDie Individualit\u00e4t des Einzelnen fordert eben in dieser Beziehung gebieterisch ihr Recht, sie ist die Ursache, dafs sich dem besonders musikalischen Blinden die Farben in Tonarten, ja in genau fixirte Accorde, dem mehr mathematisch begabten vorzugsweise in Zahlen, dem normalen Durchschnittsblinden in die Klangfarbe gewisser Instrumente und Menschenstimmen umwandeln.\nDie Erlebnisse, die an das Individuum herantreten, bestimmen dann, wie wir bald sehen werden, bei Fr\u00fchererblindeten die Farbenvorstellung \u00fcberhaupt, w\u00e4hrend sie bei Sp\u00e4tererblindeten gern der einen oder anderen Farbe zur Vorherrschaft verhelfen. In Ludwig C.\u2019s Farbenwelt steht z. B. Roth oben an, weil er etwa in seinem vierten Lebensjahre Zeuge eines Ungl\u00fccksfalles war, wobei sich ihm der Anblick eines blut\u00fcberstr\u00f6mten Fufses unausl\u00f6schlich einpr\u00e4gte. Dafs trotzdem sp\u00e4ter die Rothvorstellung in seinem Bewufstsein meist von einer angenehmen Gef\u00fchlsbetonung begleitet war, stammt wahrscheinlich aus der Zeit seiner allm\u00e4hlichen Erblindung : Damals thaten ihm die ges\u00e4ttigten Farben, mit Roth an der Spitze, besonders wohl, weil sie den Trieb zum Sehen am besten befriedigten. So legte er beispielsweise dem Sonntag, an dem er w\u00e4hrend seiner Anstalts-Erziehung die Seinigen besuchen durfte, ein intensiveres sch\u00f6neres Roth bei als den \u00fcbrigen Sonntagen. Es hat also hier offenbar eine Gef\u00fchlsverschiebung stattgefunden. Bei Richard H., der in seinem zw\u00f6lften Lebensjahre an Sehnervenschwund erblindete , spielen ebenfalls Roth und Gelb eine Hauptrolle, w\u00e4hrend Georg Sch., dessen Augenlicht an einem Tage vollst\u00e4ndig schwand, \u00fcber sehr reichhaltige ziemlich gleichm\u00e4fsig ausgestaltete Farbenempfindungen verf\u00fcgt.","page":50},{"file":"p0051.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Farbenvorstellungen Blinder.\n51\nSehr nahe liegt nun die Frage : Wie gelangt der Blinde \u00fcberhaupt dazu, seine Farbenvorstellungen gerade mit T\u00f6nen, Tagen, Monaten, Buchstaben etc. zu verbinden? Eine ersch\u00f6pfende Antwort hierauf wird sich leider nicht finden lassen, denn in den meisten F\u00e4llen vollzieht sich der Werdeprocefs solcher Associationen, ohne dafs sich das Individuum dessen selbst bewufst wird.\nSehr charakteristisch hierf\u00fcr ist die Auskunft, die ich a\u00fcf meine diesbez\u00fcglichen Erkundigungen von mehreren Nichtsehenden erhielt : \u201eDas war immer so ! ich habe mir diese Farbe nie anders vorgestellt\u201c etc. In manchen F\u00e4llen kann zwar angegeben werden, bei welcher Gelegenheit gewisse Vorstellungsver-bindungen entstanden, aber der Zusammenhang, in dem Farbe und Farbenersatz hier zu einander stehen, erscheint meist so lose, so unbestimmt, dafs eine eigentliche Erkl\u00e4rung noch immer nicht vorliegt.\nSo erz\u00e4hlt beispielsweise der blinde Sprachlehrer Richard H., er sei erst 15 Jahre nach seiner Erblindung zum Bewufstsein seiner Farbenassociation gelangt und zwar durch die Unterhaltung mit einem Freunde, w\u00e4hrend welcher er ganz unwillk\u00fcrlich dessen finstere Stimmung und den Anfangsbuchstaben seines Namens, das V, in so enge Beziehung zu einander brachte, dafs ihm dieses letztere von stundan intensiv schwarz erschien. Der F\u00e4rbung dieses einen folgte dann blitzartig die aller \u00fcbrigen Buchstaben und Zahlen, ein Umstand, der wahrscheinlich auf bereits fr\u00fcher im Bewufstsein vorhanden gewesene, dunkle Vorstellungen zur\u00fcckzuf\u00fchren ist.\nWenn ferner Marie K. aussagt, dafs sich ihre Farbenvorstellungen von dem Eindruck grofsartiger Tonsch\u00f6pfungen herschreiben; wenn ich selbst mich deutlich entsinne, seit dem ersten Anh\u00f6ren von Beethoven\u2019s Symphonie pastorale Fl\u00f6tenton und Himmelblau miteinander zu identificiren, so bleibt bei alle dem noch die Frage offen: was hat dort der Buchstabe, was haben hier die T\u00f6ne mit Farben zu thun? Das Mittelglied zwischen beiden ist also offenbar in der Aufsenwelt nicht zu finden, man mufs es darum in der Innenwelt des Individuums, in seinem Gef\u00fchlsleben,' suchen. Zu diesem Auswege berechtigt unter Anderem die Thatsache, dafs einzelne Nichtsehende, denen es eigenth\u00fcmlich ist, sich die Tage gef\u00e4rbt \u00bb zu denken, sehr\nh\u00e4ufig von Sonntags-, Montagsgef\u00fchlen u. s. w. sprechen ; sie be-\n4*","page":51},{"file":"p0052.txt","language":"de","ocr_de":"52\nAnna P\u00f6tsch.