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{"created":"2022-01-31T12:47:19.255869+00:00","id":"lit30556","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Witasek, St.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 19: 81-174","fulltext":[{"file":"p0081.txt","language":"de","ocr_de":"(Aus dem psychologischen Laboratorium der Universit\u00e4t Graz.)\nlieber die Natur\nder geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\nVon\nSt. Witasek.\n(Mit 3 Fig.)\nI. Einleitung.\n\u00a7 1. Fragestellung.\nIch beabsichtige mit der vorliegenden Arbeit nicht, den zahlreichen Erkl\u00e4rungen der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen eine neue hinzuzuf\u00fcgen. Ich habe mir ein n\u00e4heres Ziel gesteckt. Nur die Hauptrichtung m\u00f6chte ich aufzeigen, in der die Erkl\u00e4rung dieser Erscheinungen zu suchen ist, also ihre Natur blofs dem allgemeinsten Wesen nach ergr\u00fcnden, oder genauer, die Entscheidung treffen zwischen \u201epsychologischer\u201c und \u201ephysiologischer\u201c Erkl\u00e4rung.\nVielleicht wird Manchem, besonders Denen, die eine fertige Theorie der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen vertreten, die Er\u00f6rterung dieser Theilfrage \u00fcberfl\u00fcssig erscheinen, da sie ja mit ihrer Erkl\u00e4rung implicite erledigt ist. Aber, wer glaubt denn an irgend eine von den bisher aufgestellten Erkl\u00e4rungen? Vom jeweiligen Autor abgesehen im Grofsen und Ganzen -\u2014 Niemand. Fast jede neue Erkl\u00e4rung hat gerade um einen Beweisgrund mehr als die letzte: die Widerlegung dieser. Die Zerfahrenheit ist grofs. Unbestritten bleibenden Werth haben von allen Arbeiten \u00fcber diesen Gegenstand bis jetzt nur einige Specialuntersuchungen der j\u00fcngsten Zeit behauptet. Und so m\u00f6chte wohl auch die Specialuntersuchung dar\u00fcber, ob physiologisch oder psychologisch, der Kritik und weiterer Forschung von Nutzen sein.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XIX.\n6","page":81},{"file":"p0082.txt","language":"de","ocr_de":"/\n82\tSt. Witasek.\nUebrigens ist die aufgeworfene Frage eben actuell geworden. Denn gleich im Eingang des ersten Aufsatzes \u00fcber geometrisch-optische T\u00e4uschungen1 2 wurden diese ohne Weiteres als psychologische hingestellt, und von da angefangen bis vor ganz kurze Zeit hat diese Erkl\u00e4rungsrichtung das Feld so aus-schliefslich beherrscht, dafs der Gedanke an die M\u00f6glichkeit einer physiologischen Begr\u00fcndung nur gelegentlich hier und da auftauchte und kaum einmal zur Durchf\u00fchrung gebracht worden ist. Darin ist nun eine h\u00f6chst bemerkenswerthe Wandlung eingetreten. Von den drei neuen Erkl\u00e4rungsversuchen, die das letzte Jahr zu Tage gef\u00f6rdert hat, sind zwei auf rein physiologische Ueberlegungen gegr\u00fcndet \u2014 die von St\u00f6hr 2 und die von Einthoven3; und \u00fcberdies hat Wundt seine Ansichten \u00fcber diesen Gegenstand, die nach fr\u00fcheren Publicationen nicht mit v\u00f6lliger Bestimmtheit der einen oder der anderen Richtung zuzuweisen waren, in neuerlicher Darlegung 4 mit aller Entschiedenheit als physiologischen Erkl\u00e4rungsversuch charakterisirt.\nDie Untersuchung hat sich also einen neuen Weg erschlossen; die Aussichten endlichen Erfolges sind gestiegen : denn dieser endliche Erfolg selbst ist das, was bisher auf diesem Wege gefunden worden ist, noch nicht. Bo vortheilhaft es auch vom Durchschnitt der psychologischen Erkl\u00e4rungen absticht, sowohl durch die Einfachheit und Klarheit der Gedankenconception als auch durch die greifbare Realit\u00e4t der Grundlagen und die strenge Consequenz der Durchf\u00fchrung, eine allseitig befriedigende L\u00f6sung bietet es doch nicht. Weder Einthoven noch St\u00f6hr verm\u00f6gen von den zu erkl\u00e4renden Erscheinungen gen\u00fcgende Rechenschaft zu geben und auch mit Wundt\u2019s physiologischer Erkl\u00e4rung kann wenigstens ich mich nicht leicht befreunden.\nFreilich, was ich gegen letztere einwenden m\u00f6chte, l\u00e4fst sich am schwersten kurz und pr\u00e4cise sagen; es geht auf Wundt\u2019s\n1\tOppel, Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen. Jahresbericht des physikal. Yer. zu Frankfurt a. M. 1854/5, 8. 37.\n2\tSt\u00f6hr, Zur Erkl\u00e4rung der Z\u00f6LLNEit\u2019schen Pseudoskopie. Leipzig und Wien 1898.\n3\tEinthoven, Eine einfache physiologische Erkl\u00e4rung f\u00fcr verschiedene geometrisch-optische T\u00e4uschungen. Pel\u00fcger\u2019s Archiv Bd. 71, S.lff. 1898.\n4\tWundt, Die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen. (In: Abhandlgn. der kgl. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss., math.-phys. Cl. XXIV, 2), 1898. \u2014 Und Wundt, Zur Theorie der r\u00e4uml. Gesichts Wahrnehmung. Philos. Stud. XIV, S. 1\u2014119. 1898.","page":82},{"file":"p0083.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n83\nTheorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmung zur\u00fcck, bez\u00fcglich welcher ich mich denen anschliefsen zu m\u00fcssen meine, die wie K\u00fclpe 1 und Andere mit R\u00fccksicht auf die Unvollkommenheit unserer Wahrnehmung der Augenbewegungen an die grofse Bedeutung, die ihnen dort zugeschrieben wird, nicht glauben k\u00f6nnen. Uebrigens vermag ich auch das, was von den Grundlagen der Wundt\u2019sehen Theorie directer innerer Wahrnehmung zug\u00e4nglich sein sollte, trotz redlichen Bem\u00fchens nicht best\u00e4tigt zu finden. Vor Allem gelang es mir durchaus nicht, den bestimmenden Einflufs, den nach Wundt die Blickrichtung und Blickbewegung auf den Ausfall des Reliefs hei den umkehrbaren perspectivischen T\u00e4uschungen aus\u00fcbt, an mir selber zu erfahren. Meine mit der gr\u00f6fsten Sorgfalt und Ausdauer angestellte Nachpr\u00fcfung ergab mir vielmehr die v\u00f6llige Unabh\u00e4ngigkeit des Einen vom Anderen. Dadurch wird aber gerade die vornehmste directe St\u00fctze der Theorie ersch\u00fcttert. Wenn nun auch weiters dfe geometrisch-optischen T\u00e4uschungen zu ihrem gr\u00f6fsten und wichtigsten Theile aus dem einen Princip erkl\u00e4rt werden, ,,dafs bei der Bildung irgend welcher r\u00e4umlicher Gr\u00f6fsenvorstellungen die Intensit\u00e4t der an die Blickbewegung gebundenen Empfindungen\u201c (bei ruhendem Blick die des Bewegungsantriebes, bisweilen heilst es auch: der Aufwand der Energie bei der Blickbewegung 1 2) \u201eauf die Auffassung der r\u00e4umlichen Gr\u00f6fsen von Einflufs ist\u201c,3 also die Hypothese zwar hohen Erkl\u00e4rungswerth beweist, so geht ihr doch andererseits jede M\u00f6glichkeit directer Verification ab, weil die postulirten Augenbewegungen zuge-standenermaafsen der inneren Wahrnehmung nicht zug\u00e4nglich sind. Darin liegt aber gerade in diesem Falle deshalb eine um so f\u00fchlbarere Beeintr\u00e4chtigung der Vertrauensw\u00fcrdigkeit der Hypothese, weil ein Zusammenhang zwischen Augenbewegungsempfindung und Raumwahrnehmung durchaus nicht a priori einzusehen ist, und nun nicht nur dieser Zusammenhang, sondern auch noch die Bewegungsempfindungen selbst hypothetisch angenommen werden m\u00fcssen. Es ruht aber auf der einzigen St\u00fctze des ganzen Gedankengeb\u00e4udes \u2014 dem hohen Erkl\u00e4rungs-werthe \u2014 nicht nur diese doppelte schwere Hypothesenlast; es\n1\tK\u00fclpe, Grundrifs der Psychologie S. 385.\n2\tz. B. Phil. Stud. XIV, S. 57.\n3\t\u201eDie geom.-opt. Tschgn.\u201c a. a. O. S. 177.\n6*","page":83},{"file":"p0084.txt","language":"de","ocr_de":"84\nSt. Witasek.\nbaut sich auch noch eine ganze Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmung dar\u00fcber auf.\nMan kann sich des Gef\u00fchles nicht erwehren, dafs dieser einzigen St\u00fctze zu viel zugemuthet wird. Dazu kommt weiters noch die Unbestimmtheit des Begriffs der Netzhaut-Localzeichen, die immer noch an das Wort Stumpe\u2019s 1 : \u201eallemal dieselbe Farbe, nur in anderer couleur\u201c erinnert.1 2 Bedenkt man schliefslich, wie schwierig es f\u00fcr den Leser wird, die eigenth\u00fcmliche Conception, in der sich Wundt aus dem Zusammenwirken von Netzhautbild und Bewegungsbild die Raumvorstellung entstehen denkt, eindeutig zu verstehen \u2014 zumal sie bald als Synthese, bald als blofse Association, bald als Assimilation auftritt \u2014 so wird man es begreiflich finden, wenn die Kritik der in Rede stehenden Theorie gegen\u00fcber eine zuwartende Stellung einnimmt und weitere Erg\u00e4nzungen und Kl\u00e4rungen von Seite des Autors abwartet, in dem vorl\u00e4ufig Gebotenen jedoch eine befriedigende L\u00f6sung des Problems der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen noch nicht zu erblicken vermag.\nZu ungef\u00e4hr demselben Ergebnifs f\u00fchrt auch die Kritik der beiden anderen oben erw\u00e4hnten physiologischen Erkl\u00e4rungsversuche, nur dafs die Schwierigkeiten, die sich diesen gegen\u00fcber ergeben, viel greifbarerer, gr\u00f6berer Natur sind.\nEinthoven st\u00fctzt seine Erkl\u00e4rung auf folgende Gedanken : \u201eWenn man eine Figur betrachtet, wird davon in einem und demselben Augenblick nur ein kleiner Theil deutlich wahrgenommen, und zwar derjenige Theil, der im Centrum der Retina abgebildet wird. Die \u00fcbrigen Punkte und Linien fallen auf die Netzhautperipherie und werden undeutlich gesehen .... Und weil man sich bei der Ortsbestimmung einer undeutlich wahrgenommenen Figur durch den Schwerpunkt ihres Netzhautbildes f\u00fchren l\u00e4fst, wird es m\u00f6glich, dafs Figuren oder Figurtheile von bestimmter Form beim indirecten Sehen verschoben erscheinen.\u201c3 Diese Verschiebungen bringt der Verfasser thats\u00e4chlich zur Anschauung, indem er die T\u00e4uschungsfiguren in Zerstreuungskreisen (photographisch) abbildet. Der \u201eSchwerpunkt des Netzhautbildes\u201c\n1\tStumpf, Ueber den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung. 1873. S- 100.\n2\tBesonders \u201eZur Theorie der r\u00e4uml. Gesichtswahrnehmung, a. a. O. S. 106\noben.\n3\ta. a. O. S. 2.","page":84},{"file":"p0085.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n85\nliegt dann nat\u00fcrlich immer dort, wo die meisten Zerstreuungskreise zur (theilweisen) Deckung kommen. Und es ist nun leicht ersichtlich, dafs z. B. bei der M\u00fcller-Lyer\u2019sehen Figur, wenn die Winkelschenkel nach einw\u00e4rts gekehrt sind, diese Schwerpunkte nach innen, wenn die Winkelschenkel nach ausw\u00e4rts gekehrt sind, nach aufsen r\u00fccken. Das entspricht bekanntlich der an dieser Figur zu beobachtenden T\u00e4uschung. Analoges ergiebt sich auch an der Z\u00f6llner\u2019sehen, der Poggendorfe\u2019sehen und anderen Figuren. Weiters stimmen auch die durch Messung ermittelten T\u00e4uschungsbetr\u00e4ge im Grofsen und Ganzen so ziemlich mit denen \u00fcberein, die Einthoven im Sinne seiner Theorie unter Zugrundelegung der freilich nur sehr unsicher bekannten Werthe der peripheren Sehsch\u00e4rfe ausrechnet.\nSoweit w\u00e4re Alles in Ordnung. Dafs beim Betrachten der T\u00e4uschungsfiguren das indirecte Sehen mit ins Spiel kommt, wird man wohl zugeben k\u00f6nnen. Dafs die dem indirecten Sehen eigenth\u00fcmliche Undeutlichkeit, der Erscheinung nach, von gleicher Art ist wie die der Zerstreuungskreise ist zwar vorg\u00e4ngig nicht ausgemacht und empirisch nicht erwiesen, ebensowenig aber auch das Gegentheil davon. Uebrigens treten ja bei jedem indirecten Sehen Zerstreuungskreise selber, wenn auch nur in geringem Umfange auf.1 Ebensowenig braucht das \u2014 freilich nicht besonders physiologische \u2014 Princip Bedenken zu erregen, dafs \u201eman sich .... durch den Schwerpunkt des Netzhautbildes f\u00fchren l\u00e4fst\u201c.\nDagegen ist es schon ziemlich schwer, zu glauben, dafs dieselben M\u00e4ngel, die dem indirecten Sehen anhaften, auch beim directen Sehen wirksam sein, und die T\u00e4uschungen, die ja vorzugsweise hier bemerkt werden, verursachen sollen. Die entscheidenden, unausweichlichen Schwierigkeiten jedoch ergeben sich aus den T\u00e4uschungsthatsachen selbst. Ich will nur an das Eine erinnern, dafs die Z\u00f6llner\u2019sehe T\u00e4uschung erhalten bleibt, auch wenn man die parallelen Hauptstreifen aus der Figur weg-l\u00e4fst, wobei dann die durch den Zwischenraum von einander getrennten, objectiv parallelen Transversalen-Columnen im selben Sinne divergent erscheinen, wie sonst die Hauptstreifen. Diese\n1 Siehe Hermann\u2019s Handb. d. Physiologie III, 1, S. 76 ff. \u2014 Aubert, Grundz\u00fcge d. physiol. Optik, Lpzg. 1876, S. 585, meint allerdings, dafs, Accommodation nat\u00fcrlich vorausgesetzt, sich auch die Objecte des indirecten Sehens ganz ohne Zerstreuungskreis abbilden.","page":85},{"file":"p0086.txt","language":"de","ocr_de":"St. Witasek.\n\u00a36\nT\u00e4uschung ist offenbar nur eine geringf\u00fcgige Modification der Z\u00f6llner\u2019sehen und jedenfalls gleichen Ursprungs mit dieser; es ist aber schlechterdings nicht abzusehen, wo hier f\u00fcr derart wirksame Zerstreuungskreise Gelegenheit sein sollte. Und \u00e4hnlicher Schwierigkeiten liefsen sich leicht mehrere Vorbringen. Ich will nur noch auf die gar nicht geringe Zahl von T\u00e4uschungen hinweisen, die sich nach des Verfassers eigenem Zugest\u00e4ndnifs unter sein Erkl\u00e4rungsprincip nicht f\u00fcgen. Dafs sich darunter auch die LoE\u00df\u2019sche T\u00e4uschung befindet, scheint mir insofern ganz besonders bedenklich, da der Nachweis ihrer Identit\u00e4t mit der Z\u00f6llner\u2019sehen T\u00e4uschung, wie ihn Heymans durch seine Messungen erbracht hat1, doch zu einleuchtend und deutlich ist.\nSo kann man sich also auch bei Einthoven\u2019s Erkl\u00e4rungs-Versuch, trotz aller ihm eigenen Vorz\u00fcge, nicht beruhigen. Und ganz \u00e4hnlich wird man sich auch gegen die j\u00fcngste der physiologischen Erkl\u00e4rungen, gegen die St\u00f6hr\u2019s, verhalten m\u00fcssen. An Originalit\u00e4t und K\u00fchnheit der Conception \u00fcbertrifft sie alle anderen \u2014 aber, so fern ab sie von den bisher begangenen Wegen geht, zur endlichen Befriedigung f\u00fchrt sie \u2014 wenigstens in ihrer jetzigen Gestalt \u2014 auch nicht.\nSt\u00f6hr sucht zun\u00e4chst die ElementarrT\u00e4uschung der Z\u00f6llner-schen Figur. Er findet sie in der scheinbaren Schiefstellung der durch die Transversalen bezeichneten Ebenen ; diese erscheinen n\u00e4mlich (und zwar in zweifach m\u00f6glicher Weise) gegen den Horizont und gegeneinander geneigt. Die scheinbare Divergenz der parallelen Hauptstreifen ist die Folge der Schiefstellung und der mit der Schiefstellung verbundenen Gr\u00f6fsen\u00e4nderungen. Woher kommt also die Schiefstellung? St\u00f6hr leitet seine Antwort aus Erfahrungen des stereoskopischen Sehens ab. Er giebt Figuren, die trotz starker, allerdings regelm\u00e4fsiger, r\u00e4umlicher Incongruenz bei stereoskopischer Vereinigung ein einheitliches scharfes Bild ergeben, das seinen r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnissen nach in der Mitte liegt. Erm\u00f6glicht werde dies durch eine eigent\u00fcmliche Th\u00e4tigkeit der Linse, die darauf gerichtet ist, die Incongruenzen der Netzhautbilder auszugleichen und die darin besteht, dafs sich einerseits die Linsen-axe dreht, andererseits sich die Linse selbst in verschiedenen\n1 Heymans, Quantitative Untersuchungen \u00fcber die Z\u00f6LLNER\u2019sche und die LoEB\u2019sche T\u00e4uschung. Zeitschr. f. Psych. XIV, 101 ff. (1897).","page":86},{"file":"p0087.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n87\nMeridianen oder gar auch in den beiden H\u00e4lften eines und desselben Meridians verschieden w\u00f6lbt. Dies werde bewirkt durch ungleiche Contraction, bezw. Abspannung der einzelnen L\u00e4ngsfasern des Ciliarmuskels. Und dadurch w\u00fcrden nun sowohl die scheinbare Bildebene der Figuren als auch deren Ausdehnungs-Verh\u00e4ltnisse alterirt; dasselbe ereigne sich auch beim Betrachten der Z\u00d6LLNEE\u2019schen und \u00e4hnlicher Figuren. \u2014\nDer ST\u00d6HE\u2019schen Erkl\u00e4rung bleibt unter allen Umst\u00e4nden das nicht zu untersch\u00e4tzende Verdienst, die Untersuchung auf einen neuen, bisher noch ganz unbeachteten Punkt, die Mitwirkung der Linse, hingewiesen zu haben; und die Befolgung dieses Hinweises d\u00fcrfte sich selbst nach der obigen kargen Wiedergabe der St\u00f6he\u2019sehen Gedanken als keineswegs aussichtslos darstellen. Ihr Werth liegt also \u2014 vielleicht \u2014 in der Zukunft, nicht in der Gegenwart. Denn in ihrer jetzigen Form k\u00f6nnen sie, wie gesagt, noch keineswegs befriedigen. Schon die Ableitung der Schiefstellung als Grunderscheinung ist nicht \u00fcberzeugend, ja in vielen Punkten mit der Beobachtung, wenigstens soweit ich nach mir urtheilen darf, sogar im Widerspruch. Dann l\u00e4fst aber auch die Erkl\u00e4rung, die St\u00f6he f\u00fcr diese Grunderscheinung giebt, gar manches Bedenken aufkomm en. Was zun\u00e4chst die Drehung der Linsen-Axe anlangt, so m\u00fcfste sie sich ja durch eine Verschiebung der an der Vorder- und der Hinterseite der Linse entstehenden Spiegelbilder leicht verrathen; daraufhin an-gestellte Versuche ergaben mir jedoch ein negatives Pesultat. Vielleicht k\u00f6nnten auch so kleine Linsendrehungen, wie sie hier allein denkbar sind, den gemeinten Erfolg noch nicht erzielen; wenigstens kann man sich leicht mit H\u00fclfe einer Glaslinse \u00fcberzeugen, dafs zu einer merklichen Gestalts-Aenderung des auf einen Schirm aufgefangenen reellen Bildes immer schon eine ziemlich bedeutende Linsendrehung (15 0 und mehr) erforderlich ist, und dafs der Gestalts-Ver\u00e4nderung eine viel zu grofse zerstreuende Wirkung zuvorkommt. Die gr\u00f6fste Schwierigkeit liegt aber darin, wie sich St\u00f6he die Mechanik der Linsenachsendrehung vorstellt. Denn ungleichm\u00e4fsige Contraction der L\u00e4ngsfasern des Ciliarmuskels kann diesen Erfolg kaum haben. Sie kann vielmehr nur zu einer ungleichm\u00e4fsigen Spannung der Linse in den verschiedenen Meridianen oder h\u00f6chstens in den beiden H\u00e4lften eines Meridians f\u00fchren. Auch diese Leistung verlangt St\u00f6he vom Ciliarmuskel. Er ist dabei, freilich ohne\n/","page":87},{"file":"p0088.txt","language":"de","ocr_de":"88\nSt Witasek.\nsich darauf zu berufen, insofern auf besser gegr\u00fcndetem Boden, als der Pathologie ein solches unsymmetrisches Functioniren des Ciliarmuskels unter dem Namen des (freilich selten vorkommenden Linsen-)Astigmatismus thats\u00e4chlich bekannt ist. Gerade aber aus diesen pathologischen Erfahrungen weifs man, dafs dabei immer nur in einer Richtung des Sehfeldes relativ scharf, in einer anderen, meist der darauf senkrechten, wegen des Auftretens der st\u00e4rksten Zerstreuungsbilder, am undeutlichsten, verschwommensten gesehen wird. Bei den Beobachtungen jedoch, auf die sich St\u00f6hr st\u00fctzt, ist die Sehsch\u00e4rfe in allen Richtungen des Sehfeldes die gleiche, und zwar die gleich gute. Das deutet also nicht auf Astigmatismus. Doch m\u00fcfste sich die Frage, ob ein solcher vorhanden ist oder nicht, durch die objective Untersuchung mit dem Augenspiegel entscheiden lassen. Dies war f\u00fcr mich schon deshalb von keinem Belang mehr, weil ich, und mit mir noch andere, unbedingt verl\u00e4fsliche Beobachter, die oben erw\u00e4hnten Versuche der stereoskopischen Vereinigung voneinander stark abweichender Einzelbilder, auf die allein St\u00f6hr seine Hypothese gr\u00fcndet, zum gr\u00f6fsten Theil nicht best\u00e4tigt finden konnte. Fast bei keiner einzigen gelang mir jene von St\u00f6hr verlangte modificirende Vereinigung. Ein Ueberschneiden der Bilder, Wettstreit oder ganz unregelm\u00e4fsige Gestaltungen waren das gew\u00f6hnliche Ergebnifs. Wenn also das Ganze nicht Ruf einer T\u00e4uschung beruht, so mufs St\u00f6hr eine stereoskopische F\u00e4higkeit eignen, die mir abgeht. Da ich aber die geometrischoptischen T\u00e4uschungen gerade so wie jeder andere sehe, so kann deren Ursache nicht in jener F\u00e4higkeit liegen. \u2014 Schliefslich bleibt St\u00f6hr noch die f\u00fcr die ganze Hypothese doch so wichtige Verbindung dieser seiner eigenartigen Ciliarmuskelmechanik mit den geom.-opt. T\u00e4uschungen schuldig. Denn wenn sich auch zur Noth plausibel machen l\u00e4fst, dafs die die geom.-opti-schen T\u00e4uschungen darstellenden Lage- und Richtungs-Verschieb ungen durch derartige Deformationen und Drehungen der Linse hervorgerufen werden k\u00f6nnen, so dr\u00e4ngt sich nun erst recht die Frage auf, warum denn gerade das Betrachten der T\u00e4uschungsfiguren eine solche Innervation des Ciliarmuskels hervorruft. \u201eAus der halbseitigen und bestimmt gerichteten Ver\u00e4nderung der Linsenw\u00f6lbung erkl\u00e4ren sich zahlreiche bekannte Pseudoskopieen z. B. die Verl\u00e4ngerung der mehrmals untergetheilten H\u00e4lfte einer Geraden in Bezug auf die unge-","page":88},{"file":"p0089.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n89\ntheilte H\u00e4lfte.