\nzeichnen damit gewisse Lust- oder Unlustgef\u00fchle, die sowohl die betreffenden Tage als auch die denselben parallel gehenden Farben in ihnen erwecken oder wenigstens schon erweckt haben. Neben solchen Gef\u00fchlsanalogieen sind es noch Associationen mehr directer Natur, die in der Blindenwelt die Entstehung von Farbenyorstellungen beg\u00fcnstigen, besonders zeigt sich das bei den Vorstellungen Fr\u00fchererblindeter, die \u00fcber bewufste Gesichtsund Farbenerinnerungen nicht verf\u00fcgen.\nHier ist der Begriff Farbe zun\u00e4chst ein Abstractum. Ab-stracta aber haben bekanntlich mehr oder minder die Tendenz, sich in unserem Bewufstsein mit irgend einer Vorstellung, sei es nun mit der eines geschriebenen oder gesprochenen Wortes u.s.w. zu verkn\u00fcpfen.\nIm vorliegenden Falle nun mufs diese Tendenz doppelt stark hervortreten, denn das blinde Individuum weifs, dafs f\u00fcr andere die Farbe etwas Gegenst\u00e4ndliches, etwas wirklich Vorhandenes ist. Kein Wunder daher, dafs es alle Ber\u00fchrungspunkte, die ihm die objective Welt zur Bildung von Farbensurrogaten darbiet\u00f6t, krampfhaft erfafst und ben\u00fctzt.\nDer erste dieser Ber\u00fchrungspunkte ist das die Farbe bezeichnende Wort: wie der Mensch im primitiven Zustande erst die Farbe sah und dann das Wortbild schuf, so verf\u00e4hrt der Blinde umgekehrt, er mufs danach streben, das Farbenwort mit irgend einem Inhalte zu f\u00fcllen.\nMan k\u00f6nnte nun hier geltend machen, dafs unter solchen Voraussetzungen alle Blinden und zwar auf gleicher Grundlage Farbenvorstellungen bilden m\u00fcfsten, weil Alle von farbenbezeichnenden Worten umklungen werden. Dieser Schlufs ist vollst\u00e4ndig berechtigt, denn ganz spurlos k\u00f6nnen die Farbennamen an keinem normalen Nichtsehenden vor\u00fcbergehen, jedem ist in denselben die erste M\u00f6glichkeit zur Ausgestaltung bestimmter Farbensurrogate gegeben, aber nicht jeder gelangt dazu, auf dem vorhandenen Grunde weiterzubauen. Es handelt sich hier eben vielmehr darum, welcherlei Gef\u00fchlsbetonungen jene Farbenworte in dem Bewufstsein des Individuums erzeugen. Erheben sich dieselben wenig oder gar nicht \u00fcber seine neutrale Gef\u00fchlslage, so k\u00f6nnen sie nicht sch\u00f6pferisch wirken ; dies ist ihnen vielmehr erst dann m\u00f6glich, wenn \u00e4ufsere Umst\u00e4nde sie versch\u00e4rfen.\nSo gilt mir z. B. eine gewisse klebrige Tastempfindung, verbunden mit einem bestimmten intensiven Farbengeruche, als","page":52},{"file":"p0053.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Farbenvorstellungen Blinder.\n53\nTypus eines gewissen Roth und zwar vermuthlich deshalb, weil das nach Aussage meiner damaligen Umgebung rothe Garn, aus dem ich meine erste Waschfleckkante h\u00e4kelte, jene Merkmale an sich trug.\nIn \u00e4hnlicher Weise mag die Entstehung vieler Farbenvorstellungen des Blinden verlaufen: Man nennt ihm das Farbenwort, er f\u00fcgt zu dessen Gef\u00fchlsbetonung die der augenblicklichen Begleiterscheinungen und h\u00e4lt die Vorstellung von all diesem, falls sie eindrucksreich genug ist, fest f\u00fcr sein ganzes Leben.\nDie Richtigkeit dieser Annahme scheint mir unter anderem auch aus dem Umstande hervorzugehen, dafs einzelne Farbenvorstellungen zuweilen g\u00e4nzlich bei Blinden fehlen, sowie dafs die vorhandenen erheblich durch St\u00e4rke und Lebendigkeit von einander ab weichen. Es gelingt eben den \u00e4ufseren Begleiterscheinungen weder stets noch stets in gleichem Maafse, sich mit dem Eindr\u00fccke des Farbenwortes zu einem fertigen Begriffe zu verbinden.\nLeider wird es schwerlich gelingen, die Entstehungsgeschichte jeder einzelnen Farbenvorstellung bei jedem einzelnen Nieht-sehenden festzustellen, denn deren Anf\u00e4nge reichen oft zur\u00fcck bis in die fr\u00fche auskunftslose Kindheit. So ist mir beispielsweise ein sechsj\u00e4hriges blindes M\u00e4dchen bekannt, das beim Betasten von Gegenst\u00e4nden, namentlich von Str\u00fcmpfen, schon sehr energisch von Schwarz und Grau spricht, w\u00e4hrend andere Farben den Weg in ihr Vorstellungsleben noch nicht gefunden zu haben scheinen.\nAuf Tastempfindungen beruhende Farbenvorstellungen treten indessen verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig nur selten auf, sie sind das Product zuf\u00e4lliger zeitlicher und r\u00e4umlicher Associationen und k\u00f6nnen folglich keinerlei Anspruch auf Uebereinstimmung mit der Wirklichkeit erheben.\nTrotzdem scheint ihm eine gewisse Constanz eigen zu sein, wenigstens bezeichnete z. B. Marie K. bei vorgenommenen Versuchen regelm\u00e4fsig dasjenige mit schottisch, was ich blau nennen mufste, und was der ersteren roth erschien, hielt ich f\u00fcr schwarz. Ebenso stellten sich bei einer anderen Gelegenheit, wo mir ziemlich gleichartige Wollf\u00e4den zur Vergleichung vorgelegt wurden, die rosagef\u00e4rbten meinen tastenden Fingern best\u00e4ndig als braun dar.\nMir vorbehaltend, sp\u00e4ter bei einer zusammenh\u00e4ngenden Schilderung meiner eigenen Farbensurrogate noch einmal kurz","page":53},{"file":"p0054.txt","language":"de","ocr_de":"I\n54\tAnna P\u00f6tsch.\nauf die Tastfarben zur\u00fcckzukommen, m\u00f6chte ich jetzt auf die Tonfarben \u00fcbergehen.\nEs ist wohl selbstverst\u00e4ndlich, dafs der Lichtberaubte, dessen dessen h\u00f6chster Sinn der des Geh\u00f6rs ist, Alles, was an Gef\u00fchlen in ihm wirkt und webt, was als unverstandene Substanz von aufsen an ihn herantritt, in T\u00f6ne umzusetzen versucht. Daher ist das Verlangen, sich die Farben durch Tonvorstellungen zu charakterisiren, auch am weitesten in der Blindenwelt verbreitet, zumal es ja wesentliche Unterst\u00fctzung findet durch den herrschenden Sprachgebrauch.\nDer Blinde, der viel von einem tiefen Roth, einem grellen Gelb u. s. w. reden h\u00f6rt, wird ganz unwillk\u00fcrlich dem Farbenwort als solchem immer weniger Beachtung schenken und sich um so eifriger mit den dasselbe begleitenden Adjectiven befassen: die f\u00fcr den Blindgeborenen verschwommenen Begriffe Roth und Gelb gehen unter in den klareren von Tief und Grell, sie bilden sich zur Klangvorstellung um, indem sie mit der entsprechenden Klangfarbe irgend eines Instruments oder einer Menschenstimme identificirt werden. Der hier angedeutete Procefs zeigt deutlich, wie sehr der sprachliche Zusammenhang, in dem die verschiedenen Farbennamen auftreten, bestimmend auf die Farbenwelt des Blinden wirken k\u00f6nnen; von seinem Phantasie- und Gef\u00fchlsleben, sowie von der Beschreibung Sehender h\u00e4ngt nat\u00fcrlich dann das Wesen der Farbensurrogate im Einzelnen ab. So erscheint z. B. verschiedenen Blinden das, was sie sich unter Roth vorstellen, am besten charakterisirt durch den Ton der Trompete, w\u00e4hrend mir, wenigstens auf dem Gebiet des Klanges, stets der Orgelton als geeignetste Vertretung vorschwebt.\nSubjective und objective Erlebnisse geben eben den Farbenvorstellungen der einzelnen Individuen ihr eigenth\u00fcmliches Gepr\u00e4ge ; immerhin ist mir noch kein Blinder begegnet, der sich unter Himmelblau einen scharfen, schrillen, unter einem schreienden Roth einen weichen, schmelzenden Ton gedacht h\u00e4tte.\nWie sich aus dem bisher Gesagten ergiebt, ist das leitende Motiv, das den Fr\u00fcherblindeten bestimmt, \u00fcberhaupt Farbenvorstellungen zu bilden, nicht Aussicht auf praktischen Nutzen, sondern lediglich das unabweisbare Bed\u00fcrfnifs, den Farbenbezeichnungen, die ihn best\u00e4ndig umschwirren, nicht gedankenlos gegen\u00fcber zu stehen. W\u00e4hrend der Sp\u00e4tererblindete seine","page":54},{"file":"p0055.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Farbenvorstellungen Blinder.\n55\nder Wirklichkeit entlehnten Farhenvorstellungen mit allerhand Bewufstseinsinhalten verbindet, um jene vor Vergessenheit zu sch\u00fctzen, schafft sich der Blindgeborene eine Farbenwelt, weil es ihm unertr\u00e4glich ist, wenn in ihm nichts auf die Erw\u00e4hnung von Farben reagirt.