\u201c 1 \u2014 Gut; damit w\u00e4re eine Ursache der T\u00e4uschung angegeben. Aber erkl\u00e4rt ist sie damit nicht; denn dazu w\u00e4re es n\u00f6thig, eine in der Beschaffenheit der T\u00e4uschungsfigur liegende Ursache f\u00fcr die Ungleichm\u00e4fsigkeit der Linsenw\u00f6lbung aufzuzeigen. Das geschieht jedoch nicht. Denn die wenigen Andeutungen, die eine so ungleichm\u00e4fsige Innervation des Ciliarmuskels als Reflexe plausibel machen sollen, sind hier gar nicht anwendbar. Und wenn St\u00f6hb sagt: \u201edas Doppelauge formt die Netzhautbilder so, dafs diese in der Lage der Ebene \u00fcbereinstimmen und in der Figur insofern congruent werden, als sie mit homologen Punkten auf identificirende Netzhautpunkte kommen,\u201c 2 3 * * * * so erinnert man sich daran, dafs ja die T\u00e4uschung bei monocularem Sehen gerade so gut eintritt, wie bei binocu-larem. Diesem Einwunde gegen\u00fcber kann die nur als Ver-muthung hingeworfene, v\u00f6llig ad hoc erfundene H\u00fclfshypothese nicht gen\u00fcgen, dafs die zusammengeh\u00f6rigen identificirenden Netzhautstellen eine viel best\u00e4ndigere Verbindung haben k\u00f6nnen, als man annehmen zu m\u00fcssen glaubt. Uebrigens liegt ein deutlicher Beweis f\u00fcr die Unzul\u00e4nglichkeit der ST\u00d6mt\u2019sehen Hypothese in dem Verhalten des aphakischen Auges. Ich hatte Gelegenheit, daraufhin mit einem Manne Untersuchungen anzustellen, dessen rechtes Auge in Folge Staroperation (mittels Extraction) der Linse beraubt, dessen linkes Auge normal war. Die T\u00e4uschungs- und Vexirfiguren ergaben, rechts- und links-monocular betrachtet, unter allen Umst\u00e4nden das gleiche Urtheil, die T\u00e4uschung war auch im linsenlosen Auge v\u00f6llig ungest\u00f6rt erhalten. Damit scheint mir die Erkl\u00e4rung St\u00f6hr\u2019s endg\u00fcltig abgethan.8\nEs f\u00e4llt mir gar nicht ein zu meinen, mit diesen wenigen Worten die Ausf\u00fchrungen Wundt\u2019s, Einthoven\u2019s und St\u00f6hr\u2019s entsprechend gew\u00fcrdigt zu haben. Dessen bedarf es an dieser\n1\ta. a. O. S. 24.\n2\ta. a. 0. S. 40.\n3\tkam erst w\u00e4hrend des Druckes der vorliegenden Abhandlung in die Lage, die oben erw\u00e4hnte Probe am Staroperirten vorzunehmen und be-\nhalte mir daher eine ausf\u00fchrlichere Mittheilung dar\u00fcber f\u00fcr eine allf\u00e4llige\nsp\u00e4tere Gelegenheit vor. Hier sei nur noch bemerkt, dafs die Operation\nmeiner Versuchsperson normal verlaufen, die Heilung g\u00fcnstig von Statten\ngegangen und l\u00e4ngst abgeschlossen war, und dafs das operirte Auge bei\nAnwendung der entsprechenden Gl\u00e4ser (-f- 9 D, bezw. -j- 13 D) vor dem ge sunden an Sehsch\u00e4rfe nicht erheblich zur\u00fcckstand.","page":89},{"file":"p0090.txt","language":"de","ocr_de":"/\n90\tW\u00effasek\nStelle nicht. Es war mir nur darum zu thun, zu erweisen, was ich eingangs behauptete, n\u00e4mlich dafs auch die j\u00fcngsten, auf physiologische Ueberlegungen auf gebauten Erkl\u00e4rungsversuche g\u00fcnstigen Falles eine weitere Vorbereitung der endlichen L\u00f6sung, keineswegs jedoch diese selbst darstellen. In der That wird man heute noch von keiner von ihnen behaupten k\u00f6nnen, dafs sie im Grundgedanken falsch ist und nicht einmal den Keim der endg\u00fcltigen Erkl\u00e4rung enth\u00e4lt ; aber ebensowenig ist es m\u00f6glich, die eine oder andere von ihnen in ihrer gegenw\u00e4rtigen Fassung f\u00fcr diese hinzunehmen.\nSo stehen heute die Erfolge und Aussichten der physiologischen und der psychologischen Erkl\u00e4rungsweise ziemlich gleichwerthig einander gegen\u00fcber, und es ist schwer zu sagen, ob bei einer solchen gegenseitigen Absch\u00e4tzung die soviel gr\u00f6fsere Zahl der \u2014 freilich s\u00e4mmtlich unzul\u00e4nglichen \u2014 psychologischen Erkl\u00e4rungen die strengere Pr\u00e4cision der physiologischen aufzuwiegen vermag.\nLiegt darin eine Mahnung, den kaum betretenen Weg der physiologischen Erkl\u00e4rungs weise als aussichtslos wieder zu verlassen ?\nSchon einmal, sehr bald nach Beginn der Bearbeitung dieses Problems, hat man einen solchen R\u00fcckzug angetreten. Denn es w\u00e4re unrichtig, zu meinen, dafs der Versuch einer physiologischen Erkl\u00e4rung \u00fcberhaupt erst in der j\u00fcngsten Zeit aufgetaucht sei. Bekanntlich hat schon Hering seine \u2014 \u00e4ltere, von Kundt weiter verfolgte \u2014 Erkl\u00e4rung mit allem Nachdruck als eine physiologische in Anspruch genommen. ,,Jede einfache Distanz wird vom Auge nicht nach der Tangente des Gesichtswinkels gesch\u00e4tzt, wie es, ohne einen Fehler zu begehen, geschehen m\u00fcfste, noch nach dem Bogen auf der Netzhaut, wie man bisher angenommen, sondern nach der Sehne, die dem Gesichtswinkel der Distanz im Auge zugeh\u00f6rt.\u201c 1 Die Sehne eines Kreisbogens ist im Verh\u00e4ltnifs zum Kreisbogen umso k\u00fcrzer, je gr\u00f6fser die Gradzahl des Kreisbogens ist. Bei der Abbildung der wirklichen Distanzen auf der kugeligen Netzhaut werden daher lange Distanzen verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig mehr verk\u00fcrzt als kurze; und so bilden sich Winkel unter 600 gr\u00f6fser, \u00fcber 600 kleiner ab als\n1 Kundt, Untersuchungen \u00fcber Augenmaafs. Pogg. Ann. 4. Reihe, XXX, 1863, S. 125.","page":90},{"file":"p0091.txt","language":"de","ocr_de":"Ueh er die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n91\nsie sind. Hering 1 weist dies durch eine einfache Construction nach, \u201edie unantastbar ist\u201c.1 2 3 Aber trotzdem ist auch dieser Versuch einer physiologischen Erkl\u00e4rung, \u2014 wenn er seinem Grundgedanken nach \u00fcberhaupt als solcher aufgefafst werden kann \u2014 sehr bald als den Thatsachen nicht entsprechend erkannt und fallen gelassen worden. Denn wollte man auch von allen tiefer liegenden Bedenken absehen, das eine gen\u00fcgt zur Widerlegung dieser Hypothese, dafs, wie schon Aubert 3 bemerkt hat, die aus ihr berechneten Werthe mit den durch Messung empirisch gefundenen nicht stimmen. \u2014 Die zweite \u00e4lterer Zeit angeh\u00f6rige physiologische Erkl\u00e4rung hat kaum Beachtung gefunden und ist heute ganz vergessen. Mit Recht. Denn die Grundannahme, auf die sie sich st\u00fctzt, ist willk\u00fcrlich aus der Luft gegriffen. Die zun\u00e4chst empfindenden Organe der Netzhaut, die St\u00e4bchen, seien beweglich und versch\u00f6ben sich thats\u00e4chlich bei der Betrachtung der T\u00e4uschungsfiguren; und da jedes von ihnen den ihm eigenen Raumwerth mitnehme, komme es zur scheinbaren Verschiebung.4 Es wird heute Niemandem einfallen, diese durch gar keine Erfahrung gest\u00fctzte Hypothese auch nur zu discutiren; als aufserordentlich charakteristisches Beispiel einer physiologischen Erkl\u00e4rung jedoch scheint sie trotzdem er-w\u00e4hnenswerth.\nAlso wie gesagt, man ist schon einmal von der physiologischen Erkl\u00e4rungsmethode zur\u00fcckgekommen; und wenn dabei zun\u00e4chst andere Gr\u00fcnde maafsgebend waren, vor Allem wohl, dafs man sich im psychologischen Ideenkreise nicht so sehr durch unbeugsame Thatsachen beengt f\u00fchlte, so mag doch auch jenes Mifsgl\u00fccken ein wenig dazu mitgewirkt haben.\nNat\u00fcrlich war dadurch \u00fcber die Frage, ob der physiologische oder psychologische Erkl\u00e4rungsweg der richtige sei, noch gar nichts ausgesagt; umsoweniger als die psychologischen Versuche damals schon und in der Folge bis auf den heutigen Tag, auch\n1\tBeitr\u00e4ge zur Physiologie. 1. Zur Lehre vom Ortssinne der Netzhaut. Leipzig 1861.\n2\tFunke-Gruenhagen, Lehrb. d. Physiologie II, 1879, S. 410.\n3\tAubert, Physiologie der Netzhaut, 1865, S. 260 ff.\n4\tScheffler, Physiol. Optik, 1865, I, S. 298 u. a. a. 0. ; ferner: Scheffler, Die Statik der Netzhaut und die pseudoskopischen Erscheinungen. Pogg. Ann. 5. Reihe, VII, 1866, S. 105 ff.","page":91},{"file":"p0092.txt","language":"de","ocr_de":"92\nSt. Witasek.\nkeinen besseren Erfolg aufzuweisen haben.1 Es w\u00e4re also ein planloses Hin- und Hertaumeln, wenn wir nun, da die neuerlichen Versuche auf physiologischem Wege wieder unbefriedigend ausfallen, ihn ohne weitere Pr\u00fcfung wieder verlassen wollten. Es scheint vielmehr an der Zeit, einmal gerade die Frage, ob die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen physiologischer oder psychologischer Natur sind, selbst zu untersuchen und wom\u00f6glich zur Entscheidung zu bringen.\nDie wenigen ausdr\u00fccklichen Aeufserungen, die sich \u00fcber diese Frage hier und da vorfinden, stehen s\u00e4mmtlich unter dem Banne einer ins Specielle ausgearbeiteten Erkl\u00e4rungshypothese, von der sie sozusagen dictirt worden sind, und entbehren jeder selbst\u00e4ndigen Begr\u00fcndung. Die, wie mir scheint, bedeutsamste darunter, die \u201eheuristische Maxime\u201c Wundt\u2019s, tvonach ,,im Allgemeinen, sofern nicht besondere Gr\u00fcnde im Wege stehen, die physiologischen Bedingungen als die prim\u00e4ren vorauszusetzen\u201c 2 3 sind, versagt praktisch dort, wo sich jeweils eine physiologische Hypothese als unzul\u00e4nglich erweist ; denn darauf wird man doch kaum rechnen k\u00f6nnen, alle physiologischenErkl\u00e4rungsm\u00f6giichkeiten je zu ersch\u00f6pfen. Theoretisch betrachtet hat sie, wie so ziemlich jede, die sich auf diesen Gegenstand bezieht, f\u00fcr die Forschung den Nachtheil, auf einer ganz bestimmtem Hypothese \u00fcber das Verh\u00e4ltnifs des Psychischen zum Physischen zu fufsen, also auf einer Frage, von deren gegenw\u00e4rtiger Beantwortung wir die Behandlung psychologischer Specialuntersuchung m\u00f6glichst unabh\u00e4ngig zu halten gewifs alle Ursache haben. \u2014 Der entschiedenen Forderung St \u00d6hr\u2019s3 nach physiologischer Erkl\u00e4rung steht die nicht minder entschiedene Forderung entgegengesetzten Inhaltes\n1\tMan wird unter den zahlreichen psychologischen Erkl\u00e4rungsversuchen keinen finden, gegen den nicht bereits triftige Bedenken vorgebracht worden w\u00e4ren. Der einzige, von dem das nicht gilt (Filehne, diese Ztschr. Bd. XVII), ist diesern Schicksale bis jetzt nicht etwa wegen Unangreifbarkeit entgangen, sondern nur deshalb, weil er, als erst der j\u00fcngsten Zeit angeh\u00f6rend, noch keine Beurtheilung erfahren hat. Im Uebrigen gilt von ihm, was von allen auf Perspective auf gebauten Erkl\u00e4rungsversuchen gilt.\n2\tWttndt, Ueber geom.-opt. T\u00e4uschungen a. a. O. S. 57 [51. \u2014 Ganz \u00e4hnlich auch Einthoven, a. a. 0. S. 1.\n3\ta. a. O. S. 2. Das Gleiche gilt auch von Scheffler.","page":92},{"file":"p0093.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n93\nvon Seiten Lipps\u2019 Brentano\u2019s 2 und Anderer gegen\u00fcber. Die Frage mufs also endlich einmal direct und ausdr\u00fccklich in Angriff genommen werden.\nDies erfordert aber vor Allem eine genaue, unzweideutige Kenntnifs des einer jeden der beiden Erkl\u00e4rungsarten Wesentlichen. Ich will mich nicht weiter damit aufhalten, zu zeigen, dafs eine solche Voruntersuchung thats\u00e4chlich nothwendig, und dafs diese Kenntnifs durch die Termini psychologisch und physiologisch noch keineswegs gegeben ist. Nur auf das Eine m\u00f6chte ich hinweisen : Je nachdem die Erkl\u00e4rung so oder so ausf\u00e4llt, wird die in den geometrisch-optischen T\u00e4uschungen hegende Anomalie als psychologische, bezwr. physiologische charakterisirt. Nun ist aber der T\u00e4uschungsvorgang ein physiologischer und psychologischer zugleich; und der Anomalie auf der einen Seite wird wohl auch eine solche auf der anderen Seite zugeh\u00f6ren. Was soll also eine derartige Scheidung? Weiters: Physisch und psychisch giebt zwar \u2014 von Dingen, die hier aufser Betracht bleiben, abgesehen \u2014 eine vollst\u00e4ndige Disjunction; deshalb mufs aber nicht auch dasselbe von.physiologischer und psychologischer Erkl\u00e4rung gelten, zumal dort, wo das zu Erkl\u00e4rende etwas \u2022 Physisches und Psychisches zugleich ist. Im ETebrigen will ich es dieser Voruntersuchung selber \u00fcberlassen, zu zeigen, dafs sie f\u00fcr die Erledigung der Hauptfrage nothwendig und f\u00f6rderlich ist. Die Termini : physiologische und psychologische Erkl\u00e4rung wenden sich ja im Allgemeinen so leicht an, dafs es nicht schwer sein wird, aus den speciellen F\u00e4llen das allgemein Charakteristische herauszufinden, um. dann an dem ganzen in die Erscheinung fallenden T\u00e4uschungsvorgange das ebenfalls der Wahrnehmung zug\u00e4ngliche Moment, auf das es bei dieser Untersuchung ankommt, zu erkennen, und so eine der Wahrnehmung zug\u00e4ngliche Thatsachengrundlage f\u00fcr die Untersuchung der Hauptfrage zu schaffen.\n\u00a7 2. Das Wes en der \u201ephysiologischen\u201c und der \u201epsychologischen\u201c Erkl\u00e4rungsmethode.\nDie Namen \u201ephysiologische\u201c, \u201epsychologische\u201c Erkl\u00e4rung sind am nat\u00fcrlichsten dahin zu verstehen, dafs diese mit psycho-\n1\tz. B. in seiner Hauptschrift \u00fcber diesen Gegenstand (Raum\u00e4sthetik und geom.-opt. Tschgn., Lpzg. 1897) S. VII, oder im Bericht vom 3. internationalen Congr. f. Psych. S. 219.\n2\tUeber ein optisches Paradoxon. Ztschr. f. Psych. Bd. 5, S. 72.\n/","page":93},{"file":"p0094.txt","language":"de","ocr_de":"94\nSt. Witasek.\nlogischen, jene mit physiologischen Ueberlegungen ihr Ziel erreicht ; das heifst also, dafs diese die Ursache der zu erkl\u00e4renden Erscheinung in psychischen, jene in physischen Thatsachen findet.\nDer wissenschaftliche Sprachgebrauch belegt diese Auffassung mit zahlreichen Beispielen.\nUnter den psychologischen Erkl\u00e4rungen der geometrischoptischen T\u00e4uschungen wird man zumeist auf solche stofsen, die als T\u00e4uschungsursache eine beim Anblick der T\u00e4uschungsfigur auftauchende Vorstellung zu erweisen suchen. Nach Auerbach1 z. B. ist die Ursache der M\u00fcller-Lyer\u2019sehen T\u00e4uschung in Geraden gegeben, die man sich im Geiste parallel zu den zu vergleichenden Geraden gezogen denkt ; weil diese hinzugedachten Geraden deutlich ungleich lang sind, so glaube man dasselbe auch von den wirklichen. Ziemlich Aehnliches besagt Laska\u2019s \u201ePrincip der k\u00fcrzesten Verbindung von Discontinuit\u00e4ten\u201c.2 3 4 5 Auch Guye\u2019s 3 Erkl\u00e4rung des Uebersch\u00e4tzens von spitzen und Untersch\u00e4tzens von stumpfen Winkeln \u2014 durch Reproductions-vorstellung von rechten Winkeln \u2014 d\u00fcrfte hierher geh\u00f6ren. Ebenso der von Brentano 4 in ablehnendem Sinne vorgef\u00fchrte Versuch, die M\u00fcuLER-LYER\u2019sche T\u00e4uschung dadurch zu erkl\u00e4ren, dafs die Endschenkel die Vorstellung von gespannten Seiten hervorriefen, die die Vergleichsgeraden ausdehnten bezw. zusammenz\u00f6gen. Ein \u00e4hnlicher, jedoch ungleich feinerer, tieferer Gedanke liegt der von Lipps 5 so kunstvoll und geistreich aufgef\u00fchrten Theorie zu Grunde, wonach bekanntlich \u2014 bewufste oder unbewufste \u2014 Vorstellungen von in den betrachteten Figuren wirksamen Kr\u00e4ften Ursache der T\u00e4uschung sind.\nIn allen bisher aufgef\u00fchrten Erkl\u00e4rungsversuchen ist es eine associativ auftretende Vorstellung, die die T\u00e4uschung\n1\tAuerbach, Erkl\u00e4rung der BRENTANo\u2019schen opt. T\u00e4uschung. Diese Zeitschr. VII, S. 152 ff., 1894.\n2\tLaska, Ueber einige optische Urtheilst\u00e4uschungen. Du Bois\u2019 Arch. f. Physiol. 1890, S. 326 ff.\n3\tGuye, Over onbewuste besluiten on ene opmerking omtrent de pseudoscop, figuur van Z\u00f6llner. Maandblad for Natuunvetenschapen 1873, VI. Vgl. auch Rev. scient. LI, 1893, S. 593.\n4\tBrentano, Ueber ein opt. Paradoxon. Diese Zeitschr. Ill, S. 349 ff.\n5\tLipps, Raum\u00e4sthetik und geom.-opt. T\u00e4uschungen, Leipzig 1897. Durch dieses Buch sind die \u00e4lteren Publicationen Lipps\u2019 \u00fcber diesen Gegenstand bekanntlich in der Hauptsache belanglos geworden.","page":94},{"file":"p0095.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n95\nverursachen soll. Aber auch Wahrnehmungsvorstellungen, beziehungsweise Wahrnehmungsurt heile wurden f\u00fcr diese Leistung in Anspruch genommen. So soll es z. B. nach Classen1 2 und nach Bernstein 2 der Anblick der Transversalen sein; weil diese sich in der einen Richtung n\u00e4hern, so meine man irrth\u00fcm-lich, die Parallelen entfernten sich in dieser Richtung von einander. In anderer Weise macht Heuse 3 eben diese Transversalen f\u00fcr die T\u00e4uschung verantwortlich: Weil der Winkel je eines Paares von ihnen den des n\u00e4chsten gleichsam einschliefse, halte man ihn f\u00fcr gr\u00f6fser als diesen, so dafs die Ausweitung der Winkel und mit ihnen die der Parallelen zuzunehmen scheine. Einen \u00e4hnlichen Gedanken, nur \u00fcbertragen auf die Gesichtswinkel vertritt Baccaloglo.4 5 6 Das Uebersch\u00e4tzen der Winkel ist nach Jastrow 0 eine Folge von der Wahrnehmung der Richtung des Winkels. Auch Dresslar\u2019s g Erkl\u00e4rung der Poggendoree\u2019-schen T\u00e4uschung geh\u00f6rt hierher ; die st\u00f6rend dazwischen tretende Wahrnehmungsvorstellung ist hier die Augenbewegung, die erforderlich ist, um vom Ende des einen Linienst\u00fcckes zum Anfang der Fortsetzung zu gelangen, und die zur Meinung Veranlassung geben soll, man sei mit dem Blick nicht in unver\u00e4nderter Richtung schief her\u00fcber, sondern vertical abw\u00e4rts gegangen.\nDie angef\u00fchrten Beispiele von psychologischen Erkl\u00e4rungsversuchen stimmen auf den ersten Blick dazu, dafs die psychologische Erkl\u00e4rungsmethode wesentlich dadurch charakterisirt ist, die Ursache der T\u00e4uschung in einer psychischen Thatsache \u2014 in den vorgef\u00fchrten Beispielen war es eine Vorstellung oder ein Urtheil \u2014 zu sehen. Es giebt aber Erkl\u00e4rungsversuche, an denen sich dieses Kriterium nicht so leicht erkennen l\u00e4fst, obwohl auch sie unzweifelhaft als psychologische zu charakterisiren sind. Ich\n1\tClassen, Physiologie des Gesichtssinnes, Jena 1876, S. 198.\n2\tBernstein, Die f\u00fcnf Sinne d. Menschen, Leipzig 1875, S. 141.\n3\tHeuse, Noch einmal das Z\u00f6LLNER\u2019sche Muster. Arch. f. Ophtalmol. XXV, 1, 1879, S. 121.\n4\tBaccaloglo, Ueber die von H. Z\u00f6llner beschriebene Pseudoskopie. Pogg. Ann. Bd. XXIII (4. Reihe), 1861, S. 333.\n5\tJastrow, A study of Z\u00f6llner\u2019s figures and other related illusions. Amer. Journ. of Psych. IV, S. 381 ff., 1891.\n6\tDresslar, A new illusion for touch and an explanation for the illusion of displacement of certain cross lines in vision. Amer. Journ. of Psych. VI S. 275, 1894.","page":95},{"file":"p0096.txt","language":"de","ocr_de":"96\nSt. Witasek.\ndenke hier nicht an Delboeuf 1 2 3 4 5, Binet -, Biervliet 3 n. A. bei denen die erw\u00e4hnten Schwierigkeiten nur daraus entspringen, dafs die Rolle der Augenhewegungen in ihren Theorieen nicht unzweideutig klar ist. Wohl aber an jene Erkl\u00e4rungsversuche, die das Factum der T\u00e4uschung in einer Verwechselung in Sachen der Vergleichungsgegenst\u00e4nde finden. Dafs die beiden gleich langen Strecken der M\u00fcller-Lyer\u2019sehen Figur f\u00fcr ungleich gehalten werden, hat nach Brunot 4 seine Ursache darin, dafs wir gar nicht diese Geraden unserem Vergleich zu Grunde legen, sondern die Distanz der Mittelpunkte der beiderseitigen Ansatzst\u00fccke, nach M\u00fclleb-Lyeb 5 gar die angrenzenden Fl\u00e4chen, und dann die hier gefundene Ungleichheit irrth\u00fcmlich den zwar zu vergleichenden aber gar nicht verglichenen Hauptgeraden zuschreiben. Aehnlich versteht Laska6 gewisse L\u00e4ngent\u00e4uschungen an Winkelschenkeln dadurch, dafs man eigentlich nicht die Winkelschenkel selbst, sondern deren Projectionen auf die Verticale mit einander vergleicht. In diesen F\u00e4llen ist es, wie gesagt, schon schwierig, die Bewufstseinsthatsache ausfindig zu machen, auf deren Rechnung hin sie gem\u00e4fs der eingangs aufgestellten Auffassung vom Wesen der psychologischen Methode als psychologische Erkl\u00e4rungsversuche angesprochen werden m\u00fcssen.\nAber die Sache geht noch weiter. Die alte Z\u00d6LLNER\u2019sche Erkl\u00e4rung 7 findet die Ursache der T\u00e4uschung nicht nur nicht in einer Vorstellung, sondern \u00fcberhaupt nicht in irgendwelchen psychischen Thatsachen, und doch tr\u00e4gt sie deutlich den Charakter einer psychologischen Erkl\u00e4rung. Sie besagt bekannt-\n1\tDelboeuf, Notes sur certaines illusions d\u2019opt. Bull, de VAcad. roy. de Belg. 2 s\u00e9r. XIX, S. 195, 1865. \u2014 Seconde note sur de nouvelles illusions d\u2019optique. Ebenda XX, S. 70 ff., 1865. \u2014 Une nouvelle illusion d\u2019optique. Ebenda 3. s\u00e9r. XXIV, S. 545, 1893.\n2\tBinet, La mesure des illusions visuelles chez les enfants. Rev. phil. XL, S. 11 ff., 1895.\n3\tBiervliet, Nouvelles mesures des illusions visuelles chez les adultes et les enfants. Rev. phil. XLI, S. 169 ff., 1896.\n4\tBbunot, Les illusions d\u2019optique. Rev. scient. LU, 7, S. 210 ff , 1893.\n5\tM\u00fcller-Lyeb, Opt. Urtheilst\u00e4uschungen. Du Bois\u2019 Archiv f. Physiol. 1889, Suppl.-Bd., S. 263 ff.\n6\tLaska, a. a. O.\n7\tZ\u00f6llner, Ueber die Natur der Kometen, Leipzig 1872, S. 378 ff. \u2014 (Ueber eine neue Art von Pseudoskopie. Pogg. Ann. CX, 1860.)","page":96},{"file":"p0097.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n97\nlieh, dafs beim Uebergang von der erfolgten Erkenntnifs der Divergenz der Transversalen zur Betrachtung der Hauptstreifen diese unmittelbar nur im entgegengesetzten Lageverh\u00e4ltnifs der Convergenz erscheinen k\u00f6nnen, nicht in dem des Parallelismus, da zum Zustandekommen dieser Vorstellung (gleichwie zu der der Ruhe) mehr Zeit erforderlich sei, weshalb sich auch die zuerst auftauchende Vorstellung der Convergenz behaupte. Nach dieser Eikl\u00e4rung sind es also die bereits aufserhalb des Bewufstseins hegenden Bedingungen des Entstehens der Vorstellungen, sonach etwas keineswegs Psychisches, was die T\u00e4uschung verursacht. Und trotzdem ist es eine psychologische Erkl\u00e4rung.\nAlso kann das wesentliche Merkmal dessen, was man als \u201epsychologische\u201c Erkl\u00e4rung zu bezeichnen gewohnt ist, nicht darin liegen, dafs sie als Ursache eine Thatsache des Bewufstseins angiebt. Die Charakteristik \u201epsychologisch\u201c kann nicht,\nwenigstens nicht nur, \u2014 von der Art der angegebenen Ursache genommen sein; sie mufs sich nach etwas Anderem richten k\u00f6nnen. Wonach? Nach der Art des urs\u00e4chlichen Wirkens? Dadurch kommt nichts Neues herein; denn dieses stellt sich ja doch wieder nur als eine zwischengeschobene Kette von Ursachen und Wirkungen dar. Also vielleicht nach der n\u00e4chsten, ersten Wirkung? \u2014\nBei den \u201ephysiologischen\u201c Erkl\u00e4rungen ergiebt sich keine solche Schwierigkeit. Sie stimmen alle dazu, dafs sie die T\u00e4uschung in physischen Verh\u00e4ltnissen begr\u00fcndet sein lassen; nirgend ist dabei von psychischen Thatsachen (als den verursachenden) die Rede. Worin hegt nun der wesentliche Unterschied zwischen ihnen und jenen oben erw\u00e4hnten psychologischen, bei denen die Sache auch so stand?\nEs ist leicht, die Antwort darauf aus den Beispielen selbst abzulesen. Z\u00f6llner selbst fafst die PoGGENDOREE\u2019sche T\u00e4uschung als Folge von Astigmatismus.1 Einthoven spricht von Zerstreuungskreisen auf der Netzhaut, St\u00f6hr von einer Verzerrung der Netzhautbilder durch Linsendrehung, M\u00fcnsterberg st\u00fctzt seine Erkl\u00e4rung auf Irradiation.2 Halten wir dagegen die\n1\tZ\u00f6llner, Ueber die Abh\u00e4ngigkeit der pseudoskopischen Ablenkung paralleler Linien von dem Neigungswinkel . .. Pogg. Ann. CXIY, 1861. (Auch abgedr. im Buche \u201eUeber die Natur der Kometen\u201c.)\n2\tM\u00fcnsterberg, Die verschobene Schachbrettfigur. Diese Zeitschr. XV S. 184 ff.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XIX.\n7","page":97},{"file":"p0098.txt","language":"de","ocr_de":"98\nSt. Witasek.\noben wiedergegebene Erkl\u00e4rung Z\u00f6llners: Die Zeit ist zu kurz, um die Erkenntnifs des Parallelismus aufkommen zu lassen, aber w\u00e4re ausreichend Zeit vorhanden, so k\u00f6nnte man auf Grund der Sinneswahrnehmung diese Erkenntnifs gewinnen; denn das Anschauungsmaterial, wie es psychisch vorliegt, enth\u00e4lt das Bild von Parallelen, und nur die f\u00fcr die Erkenntnifs des Parallelismus ung\u00fcnstigen Umst\u00e4nde verschulden es, dafs das Urtheil nicht der Beschaffenheit der WahrnehmungsVorstellung folgt, sondern zur T\u00e4uschung f\u00fchrt. Liegt die Sache jedoch so, wie sie sich etwa St\u00f6hr denkt, so kann man auf Grund der blofsen directen Sinneswahrnehmung niemals zur Erkenntnifs des Parallelismus kommen, ja umsoweniger, je l\u00e4nger und genauer man sie sich ansieht, weil nach dieser Auffassung eben schon die Wahrnehmungs Vorstellung selbst das Bild des Parallelismus nicht mehr bietet.\nNach den psychologischen Erkl\u00e4rungen also greift die T\u00e4uschungsursache an einem anderen Punkte des T\u00e4uschungsvorganges an, als nach der physiologischen: Darin liegt der wesentliche Unterschied. Nach jenen, den psychologischen, handelt es sich um eine Ablenkung des Urtheils das sich nat\u00fcrlich auf die Wahrnehmungsvorstellung auf baut, aber nicht auf normale Weise, sondern beirrt durch die T\u00e4uschungsursache; die Wahrnehmungsvorstellung entspricht in normaler Gesetzm\u00e4fsigkeit der \u00e4ufseren Figur, aber auf dem Wege .von da zum Urtheil geht etwas von der Norm Abweichendes vor sich. Nach den physiologischen Erkl\u00e4rungen jedoch ereignet sich die St\u00f6rung des gew\u00f6hnlichen Verlaufes bereits auf dem Wege vom \u00e4ufseren Reiz (der Figur) zur Wahrnehmungsvorstellung, so dafs schon diese der \u00e4ufseren Figur nicht mehr entspricht und das Urtheil, auch wenn es sich in v\u00f6llig normaler Weise auf die Wahrnehmungsvorstellung st\u00fctzt, nothwendig falsch sein mufs. Die psychologischen Erkl\u00e4rungen fassen ihren Gegenstand als Urtheils-, die physiologischen als Empfindungst\u00e4uschungen auf.\nIch sage damit im Wesentlichen nichts Neues. Aber folgende zwei nicht unwichtige Punkte d\u00fcrften durch obige Darlegung zu aller w\u00fcnschenswerthen Klarheit gebracht worden sein.\nErstens, dafs die Ausdr\u00fccke \u201ephysiologische\u201c und \u201epsychologische\u201c Erkl\u00e4rung unzutreffend sind. Es ist dies scheinbar eine terminologische Angelegenheit, geht aber doch auch die","page":98},{"file":"p0099.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n99\nBache und deren Behandlung an. Denn durch diese alte Bezeichnung ist das Wesen der Gegen\u00fcberstellung nicht nur verdeckt, sondern geradezu der Untersuchung, welche der beiden Auffassungen das Richtige trifft, entzogen worden. Erst durch diu Erkenntnifs, dafs es sich dabei um die Gegen\u00fcberstellung von Empfindungs- und Urtheilsanomalie handelt, wird die psychologische Untersuchung auf den Punkt hingewiesen, an welchem das Kriterium f\u00fcr die Richtigkeit einer der beiden Auffassungen in die (psychische) Erscheinung treten mufs und somit die Frage der directen psychologischen Behandlung zug\u00e4nglich gemacht.\nZweitens, dafs nach jeder der beiden Auffassungen das Ur-theil im T\u00e4uschungsvorgange eine Rolle spielt. Freilich eine f\u00fcr die T\u00e4uschung als solche wesentliche nur dann, wenn sie eben eine Urtheilst\u00e4uschung ist. Aber auch wenn die Empfindungshypothese Recht hat, wird der T\u00e4uschungsvorgang erst durch das (falsche) Urtheil voll. Der gesammte Procefs nimmt doch offenbar folgenden Verlauf: Vom physikalischen und physiologischen Reiz durch Vermittelung des Sinnesorganes und seiner centralen Anh\u00e4nge zur Empfindung bezw. Wahrnehmungsvorstellung und dann zum Urtheil \u00fcber die Raumverh\u00e4ltnisse der Figur. Das Urtheil ist bei der T\u00e4uschung allemal dabei, ob sie nun nach dem Typus der Empfindungs- oder nach dem der Urtheilst\u00e4uschung abl\u00e4uft. Nicht gerade deshalb, weil eine T\u00e4uschung, deren Wesen ja doch darin besteht, etwas Unwahres, Falsches auszusagen, als solche nur in einem Urtheil gegeben sein kann. Wohl aber deshalb, weil, solange zur Wahrnehmungsvorstellung kein Urtheil hinzutritt, dasjenige, was sie bietet, \u00fcberhaupt nicht zum Bewufstsein kommt und f\u00fcr die Erkenntnifs der Aufsenwelt gleichg\u00fcltig, weil unverwerthet bleibt. Ueberall dort, wo es sich um Erkenntnifs handelt, sei es um eine wirkliche oder eine irrige, ist sie in Gestalt eines Urtheils gegeben. Die Vorstellungen f\u00fcr sich, die WahrnehmungsVorstellungen so gut wie alle anderen, enthalten wohl allerhand Qualit\u00e4ten, sind aber noch nicht auch das Wissen um diesen ihren Inhalt, und wenn auch zu allermeist beides gleichzeitig miteinander gegeben ist, so ist es darum doch nicht ein und dasselbe. Vielmehr ist eine Trennung zwischen beiden sehr wohl denkbar, bisweilen sogar verwirklicht \u2014 kurz, Vorstellen und Wissen vom Vorstellen bezw. Vorgestellten ist zweierlei. Das\n7*","page":99},{"file":"p0100.txt","language":"de","ocr_de":"100\nSt. Witasek.\ngilt auch von den geometrisch-optischen T\u00e4uschungen. Erst indem z. B. in der Z\u00d6LLNE\u00df\u2019schen Figur die Hauptstreifen als convergent erkannt werden, ist der T\u00e4uschungsvorgang complet; und das ist nothwendig, gleichg\u00fcltig oh sich diese in der Wahrnehmungsvorstellung parallel ahbilden oder nicht. Solange das, was da als Z\u00f6uLNE\u00df\u2019sche Figur gesehen wird, nicht beachtet, nicht zum Gegenstand eines Urtheils gemacht wird, ist der normale T\u00e4uschungsVorgang, der unserer Untersuchung zu Grunde liegt, noch nicht vollst\u00e4ndig. Dieser besteht eben aus dem physiologischen Reiz, der Empfindung (Wahrnehmungsvorstellung) und dem Urtheil.\nDamit ist keineswegs gesagt, dafs, wie Wundt diese Auffassung zu verstehen scheint, jede Wahrnehmungsvorstellung ein Urtheil ist.1 Vielmehr soll dadurch gerade die Unterscheidung der Wahrnehmungsvorstellung von dem in der Regel sich daran schliefsenden Urtheil ausgedr\u00fcckt sein. Es ist daher unzutreffend, die Urtheilst\u00e4uschungen gegen\u00fcber den Empfindungst\u00e4uschungen dadurch zu charakterisiren, dafs bei ihnen noch ein psychisches Plus, eben jener \u201eeigenth\u00fcmliche\u201c Urtheilsact, vorhanden ist, der diesen fehlt. Nein, dieser Urtheilsact ist, wie ich meine, hei beiden vorhanden. Daher ist es freilich richtig, dafs man der ganzen Betrachtungsweise der Urtheilshypothesen den Boden entzieht2, wenn man den Urtheils Vorgang nicht anerkennt; aber das geschieht unberechtigter Weise und liefert nur eine irrige Widerlegung der Urtheilshypothesen, abgesehen davon, dafs es auch das Bild des Wesens der Empfindungst\u00e4uschung entstellt.\nSonach stellt sich der ganze Vorgang als eine Entwickelung^ dar, in welcher aus dem unbewufsten Strom urs\u00e4chlichen Wirkens zwei Etappen als in die (psychische) Erscheinung tretende That-sachen des Bewufstseins hervorragen : In der Mitte die Empfindung und am Ende das Urtheil. Dadurch ergeben sich zwei Abschnitte ; der erste reicht bis zur Empfindung, der zweite von da bis zum Urtheil. Liegt die T\u00e4uschungsursache im ersten Abschnitt der Entwickelung, so mufs dies bereits an der ersten Etappe, der Empfindung, zum Ausdruck kommen, und der Fall\n1\tWundt, Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmung, a. a. 0. S. 46.\n2\tWundt, Geom.-opt. T\u00e4uschungen, a. a. 0. S. 116.","page":100},{"file":"p0101.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n101\nist eine Empfindlingst\u00e4uschung. Liegt die T\u00e4uschungsursache erst im zweiten Abschnitte der ganzen Entwickelung, so macht sie sich erst im Urtheil geltend, und die Urtheilshypothese hat Hecht. Lurch diese Uebersicht gewinnen wir gleichzeitig die Gew\u00e4hr, dafs eine dritte, der Empfindungs- und der Urtheilshypothese coordinate Auffassung der Sachlage nicht m\u00f6glich ist.\nGewifs ; jedoch nur dann, wenn wir auch die Gew\u00e4hr haben, dafs sich auf dem Wege der Entwickelung vom Heiz bis zum Urtheil nicht noch eine dritte, der Empfindung und dem Urtheil coordinirte Etappe vorfindet.\nStellt man nun nicht der Empfindung die Wahrnehmungsvorstellung als das n\u00e4chste Entwickelungsproduct zur Seite?\nAeltere wie neuere Psychologie hat die WahrnehmungsVorstellung als eine Thatsache des Bewufstseins anerkannt und von der Empfindung unterschieden. Ob mit Hecht, wird kaum in Frage gezogen werden k\u00f6nnen. Die Empfindungen sind das relativ Einfache, die Wahrnebmu\u00fcgs Vorstellungen das Zusammengesetzte, das sich auf und aus den Empfindungen aufbaut. Nicht selten, und, wie es scheint, mit Erfolg ist die Mitwirkung von reproductive!! Vorstellungen beim Aufbau dieses Complexes aufgezeigt worden, und auch dann, wenn eine solche nicht Platz greift, wird man kaum behaupten wollen, dafs die Wahrnehmungsvorstellung nichts anderes als die Summe (das \u201eobjective Collectiv\u201c) der Empfindungen sei. Es ist also von der Empfindung bis zur Wahrnehmungsvorstellung gewifs auch noch ein St\u00fcck Entwickelung, eine Entwickelung, die nach dem eben Erw\u00e4hnten in zweifacherWeise vor sich gehen kann; die M\u00f6glichi keit ist nicht ausgeschlossen, dafs gerade dieses St\u00fcck den Angriffspunkt der T\u00e4uschungsursache enth\u00e4lt. Dann aber w\u00e4re die T\u00e4uschung weder Empfindungs- noch Urtheilst\u00e4uschung.\nLiegt also darin die N\u00f6thigung, den diesen beiden T\u00e4uschungsarten entsprechenden Erkl\u00e4rungsm\u00f6glichkeiten eine dritte beizuordnen? Nein. Empfindung, Wahrnehmungs Vorstellung und Urtheil sind nicht drei einander coordinirte Entwickelungsphasen. Die beiden Erstgenannten geh\u00f6ren gegen\u00fcber dem Urtheil ge-wissermaafsen zusammen. Empfindung und Wahrnehmungsvorstellung sind einander nicht coordinirt, so wie diese dem Urtheil. Wohl sind beide actuelle, ph\u00e4nomenale Thatsachen des Bewufstseins, aber nicht zwei von einander getrennte oder wirklich trennbare, sondern zwei, von denen die eine, die Empfindung,","page":101},{"file":"p0102.txt","language":"de","ocr_de":"102\nSt. Witasek.\nsozusagen ein Theil der anderen, der Wahrnehmungs vorstellung ist und in sie hineinf\u00e4llt. Der Gegenstand des Bewufstseins tritt dabei nicht zweimal in die psychische Erscheinung, etwa einmal als Empfindung und dann nochmals als Wahrnehmungs Vorstellung, sondern nur im Ganzen der Wahrnehmungsvorstellung. Diese bietet sich zuerst und unmittelbar dem Bewufstsein dar; um der Empfindung als solcher habhaft zu werden, m\u00fcssen wir jene analysiren, von dem uns zun\u00e4chst und unmittelbar gegebenen, vollkommeneren, complicirteren Zustand auf das Einfache gleichsam zur\u00fcckgehen.\nSo sind also nur die Wahrnehmungsvorstellung und das Urtheil als unmittelbare, ph\u00e4nomenale, psychische Ergebnisse des ganzen T\u00e4uschungsvorganges anzusehen; diese beiden sind einander coordinirt. Denn, wenn auch das Urtheil insofern von der Vorstellung abh\u00e4ngig ist, als es kein Urtheilen ohne Vorstellen geben kann, so ist es doch nichts weniger als \u2014 so wie die Empfindung \u2014 ein, wie immer reales Ergebnifs von Analyse und Abstraction.\nDamit ist gesagt, dafs die urspr\u00fcngliche Zweiheit der Erkl\u00e4rungsm\u00f6glichkeiten erhalten bleibt; nur insofern mufs den letzten Ueberlegungen Rechnung getragen werden, als der Urtheils-hypothese nicht die Empfindungs- sondern die (Wahrnehmungs-) Vorstellungshypothese gegen\u00fcber zu stellen ist.\nDer Terminus \u201eEmpfindungshypothese\u201c verliert deshalb durchaus nicht Sinn und Brauchbarkeit. Es ist ja leicht ersichtlich, das sich innerhalb des Gebietes der Wahrnehmungsvor-stellungshypothese wieder zwei Erkl\u00e4rungsm\u00f6glichkeiten klar gegeneinander abgrenzen lassen. Denn trotz des innigen Verh\u00e4ltnisses, in dem Empfindung und Wahrnehmungs vor Stellung zu einander stehen, ist immerhin der Fall im Auge zu behalten, dafs die T\u00e4uschungsursache lediglich an der Empfindung selbst betheiligt ist, so dafs diese bereits inad\u00e4quat wird, gegen\u00fcber dem Fall, wo sie erst an der Verarbeitung der einfachen Empfindungsdaten zur Wahrnehmungs vor Stellung einsetzt. Dem ersten Bachverhalt w\u00fcrde die Empfindungshypothese in aller Strenge gerecht werden; dem zweiten entspr\u00e4che die Wahrnehmungsvorstellungshypothese im engeren Sinne.\nDie Geschichte der geometrisch - optischen T\u00e4uschungen liefert Beispiele f\u00fcr beide Unterarten. So stellen sich St\u00f6hr, Einthoven, Scheffler mit aller w\u00fcnschenswerthen Klarheit als","page":102},{"file":"p0103.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\t103\nVertreter von Empfindungshypothesen dar. Der andere Typus ist ebenso deutlich in der sonst allerdings nicht bestechenden Erkl\u00e4rung Uebeehorst\u2019s1 2 ausgepr\u00e4gt. Dafs wir spitze Winkel zu grofs, stumpfe zu klein sehen, ist nach ihr dadurch verursacht, dafs die an und f\u00fcr sich noch entsprechende Empfindung nicht wie sonst eine Einbildungsvorstellung gleichen Inhalts associativ hervorruft, um mit ihr zur Wahrnehmungsvorstellung zu verschmelzen, sondern, wegen des Uebergewichts, das der rechte Winkel in unserem Vorstellen behauptet, die eines rechten Winkels, so dafs nun, indem sie mit dieser verschmilzt, die Wahrnehmungsvorstellung eines Winkels herauskommt, der gr\u00f6fser, bezw. kleiner als der wirkliche ist. Auch Guye\u2019s 2 \u00e4hnliche Ausf\u00fchrungen geh\u00f6ren hierher. Ob dies nicht auch von Lipps gilt, k\u00f6nnte nach manchen seiner Aeufserungen ernstlich in Erw\u00e4gung gezogen werden. So sagt er: die T\u00e4uschung entsteht, indem wir die Vorstellungen der Tendenzen oder Th\u00e4tig-keiten, die uns in r\u00e4umlichen Formen unmittelbar zu liegen scheinen, vollziehen, d. h. den Tendenzen in unserer Vorstellung nachgeben, die Th\u00e4tigkeiten in unserer Vorstellung sich verwirklichen lassen.3 Doch betont er\u2018in fr\u00fcheren4 wie in sp\u00e4teren5 Arbeiten ausdr\u00fccklich die Auffassung als Urtheilst\u00e4uschung, so dafs auch diese Stelle kaum ad verbum verstanden werden darf.\nEs mag sein, dafs der Sinn dessen, was man physiologische Erkl\u00e4rung zu nennen pflegt, durch diese endg\u00fcltige Definition der Wahrnehmungsvorstellungshypothese um einiges verlassen ist. Ja vielleicht scheint es sogar, dafs ihre beiden Untergruppen so grundverschiedener Natur sind, dafs es mifsverst\u00e4ndlich ist, sie thats\u00e4chlich als deren coordinirte Untergruppen hinzustellen. Die reinen Empfindungshypothesen, wie die St\u00f6hk\u2019s, Einthoven\u2019s, Schefeler\u2019s u. A. sprechen von der Linse und deren Drehungen, von Zerstreuungskreisen auf der Netzhaut, von den Sehst\u00e4bchen u. s. w. ; die Wahrnehmungsvorstellungshypothesen, wie\n1\tUeberhorst, Eine neue Theorie der Gesichtswahrnehmung. Ztschr. f. Psychol. Bd. XIII, S. 54 ff.\n2\tGuye, Over onbewuste besluiten on ene opmerking omtrent de pseudosc. figuur van Z\u00f6llner. Maandbl. f. Natuurwetensch.VI,187\u00f6. Vgl. Referat a.a.O.\n3\tLipps, Die geom.-opt. T\u00e4uschungen. Zeitschr. f. Psychologie XII, S. 40, 1896.\n4\tLipps, Optische Streitfragen II. Zeitschr. f. Psychol. Ill, S. 498ff., 1892.\n5\tLipps, Raum\u00e4sthetik und optische T\u00e4uschungen, Leipzig 1897, S. 66.","page":103},{"file":"p0104.txt","language":"de","ocr_de":"104\nSt. Witasek.\ndie Ueberhorst\u2019s, von reproducirten Vorstellungen, von Vor-stellungsversclimelzung u. a. Wie kommen solche verschiedene Auffassungsarten in eine Gruppe zusammen? Ist nicht die zweite von ihnen den Urtheilshypothesen verwandter? Auch bei diesen ist ja doch in der Regel von dem Einflufs irgendwelcher Nebenvorstellungen die Rede.\nEs ist nur der \u2014 hier allerdings sinngem\u00e4fs verstandene \u2014 Gegensatz von physiologisch und psychologisch, der da st\u00f6rend hereinspielt. Diesen Gegensatz sonst in allen Ehren, beim Ueber-schlag \u00fcber die Erkl\u00e4rungsm\u00f6glichkeiten der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen ist er, wie ich schon gezeigt zu haben meine, nicht am Platze. Hier wird er zu einem v\u00f6llig unsachlichen Eintheilungs-princip, das von dem \u00e4ufserlichen, zuf\u00e4lligen Umstande der gr\u00f6fseren oder geringeren Unvollkommenheit unserer Kenntnisse abh\u00e4ngt. Eine nat\u00fcrliche, in der Sache liegende Eintheilung ist darauf nicht zu gr\u00fcnden. Eine solche kann sich nur nach einem in der (psychischen) Wirklichkeit enthaltenen Unterschiede richten, einem Unterschiede, wie es eben der ist, ob bereits die Wahrnehmungsvorstellung dem objectiven Thatbestande nicht mehr normal entspricht, oder ob die T\u00e4uschung erst durch das Urtheil hineinkommt, indem dieses Material, das ihm die Wahrnehmung bietet, sozusagen verkennt, sich also implicite \u00fcber das Aussehen der eigenen psychischen Thatsachen t\u00e4uscht.\nEs bleibt also dabei. Die einander beigeordneten F\u00e4lle sind: Urtheils-T\u00e4uschung (bezw. -Hypothese) und Wahrnehmungsvorsteil ungs-T\u00e4uschung (bezw. -Hypothese). \u2014 Da innerhalb der zweiten Hauptart die Unterart der Empfindungst\u00e4uschung die zun\u00e4chst wichtige und bezeichnende ist, so werde ich mich f\u00fcr den freilich richtigeren, aber so schwerf\u00e4lligen Ausdruck \u201eWahrnehmungsvorstellungst\u00e4uschung\u201c im Allgemeinen ihres Namens bedienen und nur dann die genaue Bezeichnung verwenden, wenn es im Interesse der Klarheit nothwendig erscheint. \u2014\nEs giebt eine ziemliche Menge von Erkl\u00e4rungsversuchen, die sich nicht ohne weiteres in eine der beiden Hauptarten von Hypothesen einordnen lassen. Das ist aber keineswegs ein Zeichen von Unvollst\u00e4ndigkeit oder Unnat\u00fcrlichkeit der obigen Eintheilung, sondern liegt lediglich daran, dafs die betreffenden Erkl\u00e4rungsversuche entweder nicht gen\u00fcgend klar erdacht, oder wenigstens undeutlich formulirt sind.","page":104},{"file":"p0105.txt","language":"de","ocr_de":"TJeher die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n105\nUnter dieser Unklarheit leiden so ziemlich s\u00e4mmtliche auf dem Gedanken der Perspective gegr\u00fcndeten Erkl\u00e4rungsversuche. Es ist bei keinem von ihnen unzweideutig herauszubringen, ob nach ihm die Perspective bereits die Wahrnehmungsvorstellung verschiebt oder erst das Urtheil beirrt. In der Mehrzahl der F\u00e4lle freilich d\u00fcrfte, gem\u00e4fs der sonstigen Gedankenrichtung des Autors, das Letztere anzunehmen sein.1 Bei Volkmann2 3 4 5 6 findet man gar keinen Anhaltspunkt, um sich \u00fcber die in diesem Punkte so peinliche Unklarheit hinweg zu helfen. Thi\u00e9ey 8 macht erst ganz gegen Ende seiner umfangreichen Ausf\u00fchrungen eine karge Andeutung, nach welcher seine Auffassung den Wahrnehmungsvorstellungshypothesen (im engeren Sinne) zugeh\u00f6rte; doch steht diese Andeutung mit den speciellen Gedanken seiner Theorie in gar keinem Zusammenhang, so dafs es auch ihr an Klarheit fehlt.\nWas die auf Augenbewegung gegr\u00fcndeten Erkl\u00e4rungen anlangt, so h\u00e4ngt deren Zugeh\u00f6rigkeit zur einen oder zur anderen Gruppe von der Polle ab, welche nach Ansicht des Autors die Augenbewegungen bei der Gesichtsraumperception spielen. Bei extrem empiristischer Auffassung, nach welcher sie das einzige Empfindungsmoment abgeben, kann man damit nur zu Empfindungshypothesen kommen ; dienen aber die Augenbewegungsempfindungen dem Urtheil lediglich als Maafsstab zum Ausmessen der bereits von anderswoher gelieferten Baumvorstellung, so kommt man zu Urtheilshypothesen. Wie in diesem Punkte die verschiedenen Erkl\u00e4rungsversuche zu verstehen sind, dar\u00fcber finden sich nur \u00e4ufserst sp\u00e4rliche Andeutungen. So steht es z. B. mit Delboeuf 4 und Binet r>, denen auch Biebvliet 6 folgt, um ihre Theorie mit H\u00fclfe des Schwellengesetzes tiefer zu begr\u00fcnden. Wundt\u2019s Auffassung stellt sich nunmehr mit aller Klarheit als Wahrnehmungs Vorstellungshypothese dar. Ihm d\u00fcrfte auch\n1\tSo z. B. bei Bezold, Eine perspectivische T\u00e4uschung. Pogg. Ann. XXIII, 1884, S. 351. Ferner auch bei Guje a. a. 0. Neuerdings vielleicht auch bei Filehne a. a. O.\n2\tVolkmann, Physiol. Untersuch, im Gebiete d. Optik. Heft 1, Leipzig 1863, S. 139 ff.\n3\tThi\u00e9ry, Ueber geom.-opt. T\u00e4uschungen. Philos. Stud. XI, XII.\n4\tDelboeuf a. a. 0.\n5\tBinet a. a. O.\n6\tBiervliet a. a. O.","page":105},{"file":"p0106.txt","language":"de","ocr_de":"106\nSt. Witasek.