\nDieser Unterschied tritt am deutlichsten zu Tage, wenn zwei den verschiedenen Kategorieen angeh\u00f6rende Blinde auf gleichem Gebiete ihre Farbenempfindungen bilden, wie dies z. B. bei der im neunten Lebensjahre ums Augenlicht gekommenen Linna C. und der bereits seit den ersten Lebenstagen nicht-sehenden Marie K. der Fall ist, die beide ihre Farbenvorstellungen an Tonarten heften. W\u00e4hrend aber die erstere den Vortheil besitzt, beim Spielen und Anh\u00f6ren von Tonst\u00fccken die den verschiedenen Tonarten ihrer Meinung nach parallel gehenden Farben mit erstaunlicher Regelm\u00e4fsigkeit auftauchen zu sehen, wird in letzterer durch Musik f\u00fcr gew\u00f6hnlich keinerlei Vorstellung von Farben erweckt ; sie reproducirt vielmehr nur dann die analogen Tonarten in ihrem Bewufstsein, wenn an dasselbe die Forderung herantritt, sich mit irgend einer Farbenbezeichnung abzufinden. Dies schliefst nat\u00fcrlich keineswegs aus, dafs der Fr\u00fcherblindete sehr h\u00e4ufig die Anregung zur Bildung seiner Tonfarben dem Reiche der Musik verdankt. So klang mir z. B. das, was ich mir schon lange halb unbewufst unter Himmelblau vorstellte, zum ersten Male aus dem zweiten Theile von Beethoven\u2019s Symphonie pastorale charakteristisch entgegen: die durch Fl\u00f6tent\u00f6ne ausgedr\u00fcckten Vogelstimmen, die ganze, bald sehns\u00fcchtigweiche, bald \u00fcberm\u00fcthigjauchzende Sprache dieses Instruments, dies Alles stimmte mich damals so schmerzlichfroh, kurz so fr\u00fchlingsm\u00e4fsig, dafs ich pl\u00f6tzlich in diesen Fl\u00f6ten* kl\u00e4ngen das Blau des Himmels zu ahnen, zu f\u00fchlen, zu h\u00f6ren glaubte. Diese Identifieirung von Himmelblau und Fl\u00f6tenklang blieb dann als Farbenvorstellung in meinem Bewufstsein z\u00fcr\u00fcck, eine Vorstellung, die allerdings nie freiwillig auftritt, wenn in einem gr\u00f6fseren Instrumentenensemble die Fl\u00f6te nur eine untergeordnete Rolle spielt. Aehnlich verh\u00e4lt es sich mit den \u00fcbrigen Instrumenten, deren Klangfarben mir als Surrogate f\u00fcr wirkliche Farben dienen ; nur wo sie besonders dominiren oder Solostellen ausf\u00fchren, n\u00f6thigen sie mir den Gedanken an die ihnen analogen Farben auf. Was mir die Klangfarbe zur Farbe macht, das ist eben ein durch sie erzeugtes, oder besser gesagt, ein durch sie","page":55},{"file":"p0056.txt","language":"de","ocr_de":"56\nAnna P\u00f6tsch.\nobjectivirtes, auf sie \u00fcbertragenes Gef\u00fchl, das beim Zusammenspiel vieler Instumente unm\u00f6glich unver\u00e4ndert bleiben kann.\nVergleicht man nun noch weiter die Farbenvorstellungen der beiden Blindenkategorieen, so ergiebt sich, dafs die der Blindgeborenen (ich wende in einem weiteren Sinne diesen Ausdruck auf alle diejenigen an, die keine bewufsten Farbenerinnerungen besitzen) meist d\u00fcrftiger sind. Meiner Erfahrung zufolge pflegt z. B. keiner unter ihnen seine Farbensurrogate mit Tagen, Monaten, Buchstaben und Zahlen zu verbinden, doch ist daf\u00fcr die Vereinigung von Farbe und Tastempfindung nur ihnen eigenth\u00fcmlich.\nBez\u00fcglich der gef\u00e4rbt vorgestellten Buchstaben ist \u00fcbrigens noch zu bemerken, dafs die Veranlassung hierzu in einem mir mitgetheilten Falle auf die bei Geographiekarten \u00fcbliche F\u00e4rbung der verschiedenen Landesgebiete zur\u00fcckzuf\u00fchren ist, und zwar wurde regelm\u00e4fsig die Farbe des Landes auf seinen Anfangsbuchstaben \u00fcbertragen, so z. B. das Both Englands auf \u201eE\u201c u.s.w. Trotzdem wird dadurch die Entstehung solcher Vorstellungsbildungen nicht gen\u00fcgend erkl\u00e4rt, denn sie findet sich auch bei mehreren Blinden, die sich keiner gef\u00e4rbten Landkarten erinnern.\nNoch dunkler erscheint mir der Zusammenhang von Farbe und Zahl, man mufs die Vermittelung zwischen beiden eben in der rastlosen Gef\u00fchlsstr\u00f6mung des Individuums suchen, die mit ihren lebendigen Lust- und Unlustquellen ja alle Gebiete der objectiven Erscheinungswelt ausnahmslos zu besp\u00fclen vermag. Zu meiner gr\u00f6fsten Ueberraschung theilte mir \u00fcbrigens k\u00fcrzlich eine vollst\u00e4ndig sehende Dame mit, dafs sie sich ebenfalls seit ihrer fr\u00fchesten Kindheit die meisten Zahlen gef\u00e4rbt vorstelle und zwar ohne irgend einen bewufsten Grund; wer weifs, ob genaue Selbstbeobachtung nicht auch bei manchen anderen \u00e4hnliche Besultate ergeben w\u00fcrde.