\nSandford 1 folgen. Auch die Ausf\u00fchrungen Mach\u2019s 1 2, die, gegr\u00fcndet auf rechnerische Ermittelung der Uebereinstimmung von U. E. hei Augenmuskelempfindung und Winkelsch\u00e4tzung, gewisse Fehler im Winkelsch\u00e4tzen erkl\u00e4ren wollen, lassen in diesem Punkt keinen rechten Zweifel aufkommen ; zudem ergiebt es sich ja auch noch aus anderen Publicationen3 4 5 6 dieses Verfassers, dafs er seine Ideen im Sinne der Empfindungshypothese verstanden wissen will. Was Helmholtz anlangt, so ist die diesbez\u00fcgliche Entscheidung, soweit er sich zur Erkl\u00e4rung der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen der Augenmuskelempfindungen bedient, schwer zu treffen; auch dies ist eine Folge der Unklarheit, die \u00fcberhaupt in Helmholtz\u2019 4 Gesichtsraumtheorie liegt.\nInsofern er sich jedoch des Contrastgedankens bedient, ist freilich kein Zweifel, dafs er auf der Seite der Urtheilshypothesen steht. Im Uebrigen hat z. B. Heymans 5 bei seiner Verwendung des Contrastgedankens die Unbestimmtheit in diesem Punkte mit gutem Bedacht stehen gelassen. Die gleiche Unbestimmtheit findet sich auch bei den allerdings in anderer Weise auf Contrast gegr\u00fcndeten Theorien Loeb\u2019s 6 und Holtz\u2019 7. Wie Heymans enth\u00e4lt sich auch H\u00f6eler 8, der den Contrastgedanken bei der Be-\n1\tSandford, The visual perception of space. Journ. of Psych. VI, S. 592, 1894.\n2\tMach, Ueber das Sehen von Lagen und Winkeln durch die Bewegung des Auges. Sitzungsber. d. W. Akad., math.-naturw. Classe, 2. Abth., XLIII, 1861.\n3\tMach, Beitr\u00e4ge zur Analyse der Empfindungen. Jena 1886, S. 40 ff.\n4\tHelmholtz, Physiol. Optik, 2. Auf!., S. 705 ff.\n5\tHeymans, Quantitative Untersuchungen \u00fcber das optische Paradoxon. Zeitschr. f. Psychol. IX, S. 221 ff., 1895, und Quantitative Untersuchungen \u00fcber die Z\u00f6LLNER\u2019sche und die LoE\u00df\u2019sche T\u00e4uschung. Zeitschr. f. Psychol. XIV, S. 101 ff., 1897.\n6\tLoeb, Ueber den Nachweis von Contrasterscheinungen im Gebiete der Raumempf. des Auges. Pfl\u00fcger\u2019s Arch. LX, S. 509ff., 1895. \u2014 Und: Ueber Contrasterscheinungen im Gebiete der Raumempfindungen. Zeitschr. f. Psychol XYI, S. 298 f., 1898.\n7\tHoltz, Ueber den unmittelbaren Gr\u00f6fseneindruck .... G\u00f6ttinger Nachr. 1893, S. 159 ff.\n8\tH\u00f6fler, Kr\u00fcmmungscontrast. Zeitschr. f. Psychol. X, S. 99 ff., 1894. Oppel wurde durch die auch schon von ihm in ganz gleicher Weise beobachtete Erscheinung nicht auf den Contrastgedanken gef\u00fchrt. (Jahresber. des phys. Ver. zu Frankfurt a. M. 1860/61, S. 36.)","page":106},{"file":"p0107.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n107\nhandlung von Kr\u00fcmmungst\u00e4uschungen verwendet, einer Entscheidung in dieser Frage. Nur M\u00fcller-Lyer 1 scheint die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen durch seine Zur\u00fcckf\u00fchrung auf Contrast (und Confluxion) f\u00fcr Urtheilst\u00e4uschungen erkl\u00e4ren zu wollen.\nDie Eintheilung der verschiedenen m\u00f6glichen Erkl\u00e4rungen in Empfindungshypothesen und Urtheilshypothesen steht sonach fest. Ich wende mich nun der Behandlung der Frage selbst zu. Welche der beiden Hypothesen ist bei den geometrisch-optischen T\u00e4uschungen die richtige? Zu diesem Zwecke soll zun\u00e4chst die Urtheils-, dann die Empfindungshypothese einer psychologischkritischen Beleuchtung unterworfen und zum Schl\u00fcsse das experimentell gewonnene Beweismaterial beigebracht werden. \u2014\nII. Die Urtheilsliypothese.\n\u00a7 1. Der all g emeine Grundgedanke der Urtheils-\nhypothese.\nIch habe gezeigt, dafs, wenn man die verschiedenen der ersten Hauptgruppe zugeh\u00f6rigen Erkl\u00e4rungsversuche ihrer besonderen Ausgestaltungen entkleidet, sich der die Urtheils-hypothese kennzeichnende allgemeine Grundgedanke folgender-maafsen darstellt:\nDas Urtheil \u00fcber die r\u00e4umlichen Eigenschaften der T\u00e4uschungsfigur ist nicht, wie sonst, seinem Inhalte1 2 nach von dem der Wahrnehmungsvorstellung allein bestimmt, sondern in dieser seiner Abh\u00e4ngigkeit durch irgend welche besondere Umst\u00e4nde gest\u00f6rt; sein Inhalt stimmt daher mit dem der Wahrnehmungsvorstellung nicht mehr \u00fcberein, und da diese der \u00e4ufseren Figur in v\u00f6llig normaler Weise entspricht, ist das Urtheil falsch.\n1\tM\u00fcller-Lyer, Optische Urtheilst\u00e4uschungen. Du Bois\u2019 Archiv f. Physiol. 1889, Suppl.-Bd. S. 263ff., und: Zur Lehre von den optischen T\u00e4uschungen. Ueber Contrast und Confluxion. Zeitschr. f. Psychol. IX, S. Iff. und X, S. 421 ff., 1894.\n2\tEigentlich sollte ich hier und an den entsprechenden sp\u00e4teren Stellen, wie ich \u2014 nach Meinong \u2014 glaube, richtiger \u201e(immanenter) Gegenstand\u201c sagen. Doch scheint es mir angezeigt, vorl\u00e4ufig noch beim alten Sprachgebrauch zu bleiben.","page":107},{"file":"p0108.txt","language":"de","ocr_de":"108\nSt. Witasek.\nBevor ich daran gehe, diesen Grundgedanken unter psychologischen Gesichtspunkten kritisch zu beleuchten, sei einiges zur Rechtfertigung dieser Formulirung beigebracht.\nDafs ich so ausdr\u00fccklich von Urtheil spreche, wird nach den Analysen des vorigen Capitels kaum mehr Befremden erregen. Denn ganz abgesehen davon, dafs sich jeder T\u00e4uschungsthat-bestand als solcher immer in einem Urtheil, nat\u00fcrlich einem falschen, darstellen mufs, indem das Vorstellen nur insofern t\u00e4uschen kann, als es, als Urtheilsmaterial verwendet, zu einem falschen Urtheil f\u00fchrt \u2014 es wird daher auch bei der Formulirung der Empfindungshypothesen vom Urtheil die Rede sein m\u00fcssen\n\u2014\tganz abgesehen davon haben wir ja gesehen, dafs zwar die wenigsten der speciellen Urtheilshypothesen ausdr\u00fccklich vom Urtheil reden, dafs sie es aber doch implicite enthalten und auf keine andere Weise klar ausgedacht werden k\u00f6nnen. Jedoch nicht darauf kommt es hei ihnen an, dafs sie ein falsches U r -theil aufzeigen, sondern darauf, dafs dies sozusagen ein innerlich falsches Urtheil sein soll, d. h. ein Urtheil, das gleichzeitig eine T\u00e4uschung \u00fcber das Aussehen psychisch vorliegender That-sachen des Bewufstseins bedeutet.\nDieser Gedanke h\u00e4ngt nat\u00fcrlich nothwendig mit der Ansicht von einer nicht nur gedanklichen, begrifflich angenommenen, sondern einer thats\u00e4chlichen Zweiheit oder Verschiedenheit, einem wirklichen Auseinanderfallen von Urtheil und Wahrnehmungsvorstellung zusammen. Ist dadurch nicht vielleicht der Grundgedanke der Urtheilshypothese unzul\u00e4ssiger Weise in einer Fassung ausgedr\u00fcckt, die sich nur mit einer einzigen, v\u00f6llig besonderen Theorie der Natur des Urtheils vertr\u00e4gt, und die \u00fcberdies von der grofsen Mehrzahl der Vertreter der hierher geh\u00f6rigen Erkl\u00e4rungsversuche nicht anerkannt wird ?\n\u2014\tKeineswegs. Es kommt nur darauf an, als wie tiefgehend wir dieses Auseinanderfallen von Urtheil und Vorstellung anzunehmen gezwungen sind, um der obigen Fassung zu entsprechen. Freilich, w\u00e4re dazu erforderlich, dafs wir diese Verschiedenheit als die zweier verschiedener psychischer Grundthatsachen an-sehen, von der die eine aus der anderen, also das Urtheilen aus dem Vorstellen in keiner Weise zu verstehen, abzuleiten, die eine aus der anderen weder analytisch noch synthetisch zu gewinnen w\u00e4re, dann bef\u00e4nden wir uns bereits ausschliefslich auf dem Boden der vornehmlich von Brentano verfochtenen Psycho-","page":108},{"file":"p0109.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n109\nlogie des Urtheils und die obige Fassung der Urtheilshypothese k\u00f6nnte nicht mehr als allgemeiner Ausdruck der unter die eine Hauptgruppe zusammengefafsten Erkl\u00e4rungsversuche gelten. Aber so steht die Sache nicht. Diese Fassung verlangt keineswegs eine so tiefgehende GattungsVerschiedenheit von Urtheilen und Vorstellen. Es gen\u00fcgt ihr vollkommen, wenn nur die thats\u00e4chliche Zweiheit von Urtheilen und Vorstellen zugegeben wird, wenn nur zugestanden wird, dafs Vorstellen und Urtheilen wirklich zweierlei ist, und dagegen erhebt sich gewifs von keiner Seite Widerspruch. Diese Forderung kann Jedermann unterschreiben, sei es, dafs er das Urtheil f\u00fcr einen psychischen Thatbestand sui generis, sei es, dafs er es nur f\u00fcr eine besondere Art des Vorstellens oder der Vorstellungscombination ansieht. Mehr aber und Bestimmteres dar\u00fcber sagt auch die obige Fassung nicht aus, und ich bin somit in der g\u00fcnstigen Lage, die Kritik der Urtheilshypothese von einer Er\u00f6rterung oder gar Entscheidung der Frage \u00fcber die Natur des Urtheils unabh\u00e4ngig zu finden.\nFerner soll ausdr\u00fccklich darauf aufmerksam gemacht werden, dafs der Gegenstand dieses LTrtheils nicht etwa unsere (anschauliche) Vorstellung von der betreffenden T\u00e4uschungsfigur ist, sondern diese selbst. Die Sache liegt hier nicht anders als sonst. Wenn ich sage,,,die Rose ist rothu, so spreche ich von der wirklichen Rose und nicht von meiner Vorstellung der Rose ; das sind zwei ganz verschiedene Dinge, wie schon unzweideutig daraus hervorgeht, dafs mein psychischer Zustand ein anderer ist, wenn ich an die Rose, ein anderer, wenn ich an meine Vorstellung von der Rose denke. Freilich, die Rose ist mir nur durch meine Vorstellung von ihr gegeben, ich kann ihrer nicht andersjhabhaft werden, ich kann sie nicht anders treffen, als durch mein Vorstellen; aber daraus folgt nicht, dafs meine Vorstellung von der Rose mit dieser selbst identisch ist, noch weniger aber, dafs ich, wenn ich \u00fcber die Rose urtheile \u2014 etwa sage, sie sei roth \u2014 eigentlich meine Vorstellung ,,Roseu meine. Das widerspr\u00e4che direct dem Zeugnisse des Bewufstseins. Damit ist nat\u00fcrlich noch keineswegs behauptet, dafs es eine Aufsenwelt auch wirklich giebt. Das ist wieder eine Frage f\u00fcr sich, und die metaphysisch-erkenntnifstheoretische Seite dieser Angelegenheit. Die psychologische Betrachtung sagt nur, dafs wir immer das Ding, und nicht die Vorstellung von dem Dinge meinen, dafs unser Vor-","page":109},{"file":"p0110.txt","language":"de","ocr_de":"110\nSt. Witasek.\nstellen und Urtheilen die Eigenth\u00fcrulichkeit hat, gegenst\u00e4ndlich \u00fcber sich hinanszngehen. Daran \u00e4ndert sich auch dann nichts, wenn wir gest\u00fctzt auf Gr\u00fcnde irgend welcher Art, die Ueber-zeugung oder den festen Glauben haben, afs es eine aufser-halb unseres Vorstellens liegende wirkliche Welt nicht giebt. M\u00f6ge sich ein immanenter Philosoph noch so oft und noch so eindringlich den Grundsatz seiner Weltanschauung vergegenw\u00e4rtigen, er wird doch immer an die Dinge, nicht an die Vorstellungen von ihnen denken, von den Dingen und nicht von seinen Vorstellungen reden, \u00fcber die Dinge urtheilen und nicht \u00fcber die Vorstellungen von den Dingen. Das ist eine psychologische Grundthatsache, die wohl, meist in erkenntnifs-theoretischem und metaphysischem Interesse, verkannt, mifsdeutet, entstellt, niemals aber aus der Welt geschafft werden kann. Man m\u00f6ge doch nur einsehen, dafs die Frage nach der Existenz einer Aufsenwelt im Sinne des philosophisch Naiven dadurch dafs unser Vorstellen und Urtheilen unab\u00e4nderlich auf eine solche Aufsenwelt gerichtet ist, ebensowenig bejaht, wie dadurch, dafs wir einer solchen Aufsenwelt nur durch unser Vorstellen habhaft werden k\u00f6nnen, verneint ist.\nIch habe also vollkommen recht, wenn ich von dem Urtheil, in dem sich bei den geometrisch-optischen T\u00e4uschungen die T\u00e4uschung darstellt, als von dem Urtheil \u00fcber die r\u00e4umlichen Eigenschaften der T\u00e4uschungsfigur spreche, dadurch anzeigend, dafs der Gegenstand dieses Urtheils die Figur selbst und nicht blos die Vorstellung von ihr ist. \u2014 Nat\u00fcrlich \u2014 und auch darin gilt von diesen Urtheilen dasselbe wie von allen \u2014 das Urtheil kann seine Aussage \u00fcber die Dinge nur aus den Vorstellungen von diesen sch\u00f6pfen, sich niemals auf die Dinge selbst, sondern nur auf die Vorstellungen davon begr\u00fcnden. So r\u00e4thselhaft indirect sonach der Zusammenhang des Urtheils mit seinem Gegenstand ist, so innig ist der des Urtheils mit den Vorstellungen. Nicht dafs der Urtheilsinhalt dem Vorstellungsinhalt nur gleich w\u00e4re \u2014 nein, das w\u00e4re zu wenig gesagt; Urtheils- und Vorstellungsinhalt sind geradezu identisch. In dieser Identit\u00e4t liegt auch die Wurzel jenes eigenth\u00fcmlichen, nicht n\u00e4her zu definirenden Verh\u00e4ltnisses zwischen Vorstellen und Urtheilen, in dem sich dieses aus jenem heraus legitimirt.\nIst nun der Gegenstand des Urtheils im Kreise der psychischen Thatsachen des Urtheilenden selbst gelegen, geht also das","page":110},{"file":"p0111.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n111\nUrtheil nicht auf einen \u00e4ufseren Gegenstand, sondern z. B. auf eine Vorstellung, auf ein Gef\u00fchl, kurz ist es ein Urtheil der Reflexion, so ergiebt sich aus diesem eigenth\u00fcmlich innigen Verh\u00e4ltnis die so aufserordentlich viel h\u00f6here Zuverl\u00e4ssigkeit solcher Urtheile. Ein einfaches Beispiel wird, was ich meine, leichter zum Ausdruck bringen. Ich kann unter gegebenen Umst\u00e4nden urtheilen, z. B., dafs der vor mir stehende Tisch eine rechteckige Platte hat, dabei aber auch urtheilen, dafs das Bild, das ich von dieser Platte in meinem Bewufstsein habe, kein Rechteck, sondern ein Trapez zeigt. Von diesen beiden Urtheilen wird man, daraufhin befragt, ohne Z\u00f6gern dem zweiten die h\u00f6here Zuverl\u00e4ssigkeit zuschreiben ; \u00fcber die Gestalt der Tischfl\u00e4che kann ich mich, etwa in Folge ungew\u00f6hnlicher Perspective, leicht irren; \u00fcber die Form, die mir mein psychisches Bild zeigt, bin ich mir unvergleichlich sicherer. Diese erh\u00f6hte Zuverl\u00e4ssigkeit der Urtheile, die mit ihrem Gegenstand nicht in die Aufsenwelt hinaus weisen, sondern im Kreise der psychischen Thatsachen des Urtheilenden bleiben, finden ihren Superlativ bei den Existenz-Urtheilen der inneren Wahrnehmung, denen man bekanntlich unmittelbare Evidenz der Gewifsheit zuschreibt.\nAngesichts dieser Thatsachen ist es zur Charakteristik der Urtheilshypothese von hohem Interesse, dafs nach ihrer Auffassung das T\u00e4uschungsurtheil zun\u00e4chst wohl, weil es ja den \u00e4ufseren Gegenstand, die T\u00e4uschungsfigur zum Gegenstand hat, \u00fcber diesen t\u00e4uscht, indirect jedoch auch \u00fcber das anschauliche Vorstellungsbild, das von dieser Figur im Bewufstsein vorhanden ist. Denn das unmittelbare Anschauungsurtheil \u00fcber dieses besagt dasselbe, wie das eigentliche T\u00e4uschungsurtheil, (hat es ja doch auch mit diesem die gleiche innere Begr\u00fcndung) und nur auf indirectem Wege kommt diese Hypothese zu der \u2014 unanschaulichen \u2014 Erkenntnifs, dafs nicht nur die \u00e4ufsere Figur, sondern auch deren psychisches Bild in seinen r\u00e4umlichen Eigenschaften der Aussage des anschaulichen (T\u00e4uschungs)-Urtheiles nicht entspricht. Der Kern der Urtheilshypothese ist also die Annahme einer irrigen Auffassung der psychischen Gebilde und ihrer Inhalte selbst.\n\u00a7 2. Kritik.\nDie Frage ist nun : L\u00e4fst sich diese Hypothese im Einzelnen klar und widerspruchslos zu Ende denken, und stehen die dazu","page":111},{"file":"p0112.txt","language":"de","ocr_de":"112\nSt. Witasek.\nn\u00f6thigen Constructionen mit den im Allgemeinen anerkannten psychologischen Einsichten in Einklang?\nVielleicht hat schon der letzte Abschnitt des vorigen Paragraphen ein Bedenken erregt, das hier zur Sprache zu kommen hat. Es wurde dort darauf aufmerksam gemacht, dafs eine T\u00e4uschung solcher Art, wie sie die Urtheilshypothese verlangt, indirect auch eine T\u00e4uschung \u00fcber die eigenen Bewufstseins-thatsachen und ihre Beschaffenheit darstellt. Ist der Gedanke eines solchen Vorganges klar ausdenkbar? Ist eine solche T\u00e4uschung m\u00f6glich? Welche Erkenntnifs k\u00f6nnte gewisser sein, als die der eigenen Bewufstseinsthatsachen ? Und ist diese Ge-wifsheit nicht geradezu selbstverst\u00e4ndlich und nat\u00fcrlich ? Die Bewufstseinsthatsachen sind doch dem Urtheil direct zug\u00e4nglich und bed\u00fcrfen nicht, wie die Aufsenwelt, erst der Vermittelung durch die Vorstellung. Sie gehen geradezu in das Urtheil, in die Erkenntnifs ihrer selbst, selber ein, wie k\u00f6nnte da eine falsche Auffassung eine T\u00e4uschung m\u00f6glich sein? Widerspricht das nicht dem gesunden Menschenverstand? Hat man jemals auch nur einen Scheingrund gegen das in diesem Sinne gefafste \u201ecogito, ergo sum,\u201c Vorbringen k\u00f6nnen. Die sonnenklare, unmittelbare Evidenz der inneren Wahrnehmung ist ja doch eine der st\u00e4rksten und unentbehrlichsten St\u00fctzen unseres gesammten Wissens, ohne die wir kaum auszukommen verm\u00f6chten. Heifst es nicht diese St\u00fctze niederwerfen, wenn man die geometrischoptischen T\u00e4uschungen im Sinne der Urtheilshypothese versteht?\nSo gel\u00e4ufig auch solche Gedanken dem vorwissenschaftlichen Denken sein m\u00f6gen und so nat\u00fcrlich daher auch obiger Einwand aussieht, so h\u00e4lt er doch n\u00e4herer Kritik nicht Stand. Freilich das Princip von der unmittelbaren Evidenz der inneren Wahrnehmung wird auch diese nicht ersch\u00fcttern. Aber das ist, n\u00e4her besehen, nicht nothwendig, um der Urtheilshypothese zustimmen zu k\u00f6nnen. Man darf nur nicht vergessen, was, oder sogar, wie wenig dieses Princip besagt, und es nicht \u00fcber seinen engen Geltungsbereich hinaus ausdehnen wollen. Das Princip gilt eben nur f\u00fcr Wahrnehmungsurtheile, f\u00fcr jene prim\u00e4ren, elementaren Auffassungsacte, die nichts anderes bedeuten als die Anerkennung, das Bemerken der betroffenen psychischen Thatsache. Alles aber, was \u00fcber dieses elementare Existenzial-urtheil hinausgeht, kann keinen Anspruch mehr auf Deckung durch dieses Princip machen. Die einfachste Classification, Be-","page":112},{"file":"p0113.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n113\nnennung, Beziehung oder Vergleichung psychischer Thatsachen ist kein Wahrnehmungsurtheil mehr und unterliegt der M\u00f6glichkeit des Irrthums. Und es ist auch ganz nat\u00fcrlich und begreiflich, dafs es so ist. Bei dem blofsen Existenzialurtheil der inneren Wahrnehmung geht die zu beurtheilende psychische Thatsache als Ganzes in das Urtheil ein, und der Urtheilsinhalt ist dadurch vollst\u00e4ndig gegeben. Bei jeder Classificirung, Vergleichung, Benennung jedoch kommt zu dem zu Beurtheilenden noch etwas hinzu, das durch psychische Arbeit, durch Vergleichen, Ueberlegen etc. gewonnen werden mufs, und es ist nicht abzusehen, warum dabei ein Irrthum ganz ausgeschlossen sein sollte. Freilich g\u00fcnstiger liegen die Bedingungen hier immer noch als bei Urtheilen \u00fcber \u00e4ufsere Gegenst\u00e4nde, aber doch nicht so, dafs sie einen Irrthum als widersinnig erscheinen liefsen. Zudem lehren Experiment wie sonstige psychologische Erfahrung, dafs die unmittelbare Evidenz wirklich nur den Existenzialurtheilen, und auch von diesen nur den positiven nicht den negativen, jedoch nicht mehr den Benennungs- und Vergleichungsurtheilen zukommt. Die T\u00e4uschung z. B., dafs man meint, eine bestimmte Empfindung nicht zu haben, w\u00e4hrend sie doch thats\u00e4chlich vorhanden ist, l\u00e4fst sich bekanntlich besonders deutlich mit einem verklingenden Stimmgabelton zeigen, kommt aber, wenn auch wohl am h\u00e4ufigsten, so doch keineswegs ausschliefslich an der Reizschwelle vor. Dafs man sich \u00fcber Gleichheit und Verschiedenheit zweier Empfindungen als solcher auch unter den g\u00fcnstigsten Vergleichungsbedingungen t\u00e4uschen k\u00f6nne, lehrt schlagend der bekannte, heute wohl schon ziemlich allgemein als beweisend anerkannte STUMPF\u2019sche Versuch.1 Und wem diese T\u00e4uschung, weil sie sich an der Unterscheidungsschwelle zutr\u00e4gt, zu wenig drastisch erscheint, der erinnere sich an das ganz allgemeine Verwechseln von Empfindung und Reproduction, das bei der Tief en Wahrnehmung im Spiele ist.\nDie Urtheile nun, in denen sich die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen darstellen, sind bei Weitem keine blofsen (Existenz-) Wahrnehmungsurtheile; sie dr\u00fccken vielmehr Vergleiche, Classificationen aus. Das Gleiche gilt daher auch von den zugeh\u00f6rigen, den Inhalt der Wahrnehmungsvorstellungen treffenden Urtheilen.\n1 Stumpf, Tonpsychol. I, S. 33. Zeitschrift f\u00fcr Psychologie XIX.\n8","page":113},{"file":"p0114.txt","language":"de","ocr_de":"114\nSt. Witasek.\nEine Verletzung des Princips der unmittelbaren Evidenz der inneren Wahrnehmung kann also dem Grundgedanken der Ur-theilshypothese nicht zum Vorwurf gemacht werden.\n\u00a7 3. In welche logisch- psychologischen Urtheils-classen geh\u00f6ren die Urt heile der geometrisch- optischen T\u00e4uschungen?1\nDer im Vorstehenden abgewiesene Einwand macht aufmerksam darauf, dafs die verschiedenen Urtheilsclassen psychologische wie erkenntnifstheoretische Eigenheiten aufweisen und daher im Falle einer Kritik verschiedene Behandlung erfordern. Es er-giebt sich daraus die Noth Wendigkeit, vorher Klarheit dar\u00fcber zu gewinnen, welchen Urtheilsarten die Urtheile der geometrischoptischen T\u00e4uschungen angeh\u00f6ren, damit sie dann auf jene Eigenschaften hin, die ihnen in Folge dieser Zugeh\u00f6rigkeit zukommen m\u00fcssen, gepr\u00fcft werden k\u00f6nnen.