\nNachdem ich nun, soweit dies bei dem schwer zu sichtenden Material \u00fcberhaupt m\u00f6glich war, versucht habe, die Farbenvorstellungen aus der Blindenwelt in ihren Grundz\u00fcgen zu charakteri-siren, m\u00f6chte ich noch einmal meine eigenen, als die einer seit dem dritten Lebensjahre Nichtsehenden, hier kurz zusammenfassen. Nat\u00fcrlich kann es dabei nicht meine Absicht sein, meine Farbenwelt als besonders maafsgebend oder reichhaltig hinstellen zu wollen, ich glaube sie nur deshalb etwas eingehender behandeln zu d\u00fcrfen, weil ich sie naturgem\u00e4fs einer gr\u00fcndlicheren","page":56},{"file":"p0057.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Farbenvorstellungen Blinder.\n57\nPr\u00fcfung, einer andauernderen Beobachtung unterziehen konnte als die anderer Blinden.\nMeine Farbenvorstellungen also sind zweierlei Art: theils kn\u00fcpfen sie sich an Geh\u00f6rs-, theils an Tastempfindungen. Jene pflege ich h\u00e4ufig unwillk\u00fcrlich als Erinnerungsbilder in mir zu reproduciren, sobald von Farben gesprochen wird, diese dr\u00e4ngen sich mir auf, wenn ich mit concreten Dingen, namentlich mit Geweben, zu thun habe. Beiden Gattungen scheinen gewisse gleiche Gef\u00fchle parallel zu gehen, wenigstens vermag ich dies mehrfach nachzuweisen. So charakterisirt sich mir z. B. die Farbe Weifs in kalten, abweisenden, vorzugsweise in der Klangfarbe frostiger Menschenstimmen anzutreffenden T\u00f6nen, zugleich bin ich geneigt, \u00fcberall da weifse oder zum mindesten lichte F\u00e4rbung zu vermuthen, wo sich mir kalte oder glatte Tastempfindungen aufzwingen: also besonders bei Kattun-, Leinenstoffen und gewissen Papierarten. Ebenso verbinde ich mit Gelb eine unangenehm grelle Geh\u00f6rs- als auch eine eben solche Tastempfindung, die erstere hat ihre Verk\u00f6rperung im Klange der Oboe gefunden. Ferner hat f\u00fcr mich Braun auf beiden Gebieten etwas Verschwommenes, ich vermag seine Qualit\u00e4t weder in T\u00f6nen, noch in Tastempfindungen klar festzustellen, sein Wesen ist eben Undeutlichkeit. Freilich geschieht es zuweilen, dafs die concreten Farbenvorstellungen, wie ich die mit Tastempfindungen verbundenen kurz nennen m\u00f6chte, zu allerhand Merkmalen ihre Zuflucht nehmen, die von den Tonfarben entbehrt werden k\u00f6nnen: in fortw\u00e4hrender Wechselbeziehung zur Wirklichkeit stehend und durch sie best\u00e4ndig corrigirt, streben die ersteren darnach, sich an die Erfahrung anzulehnen, allerdings nicht immer in der logischsten Weise. Weil einem gewissen Blau mehrmals eine bestimmte weiche Tastempfindung entsprach \u2014 zum ersten Male entsinne ich mich dessen bei einem Puppenkleide \u2014 ist sie mir zum Typus dieser Farbe geworden, wahrscheinlich ist auch mein Urtheil \u00fcber Rosa auf eine \u00e4hnliche Association zur\u00fcckzuf\u00fchren, ich glaube dasselbe meist bei durchbrochenen Stoffen wahrzunehmen, w\u00e4hrend es in meiner Tonfarbenwelt durch einen heiteren, schelmischen, grazi\u00f6sen Ton (Klangfarbe des Glockenspiels, \u00fcberm\u00fcthige Menschen-, besonders Kinderstimmen) vertreten ist. Dunkelgr\u00fcn hat etwas Aufregendes f\u00fcr mich, was wohl in einem Ereignifs meiner fr\u00fchen Kindheit seinen Grund haben mag. Ungef\u00e4hr\n/","page":57},{"file":"p0058.txt","language":"de","ocr_de":"58\nAnna T\u00f6tsch.\nin meinem 4. Lebensjahre sollte ich n\u00e4mlich einen gr\u00fcnen Angenschirm tragen, ein Ansinnen, gegen das ich mich mit H\u00e4nden und F\u00fcfsen str\u00e4ubte. Noch heute erscheint mir alles dasjenige gr\u00fcn, was die Tastnerven beunruhigt, namentlich gemusterte Stoffe in Krimmer, Pl\u00fcsch, Sammet; auf dem Gebiete des Geh\u00f6rsinnes ist das Waldhorn der Tr\u00e4ger meiner Gr\u00fcnvorstellung. Dafs zu dieser letzten Association Lenzstimmung und Waldpoesie viel beigetragen haben, ist unverkennbar. Solche Ankn\u00fcpfungen an das, was die Dinge in Wirklichkeit vorstellen, finden sich \u00fcbrigens auch sonst h\u00e4ufig bei der Farbenvorstellungsbildung Blinder: so bezeichnet z. B. Georg Sch. die Null als golden, aber nur dann, wenn sie in grofsen Zahlen figurirt, also, wenn sie einen wirklichen Werth repr\u00e4sentirt.