\nIch will dies jedoch nicht so machen, dafs ich mich einer der verschiedenen Urtheilseintheilungen, die in der heutigen Psychologie und Logik einander befehden, bediene, und die LUtheile der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen in deren Gruppen je nachdem sie passen, einordne. Ich w\u00fcrde dadurch die ganzen Probleme, die sich an jene Eintheilungen kn\u00fcpfen, mit meinem Gedankengang verquicken und Ablehnung und Annahme meiner Ergebnisse von der jeweiligen Stellungnahme zu diesen abh\u00e4ngig machen. Daher scheint es mir zweckm\u00e4fsiger auf ein Classi-ficiren nach einer der herk\u00f6mmlichen Urtheilseintheilungen \u00fcberhaupt zu verzichten und mich mit einer m\u00f6glichst eingehenden und allseitigen Beschreibung der T\u00e4uschungsurtheile zu begn\u00fcgen. Eine solche Beschreibung wird ebenso gut auf das psychologisch und erkenntnifstheoretisch Charakteristische f\u00fchren und zu weiterer Kritik gen\u00fcgende Grundlage bieten.\nMeine n\u00e4chste Aufgabe ist also eine genaue Beschreibung der Urtheile, in denen sich die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen aus-dr\u00fccken. Dabei will ich mich ganz und gar auf den Urtheils-thatbestand als solchen, so wie er als actuelle Thatsache in die psychische Erscheinung tritt, beschr\u00e4nken, hingegen alles unber\u00fccksichtigt lassen, was, wenn auch in noch so nahem Zu-\n1 Die Grundlagen der erkenntnifs-theoretischen Ausf\u00fchrungen dieses und des folgenden Paragraphen stammen in der Hauptsache aus den Vorlesungen Prof. Meinung\u2019s \u00fcber Erkenntnifstheorie, 1895/96.","page":114},{"file":"p0115.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n115\nsammenhange mit dem Urtheil stehend, doch schon aufserhalb desselben hegt, also vor Allem mich nicht k\u00fcmmern um ihre Entstehung und Herkunft.\nWas zun\u00e4chst den Urtheilsact, ganz abgesehen von allen inhaltlichen Momenten, anlangt, so ist von ihm weder nach der Seite der Qualit\u00e4t noch nach der der Intensit\u00e4t etwas Besonderes zu sagen. Die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen k\u00f6nnen sich ebensowohl in der Form eines bejahenden, wie in der eines verneinenden Urtheiles aussprechen; und in betreff der Intensit\u00e4t bevorzugen sie zwar die obere H\u00e4lfte der von voller Gewifsheit, bis hinab zur Ungewifsheit f\u00fchrenden Scala, jedoch ist ihnen auch die untere H\u00e4lfte keineswegs ganz verschlossen.\nBesehen wir uns also den Urtheilsinhalt. \u2014 Der \u201eQuantit\u00e4t\u201c nach haben wir es bei den geometrisch-optischen T\u00e4uschungen mit Individualurtheilen, der \u201eRelation\u201c nach, um auch hier den Ausdruck der alten Logik anzuwenden, mit kategorischen Ur-theilen zu thun ; sie sind solche Urtheile, die nicht blofs eine Vorstellung in ihrem Inhalte haben, sondern zwei, deren Beziehung zu einander Gegenstand der Aussage ist.\nHier mufs ich nun etwas l\u00e4nger verweilen. Eine Beziehung ist Gegenstand der T\u00e4uschungsurtheile. Was f\u00fcr eine Beziehung? Es ist wichtig, diese Frage zu beantworten; denn man kann mehrfach die Erfahrung machen, dafs sich die Urtheile, je nach den verschiedenen Beziehungen, die sie zum Gegenstand haben, psychologisch und erkenntnifstheoretisch verschieden verhalten. Von den speciellen Causalurtheilen z. B. hat bekanntlich schon Hume gezeigt, dafs sie immer evidenzlos sind, w\u00e4hrend dagegen Urtheile \u00fcber Nicht-Coexistiren-K\u00f6nnen oder \u00fcber Coexistiren-M\u00fcssen unmittelbar evident sein k\u00f6nnen.1\nVon was f\u00fcr Beziehungen handeln also die Urtheile der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen? Zur Beantwortung dieser Frage werde ich deren Haupttypen vornehmen, das Urtheil, in dem sich die T\u00e4uschung bei jeder einzelnen am nat\u00fcrlichsten und gew\u00f6hnlichsten ausspricht, formuliren und feststellen, was f\u00fcr eine Beziehung es zum Gegenstand hat.\nDabei kommt es mir sehr zu statten, dafs die T\u00e4uschungsurtheile bei einer ziemlichen Anzahl von T\u00e4uschungen ganz gleich lauten. Das Urtheil: \u201eDie Strecke AB ist l\u00e4nger als die\n1 Meinong, Relationstheorie, S. 92, 101 [662, 671].\n8*","page":115},{"file":"p0116.txt","language":"de","ocr_de":"116\nSt. Witasek.\nStrecke <7Z>,\u201c kann sich auf die bekannte Figur beziehen, die aus zwei gleichen Strecken besteht, von denen jedoch die eine durch Eintheilungsstriche unterbrochen, die andere ununterbrochen ist; dasselbe Urtheil kann auch der Ausdruck jener T\u00e4uschung sein, die zwei objectiv gleich lange Strecken hervor-rufen, wenn sie parallel zu einander ein Strahlenb\u00fcschel schneiden, dessen Centrum verschiedene Distanz von ihnen hat. Aber auch die M\u00fcLLEB-LYEB\u2019sche T\u00e4uschung findet ihren ungezwungenen Ausdruck in diesem Urtheil. Nicht minder ungezwungen, wrenn auch nicht so gew\u00f6hnlich, spricht sich so die bekannte Ueber-sch\u00e4tzung seitlicher und verticaler Distanzen aus. Und es gen\u00fcgt eine ganz kleine Modification am Inhalte dieses Urtheils, um seinen Geltungsbereich noch weiter auszudehnen. Sagen wir n\u00e4mlich statt \u201eStrecke\u201c, Dreieck oder Trapez, oder Kreissegment, so erhalten wir das Urtheil, in dem wir gew\u00f6hnlich jene T\u00e4uschung aussprechen, der wir angesichts gleich grofser, an der gleichen Axe vertical \u00fcbereinander angeordneter Dreiecke bez. Trapeze oder Kreissegmente, unterliegen. \u2014 Aber noch mehr. Bleiben wir bei den Strecken. Auch die Z\u00fcLLXEB\u2019sche Figur f\u00fchrt bisweilen zu einem Urtheil dieses Inhaltes; nur sind da AB und CD keine ausgezogenen wirklichen Strecken, sondern die blofsen Distanzen zwischen den objectiv parallelen Hauptstreifen an verschiedenen Punkten. L\u00e4fst sich aber die Z\u00f6llneb-sche T\u00e4uschung in diesem Urtheil aussprechen, so gilt nat\u00fcrlich das gleiche von der an der HEBiNo\u2019schen Figur auftretenden, sowie von der Pxsko\u2019s und den vielen anderen Modificationen.\nFreilich darf nicht \u00fcbersehen werden, dafs das Urtheil \u201eJJ5 >> CDU nicht der gew\u00f6hnliche, nat\u00fcrliche Ausdruck der Z\u00f6llneb\u2019sehen T\u00e4uschung ist. Dieser lautet vielmehr zumeist etwa so : \u201eDie Hauptstreifen sind convergent\u201c oder \u201edivergent\u201c oder \u201enicht parallel.\u201c Das ist eine merklich andere Sachlage. Dort war es ein Vergleich, dem das Urtheil zun\u00e4chst Ausdruck verlieh, hier ist es eine Benennung.1 Noch deutlicher tritt diese Verschiedenheit der Beurtheilung bei der Figur von Pisko zu Tage. Da lautet der unwillk\u00fcrliche Ausdruck: Die Hauptstreifen sind nicht gerade \u201esondern an der Symmetrie-\n1 Damit soll keineswegs gesagt sein, dafs das Yergleichungsurtheil keine \u201eBenennung\u201c enth\u00e4lt; doch steht diese dort weniger im Vordergr\u00fcnde. Weiteres dar\u00fcber, besonders \u00fcber die Art dieser \u201eBenennung\u201c im \u00a7 5 dieses Capitels.","page":116},{"file":"p0117.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n117\naxe der Figur gebrochen.\u201c Und bei der HERiNo\u2019schen Figur heilst es wohl gew\u00f6hnlich: \u201eDie beiden Transversalen sind in der Mitte ausgebaucht.\u201c\nDiese Urtheile sind nun allerdings \u00e4quipollent mit dem ersten. Wenn ich von zwei Geraden sage, sie sind nicht parallel, so ist damit nat\u00fcrlich gleichzeitig gesagt, dafs sie an verschiedenen Stellen verschiedene Distanz von einander haben; jedes der beiden Urtheile liegt logisch in dem anderen \u2014 aber nicht psychologisch. Als psychische Thatsache betrachtet erscheinen sie verschieden; es d\u00fcrfte sich das schon daraus ergeben, dafs das eine Urtheil eine Bejahung, das andere eine Verneinung ist. Ueber dies haben ja beide Urtheile ganz verschiedenen Vorstellungsgehalt, n\u00e4mlich Parallelit\u00e4t einerseits, Distanzverschiedenheit andererseits. Ferner ist daf\u00fcr auch der Umstand bezeichnend, dafs es T\u00e4uschungsfiguren giebt, bei denen ohne unnat\u00fcrliche, psychologisch ganz unm\u00f6gliche K\u00fcnstelei nur eines von ihnen psychisch ausdenkbar ist, so z. B. bei der M\u00fcllek-Lyeb/sehen T\u00e4uschung das erste, beim Kr\u00fcmmungs-contrast das zweite.\nIn dieser Verschiedenheit der beiden Urtheile spiegelt sich eben die Verschiedenheit der Wege, auf denen man zur Er-kenntnifs der Parallelit\u00e4t zweier Geraden gelangen kann. Der eine besteht darin, dafs ich die k\u00fcrzesten Distanzen der beiden Geraden an verschiedenen Stellen abnehme und gleichfinde, der andere, dafs ich durch das blofse Ansehen, so zu sagen auf den ersten Blick, direct, ohne erst zu messen, die Gestalt, welche die beiden Geraden zusammen bilden, als die eines Parallelenpaares erkenne. Dafs beide Wege nicht identisch sind, geht schon daraus hervor, dafs sie zu zwei, der Bedeutung nach entgegengesetzten Urtheilen \u2014 von denen dann nat\u00fcrlich eines falsch ist \u2014 f\u00fchren k\u00f6nnen. Es kann ja Vorkommen, dafs mir zwei Gerade vollkommen den Eindruck des Parallelen geben, dafs ich aber dann ihre Distanz an verschiedenen Punkten vergleiche und verschieden finde; dadurch w\u00fcfste ich mit voller Evidenz, dafs die beiden Geraden convergiren, aber der unmittelbare Eindruck des Parallelismus bliebe ungest\u00f6rt bestehen ; verliefse ich mich nur auf ihn, so m\u00fcfste ich auf parallel urtheilen; die gr\u00f6fsere Genauigkeit des anderen Weges jedoch hebt dieses Urtheil auf und f\u00fchrt zum entgegengesetzten trotz des unmittelbaren Eindrucks. Es geht nun nicht an zu sagen, man habe","page":117},{"file":"p0118.txt","language":"de","ocr_de":"118\nSt. Witasek.\ndoch beide Male die Distanzen verglichen, nur eben das eine Mal mit besseren Mitteln, etwa dem Zirkel, das andere Mal mit freiem Auge \u2014 nein, denn w\u00e4re der Parallelit\u00e4tsgedanke nicht blos logisch \u00e4quipollent, sondern psychologisch identisch mit dem des constanten Abstandes, so k\u00f6nnte es, wenn ich einmal, sei es auf welchem Wege immer, die Inconstanz des Abstandes erkannt habe, auch nicht mehr den unmittelbaren Eindruck, den Schein des Parallelismus geben. Es steht hier wie \u00fcberall sonst mit den r\u00e4umlichen Gestalten und ihrer Auffassung. Ein Parallelenpaar unterscheidet sich von einem Convergentenpaar in seiner Gestalt unmittelbar, ohne Distanzvergleich auf den ersten Blick geradesogut wie ein gleichseitiges Dreieck von einem ungleichseitigen, ein Quadrat von einem Rechteck, und jedes Kind wird, ohne etwas von geometrischen Definitionen und Vergleichen zu wissen, diese Gestaltverschiedenheit sofort herausfinden. Das Gleiche gilt von Gerade, Gebrochen und Krumm. Auch hier kann man mit H\u00fclfe eines Vergleiches, dem der Richtung der Linie in verschiedenen Punkten, zur Definition dieser Liniengattungen und zur Auffassung einer bestimmten Linie als Geraden etc. kommen ; aber es ist hier nur umso klarer und einleuchtender, dafs es neben diesem unanschaulichen noch ein anschauliches Erfassen des Geraden, Krummen, Gebrochenen giebt, eben das ihrer r\u00e4umlichen Gestalten, die in charakteristischer Eigenth\u00fcm-lichkeit gegeben und erfafsbar sind auch ohne jeden Richtungsvergleich. Ja, es ist die Frage, ob wir angesichts der unendlichen Anzahl der Punkte einer Linie auf Grund der Richtungsvergleiche \u00fcberhaupt zur Erkenntnifs \u00fcber Gerade und Krumm gelangen k\u00f6nnten, wenn uns nicht die unmittelbare Anschauung dieser Gestalten zu H\u00fclfe k\u00e4me.1\nSo ist es also psychisch zweierlei, ob ich von der Z\u00f6llner-schen Figur urtheile, die Hauptstreifen haben oben kleinere Distanz als unten, und ob ich urtheile, sie sind einander parallel ; ebenso wenn ich von der Hering\u2019sehen sage, die Transversalen sind in der Mitte ausgebaucht, oder, sie haben in der Mitte eine\n1 Die Existenz eigener anschaulicher Vorstellungsinhalte von Raum und anderen ,,Gestalten\u201c hat Ehrenfels, Vierteljahr sehr. f. iviss. Philosophie XIV S. 249 ff. nachgev/iesen. Das Gleiche f\u00fcr die Ver\u00e4nderungsvorstellung, Stern, Psych, der Ver\u00e4nderungsauffassung, Breslau 1898. Vgl. dazu auch meinen Artikel : Beitr\u00e4ge zur Psych, der Complexionen, Zeitsehr. f. Psych. XIV, S. 401 ff.","page":118},{"file":"p0119.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n119\ngr\u00f6fsere Distanz als an den Enden; ebenso bei der Figur Pisko\u2019s, wenn icb einmal sage, die Geraden sind an der Symmetrieaxe gebrochen, ein ander Mal, sie haben an verschiedenen Punkten verschiedene Distanz von einander.\nDas eine Urtheil spricht das Ergebnifs eines Vergleiches von Gr\u00f6fsen aus ; ich nenne es darum ein Gr\u00f6fsenvergleichungs-urtheil. Es ist dasjenige, das z. B. der einzig nat\u00fcrliche Ausdruck der M\u00fcller-Lyer\u2019sehen T\u00e4uschung ist. Das andere Urtheil ist so geartet wie jenes, in dem wir z. B. einen Ton als a oder c, eine Farbe als gr\u00fcn oder roth erkennen oder benennen; es stellt sich z. B. beim Kr\u00fcmmungscontrast, bei der Figur von Pisko ein, wo wir die betreffenden Linien Krumm, Gebrochen nennen. Ich heifse diese Urtheile Benennungsurtheile (will aber damit keineswegs an die Traditionen dieses der Logik und Psychologie l\u00e4ngst gel\u00e4ufigen Terminus ankn\u00fcpfen, sondern gar nichts anderes damit sagen, als was die obige Charakteristik dieser Urtheilsart enth\u00e4lt, die \u00fcbrigens, wenigstens vorl\u00e4ufig, noch ziemlich gut zum traditionellen Begriff der Benennungsurtheile stimmt). Den Gr\u00f6fsenvergleichungsurtheilen ganz nahe stehend und mit ihnen unter eine Gruppe der Vergleichungsurtheile \u00fcberhaupt zusammenzufassen, sind jene Urtheile, die das Ergebnifs von Richtungs- und Lagevergleichen zum Ausdruck bringen. Sie stellen sich am ungezwungensten in der LoEB\u2019schen und Poggen-DOEEE schen T\u00e4uschung mit ihren verschiedenen von B\u00fcemester1 untersuchten Modifikationen, der Schenkel und Streckenfigur ein, k\u00f6nnen aber auch bei der Z\u00f6llner\u2019sehen und verwandten T\u00e4uschungen auftreten, allenfalls in der Form: \u201eDie beiden Hauptstreifen haben verschiedene Richtung.\u201c\nDamit d\u00fcrften wohl alle Hauptformen der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen ber\u00fccksichtigt und somit die s\u00e4mmtlichen psychologischen Urtheilstypen, in denen sie zum Ausdruck kommen k\u00f6nnen, gefunden worden sein. Es sind deren zwei. Ich habe sie durch die Namen 1. Vergleichungsurtheile, 2. Benennungsurtheile gekennzeichnet.\nNur einen Einwand mufs ich, um die Sonderung dieser beiden LTrtheilstypen zu rechtfertigen, noch widerlegen. Man k\u00f6nnte n\u00e4mlich sagen, die Scheidung sei unbegr\u00fcndet, und zwar\n1 B\u00fcemester, Beitrag zur experimentellen Bestimmung geometr.-opt. T\u00e4uschungen. Zeitschr. f. Psychol. XII, S. 355 ff., 1896.","page":119},{"file":"p0120.txt","language":"de","ocr_de":"120\nSt Witasek.\ndeshalb, weil auch die Benennungsurtheile in letzter Linie auf einem Vergleiche beruhen. Freilich nicht in der Weise, dafs, allenfalls beim Parallelenpaar, die Distanzen der Geraden an verschiedenen Punkten verglichen und gleich befunden w\u00fcrden ; auf diesen Vergleich sei die Erkenntnifs des Parallelismus allerdings nicht angewiesen. Umsomehr aber auf den, der nach oft aufgestellter Meinung jeder Benennung zu Grunde liege, n\u00e4mlich der Vergleich zwischen der von dem zu benennenden Gegenstand gebotenen WahrnehmungsVorstellung und der mit dem Namen verkn\u00fcpften Reproductionsvorstellung ; erst wenn dieser Vergleich auf \u201eGleich\u201c laute, k\u00f6nne die Benennung erfolgen.\nDarauf ist zu erwidern, dafs es selbst dann noch, wenn diese Theorie des Benennungsurtheils Anerkennung verdienen sollte, in der Natur der Sache wohlbegr\u00fcndet w\u00e4re, unsere Benennungsurtheile von unseren Vergleichungsurtheilen zu scheiden. Denn der psychologische Sachverhalt beider ist schon deshalb ein wesentlich verschiedener, weil der Vergleich in einem Fall zwischen zwei von der Wahrnehmung gebotenen Vorstellungen, das andere Mal zwischen einer Wahrnehmungs- und einer Reproductionsvorstellung zu ziehen w\u00e4re. Abgesehen davon jedoch gew\u00e4hrt dieser \u201eVergleichendes Benennungsurtheils einen v\u00f6llig anderen psychologischen Aspect, als der des Vergleichungsurtheils, oder deutlicher, er kommt \u00fcberhaupt nicht zum Bewufstsein, und es ist sehr die Frage, ob die aus der apriorischen Erw\u00e4gung, dafs eine Benennung nur auf Grund eines solchen Vergleiches m\u00f6glich und denkbar sei, gezogene Annahme eines solchen Vergleiches in Anbetracht des v\u00f6llig entgegengesetzten Zeugnisses der inneren Wahrnehmung zul\u00e4ssig ist. Zudem ist ja sogar ein Weg des Zustandekommens der Benennungsurtheile denkbar, der nicht \u00fcber den Vergleich f\u00fchrt und daher dem Zeugnifs der unmittelbaren psychologischen Reflexion viel besser entspricht; es ist der \u00fcber die von der Wahrnehmungsvorstellung direct angeregte Association. An eine bestimmte Vorstellung ist ein Woit als Name f\u00fcr den Gegenstand dieser Vorstellung associirt und diese xLssociation wirkt, gleichg\u00fcltig, ob die Vorstellung in der Wahrnehmung oder in der Reproduction gegeben ist. Wenn ich eine rothe Fl\u00e4che, eine krumme Linie sehe, stellen sich mii sofoit die W\u00f6rter roth, krumm ein, ohne dafs ich einen Vergleich h\u00e4tte vornehmen m\u00fcssen. Darin liegt die M\u00f6glichkeit einer den Vergleich vermeidenden Theorie der Benennungs-","page":120},{"file":"p0121.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n121\nurtheile, einer Theorie, die freilich, um mancher schwierigen Frage Stand halten zu k\u00f6nnen, erst noch weiter ausgebaut werden m\u00fcfste, der man sich aber umso lieber anschliefsen wird, als jene erste, auf Vergleich gest\u00fctzte, abgesehen von den schon genannten, aus dem Widerspruch zur Reflexion erwachsenden, also empirischen Schwierigkeiten, sich bei n\u00e4herem Zusehen \u00fcberdies noch als logisch undenkbar, weil auf einen unendlichen Regrefs f\u00fchrend, erweist. Doch w\u00fcrde es zu sehr vom Thema abf\u00fchren, wenn ich hier weiter darauf eingehen wollte.\nIch bleibe also bei der oben begr\u00fcndeten Eintheilung der T\u00e4usehungsurtheile und werde nun im folgenden zun\u00e4chst von den Vergleichungs-, dann von den Benennungsurtheilen untersuchen, wie sie die Leistung, die ihnen im Sinne der Urtheils-hypothese zugeschrieben wird, zu Stande bringen.\n\u00a7 4. Fortsetzung der Kritik, a) Das Vergleichung s-\nu r t h e i 1.\nDieses Urtheil wird angesichts einer Figur abgegeben, die zwei r\u00e4umliche Gr\u00f6fsen (Distanzen, Fl\u00e4chen etc.) oder Richtungen, Lagen A und B enth\u00e4lt, auf deren Vergleichung es sich st\u00fctzt, und lautet: \u201eA ist von B verschieden.\u201c\nPsychologischer Betrachtung stellt sich dieses Urtheil an sich vollkommen klar und correct dar. Um so bedenklicher erscheint es jedoch, wenn es im Zusammenhang mit der Theorie von den geometrisch-optischen T\u00e4uschungen, der es dienen soll, betrachtet und dann auf seine erkenntnifs-theoretischen Eigenschaften gepr\u00fcft wird.\nUrtheile, die, wie das vorliegende, eine Verschiedenheit aus-sagen, sind, wenn man sie nicht auf die objectiven verglichenen Gegenst\u00e4nde anwendet, sondern auf die Vorstellungen, die dem Vergleich zu Grunde liegen, evident, also wahr und richtig. Mit anderen Worten: Wenn ich zwei Gegenst\u00e4nde A und B miteinander vergleiche und zu dem Urtheil gelange \u201eA ist von B verschieden,\u201c so ist damit zwar noch keine B\u00fcrgschaft gegeben, dafs die Gegenst\u00e4nde A und B in Wahrheit und Wirklichkeit von einander verschieden sind, wohl aber dafs es die Vorstellungsinhalte a und b waren, auf Grund deren mein Vergleichen vor sich gegangen ist.\nDie Einschr\u00e4nkung der G\u00fcltigkeit dieses Evidenzgesetzes auf die Vorstellungsinhalte ist nothwendig, wenn es seine Richtig-","page":121},{"file":"p0122.txt","language":"de","ocr_de":"122\nSt. WitaseJc.\nkeit \u00fcberhaupt behalten soll. F\u00e4lle, in denen sich Verschieden-heitsurtheile als falsch erweisen, in denen also die beiden verglichenen Dinge einander gleich sind, bietet sowohl die Erfahrung des gew\u00f6hnlichen Lebens als auch die Psychophysik. So passirt es, dafs einem ein- und dasselbe Ding, je nach Stimmung und Laune, ganz verschieden erscheint oder, um zu einfachen Verh\u00e4ltnissen zur\u00fcckzukehren, dafs einem ein und dasselbe Gewicht gelegentlich einmal entschieden schwerer oder leichter vorkommt als sonst, dafs man eine Farbe von einer anderen, fr\u00fcher gesehenen irrth\u00fcmlich f\u00fcr verschieden h\u00e4lt, dafs man von einem Garten, den man seit langer Zeit nicht mehr betreten hat, meint, er sei kleiner geworden, etc. Der experimentellen Psychologie ist der sogenannte Fehler der Raum- und Zeitlage, demzufolge unter anderem auch objectiv gleiche Reize als verschieden beurtheilt werden, sehr gut bekannt, wie nicht minder die Thatsache, dafs Unmusikalische bisweilen von zwei gleich hohen T\u00f6nen den schw\u00e4cher angeschlagenen f\u00fcr tiefer halten. In allen diesen F\u00e4llen liegen objectiv falsche Verschiedenheits-urtheile vor. Die Vergleichungsgegenst\u00e4nde sind einander gleich. Aber die Vorstellungen, die dem Vergleich zu Grunde lagen, k\u00f6nnen es nicht sein. Mit gutem Recht legt die Psychologie den Einflufs der Zeitlage als eine gesetzm\u00e4fsige Ver\u00e4nderung, die die Vorstellung im Ged\u00e4chtnifs erleidet, aus, w\u00e4hrend sie den Fall vom Unmusikalischen als gar nicht auf wirklicher Tonh\u00f6henvergleichung beruhend, auffafst. Und auch dem vor wissenschaftlichem Denken ist es zur Erkl\u00e4rung von Irrth\u00fcmern, wie der angef\u00fchrten, gel\u00e4ufig zu sagen, man habe eben eine \u201efalsche Vorstellung\u201c gehabt \u2014 von F\u00e4llen wie dem ersten, bei dem es sich doch nur um verschiedene Gef\u00fchlsreaction auf das gleiche Ding handelt, gar nicht zu reden.