\nAuf die Bildung meiner Begriffe von Schwarz und Grau ist vielleicht die mir gebliebene, schwache Lichtempfindung nicht ganz ohne Einflufs, ich glaube mich unwillk\u00fcrlich von diesen Farben umgeben, wenn ich in engen, dunkeln Gassen oder \u00fcberf\u00fcllten Zimmern weile; wahrscheinlich wird diese Vorstellung in mir erzeugt durch eine H\u00e4ufung von Schatten, die sich an derartigen Orten st\u00e4rker als anderswo dem Auge und Ohre aufdr\u00e4ngen. Dagegen bem\u00e4chtigt sich meiner, beil\u00e4ufig bemerkt, eine ausgepr\u00e4gte Erinnerung an Weifs, wenn ich grofse, freie Pl\u00e4tze \u00fcberschreite.\nDas an Gegenst\u00e4nden haftende Schwarz hat mir immer etwas Festes, Dauerhaftes, w\u00e4hrend sich mir eine Vorstellung von Grau am nat\u00fcrlichsten durch rauhe Wollstoffe ergiebt, also z. B. durch Loden. Dies schliefst indessen nicht aus, dafs ich mir Grau ebensowohl an Seide u. s. w. denken kann, aber eben nur dann, wenn mich irgend etwas an meine Vorstellung von Grau erinnert: ein rauher Faden, eine bedeckte Tastempfindung oder dergleichen. Was von dieser einen gilt selbsverst\u00e4ndlich von allen Farben, jede kann aufser durch ihre Typusempfindung noch durch solche, die derselben verwandt sind, aber geringere Intensit\u00e4t besitzen, vertreten werden.\nWas nun die eigentliche Materie dieser Tastfarben bildet, ob sie mit abh\u00e4ngt von wirklichen Farbenbestandtheilen oder lediglich von anderen Tastqualit\u00e4ten, wage ich nicht mit Sicherheit zu entscheiden, glaube aber eher das letztere. Wo die Nothwendigkeit es erheischte, z. B. wenn ich aus verschiedenfarbiger Wolle gleicher Qualit\u00e4t eine Handarbeit fertigen wollte,","page":58},{"file":"p0059.txt","language":"de","ocr_de":"Ueher Farbenvorstellungen Blinder.\n59\ngelang es mir ja allerdings meist, beide Farben richtig ans einander zu halten, doch konnte ich den Unterschied, der in einem ganz geringen, schwer zu definirenden Etwas bestand, nur durch fortw\u00e4hrendes eingehendes Vergleichen der beiden F\u00e4den wahrnehmen. Noch weiter geht Oskar Sch., er giebt an, dafs er Farben, die er in unverarbeitetem Zustande untersuchte, mit ziemlicher Sicherheit an Gegenst\u00e4nden, besonders an M\u00f6beln, wiedererkannt habe. Trotzdem m\u00f6chte ich vor der Annahme warnen, der Blinde sei wirklich im Stande, die verschiedenen Farbenqualit\u00e4ten vermittels des Tastsinns festzustellen, denn die Erfahrung best\u00e4tigt immer wieder das Gegentheil.\nBez\u00fcglich meiner Tonfarben mufs ich in der Hauptsache auf das bereits \u00fcber diesen Punkt Gesagte verweisen, ich habe dieselben fr\u00fcher mit Menschenstimmen als mit Instrumentent\u00f6nen verkn\u00fcpft. So entsinne ich mich z. B., dafs mir schon in meinem 6. Lebensjahre die Stimme eines Dienstm\u00e4dchens, das mir viele Gespenstergeschichten erz\u00e4hlte, intensiv schwarz erschien. Unter all meinen Farbenvorstellungen sind die Farbent\u00f6ne der Menschenstimme diejenigen, die ich am wenigsten gern missen m\u00f6chte. Die meisten Organe erscheinen mir mehrfach gef\u00e4rbt, weil ich mich, praktischer R\u00fccksichten wegen, gew\u00f6hnt habe, zwischen Form und Inhalt der Stimmen streng zu unterscheiden. Jeder Blinde wird zu diesem Auskunftsmittel seine Zuflucht nehmen m\u00fcssen, wenn er sich einigermaafsen \u00fcber den Charakter seines Nebenmenschen orientiren will, denn nicht der \u00e4ufsere Ton eines Organs, sondern das, was es ausdr\u00fcckt, die in ihm liegende Seele, l\u00e4fst den Werth oder Unwerth ihres Besitzers erkennen. So lernte ich z. B. einst eine Dame kennen, deren ausgesprochen grelle, gelbe Stimme mich anfangs f\u00f6rmlich zur Verzweiflung brachte; bei n\u00e4herer Bekanntschaft aber zeigte es sich, welch warme, rothe T\u00f6ne in ihr ruhten. Mit Roth bezeichne ich n\u00e4mlich, wenigstens wenn es den Kern eines Organs bildet, G\u00fcte, Wohlwollen, w\u00e4hrend sich mir unter einem schwarzen Farbenton Energie, unter einem hellblauen Begeisterung darstellt u. s. w.