\nDie falschen Verschiedenheitsurtheile sind nur falsch in Bezug auf die \u00e4ufseren Gegenst\u00e4nde, den Vorstellungen selbst m\u00fcssen sie entsprechen. \u2014 Es ist eben ganz undenkbar, dafs bei gleichen Vorstellungen \u2014 wohlgemerkt jenen Vorstellungen, die unmittelbar dem Vergleichungsact zu Grunde liegen \u2014 auf Verschiedenheit geurtheilt werden k\u00f6nnte. Umgekehrt freilich gilt das ganz und gar nicht. Der Thatsache, dafs in Wahrheit verschiedene Vorstellungsinhalte f\u00fcr gleich gehalten werden, ist durch den Begriff der Unterscheidungsschwelle (Urtheilsschwelle) Rechnung getragen. Es ist heute wohl allgemein anerkannt, dafs","page":122},{"file":"p0123.txt","language":"de","ocr_de":"Ueher die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\t123\nes nicht nur bei den objectiven Dingen, den Reizen, einen Grad der Verschiedenheit giebt, den wir nicht mehr als solchen bemerken, bei dem wir also die Dinge als gleich auffassen (Unterschiedsschwelle), sondern dafs es einen solchen Ungenauigkeitsoder Irrthumsspielraum auch den Empfindungsinhalten gegen\u00fcber giebt, demzufolge wir innerhalb dieses Spielraumes von einander verschiedene Empfindungsinhalte f\u00fcr gleich ansehen, d. h. also ihre Verschiedenheit nicht bemerken. Gleichheitsurtheile sind daher in keiner Weise evident. Wenn also zwei Dinge oder Vorstellungsinhalte durchaus nicht wirklich gleich zu sein brauchen, um sich dem Urtheil als gleich darzubieten, d. h. um gleich zu scheinen, sondern sie dies auch erreichen, wenn sie sich einander soweit ann\u00e4hern, dafs ihre Verschiedenheit innerhalb des Schwellengebietes liegt, so ist klar, dafs \u00fcberall dort, wo eine Verschiedenheit thats\u00e4chlich bemerkt wird, eine solche auch wirklich^ wenigstens subjectiv, vorliegen mufs. Das ist der Inhalt des Evidenzgesetzes, das oben aufgestellt wurde : Verschiedenheitsurtheile sind subjectiv evident.\nIst dieses Gesetz richtig, so liegt darin eine grofse Schwierigkeit f\u00fcr die Urtheilshypothese. Die T\u00e4uschungsurtheile sind als solche falsch und wenn sie sich auch, wie wir schon betont haben, nicht auf die Vorstellungsinhalte beziehen, sondern auf die objectiven Gegenst\u00e4nde, so wissen wir doch, dafs unser Urtheil \u00fcber jene selbst \u2014 und ein solches zu f\u00e4llen sind wir ja wohl im Stande \u2014* mit dem \u00fcber diese gleichlautet. Das Wesentliche der Urtheilshypothese liegt nun bekanntlich darin, dafs sie die Annahme der Falschheit dieses \u00fcber die Vorstellungsinhalte zu f\u00e4llenden Urtheils in sich schliefst. Eine solche Annahme ist aber mit unserem Evidenzgesetze unvertr\u00e4glich; denn dieses besagt, dafs jedes eine Verschiedenheit aussagende Urtheil (sofern es nur ein wirkliches, echtes Urtheil und nicht etwa blos die Fiction eines solchen ist), sofern man es auf die ihm zu Grunde liegenden Vorstellungsinhalte bezieht, evident, also wahr ist. Aus der Thatsache dieser Verschiedenheitsurtheile w\u00fcrde daher folgen, dafs die Verschiedenheit, die sie behaupten, psychisch wirklich vorliegt. Damit w\u00e4re aber die Grundannahme der Urtheilshypothese umgestofsen und der Empfindungshypothese Recht gegeben.\nNur ein einziger Weg k\u00f6nnte von Seiten der Urtheilshypothese versuchsweise eingeschlagen werden, diese Schwierigkeit","page":123},{"file":"p0124.txt","language":"de","ocr_de":"124\nSt. Witasek.\nzu umgehen. Es ist derselbe, der schon oben die Evidenzlosig-keit objectiv falscher Verschiedenheitsurtheile yerst\u00e4ndlich gemacht hat. Gerade so wie dort liege auch hier die Erkl\u00e4rung darin, dafs eine der beiden Vorstellungen, um die zum Vergleichen n\u00f6thige Gleichzeitigkeit zu erreichen, vom Ge-d\u00e4chtnifs beigestellt sein mufs, und dadurch gegen\u00fcber der urspr\u00fcnglichen W ahrnehmungsvorstellung in gesetzm\u00e4fsiger Weise ver\u00e4ndert werde, so dafs dann das Urtheil thats\u00e4chlich t\u00e4uscht, die Ursache der T\u00e4uschung aber doch nicht in der Wahrnehmung, sondern erst in der Vorbereitung zum Urtheile liegt.1 Aber diese Ausflucht \u2014 die ja, nebenbei bemerkt, doch nichts Anderes darstellt als eine Ann\u00e4herung an die Empfindungshypothese \u2014 erweist sich angesichts der wirklichen Sachlage als unzul\u00e4ssig. In gerade den pr\u00e4gnantesten F\u00e4llen der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen ist der Vergleich gar nicht auf die Mith\u00fclfe des Ged\u00e4chtnisses angewiesen, sondern^beide Vergleichungsglieder sind w\u00e4hrend des Vergleichens in der Wahrnehmung vorhanden, noch dazu in v\u00f6lliger r\u00e4umlicher N\u00e4he; der Vergleich wird also unter den g\u00fcnstigsten Umst\u00e4nden vollzogen.\nWirklich unter den g\u00fcnstigsten Umst\u00e4nden? Wenn ich zwei Gerade mit einander auf L\u00e4nge oder Richtung zu vergleichen habe und die Geraden auf die mannigfachste Weise mit Anh\u00e4ngselstrichen versehen, eingetheilt oder durchstrichen sind \u2014\u25a0 liegt da die Sache nicht \u00e4hnlich so, wie wenn ich etwa zwei T\u00f6ne auf ihre Tonh\u00f6he zu vergleichen habe, und nun, w\u00e4hrend diese beiden T\u00f6ne erklingen, meine Aufmerksamkeit durch ein unregelm\u00e4fsiges Ger\u00e4usch oder durch sonst etwas gest\u00f6rt wird? Oder, wie wenn die beiden T\u00f6ne sehr verschiedene Klangfarbe haben? Jawohl; die Sache hat damit eine gewisse Aehnlichkeit und in dieser Beziehung kann man freilich die Umst\u00e4nde f\u00fcr das Zustandekommen eines ungest\u00f6rten, sicheren Vergleichens keineswegs als die g\u00fcnstigsten bezeichnen. Aber die Frage ist nun, ob die Wirkungen solcher die Sicherheit des Vergleichens st\u00f6render Umst\u00e4nde, wie wir sie experimentell leicht beobachten k\u00f6nnen, mit den unrichtigen Vergleichsergebnissen der geometrischoptischen T\u00e4uschungen \u00fcbereinstimmen, ob sich also diese aus jenen erkl\u00e4ren lassen. Und darauf mufs wohl mit Nein geant-\n1 Vergleiche den \u00e4hnlichen Gedanken bei Lipps, Raum\u00e4sthetik und opt. T\u00e4uschung, Cap. 14 u. 15.","page":124},{"file":"p0125.txt","language":"de","ocr_de":"TJeher die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n125\nwortet werden. Die Wirkung solcher den Vergleichungsact st\u00f6render Nebenumst\u00e4nde ist eine doppelte. Erstens eine Herabsetzung der Sicherheit des Vergleichungsurtheils ; wenn ich unter erschwerenden Umst\u00e4nden einen Vergleich zu vollziehen habe, so wird das Ergebnifs desselben mehr oder weniger unsicher sein, ich vertraue ihm weniger, was sich schon darin zeigt, dafs ich beim Abschliefsen des Vergleichs und Aufstellen des Urtheils unentschlossen z\u00f6gere und schwanke. Und zweitens eine Erh\u00f6hung der Unterschiedsschwelle oder Herabsetzung der Unterschiedsempfindlichkeit ; die zul\u00e4ssige Gr\u00f6fse der Verschiedenheit, innerhalb welcher noch auf gleich geurtheilt wird, w\u00e4chst unter dem Einfiufs solcher St\u00f6rungsmomente.1\nDiese Wirkungen sind aber von dem, was wir bei den geometrisch-optischen T\u00e4uschungen beobachten k\u00f6nnen, ganz und gar verschieden. Die Sicherheit, mit der in den allermeisten F\u00e4llen die T\u00e4uschungsurtheile auf treten, l\u00e4fst nichts zu w\u00fcnschen \u00fcbrig und ist gewifs nicht geringer, als die von unter normalen Umst\u00e4nden abgegebenen analogen Urtheilen; und auch von der Empfindlichkeit wissen wir, dafs sie keineswegs geringer als sonst ist. Die Messungen der T\u00e4uschungsgr\u00f6fse, die bis jetzt ver\u00f6ffentlicht worden sind, lassen das deutlich genug erkennen.\nIn dieser Weise also lassen sich die falschen Verschieden-heitsurtheile der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen nicht verstehen, somit auch die Schwierigkeiten, die der Urtheilshypothese aus dem Gesetz von der Evidenz der Verschiedenheitsurtheile erwachsen, nicht beheben.\nIch will nun nicht sagen, dafs die Urtheilshypothese dadurch endg\u00fcltig widerlegt und aller Aussicht auf Anerkennung f\u00fcr immer beraubt sei. Die Frage nach der Ursache der geometrischoptischen T\u00e4uschungen ist eine Thatsachenfrage und die Empirie dieser Frage wird kaum schon ersch\u00f6pft sein. Nicht als oh es denkbar w\u00e4re, dafs irgend welche neue Erfahrungen das von mir herangezogene Evidenzgesetz aus dem Wege schaffen k\u00f6nnten. Dieses Gesetz liegt so gut wie aufserhalb der Macht der\n1 Zwar ist, soviel mir bekannt, gerade diese Angelegenheit einer experimentellen Pr\u00fcfung noch nicht unterzogen worden ; der experimentelle Praktiker d\u00fcrfte jedoch aus eigener gelegentlicher Erfahrung die obigen Angaben zu best\u00e4tigen geneigt sein. Vgl. \u00fcbrigens auch die mittl. Var. von Tabelle I mit denen von Tab. III im Zusammenhalt mit den dazu geh\u00f6rigen Verschiebungen.","page":125},{"file":"p0126.txt","language":"de","ocr_de":"126\nSt. Witasek.\nEmpirie. Aber es k\u00f6nnte ja eine neue psychologische Entdeckung den Weg weisen, die Urtheilshypothese mit ihm in Einklang zu bringen. Nach dem heutigen Stande unseres Wissens ist das nicht m\u00f6glich, und ich mufs daher dabei bleiben zu sagen : Die Urtheilshypothese steht mit dem Gesetz der Evidenz der subjective n Verschiede nheits-urtheile im Widerspruch.\n\u00a75. Fortsetzung der Kritik. b) Das Benennungs-\nu r t h e i 1.\nDie Urtheile, die unter diesem Titel zu besprechen sind, lauten im Allgemeinen : \u201eDas ist eine krumme (bezw. gebrochene) Linie\u201c, oder \u201eDas sind divergende Linien\u201c, allenfalls auch \u201eDas erscheint als Krumme\u201c, worin mit dem \u201eDas\u201c auf angeschaute Linien gedeutet wird.\nIhrer psychologischen Natur nach stehen diese Urtheile zun\u00e4chst auf einer Stufe mit jenem Urtheil, das ich f\u00e4lle, wenn ich etwa beim Anblick einer Farbe sage: \u201eDas ist roth\u201c, oder beim H\u00f6ren eines Tones: \u201eDas ist der Ton c\u201c. Aber auch Urtheile wie \u201eDas ist eine Eiche\u201c, \u201eDas ist der Abacus\u201c, und \u00e4hnliche sind unzweifelhaft damit zum mindesten verwandt. Wenn ich diese Urtheile als Benennungsurtheile bezeichne, so stimmt das im Allgemeinen mit dem Herkommen.\nIm vorliegenden Falle ist das Benennungsurtheil falsch. Darin liegt im Allgemeinen nichts Auffallendes. Dafs wir Gegenst\u00e4nde unserer Wahrnehmung falsch benennen, kommt auch sonst noch oft genug vor. Es kann das in zweierlei Weise geschehen. Einmal so, dafs schon die Wahrnehmungsvorstellung ihrem objectiven Gegenstand nicht regelrecht entspricht ; dann aber auch so, dafs bei v\u00f6llig entsprechender Wahrnehmungsvorstellung unser K\u00f6nnen und Wissen, kurz das Urtheil versagt. Der erste Fall ist verwirklicht, wenn wir z. B. geneigt sind, ein hellblaues Papier beim gelben Scheine des Gaslichtes weifs zu nennen oder wenn das unerfahrene Kind den ins Wasser gesteckten Stab f\u00fcr gebrochen h\u00e4lt. Beispiele f\u00fcr den zweiten Fall sind viel h\u00e4ufiger; jedes falsche Benennen einer Pflanze oder sonst eines Gegenstandes, jedes Verkennen eines Tones, eines Intervalles u. s. w. geh\u00f6rt hierher.\nAuch die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen geh\u00f6ren \u2014 vom Standpunkt der Urtheilshypothese aus betrachtet \u2014 zum zweiten","page":126},{"file":"p0127.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n127\nFall. Die Urtheilshypothese ist daher in der Lage, auf analoge Thatsachen in anderen Urtheilsgebieten hinweisen zu k\u00f6nnen.\nJedoch \u2014 versucht man diese Analogie vom Aeufserlichen zum Wesentlichen zu verfolgen, so merkt man, dafs sie nicht weit geht. Man findet sogar, dafs es nirgends auf dem Gebiete psychischen Lebens falsche, irrige Benennungsurtheile giebt, deren Natur \u00e4hnlich w\u00e4re der Natur jener, wie sie die Urtheilshypothese annimmt. Denn was zun\u00e4chst die so h\u00e4ufigen falschen Benennungen complexer Dinge anlangt z. B. von Pflanzen, Thieren, Personen, Kunstgegenst\u00e4nden und allem M\u00f6glichen sonst, so dr\u00e4ngte sich wohl schon bei der ersten Erw\u00e4hnung dieser F\u00e4lle das Gef\u00fchl auf, dafs es sich dabei um einen wesentlich anderen Sachverhalt handle. Es ist eben einfach Unkenntnifs, Mangel an Wissen, was in ganz nat\u00fcrlicher, selbstverst\u00e4ndlicher Weise solche falsche Urtheile verschuldet. In unserem Falle jedoch kann von solcher Unkenntnifs nicht im Entferntesten die Rede sein. Dort ist es Mangel der Wissensdisposition, hier w\u00e4re es St\u00f6rung ihrer nat\u00fcrlichen Wirksamkeit \u2014 also zwei ganz verschiedene Sachlagen. Und zu ganz gleichem Ergebnifs gelangen wir, wenn wir F\u00e4lle falscher Benennung von relativ Einfachem, m\u00f6gen sie nun einem Continuum angeh\u00f6ren oder nicht, zum Vergleich heranziehen. Auch die so gew\u00f6hnliche Unf\u00e4higkeit, bestimmte Tonh\u00f6hen zu erkennen, ist Mangel an Ur-theils- und Ged\u00e4chtnifsdisposition und keineswegs, wie es bei den geometrisch-optischen T\u00e4uschungen sein m\u00fcfste, ein blos zeitweilig durch die eben gegebenen Begleitumst\u00e4nde gest\u00f6rtes oder irregeleitetes Wissen; wobei noch die aufserordentliche Sicherheit, mit der solche Urtheile \u00fcber Gerade, Gebrochen, Krumm, Parallel, Divergent u. s. w. abgegeben werden, bedacht werden m\u00f6ge. Wie g\u00e4nzlich verschieden beiderseits der psychologische Sachverhalt ist, geht schon daraus deutlich hervor, dafs derjenige, dem die F\u00e4higkeit des Erkennens absoluter Tonh\u00f6hen abgeht, auch umgekehrt vorgegebene Tonh\u00f6hen nicht einzubilden oder gar zu singen vermag, w\u00e4hrend dagegen jedem die F\u00e4higkeit, die verschiedenen Linienarten zu zeichnen, auch im Moment der \u00e4rgsten T\u00e4uschung ganz unbeirrt erhalten bleibt.\nSo stehen die Benennungsurtheile der geometrisch-optischen T\u00e4uschung, wenn wir ihr psychisches Werden und Wesen im Sinne der Urtheilshypothese auffassen, also doch recht einsam und analogielos da. Denn die falschen Benennungen beim Licht-","page":127},{"file":"p0128.txt","language":"de","ocr_de":"128\nSt. Witasek.\nund Farbencontraste, bei denen die oben genannte Analogiest\u00f6rung nicht vorliegt, k\u00f6nnen nicht herangezogen werden, weil heutzutage wohl kaum mehr ein Zweifel dar\u00fcber besteht, dafs sie nicht Urtheils- sondern Empfindungsanomalien sind.\nDie psychologische Vereinsamung, in die demnach die Be-nennungsurtheile der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen von der Urtheilshypothese gedr\u00e4ngt werden, l\u00e4fst diese selbst gewifs in keinem g\u00fcnstigen Licht erscheinen. Ein noch viel bedenklicheres Zeugnifs f\u00fcr sie bedeutet es jedoch, wenn es sich als unm\u00f6glich erweist, von ihrem Standpunkt aus das psychische Geschehen dieser falschen Benennungsurtheile klar auszudenken und zu verstehen. Das ist aber, wie ich sogleich zeigen werde, thats\u00e4chlich der Fall.\nDazu mufs ich Folgendes vorausschicken. In solchen Be-nennungsurtheilen, wie sie bei geometrisch-optischen T\u00e4uschungen vorliegen, spielt das Wort, der Name durchaus keine wesentliche Bolle. Bei einigermaafsen offenem Blick f\u00fcr die Natur dieser Urtheile mufs man erkennen, dafs das Wesentliche ihrer Aussage, ihr Sinn nicht in der Zuweisung oder Zugeh\u00f6rigkeit des betreffenden Namens zur wahrgenommenen Sache liegt. Das Wort steht zum T\u00e4uschungsvorgang nur in einem ganz \u00e4ufser-lichen Verh\u00e4ltnifs ; es ist eben der Ausdruck der \u2014 schon fertigen \u2014 T\u00e4uschung, ganz wie es auch sonst der Ausdruck des Urtheils ist, tr\u00e4gt aber zur T\u00e4uschung als solcher innerlich nichts bei. Niemand wird den T\u00e4uschungsVorgang etwa als eine St\u00f6rung der Beziehung zwischen Vorstellung und Wort, als momentane Associationsverschiebung auffassen k\u00f6nnen, so dafs etwa bei Farbencontrast unter bestimmten Umst\u00e4nden die Empfindung von Grau ausnahmsweise den Namen Gr\u00fcn associativ hervorriefe u. s. w. Die Sache sitzt viel tiefer, sie ist von dem Worte v\u00f6llig unabh\u00e4ngig. Die T\u00e4uschung ist kein T\u00e4uschen in Worten, sondern ein T\u00e4uschen in der Sache, in der Qualit\u00e4t des Angeschauten. Das T\u00e4uschungsurtheil ist nicht der Gedanke an die conventionelle Beziehung zwischen der angeschauten Qualit\u00e4t und ihrem Namen, sondern ein Erfassen der Qualit\u00e4t in ihrer anschaulichen Bestimmtheit selbst, ein Auffassen der Qualit\u00e4t, das der Benennung durch ein Wort nur zum sprachlichen Ausdruck bedarf, keineswegs aber damit identisch ist.1 Das Wahr-\n1 Die Bezeichnung dieser Urtheile als Benennungsurtheile ist daher keineswegs besonders zutreffend. Da jedoch jeder andere Ausdruck, etwa","page":128},{"file":"p0129.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n129\ngenommene wird in seiner wahren oder in einer falschen Qualit\u00e4t aufgefafst und dieser Auffassung, sei sie nun richtig oder unrichtig, pafst sich in ungest\u00f6rter Promptheit der sprachliche Ausdruck an. Das Wort und die Association von Vorstellung zum Wort steht aufserhalb der T\u00e4uschung selbst. \u2014 Das Agnosciren der Qualit\u00e4t, sei sie Farbenqualit\u00e4t, wie bei den Contrast-t\u00e4uschungen, sei sie Gestaltqualit\u00e4t wie bei den geometrischoptischen T\u00e4uschungen, geschieht also nicht durch den Namen, sondern durch die diesem Namen zugeh\u00f6rige Vorstellung. Diese Vorstellung ist sonach ein unerl\u00e4fslicher, wesentlicher Inhaltstheil des Benennungs- (Agnoscirungs-) Urtheils.\nWollte man nun diese Benennungsurtheile f\u00fcr eingliedrige Urtheile halten, was zwar noch von keiner Seite versucht worden, aber vielleicht doch nicht ganz undiscutirbar ist, so m\u00fcfste man auf den ersten Blick einsehen, dafs dann T\u00e4uschungen nach Art der Urtheilshypothesen unm\u00f6glich sind. Denn das eine Glied, die eine Vorstellung eines solchen Benennungsurtheiles, k\u00f6nnte dann nat\u00fcrlich nur die eben zu agnoscirende, anschaulich vorhandene Wahrnehmungsvorstellung sein, und wenn diese dem objectiven Reiz noch in ganz normaler Weise entspricht, so kann das Urtheil, das nur diese eine Vorstellung enthalten soll, auch nichts Unrichtiges \u00fcber das objective Ding aussagen.\nAber die Agnoscirungen werden eben nicht als eingliedrige Urtheile aufzufassen sein. So wollen wir also sehen, wie sich denn zweigliedrige falsche Agnoscirungen auf dem Boden der Urtheilshypothese denken lassen.\nAls erstes Glied m\u00fcssen solche Agnoscirungen die in voller Anschaulichkeit vorliegende Wahrnehmungsvorstellung des zu agnoscirenden Objectes enthalten. Diese WahrnehmungsVorstellung \u2014 bezeichnen wir sie mit Vo \u2014 soll nach Annahme der Urtheilshypothese dem objectiven Reize noch in normaler Weise entsprechen; sie ist von dem, was das Urtheil \u00fcber das Object aussagt, verschieden. Das zweite Glied des Urtheils kann dann nur eine reproducirte Vorstellung sein; sie vermittelt die Agnos-cirung, stimmt daher nat\u00fcrlich mit der Aussage des Urtheils\nErkennungs- oder Agnoscirungsurtheil u. s. w., wieder anderen Bedenken unterliegt, so rnufste ich mich schliefslich doch f\u00fcr denselben entscheiden. Es sei mir jedoch erlaubt, im Folgenden an Stellen, wo das Unzutreffende des \u201eBenennens\u201c in dieser Bezeichnung zu st\u00f6rend hervortr\u00e4te, den farbloseren Ausdruck \u201eAgnoscirung\u201c zu gebrauchen.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XIX.\n9","page":129},{"file":"p0130.txt","language":"de","ocr_de":"130\nSt. Witasek.\n\u00fcberein und ist verschieden von Fd, worin ja eben die T\u00e4uschung liegt. Wir wollen sie mit Vs bezeichnen.\nBas Agnoseirungsurtheil hat nun, wenn man der Einfachheit des Ausdrucks halber von der TranScendenz als hier belanglos absieht, die Gestalt: \u201eFo=Fs\u201c ; es ist daher falsch, eine T\u00e4uschung. Das ist nun alles noch ganz nat\u00fcrlich und selbstverst\u00e4ndlich. Wenn ich x f\u00fcr y halte, so mufs ich, um diesen Gedanken zu denken, die Vorstellung x und die Vorstellung y haben. Es kann nun ein solcher Gedanke gerade so gut wahr wie unwahr sein. Z. B. wenn es hei'fst: ,,Ich halte den N. f\u00fcr den Dieb dieser Sache\u201c, oder wenn ich sage: \u201eDer Stern, den ich da sehe, ist der Mars.\u201c\nFalsche Agnoscirungen solcher Art haben also einen ganz guten Sinn. Man kann sich aber leicht die Ueberzeugung verschaffen, dafs sie nur dann m\u00f6glich sind, wenn es sich um einen \u00e4ufseren Gegenstand handelt, der durch zwei Vorstellungen verschiedenen Inhalts vo'rgestellt ist, wie im obigen Beispiel ein und dieselbe Person einmal durch ihren Namen N und dann durch eine Vorstellung des Inhalts ,,Dieb dieser Sache\u201c. Schlechterdings sinnlos wird dagegen die Annahme falscher Agnoscirungen dort, wo es sich um einen inneren Gegenstand, z. B. um Vorstellungs-Inhalte und deren Qualit\u00e4t, handelt. Zum Beweis dessen Versuche man nur, sich einen solchen diesem Schema entsprechenden UrtheilsVorgang anschaulich und deutlich vorzustellen.\nVo sei eine actuelle Wahrnehmungsvorstellung, z. B. grau. Wegen Contrast mit benachbartem Purpur erscheine es gr\u00fcn. Das hiefse also, das Urtheil tritt mit der Phantasievorstellung von gr\u00fcn (Fs) an die WahrnehmungsVorstellung grau (Fo) heran, um diese mittels jener \u201eaufzufassen\u201c, diese mit jener dem Inhalte nach zu identificiren. Was soll es nun heifsen, dafs ich das in lebhafter Wahrnehmungsvorstellung gegebene Grau durch das reproducirte Gr\u00fcn erfasse? Wie soll man es verstehen, dafs ich mir auf die Frage nach der Qualit\u00e4t von Fo diese durch das Gr\u00fcn zum Bewufstsein zu bringen meine, w\u00e4hrend doch ihr Grau in lebhafter Anschauung offen zu Tage liegt, gerade so gut wie das Gr\u00fcn, ja eigentlich als Wahrnehmungs- gegen\u00fcber der Phantasievorstellung nur noch aufdringlicher als dieses ? Das Grau bleibt grau, auch wenn ich mich noch so bem\u00fchen sollte,","page":130},{"file":"p0131.