\nWeil ich die eben genannten Eigenschaften h\u00e4ufig bei Personen antraf, durch deren Stimmen mir die betreffenden Farbengef\u00fchle objectivirt wurden, sind mir allm\u00e4hlich Farbenton und Eigenschaft so in einander \u00fcbergegangen, dafs ich, wenn ich mir -den Begriff Energie personificiren will, nur die intensiv schwarze Stimme eines Bekannten zu reproduciren brauche.","page":59},{"file":"p0060.txt","language":"de","ocr_de":"/\n60\tAnna P\u00f6tsch.\nZur F\u00e4rbung solcher, wenn ich mich so ausdr\u00fccken darf, ganz abstracter Abstracta gelangen \u00fcbrigens andere Blinde zuweilen auch auf anderem Wege: so berichtet z. B. Ludwig C., dafs er, weil ihm in seiner Kindheit die Bl\u00e4ue des Himmels stets als etwas Hohes, Reines, Unerreichbares erschien, jetzt diese Farbe unwillk\u00fcrlich auf alles dasjenige \u00fcbertr\u00e4gt, was ihm als Idealwesen (Gott, Engel, Seele) oder Idealgesinnung (Freundschaft, Treue) \u00fcbertr\u00e4gt. Mit Schwarz, f\u00fcr ihn der Farbe der Unergr\u00fcndlichkeit, bezeichnet er dagegen alles Unerforschliche, schwer zu Definirende, wie die Begriffe Tod, Krankheit, Musik, Poesie. \u2014\nEr giebt indessen auch v\u00f6llig farblose Stimmen f\u00fcr mich, ich pflege dieselben wunderbarerweise leicht zu vergessen und ihren Besitzern lange, oft f\u00fcr immer innerlich fremd zu bleiben.\nSo umfassen die Farbenvorstellungen des Blinden einen grofsen Theil seiner \u00e4ufseren und inneren Erlebnisse, haben sie auch ein \u00e4sthetisches Interesse f\u00fcr ihn? Ich m\u00f6chte diese Frage, wenigstens bez\u00fcglich des Blindgeborenen, nicht unbedingt bejahen, denn die f\u00fcr ihn in den meisten F\u00e4llen erforderliche Reproduction seiner Farben surrogate ist ein viel zu complicirter Denkvorgang, als dafs eine wahrhaft \u00e4sthetische Wirkung daneben aufkommen k\u00f6nnte. Daher wird der Fr\u00fcherblindete sehr leicht geneigt sein, sich besonders bei umfassenderen farbenbunten Schilderungen mehr von dem Urtheile Sehender als von seinem eigenen bestimmen zu lassen; er wird den allgemeinen Charakter der ihm beschriebenen Farben zu erfassen suchen, wird sich denselben durch Begriffe wie sch\u00f6n, grofsartig, prunkend u. s. w. verdeutlichen und meist kaum Zeit finden, an seine Farbenvorstellungen im Einzelnen zu denken, zumal sich diese nicht selten als \u00fcberfl\u00fcssig, ja st\u00f6rend erweisen.\nH\u00f6re ich z. B. von einem lieblichen, rosa und weifs gef\u00e4rbten Bl\u00fcmchen sprechen, so f\u00fchle ich instinctiv, dafs es verfehlt w\u00e4re, mir die Klangfarbe des Glockenspiels (Rosa) und die einer kalten Menschenstimme (Weifs) vorzustellen: ich kann in diesem Falle auch leichter der Farben entbehren, Weil der mir v\u00f6llig gel\u00e4ufige Begriff \u201eein liebliches Bl\u00fcmchen\u201c gen\u00fcgt, das vom Schildernden beabsichtigte \u00e4sthetische Gef\u00fchl zu erwecken. Anders freilich verh\u00e4lt es sich, wenn z. B. gelegentlich von einem rothen Stoffe gesprochen wird; ich werde alsdann unwillk\u00fcrlich irgend eine meiner Rothvorstellungen zu H\u00fclfe rufen,","page":60},{"file":"p0061.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Farbenvorstellungen Blinder.\n61\ndenn hier ist es nicht der vieldeutige Begriff Stoff, sondern die R\u00f6the desselben, die mein Interesse in Anspruch nimmt\nEinen wirklich sch\u00f6nen Eindruck k\u00f6nnen meine lebendige gewordenen Farbengef\u00fchle nur dann auf mich aus\u00fcben, wenn sie mir aus einer wohlklingenden, farbentonreichen Menschenstimme entgegenschallen, diese aber w\u00fcrde mir ein \u00e4sthetisches Wohlgefallen abn\u00f6thigen, auch wenn ich nicht zuf\u00e4llig Farbenvorstellungen mit ihren T\u00f6nen verkn\u00fcpfte. Es sind hier eben nicht Farben, sondern Kl\u00e4nge, die dem Blindgeborenen sch\u00f6n erscheinen, und somit kann, streng genommen, von einer \u00e4sthetischen Farbenwirkung nicht die Rede sein. Anders verh\u00e4lt es sich mit dem Sp\u00e4tererblindeten : so lange sein geistiges Auge Farben zu schauen vermag, k\u00f6nnen ihn dieselben entz\u00fccken und zwar gleichviel, ob sie der Wirklichkeit entsprechen oder nicht.