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n131\nmich seiner mittels des Gr\u00fcn zu bem\u00e4chtigen. Die Verschiedenheit von Vo und Vs mufs unmittelbar ins Auge fallen.\nDazu kommt noch, dafs ich nur eine einzige Vorstellung in mir finden kann. Diese hat einerseits die Qualit\u00e4t von Vs, andererseits den Habitus einer Wahrnehmungsvorstellung. Von einer zweiten ist nichts zu entdecken \u2014 und das ist bei zwei von einander so merklich verschiedenen Vorstellungen jedenfalls bedenklich. Ja wenn das Urtheil Vo \u2014 Vs richtig w\u00e4re, so k\u00f6nnte man an der Unm\u00f6glichkeit, die Zweiheit zu bemerken, nichts Besonderes finden; zwei einander gleiche Vorstellungen m\u00f6gen ja schwer auseinander zu halten sein. Aber so steht die Sache in unserem Fall nicht; die beiden Vorstellungen sind verschieden uiid zwar stark \u00fcbermerklich verschieden (denn der Versuch, dieser Schwierigkeit dadurch zu entgehen, dafs man das Wesen der T\u00e4uschung in eine abnorm vergr\u00f6fserte Unterscheidungsschwelle legt, braucht als zu aussichtslos nicht weiter verfolgt zu werden). \u2014 So kommt also zu der zuerst aufgedeckten Unklarheit und Unverst\u00e4ndlichkeit des ganzen Gedankens noch das, dafs er ein mit der inneren Wahrnehmung ganz und gar nicht stimmendes Bild des T\u00e4usehungsprocesses entwirft.\nBei dem Beispiel freilich, dessen ich mich hier bedient habe \u2014 dem Farbencontrast \u2014 liegt weiter nichts daran; die Theorie des Farbencontrastes ist kaum mehr darauf angewiesen, sich mit den hier aufgezeigten Schwierigkeiten auseinanderzusetzen, weil sie Gr\u00fcnde hat, ihre Thatsachen \u00fcberhaupt nicht als Urtheils-, sondern als Empfindungst\u00e4uschungen hinzustellen. Umsomehr aber m\u00fcssen sich die Urtheilshypothesen der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen damit abfinden. Denn die obigen Entwickelungen behalten ihren vollen Sinn, wenn man darin statt grau und gr\u00fcn, etwa gerade und krumm, oder parallel und convergent setzt. \u2014 Ja noch mehr. Auch die viel gebrauchte Erkl\u00e4rung aus dem Ueber sch\u00e4tzen kleiner (spitzer) und dem Untersch\u00e4tzen stumpfer Winkel ist damit getroffen. Dieselbe Unklarheit, an der der Gedanke, man fasse eine Gerade und als gerade Linie gesehene als Krumme auf, krankt, steckt auch in dem des Uebersch\u00e4tzens spitzer Winkel. Ich sehe einen spitzen Winkel; ich \u00fcbersch\u00e4tze ihn. Wie k\u00f6nnte der Vorgang dieses Uebersch\u00e4tzens psychologisch betrachtet aussehen? Nun, am nat\u00fcrlichsten wohl so, dafs er etwa mit den Worten ausgedr\u00fcckt w\u00e8rden kann \u201eDer Winkel hat 400u w\u00e4hrend er etwa nur 30\u00b0","page":131},{"file":"p0132.txt","language":"de","ocr_de":"132\nSt. Witasek.\nhat. Dieses \u201e40\u00b0\u201c ist aber eine unanschauliche Vorstellung, die f\u00fcr das Bild, das Aussehen des Winkels ganz gleichg\u00fcltig ist; auch wenn einmal ein Unkundiger diesen Winkel auf 100\u00b0 sch\u00e4tzen sollte, wird er immer noch ganz gleich aussehen. Das taugt also zur Erkl\u00e4rung der T\u00e4uschung gar nicht, \u00fcbrigens auch schon deshalb nicht, weil wir beim Ansehen der Z\u00f6llner\u2019sehen Figur an nichts weniger als an eine so abstracte, unanschauliche Sch\u00e4tzung nach Winkelgradzahlen denken. Ist\u2019s nun das nicht, so k\u00f6nnte man sich darunter nur noch ein Gleichfinden des gesehenen Winkels mit einem anschaulich vorgestellten und in Wahrheit gr\u00f6fseren Winkel denken, ein Vorgang der \u2014 abgesehen davon, dafs er ja doch nur sehr uneigentlich als \u201eSch\u00e4tzen\u201c bezeichnet werden kann, abgesehen ferner davon, dafs er die T\u00e4uschung gar nicht zu erkl\u00e4ren vermag, weil ein solches falsches Urtheil an dem Aussehen des Winkels nichts \u00e4ndern kann \u2014 gerade so unm\u00f6glich ist, wie dafs ich ein von mir wahrgenommenes Grau mit einem von mir vorgestellten Gr\u00fcn identifieire. Ich kann nicht einen Winkel, den ich anschaulich vor mir sehe, in einer anderen anschaulichen Gr\u00f6fse vorstellen, als er sie eben besitzt, es sei denn, dafs ich schon in der Wahrnehmung das Bild eines gr\u00f6fseren Winkels habe. Ist aber Letzteres mit dem \u201eUebersch\u00e4tzen des Winkels\u201c gemeint, so fassen die Vertreter dieser Erkl\u00e4rung, wohl ohne sich dessen voll bewufst zu sein, die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen nicht als Urtheils-, sondern als Empfindungst\u00e4uschungen auf. \u2014\nWie immer man also diesen Gedanken von den Benennungs-urtheilen drehen und wenden mag, man wird ihn niemals klar zu Ende denken k\u00f6nnen; er ist eine verfehlte psychologische Conception. Freilich ist auch damit noch nicht der Stab \u00fcber die Urtheilshypothesen ein f\u00fcr allemal gebrochen. Es w\u00e4re immerhin m\u00f6glich, dafs die Natur der Benennungsurtheile, die ja noch keineswegs klar erkannt ist, solche innerlich falsche Agnoscirungen zul\u00e4fst. Die Urtheilshypothesen jedoch sind nicht in der g\u00fcnstigen Lage, sich auf derartiges st\u00fctzen zu k\u00f6nnen. Sie gehen im besten Fall von dem Zustande unseres heutigen psychologischen Wissens aus, nehmen die Agnoscirungsurtheile so, wie die heutige Psychologie Urtheile zu erfassen eben im Stande ist, und \u00fcbersehen die Unklarheiten, die sie damit in den Kauf genommen haben.\nDiese Unklarheiten glaube ich im Vorstehenden aufgedeckt","page":132},{"file":"p0133.txt","language":"de","ocr_de":"TJeher die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n133\nzu haben. Sie sind so schwerwiegend, dafs es mir nach dem Stande der heutigen Psychologie unm\u00f6glich erscheint, die Urtheils-hypothese gelten zu lassen.\nIII. Die Empfindungshypothese.\n\u00a7 1. Der allgemeine Grundgedanke der Empfindungshypothese.\nDer allgemeine Grundgedanke der Empfindungshypothese l\u00e4lst sich kurz folgendermaafsen wiedergeben :\nDie Ursache der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen liegt in einer Besonderheit des die Wahrnehmungsvorstellung erzeugenden psychophysischen Vorganges. Diese Besonderheit hat zur Folge, dafs die Wahrnehmungsvorstellung der T\u00e4uschungsfigur bez\u00fcglich ihrer r\u00e4umlichen Eigenschaften in einem die jeweilige T\u00e4uschung ausmachenden Sinne von der, dem betreffenden Reize unter normalen Verh\u00e4ltnissen entsprechenden Wahrnehmungsvorstellung abweicht.\nDie Empfindungshypothese nimmt also ganz ausdr\u00fccklich Bezug auf einen Vorgang des Raumwahrnehmens, also implicite wohl auch des Raumempfindens. Es liegt daher die Folgerung nahe, sie sei nur dann annehmbar, wenn es \u00fcberhaupt ein Raumempfinden als solches giebt. Trotzdem w\u00e4re es irrig, sie mit den nativistischen Raumtheorien in nothwendige Beziehung zu bringen und zu meinen, sie k\u00f6nnte nur auf dem Boden dieser erwachsen, sei aber mit den empiristischen Raumtheorien nicht vereinbar. Auch wer den Ursprung der Raumvorstellungen im Sinne des Empirismus nicht in einem, etwa dem Farbenempfinden analogen directen Raumempfinden zu finden glaubt, mufs irgend welche Empfindungen von irgend einer, wenn auch anderen Modalit\u00e4t (Bewegungsempfindung u. a.) annehmen, die die jeweilige Raumanschauung bestimmen, indem sich diese aus ihnen aufbaut. Auch solche Empfindungen sind daher gewissermaafsen Raumempfindungen ; vollends die Empfindungshypothese thut wohl daran, in ihrer allgemeinsten Formu-lirung unter dem Terminus Raum Wahrnehmung auch diese quasi-Raumwahrnehmungen mit zu verstehen und zwischen ihnen und eigentlichen Raumwahrnehmungen keinen Unterschied zu machen. Also ist die Empfindungshypothese,: wie sie hier zu verstehen","page":133},{"file":"p0134.txt","language":"de","ocr_de":"134\nSt Witaseh.\nist, keineswegs nur dem Nativismus zug\u00e4nglich und dem Empirismus verschlossen.\nUmsomehr mufs es auffallen, eine wie geringf\u00fcgige Rolle der Grundgedanke der Empfindungshypothese im Verh\u00e4ltnifs zur Urtheilshypothese bei der Bearbeitung der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen bisher immer gespielt hat. Der Gedankenstrom, der sich \u00fcber dieses Problem ergiefst, bewegt sich ganz vorwiegend im Geleise der Urtheilshypothese; dem ganzen Heere von Erkl\u00e4rungsversuchen dieser Art stehen nur ganz wenige gegen\u00fcber, die den Charakter der Empfindungshypothese tragen. Gew\u00f6hnlich gerathen die Erkl\u00e4rungsversuche ganz unwillk\u00fcrlich in das Fahrwasser der Urtheilshypothese, nur ganz selten trifft man ein klares Bewufstsein des tiefgehenden Gegensatzes, innerhalb dessen damit die Entscheidung getroffen ist, und wenn ja, so wird die Empfindungshypothese nicht selten ohne weitere Pr\u00fcfung wie selbstverst\u00e4ndlich a limine abgewiesen.\nAuch sonst d\u00fcrfte Jeder \u2014 etwa durch Umfrage in seinem wissenschaftlichen Bekanntenkreise \u2014 leicht die Erfahrung machen, dafs man fast allgemein, besonders auf Seite der Physiologie, geneigt ist, zu meinen, die geometrisch - optischen T\u00e4uschungen k\u00f6nnen nur dem Urtheil zur Last fallen, ja kurzweg zu sagen, eine Erkl\u00e4rung im Sinne der Empfindungshypothese sei \u201ephysiologisch undenkbar\u201c.\nDagegen hat sich im vorigen Capitel die Urtheilshypothese als psychologisch undenkbar erwiesen. In dieser Beziehung ist der Empfindungshypothese ganz und gar nichts Uebles nachzusagen. Alle die Schwierigkeiten, die, wie ich gezeigt habe, dein psychologischen Verst\u00e4ndnifs des T\u00e4uschungsvorganges aus der Urtheilshypothese erwachsen, sind f\u00fcr die Empfindungshypothese nicht vorhanden. Nach ihrer Auffassung hat der T\u00e4uschungsvorgang, sobald die Wahrnehmungs Vorstellung einmal fertig ist, einen v\u00f6llig normalen Verlauf, das Urtheil steht dabei der Wahrnehmungs Vorstellung genau so gegen\u00fcber, wie sonst wo und baut sich auf dieser psychologisch vollkommen klar verst\u00e4ndlich auf.\nWoher kommt also dieses, man k\u00f6nnte fast sagen instinctive Widerstreben, das dem Gedanken der Empfindungshypothese so vielfach entgegengebracht wird, und ist es begr\u00fcndet?\nDie Beantwortung dieser Frage m\u00f6chte ich durch eine kritische Untersuchung des beanstandeten Gedankens, \u00e4hnlich","page":134},{"file":"p0135.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n135\nder des vorigen Capitels, zn gewinnen suchen. Dazu wird es jedoch nothwendig sein, n\u00e4her auf die Eigenart dieser \u201eBaumwahrnehmung\u201c einzugehen und stets R\u00fccksicht zu nehmen auf die speciellen Bedingungen und Formen, unter denen sich gerade diese Art der Wahrnehmung vollzieht. Denn nehme ich blos R\u00fccksicht auf die den Wahrnehmungen ganz im Allgemeinen zukommenden Gesetze, so bin ich mit der Kritik eigentlich schon fertig, sie ist demgem\u00e4fs aber auch recht nichtssagend. Dafs die Empfindungen, bezw.Wahrnehmungsvorstellungen unter bestimmten Umst\u00e4nden Anomalien auf weisen k\u00f6nnen und thats\u00e4chlich aufweisen, derart, dafs ein Reiz eine Empfindung ausl\u00f6st, die von der ihm unter normalen Umst\u00e4nden entsprechenden Empfindung verschieden ist, daf\u00fcr giebt es genug Belege. Man erinnere sich nur z. B. an die Erm\u00fcdungserscheinungen, an gewisse Empfindungsalterationen auf dem Gebiete des Temperatur-, des Geschmacksinnes, vor Allem aber an den Simultan-und den Successivcontrast der Farben. Die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen stellten sich demnach als ein specieller Fall dieser Empfindungsalteration dar, liefsen also nichts Merkw\u00fcrdiges oder Auffallendes an sich erkennen. Es ist aber die Frage, ob ein solcher Specialfall mit R\u00fccksicht auf die Eigenart des Raum* wahrnehmens, dem ja unter den verschiedenen Wahrnehmungsgebieten gewifs eine besondere Stellung zukommt, m\u00f6glich, ob eine solche Wahrnehmungsalteration mit der Natur des Vorganges der Raum Wahrnehmung vertr\u00e4glich ist.\n\u00a7 2. Das Wesen der Auffassung des zweidimensionalen Raumes.\nDiese Untersuchung erforderte also eigentlich die Kenntnifs der Natur der Raum Wahrnehmung. Die heutige Psychologie ist bekanntlich noch nicht so weit, dieses Problem als endg\u00fcltig gel\u00f6st ansehen zu k\u00f6nnen. Noch immer stehen Empirismus und Nativismus einander gegen\u00fcber, ja, jede dieser beiden Theorien weist noch verschiedene Gestaltungen auf, ganz abgesehen davon, ob sic wirklich eine vollst\u00e4ndige Disjunction ausmachen. Diesen alten, schweren Streit hier so nebenbei zur Entscheidung zu bringen, kann ich nat\u00fcrlich nicht unternehmen woben. Aber selbst eine einseitige Stellungnahme zu Gunsten einer der Theorien, sei es auf was immer f\u00fcr einen Beweggrund hin, w\u00e4re un-zweckm\u00e4fsig. Ich w\u00fcrde dadurch die G\u00fcltigkeit der schliefslichen","page":135},{"file":"p0136.txt","language":"de","ocr_de":"136\nSt. Witasek.\nBeantwortung der Hauptfrage von der Zul\u00e4ssigkeit dieser meiner Stellungnahme abh\u00e4ngig machen und mir den Weg zu einer unbedingten Entscheidung abschneiden. Es scheint mir daher am besten, alle Raumtheorien zu ber\u00fccksichtigen, freilich nicht so, dafs ich etwa einen Autor nach dem anderen hernehme, um seine Raumtheorie mit der Empfindungshypothese zu confron-tiren. Das m\u00fcfste zu langwierig werden. Ich will vielmehr die ganze schwere Masse der Tradition bei Seite lassen, an das Bestehende gar nicht ankn\u00fcpfen, weder an Namen noch an Theorien, sondern mich frischweg an das Problem selber halten und sehen, was f\u00fcr verschiedene Wege zu seiner Beantwortung von vornherein m\u00f6glich sind.\nDieser Weg ist noch immer der k\u00fcrzeste und hat \u00fcberdies den Vortheil, dafs ich durch Bedachtnahme auf vollst\u00e4ndige Disjunction die Gewifsheit daf\u00fcr gewinne, auch wirklich alle, und zwar alle m\u00f6glichen Raumwahrnehmungstheorien in Betracht gezogen zu haben. Aufserdem stellt sich die Aufgabe noch deshalb ganz besonders einfach, weil ich mich Dank der Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen, um alle die Schwierigkeiten und Verwickelungen, die der Raumtheorie aus der dritten Dimension entspringen, nicht zu k\u00fcmmern brauche, sondern meinem Zwecke vollst\u00e4ndig entspreche, wenn ich das Wesen des Auffassens nur der ersten und zweiten Dimension ber\u00fccksichtige .\nZuvor jedoch noch das eine. Unsere Raumvorstellung ist, wenigstens so lange es sich nur um die erste und zweite Dimension handelt, eine Vorstellung von anschaulichem, absolutem (nicht relativem) Inhalte. Daran zu erinnern, ist freilich heutzutage, da der offene Blick f\u00fcr das Thats\u00e4chliche gegen\u00fcber der Speculation l\u00e4ngst zu seinem Rechte gekommen ist, kaum mehr besonders nothwendig. Aber die mannigfachen Versuche, die in fr\u00fcherer und sp\u00e4terer Zeit gemacht worden sind, den Inhalt unserer Raum vor Stellung aufzul\u00f6sen in anschauungsfremde Relationen, die zwischen v\u00f6llig unr\u00e4umlichen Anschauungsdingen gedacht werden sollen, sind doch noch nicht ganz ausgestorben. Gegen\u00fcber solchen den unmittelbaren psychischen Aspect des Raumvorstellens so v\u00f6llig aufser Acht lassenden Gedanken sei also nochmals betont: die Auffassung der zwei ersten Dimensionen giebt eine Vorstellung von anschaulichem, absolutem Inhalt, ganz analog etwa wie die der Farbe oder die einer Melodie;","page":136},{"file":"p0137.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n137\nnat\u00fcrlich von einer ihr speciell eigenen Qualit\u00e4t und ihren eigenen besonderen Gesetzen folgend. Dieser Inhalt ist seiner Qualit\u00e4t nach ganz und gar ein Inhalt sui generis, ein Inhalt, der nicht etwa blos eine besondere Art oder Summe anderer Inhalte ist, in die er sich auf l\u00f6sen liefse, sondern der vielmehr etwas Neues, Eigenes darstellt, der, wenn er auch niemals aufser Verbindung mit anderen Inhalten m\u00f6glich (Farbe), doch ebensowenig mit diesen identisch ist.\nDies vorausgeschickt ist die vollst\u00e4ndige Disjunction aller denkbaren M\u00f6glichkeiten des Ursprungs der (zweidimensionalen) Raumvorstellung sehr leicht, aufgestellt: Entweder Empfindung (im strengen Wortsinn) oder psychische Neubildung. Ein Drittes giebt es nicht.\na) Der Empfindungsgedanke selbst braucht keine weitere Erkl\u00e4rung. Auch seine Anwendbarkeit auf den Raum wird heute von vielen Seiten nicht mehr bestritten. Die Vorstellung des (zweidimensionalen) Raumes hat ihren anschaulichen, con-creten, absoluten Inhalt, gerade so wie eine Farben- oder Tonempfindung, einen Inhalt, der seinem Wesen nach keineswegs eine blofse Summe oder sonst eine Combination von Sinnesempfindungen anderer Art ist. Auch sonst zeigen die Raumauffassungen ganz und gar den gleichen Habitus, den wir an Empfindungen zu finden gewohnt sind: die sinnliche Lebhaftigkeit und die von jeder Reflexion freie Unmittelbarkeit. Und was das f\u00fcr die Empfindung wesentlichste \u00e4ufsere Charakteristi-kon anlangt, die Abh\u00e4ngigkeit vom objectiven Reiz, so ist nicht abzusehen, von welchen Gesichtspunkten aus dieses Charakteristi-kon beim Raum als unm\u00f6glich hingestellt werden k\u00f6nnte. Vielmehr l\u00e4fst sich auch die Raumauffassung gerade so gut wie Farben u. s. w. -Empfindung als Folge der Einwirkung eines objectiven Reizes auf unsere Sinnesorgane und das Zusammenwirken dieses Reizes mit unserer physischen und psychischen Constitution denken. Der Reiz ist nichts anderes als der objective Raum, \u00fcber dessen Natur wir mehr oder minder ebensowenig wissen und wissen k\u00f6nnen, wie \u00fcber die der objectiven Farbe, dessen reale Existenz jedoch durch die Verschiedenheit der Raumdaten in demselben Sinne gefordert ist wie die der anderen objectiven Reizvorg\u00e4nge. Dafs wir ferner immer und \u00fcberall Raumwahrnehmung haben, auch bei geschlossenen Augen, ja das wir uns nicht einmal die M\u00f6glichkeit eines etwaigen Ent-","page":137},{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"138\nSt. Witasek.\nfallens derselben denken k\u00f6nnen, und unsere Reproductions- und Phantasievorstellungen, wenigstens die des Gesichts- und Tastsinnes, sofern sie nur beim Anschaulichen bleiben, der r\u00e4umlichen Bestimmung niemals entbehren, widerspricht dem Empfindungscharakter hier ebensowenig wie auf dem Gebiete des Licht- und Farbensinnes, wo die Verh\u00e4ltnisse ganz analog liegen. Nur eine einzige Eigent\u00fcmlichkeit unserer Raumperception erweist sich, auf den ersten Blick wenigstens, als Widerspruch gegen die Charakteristik des Empfindens. Die Qualit\u00e4t (und Intensit\u00e4t) des Empfindungsinhaltes ist abh\u00e4ngig vom objec-tiven Reiz und \u00e4ndert sich, wenn dieser sich \u00e4ndert. Unser sub-jectiver Raum jedoch, der ja nichts anderes ist als der Inhalt der Raumperception, bleibt sich immer gleich, wie sehr wir auch den objectiven Raum \u00e4ndern; andererseits stellt sich ein und derselbe objective Raumpunkt, je nach unserer Stellung zu ihm, in unserem subjectiven Raume verschieden dar. Die Qualit\u00e4t des Links, des Vorne, kann jeder objective Punkt in meinem subjectiven Raume erhalten, und ein Raumpunkt, der mir einmal in der Qualit\u00e4t ,,links\u201c erscheint, bekommt sofort die entgegengesetzte Qualit\u00e4t \u201erechts\u201c, sobald ich mich umwende. Solche scheinbar v\u00f6llige Irrelevanz des Objectiven gegen\u00fcber dem Subjectiven l\u00e4fst den Gedanken an das Verh\u00e4ltnis von Reiz zu Empfindung nur schwer auf kommen. Und doch, bei n\u00e4herem Zusehen zeigt sich, dafs darin nichts liegt, was nicht schon, wenn auch nicht in so hohem Ausmaafse, so doch wenigstens im Princip, auch aut anderen Gebieten, die ganz fraglos reine Empfindungstypen darstellen, zu finden w\u00e4re. Oder ist es etwas wesentlich anderes, wenn ein und dieselbe objective Farbe je nach dem Zustande des Sinnesorganes einmal roth, einmal gr\u00fcn erscheint? Aehnliches lassen \u2014 den Tonsinn ausgenommen \u2014 auch die anderen Empfindungsgebiete beobachten. Die Empfindung ist eben das Ergebnifs des Zusammenwirkens von physikalischen, physiologischen und psychischen Factoren; wenn in einem von den dreien eine Ver\u00e4nderung eintritt, so wird auch der Erfolg \u2014 die Empfindung \u2014 ein anderer werden m\u00fcssen. Dafs nun bei der Raumempfindung die Ortsver\u00e4nderung des percipirenden Organs thats\u00e4chlich eine solche Ver\u00e4nderung in den physikalischen und physiologischen Bedingungen darstellt und sich als solche bemerkbar macht, ist doch nat\u00fcrlich. \u2014 Wer sich \u00fcbrigens damit begn\u00fcgt \u2014 und principiell wird","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Natur der geometrisch-koptischen T\u00e4uschungen.