\nIch habe in Vorstehendem versucht auszuf\u00fchren, wie sich unter g\u00fcnstigen Bedingungen das psychologische Erlebnifs Farbe dem erlebenden Individuum des Nichtsehenden darstellt. Dabei haben sich die folgenden vier Hauptpunkte ergeben:\n1.\tDer Sp\u00e4tererblindete kn\u00fcpft mit seinen Farben Vorstellungen an die Wirklichkeit an, er reproducirt die Farben als Erinnerungsbilder und bewahrt besonders treu die ihnen parallel gehenden Gef\u00fchle der Lust und Unlust. Weil dieselben \u00e4hnlich auch durch andere Bewufstseinsinhalte in ihm erzeugt werden, f\u00fchlt er sich unwillk\u00fcrlich veranlafst, diesen Bewufstseinsinhalten ebenfalls die jenen Gef\u00fchlen analogen Farben beizulegen (ab-stracte Farben Vorstellung). Durch diesen Procefs wird die F\u00e4rb en vor Stellung des Sp\u00e4tererblindeten vertieft und erweitert.\n2.\tDer Fr\u00fcherblindete oder Blindgeborene besitzt keine be-wufsten Farbenerinnerungen, h\u00f6chstens sind in F\u00e4llen, wo noch Lichtempfindung vorhanden ist, die Begriffe von hell und dunkel auf die F\u00e4rbenvorStellungsbildung nicht ohne Einflufs. Der Fr\u00fcherblindete schafft sich Farbensurrogate im Anschlufs an die Symbolik der Sprache, an die Beschreibung Sehender und an individuelle Erlebnisse.\n3.\tDie F\u00e4rb envor Stellungen der Blindenwelt beruhen demnach auf Associationen, theils auf directen oder zeitlichen und r\u00e4umlichen (vgl. meine Rothvorstellung S. 10), theils auf in-directen oder Gef\u00fchlsassociationen (hierher sind alle abstracten Farbenvorstellungen zu rechnen).","page":61},{"file":"p0062.txt","language":"de","ocr_de":"62\nAnna P\u00f6tsch.\n4. An diesen Associationen betheiligen sich die gesunden Sinne des Blinden in verschiedenem Grade, am st\u00e4rksten tritt der Geh\u00f6rssinn hervor. Alle Nichtsehenden, die \u00fcberhaupt Farbenvorstellungen bilden, verlegen wenigstens einige derselben in das Gebiet des Klanges. An zweiter Stelle folgt der Tastsinn und zwar handelt es sich hier namentlich um Druckempfindungen ; Temperaturempfindungen kommen nur vereinzelt, Bewegungsempfindungen meines Wissens nie vor (vgl. in dieser Beziehung meine eigenen Farbenvorstellungen von S. 17 an).\nFerner machen sich bei der Bildung von Farben Vorstellungen zuweilen Geruchsempfindungen geltend, allerdings scheinen sie nicht selbst\u00e4ndig, sondern mehr als Erg\u00e4nzung und Verst\u00e4rkung gewisser Tastqualit\u00e4ten aufzutreten (ich mufs hier wieder auf meine Rothvorstellung verweisen, ebenso geh\u00f6ren hierher die h\u00e4ufig bei Blinden zu h\u00f6renden Ausrufe \u201ees riecht gr\u00fcn, gelb\u201c u. s. w.).\nIn ganz vereinzelten F\u00e4llen wurde mir auch von einer Einwirkung des Geschmacks auf die Entstehung von Farbensurrogaten berichtet, doch zu unbestimmt, als dafs ich etwas Genaues dar\u00fcber aussagen k\u00f6nnte, zumal ich \u00fcber pers\u00f6nliche Erfahrungen in dieser Hinsicht nicht verf\u00fcge.\nZum Schl\u00fcsse m\u00f6chte ich noch einmal darauf hinweisen, dafs aus bereits fr\u00fcher angedeuteten Gr\u00fcnden bei Weitem nicht alle Blinden Farbenvorstellungen bilden, dafs andere sich ihrer nicht klar bewufst sind. Sicherlich werden Individuen mit besonders reger Phantasie leichter eine Farbenwelt sch\u00e4ften als solche, bei denen das Verstandeselement \u00fcberwiegt ; die letzteren pflegen den \u201eF^rbenunsinn\u201c, selbst wenn er sich ihnen aufdr\u00e4ngt, zu bek\u00e4mpfen, weil er ihnen im praktischen Leben eher Nachtheil als Vortheil bringen kann.\nSomit ist das, was den Inhalt dieser Bl\u00e4tter bildet, zwar nicht allgemein in der Blindenwelt anerkannt, aber doch von zahlreichen Individuen erlebt und best\u00e4tigt ; diese Thatsache m\u00f6ge f\u00fcr die vorstehenden Ausf\u00fchrungen sprechen, wo sie selbst l\u00fcckenhaft und unvollst\u00e4ndig geblieben sind.\n(.Eingegangen am 30. Juli 1893.)","page":62}],"identifier":"lit30538","issued":"1899","language":"de","pages":"47-62","startpages":"47","title":"Ueber Farbenvorstellungen Blinder","type":"Journal Article","volume":"19"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:32:51.208871+00:00"}