\n139\nsich kaum etwas dagegen einwenden lassen \u2014, die qualitative Differenzirung der Raumreize lediglich in der Verschiedenheit der von den einzelnen Lichtstrahlen getroffenen Netzhautpunkte zu finden, dem l\u00f6st sich, wie leicht ersichtlich, diese Schwierigkeit noch viel einfacher. \u2014\nEs l\u00e4fst sieh also gegen die M\u00f6glichkeit des direeten, wirklichen Raumempfindens (von der dritten Dimension abgesehen) nach dem heutigen Stande unseres Wissens nichts Entscheidendes einwenden.1 Damit ist nat\u00fcrlich noch keineswegs gesagt, dafs diese M\u00f6glichkeit auch Wirklichkeit sei; f\u00fcr uns aber bedeutet es immerhin die Forderung, in unserer Kritik der Empfindungshypothese auch diese Eventualit\u00e4t in Betracht zu ziehen. Bei der Klarheit und Nat\u00fcrlichkeit, die dem Gedanken des direeten Raumempfindens eignet, wird es keine Schwierigkeiten machen, dieser Forderung nachzukommen. \u2014\nb) Auch das, was ich unter dem Namen der \u201epsychischen Neubildung\u201c als zweite in Betracht kommende M\u00f6glichkeit f\u00fcr den Ursprung der Raumvorstellung genannt habe, bedarf heute wohl kaum mehr einer besonderen Einf\u00fchrung. Um wras es sich dabei handelt, ist, wenn auch nicht gerade unter diesem \u2014 nur f\u00fcr den Augenblick \u25a0\u2014 gew\u00e4hlten Namen, so doch der Sache nach in der heutigen Psychologie sehr wohl bekannt und gel\u00e4ufig. Es ist nichts anderes als die Thatsache, dafs durch das psychische Zusammensein von Vorstellungen neue, eigenartige, Vorstellungsinhalte entstehen, sei es willk\u00fcrlich oder unwillk\u00fcrlich. Aufeinanderfolgende T\u00f6ne ergeben eine Melodie, also einen Vorstellungsinhalt, der zwar aufgebaut ist auf die einzelnen Tonvorstellungen, ohne die er nicht gedacht werden kann, der aber keineswegs identisch mit der blofsen Summe dieser T\u00f6ne, sondern um ein Plus reicher ist, das, durch das Zusammensein der Tonvorstellungen psychisch entstanden, zu diesem hinzukommt und das der Melodie Wesentliche ausmacht. Zwei Farben, die ich sehe, zwei T\u00f6ne, die ich h\u00f6re, kann ich gleich, verschieden finden ; sie werden mir zu Erregern und\n1 Vielleicht liegt \u00fcbrigens in den Erfahrungen, die man mit Meta-morphopsien gemacht hat, die Wurzel eines solchen entscheidenden Ein-wandes. (Vgl. Wundt, Zur Theorie der r\u00e4uml. Gesichtswahrn. Phil. Stud. XIV, S. 9f.) Doch scheint mir diese Sache gegenw\u00e4rtig noch zu wenig untersucht, als dafs ich daraufhin von der M\u00f6glichkeit des direeten Raumempfindens absehen d\u00fcrfte.","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140\nSt. Witasek.\nTr\u00e4gern einer neuen Vorstellung, der Vorstellung der Gleichheit, der Verschiedenheit. Diese Vorstellungen sind gegen\u00fcber den beiden Farben- bezw. Tonvorstellungen etwas neu Hinzukommendes, Eigenartiges, aber gerade so gut Vorstellungen wie diese. Freilich Vorstellungen, die niemals der Sinnes Wahrnehmung entspringen k\u00f6nnen. Sie sind rein innere, \u201epsychische Neubildungen\u201c. Es ist eine der werthvollsten Errungenschaften der neueren Psychologie, diese psychischen Neubildungen als solche erkannt und an dem schon so lange in Ehren stehenden Gesetze, die Wahrnehmung sei die einzige Quelle unseres gesammten Vorstellungsmateriales, diese h\u00f6chst wichtige Berichtigung angebracht zu haben. Darin also ist sich die heutige Psychologie, von einigen nicht in Betracht kommenden Nachz\u00fcglern abgesehen, im Wesentlichen v\u00f6llig einig. Ehreneels-Meinong\u2019s Fundirung, Cornelius\u2019 Verschmelzung, Stumpe-K\u00fclpe\u2019s Verschmelzung, Wundt\u2019s Synthese sind zwar im Einzelnen und Besonderen von einander v\u00f6llig abweichende Gedankengebilde. Im allgemeinen Grundgedanken jedoch kommen sie \u00fcberein : Aus dem mannigfachen Zusammensein und Zusammentreffen von Vorstellungen, das der durch Empfindung und Reproduction in Gang erhaltene Vorstellungsverlauf mit sich bringt, entstehen unter Umst\u00e4nden neue Vorstellungen neuen, eigenartigen Inhaltes, die ihrer Natur nach niemals der Sinnes Wahrnehmung entspringen k\u00f6nnen, die vielmehr von den sie hervorrufenden Vorstellungen in ann\u00e4hernd \u00e4hnlicher Weise abh\u00e4ngig sind wie die Empfindung vom Reize; zwischen ihnen und den sie hervorrufenden Vorstellungen besteht n\u00e4mlich ein Nothwendigkeits-verh\u00e4ltnifs, dahin gehend, dafs sie nur dann entstehen k\u00f6nnen, wenn diese vorhanden sind und dafs sie weiters in ihrer Qualit\u00e4t g\u00e4nzlich von diesen abh\u00e4ngig sind. \u2014\nAlso auch dieser zweiten Quelle unseres gesammten Vorstellungsmateriales kann die Raumvorstellung entstammen. Es entsteht dann nur die Frage, welche Vorstellungen es sind, aus deren Zusammensein die Raumvorstellung erw\u00e4chst. Dafs diese Vorstellungen in letzter Linie Empfindungen entstammen m\u00fcssen, ist klar. Weiter jedoch brauche ich mich mit dieser bereits \u00fcber das Wesentliche hinausgehenden Frage nicht aufzuhalten. Nur auf eines sei hingewiesen. Wenn man hier in erster Linie an die verschiedenen auf Bewegungsempfindungen gegr\u00fcndeten Raumtheorien denkt, so darf man sich doch","page":140},{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\nnicht dazu verleiten lassen, sie alle als hierher geh\u00f6rig zu betrachten. Nur jene geh\u00f6ren hierher, die aus dem Zusammensein der Bewegungsempfindungen erst durch psychische Neubildung die Baumvorstellung erwachsen lassen (z. B. Wundt\u2019s Synthese); diejenigen jedoch, die \u00fcber die Bewegungsempfindungen nicht hinausgehen und meinen, die Baumvorstellung sei eine blofse Combination aus ihnen, und ihr Inhalt durch den der Bewegungsempfindungen vollkommen ersch\u00f6pft, k\u00f6nnen augenscheinlich hier nicht herangezogen werden. Sie passen aber, wie leicht ersichtlich, auch nicht auf den zuerst besprochenen Gedanken, der \u00fcber die Natur der Baumauffassung m\u00f6glich ist, und nach welchem sie in directem Empfinden der eigen th\u00fcmlichen, specifischen Baumqualit\u00e4t l\u00e4ge. Denn Bewegungempfinden heilst wohl etwas B\u00e4umliches empfinden, ist aber deshalb noch ebensowenig Baumempfinden, wie etwa Farben- oder Druckempfinden. Mag immerhin die Baumauffassung und die Baumvergleichung auf Bewegungsempfindungen angewiesen sein, von diesen allein ausgemacht ist sie nicht; denn der Inhalt der Baumvorstellung ist eben ein Inhalt sui generis, verschieden von dem der Bewegungsvorstellung, der aus ihm in keiner Weise herauszuanalysiren ist. Es ist somit ganz in der Ordnung, dafs sich f\u00fcr solche Baumtheorien in den oben als vorg\u00e4ngig m\u00f6glich befundenen kein Platz findet. Sie sind eben nicht m\u00f6glich, und zwar aus den angef\u00fchrten Gr\u00fcnden nicht; sie haben keine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der B a u m Vorstellung als solcher, ja sie \u00fcbersehen vielmehr ganz und gar deren Eigenart.\nSchliefslich mufs noch bemerkt werden, dafs die beiden Baumtheorien einander durchaus nicht v\u00f6llig ausschliefsen, sondern vielmehr in ihrer Vereinigung den Grundgedanken einer dritten, h\u00f6chst entsprechenden Baumtheorie ergeben. Nach dieser w\u00e4ren die psychischen Neubildungen (Inhalte h\u00f6herer Ordnung) die Vorstellungen von den r\u00e4umlichen Gebilden (Strecken, Fl\u00e4chenausdehnung, Gestalt), und die Vorstellungen, aus denen sich diese ergeben, w\u00e4ren die Vorstellungen vom r\u00e4umlich Einfachen, d. i. vom Baumpunkt, die auf dem Wege der Empfindung entstanden gedacht w\u00fcrden. Ich werde im Folgenden auf diese dritte M\u00f6glichkeit keine B\u00fccksicht zu nehmen brauchen, weil sie in den Punkten, die f\u00fcr meine Kritik des Grundgedankens der Empfindungshypothesen in Betracht kommen, verm\u00f6ge der noth-\n/","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"St. Witasek.\nwendigen Abh\u00e4ngigkeit der Qualit\u00e4t der Neubildung wen der der Fundamente, mit der ersten M\u00f6glichkeit v\u00f6llig zusammenf\u00e4llt.\n\u00a7 3. Kritik.\nNun haben wir die Voraussetzung f\u00fcr eine Kritik der Empfindungshypothese gewonnen und k\u00f6nnen das Mifstrauen, das ihr so vielfach entgegengebracht wird, auf seine Berechtigung pr\u00fcfen. Wir brauchen nur die verschiedenen m\u00f6glichen Hypothesen der Raumperception, wie wir sie im vorigen Paragraphen aufgefunden haben, mit dem Grundgedanken der Empfindungshypothese zusammenzuhalten und werden dabei sehen, ob sie sich mit einander vertragen oder nicht. Sollte das Ergebnifs ein negatives sein, dann ist freilich das Urtheil \u00fcber die Empfindungshypothese gesprochen.\nZun\u00e4chst also will ich mich auf den Standpunkt des directen Raumempfindens stellen und von ihm aus den Grundgedanken der Empfindungshypothese betrachten. Sie erscheint dabei, wie schon fr\u00fcher einmal zu bemerken Gelegenheit war, durchaus nicht als psychologisches Unicum. Ich erinnere nochmals daran, dafs sie sich bereits bei der Erkl\u00e4rung des in so vieler Beziehung ganz analogen Farbencontrastes das B\u00fcrgerrecht erworben hat. Sie kann also nichts enthalten, was mit dem allgemeinen Empfindungsgedanken als solchem unvereinbar w\u00e4re. Nur darum mufs es sich uns handeln, ob eine solche Empfindungsalteration, wie sie von der fraglichen Hypothese gefordert wird, bei den speciell dem Raumempfinden zu Grunde liegenden Vorg\u00e4ngen m\u00f6glich ist. Aber von diesen Vorg\u00e4ngen wissen wir ja so gut wie gar nichts. Ebensowenig hat aber auch Hbeino von der Physiologie des Farbenempfindens gewufst, als er seine Hypothese des Farbencontrastes auf stellte. Ja er ist sogar erst auf Grund dieser Hypothese zu einer hypothetischen Vorstellung von den dem Farbenempfinden zu Grunde liegenden physiologischen Vorg\u00e4ngen gelangt. Und ganz mit Recht. So auffallende Anomalien wie die Contrasterscheinungen lassen am ehesten einen Blick thun in das Wesen der zugeh\u00f6rigen normalen Vorg\u00e4nge. Warum sollte eine Methode, die beim Farbencontrast zu so sch\u00f6nem Ergebnifs gef\u00fchrt hat, beim Raumcontrast von vornherein als unzul\u00e4ssig bezeichnet werden m\u00fcssen? Es k\u00e4me nur darauf an, auch hier positive Beweise f\u00fcr die Empfindungshypothese zu","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n143\nerbringen. Vorg\u00e4ngig ist nach dem gegenw\u00e4rtigen Stande unseres Wissens gegen sie schlechterdings nichts einzuwenden, zumal es ja auch hier gerade so wie dort von vornherein keineswegs unm\u00f6glich ist, sich dazu passende Hypothesen \u00fcber die Physiologie des Raumempfindens a\u00fcszudenken.\nAber mufs denn nicht ein und dieselbe \u00e4ufsere Figur nach den ausnahmslos geltenden Naturgesetzen von der Fortpflanzung und Brechung des Lichtes immer ein und dasselbe Bild in unserem Innern entwerfen ? Ist es denkbar, dafs sie sich einmal so und ein anderes Mal anders auf unserer Netzhaut abbildet? Mufs sie sich nicht immer gleich in Unser Inneres projiciren? \u2014 Es ist wohl kaum anz\u00fcnehmen, dafs das Mlfstrauen gegen die Empfindungshypothese solchen Gedanken entspringt. Freilich mufs sich eine \u00e4ufsere Figur nach den unver\u00e4nderlichen Gesetzen der Lichtbrechung immer gleich in \u201eunser Inneres\u201c \u2014 auf die Netzhaut projiciren. Aber das Netzhautbild ist noch nicht unsere Empfindung! Das Sehen ist doch nicht ein Beschauen der Netzhautbilder, etwa so, dafs die Seele irgendwo hinter der Netzhaut s\u00e4fse und die Bilder, die sich darauf zeigen, betrachtete. Im Netzhautbild nimmt ja der physiologische Vorgang, aus dem sich schlie\u00dflich die Empfindung ergiebt, erst seinen Anfang. Und dafs der Verlauf dieses Vorganges, der gewifs nicht zu den allereinfachsten geh\u00f6rt, unter besonders eigenartigen Reizverh\u00e4ltnissen zu abnormen Ergebnissen f\u00fchrt, das f\u00fcr m\u00f6glich zu halten, ist gewifs keine unbillige Zumuthung.\nEin anderes, freilich auch auch nicht ernster zu nehmendes Bedenken w\u00e4re folgendes. Es seien \u00ab, b, c, d jene subjectiven Raumst\u00fccke, die unter normalen Verh\u00e4ltnissen den objectiven A, R, C, D entsprechen. Im Falle der T\u00e4uschung bilde sich nun das in A befindliche Object statt in a in b ab. Dann bleibt f\u00fcr a kein Gegenstand, das Gesichtsfeld in\u00fcfste dort also so zu sagen ein Loch haben. \u2014 Die Besorgnifs ist \u00fcberfl\u00fcssig. Wenn objectives Grau durch Contrast r\u00f6thlich erscheint, ist die M\u00f6glichkeit der Empfindung von reinem Grau auch nicht verloren gegangen. Es mufs nur der Reiz etwas anders sein als unter normalen Umst\u00e4nden.\nWer also das Wesen der Raumperception in directem Empfinden sieht, kann nach dem heutigen Stande unseres Wissens an der Auffassung der geometrisch-optischen T\u00e4uschung als Empfindungst\u00e4uschungen aus diesem Grunde allein noch keinen","page":143},{"file":"p0144.txt","language":"de","ocr_de":"144\nSt. Witasek.\nAnstofs nehmen. \u2014 Wie vertr\u00e4gt sich nun die zweite m\u00f6gliche Art der Raumperception \u2014 die durch psychische Neubildung \u2014 mit der Empfindungshypothese?\nEs ist klar, dafs die relative Variationsfreiheit des Vorstellungsinhaltes gegen\u00fcber dem Objecte in diesem Falle eher gr\u00f6fser als geringer sein wird als im eben betrachteten. Nicht so sehr deshalb, weil hier der Weg vom \u00e4ufseren Objecte bis zur Vorstellung complicirter und um ein St\u00fcck \u2014 n\u00e4mlich um das St\u00fcck von den einzelnen Empfindungen, aus deren Zusammensein die Raumvorstellung erw\u00e4chst, bis zu dieser selbst \u2014 l\u00e4nger ist, daher schon deshalb mehr Gelegenheit zu st\u00f6renden Anomalien bietet. Die Theorie der psychischen Neubildung, m\u00f6ge sie sich nun im Sinne von Wundt\u2019s Synthese oder von Meinong\u2019s Fundirung weiter entwickeln, wird kaum gut daran thun, das Princip der eindeutigen und nothwendigen Zuordnung des Neugebildes zu den zu Grunde liegenden Empfindungen ohne Zwang zu durchl\u00f6chern. Wo immer diese Zuordnung einer Pr\u00fcfung zug\u00e4nglich ist, z. B. bei Tongebilden h\u00f6herer Ordnung, der Melodie, der Harmonie u. a., zeigt sich, dafs die Inhaltsqualit\u00e4t des Neugebildes in der der psychischen Grundlagen bereits vorgegeben ist. Der Ton c, der zum Zustandekommen einer Melodie mitwirkt, erscheint in dieser Melodie wieder als c. Eine verticale Augenbewegung, die allenfalls bei der Synthese einer Raumvorstellung mitwirkt, kann nicht zur Vorstellung einer schiefen Richtung f\u00fchren. Etwas derartiges angesichts eines zu erkl\u00e4renden concreten Problems anzunehmen, w\u00e4re Willk\u00fcr, keine Erkl\u00e4rung.\nAlso nicht etwa in der Synthese selbst, der Fundirung, der Verschmelzung, liegt die gr\u00f6fsere Variationsfreiheit begr\u00fcndet. Sie ist vielmehr schon dem als Grundlage fungirenden Empfindungsmateriale eigen. Ganz begreiflich. Ist \u00fcber die Modalit\u00e4t der Empfindungen, aus denen sich die Raumvorstellung herausbilden soll, von vornherein nichts ausgemacht, so k\u00f6nnen es allenfalls auch Empfindungen sein, die zu den objectiven r\u00e4umlichen Eigenschaften des wahrzunehmenden r\u00e4umlichen Objectes nur in loser Abh\u00e4ngigkeit stehen. Man erinnere sich nur der Bewegungsempfindungen, die hier zun\u00e4chst, vielleicht auch allein, in Betracht kommen. Die Augenbewegungen, die sich beim Besehen einer objectiven Figur vollziehen, sind nicht nur durch die r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse dieser Figur bestimmt. Vielmehr","page":144},{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n145\nwerden sie schon deshalb in betr\u00e4chtlichem Grade yariiren, weil sie in weitem Ausmaafs dem Einfl\u00fcsse des Willens zug\u00e4nglich sind. Dazu kommt aber noch, dafs auch ihre objectiven Bestimmungsmomente keineswegs durch die Raumverh\u00e4ltnisse der jeweiligen Figur allein ausgemacht werden. Die Augenbewegungen, auch sofern sie unwillk\u00fcrlich sind, bestehen z. B. keineswegs blos aus einem gleichm\u00e4fsigen Hingleiten an den Contouren der betrachteten Figur; die Augen werden vielmehr durch aus irgend einem Grunde (Farbe, Masse) besonders auffallende Stellen unwillk\u00fcrlich angezogen, auch dann, wenn diese Stellen schon aufserhalb der betreffenden Figur liegen.1 Und so mag es noch Manches geben, was die Empfindungsgrundlage in der Art beeinflufst, dafs sie anders ausf\u00e4llt als sie ausfallen m\u00fcfste, wenn sie nur von den objectiven, r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnissen der Figur bestimmt w\u00e4re. Ist aber ein solcher, wie ersichtlich, leicht m\u00f6glicher Fall eingetreten, dann mufs nach dem Gesetze der nothwendigen Abh\u00e4ngigkeit des Neugebildes vom Empfindungsmateriale auch die daraus entstehende Vorstellung inad\u00e4quat werden.\nBisher hat sich meine Kritik zun\u00e4chst an den einen Fall der Wahrnehmungsvorstellungshypothese gehalten, nach welchem die Anomalie schon auf dem Wege vom Reiz zur Empfindung, nicht erst auf dem Wege von der Empfindung zur Wahrnehmungsvorstellung liegt, also an die eigentliche Empfindungshypothese. Wenn ich mich noch den Wahrnehmungsvorstellungs-hypothesen im engeren Sinne zuwende, so geschieht es nur, um in aller K\u00fcrze festzustellen, dafs, meiner Meinung nach, die vorg\u00e4ngige Kritik auch gegen sie eine Schwierigkeit nicht vorzubringen hat. Freilich wird man von vornherein sehr wenig Neigung versp\u00fcren, sich ihr anzuschliefsen. Der einzig discutir-bare Gedanke, dessen sie sich bedienen kann, geht dahin, dafs an der Bildung des die Wahrnehmungsvorstellung ausmachenden Complexes aufser den Empfindungen auch reproducirte Vorstellungen betheiligt sind, denen unter gegebenen Umst\u00e4nden die T\u00e4uschung zuzuschreiben ist. Nun ist aber nirgends im ganzen Umfange psychischen Lebens ein derartiger Einflufs der Reproduction auf das Empfindungsergebnifs auch nur mit einiger Sicherheit nachgewiesen; und aus indirecten Gr\u00fcnden wird man\n1 Vgl. Delboeuf\u2019s Erkl\u00e4rung.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XIX.\n10","page":145},{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"146\nSt. Witasek.\nnur eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit f\u00fcr ihn anzunehmen geneigt sein. Immerhin fehlt die Berechtigung, ihn als g\u00e4nzlich unm\u00f6glich hinzu stellen.\nIch bin mit meiner Kritik der Empfindungshypothese zu Ende. Das Ergebnifs ist, dafs sich nach dem heutigen Stande unseres Wissens \u00fcber das Wesen der Raumperception gegen den Grundgedanken der Empfindungshypothese vorg\u00e4ngig ganz und gar nichts einwenden l\u00e4fst. Dies, zusammen mit den Schwierigkeiten der Urtheilshypothese, mag wohl eindringlich genug zu ihren Gunsten sprechen. Ob sie die Wahrheit trifft, ist damit allerdings noch immer nicht v\u00f6llig entschieden. Das mufs der empirischen Thatsachenbetrachtung \u00fcberlassen bleiben.\nIV. Experimentelle Untersuchung.\n\u00a71. Stereoskopische Versuche.\nWer auf Grund von Ueberlegungen, wie die des II. und III. Abschnittes, geneigt ist, die Ursache der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen eher in peripheren als in centralen Vorg\u00e4ngen zu vermuthen, dem kommt leicht der Gedanke, experimentell zu untersuchen, ob und inwieweit die wirkliche Peripherie, d. i. das den \u00e4ufseren Reiz auf nehmende Sinnesorgan mit seinen n\u00e4chsten Anh\u00e4ngen, daran betheiligt ist, zumal gerade bei optischen T\u00e4uschungen schon die anatomische Anlage des in Betracht kommenden Sinnesorganes zu solchen Versuchen geradezu herausfordert.\nEine solche Untersuchung l\u00e4fst sich ungemein einfach folgen-dermaafsen in Angriff nehmen. Die meisten Figuren, an denen geometrisch-optische T\u00e4uschungen zu sehen sind, lassen sich leicht in zwei Liniensysteme zerlegen, die einander im Sinne der T\u00e4uschung beeinflussen. Oft \u00fcbrigens tritt nur die St\u00f6rung eines der beiden Liniensysteme durch das andere in die Erscheinung, z. B. an der Z\u00f6llner\u2019sehen Figur, in welcher das Liniensystem der Querstreifen die scheinbare Divergenz der Hauptstreifen verursacht, selbst aber durch diese nicht beeinflufst zu sein scheint. Immer aber ist das eine Liniensystem die \u00e4ufsere Ursache der Verschiebung, die das andere in unserer Auffassung zeigt. Was geschieht nun, wenn sich uns die","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n147\nT\u00e4uschungsfigur unter derart eingerichteten \u00e4ufseren Verh\u00e4ltnissen darbietet, dafs die von den beiden einander st\u00f6renden Liniensystemen ausgel\u00f6sten physiologischen Vorg\u00e4nge in den peripheren Enden der Sinnesorgane anfangs, zwar gleichzeitig, aber doch von einander getrennt verlaufen ? Es l\u00e4fst sich eine solche Einrichtung ganz einfach dadurch hersteilen, dafs man die beiden Liniensysteme, jedes f\u00fcr sich auf ein Blatt herauszeichnet , zwei homologe Fixirpunkte darauf anbringt, dann jeden dieser beiden Punkte monocular fixirend, die beiden Theil-figuren, am bequemsten mit Zuh\u00fclfenahme eines Wheatstone-Stereoskopes, zur Deckung bringt und dadurch das Vollbild wieder herstellt.\nIch habe zun\u00e4chst die Z\u00d6LLXE\u00df\u2019sche Figur in dieser Weise untersucht. Die parallelen Hauptstreifen, vertical, kamen auf das eine Blatt, die schiefen Querstreifen auf das andere.\nDas augenblickliche Ergebnifs war geradezu \u00fcberraschend. Die parallelen Hauptstreifen blieben trotz Kreuzung durch die Querstreifen parallel. Und zwar war es so nicht nur bei ruhigem auf die Fixationspunkte gehefteten Blick \u2014 der ja auch unter gew\u00f6hnlichen Umst\u00e4nden nach manchen Angaben die T\u00e4uschung zum Mindesten herabsetzt \u2014 sondern auch bei in beliebiger Richtung bewegtem Blick. Die T\u00e4uschung schien verschwunden.\nAber nicht lange blieb dieser Schein in seiner anf\u00e4nglichen Bestimmtheit bestehen. Ich wurde sehr bald darauf aufmerksam, dafs das durch das Lieb er einanderfallen der monocularen Theil-bilder entstehende Vollbild dem unter gew\u00f6hnlichen Umst\u00e4nden betrachteten wirklichen Vollbilde im Uebrigen keineswegs v\u00f6llig gleicht; der Wettstreit der Sehfelder, der hier als Contouren-wettstreit ein bisweilen recht lebhaftes Durcheinanderflimmern der Linien hervorrief, liefs das ruhige, unversehrte Vollbild nur selten und immer nur auf kurze Zeit aufkommen, und so lag die Vermuthung nahe, dafs die T\u00e4uschung einfach deshalb ausbleibe, weil die T\u00e4uschungsfigur nicht klar und correct geboten war. Diese Vermuthung fand noch darin eine St\u00fctze, dafs die Aufmerksamkeit, wenn es sich um die Frage \u00fcber Parallelit\u00e4t oder Divergenz der Hauptstreifen handelte, unwillk\u00fcrlich auf diese Hauptstreifen, d. i. also auf das eine der beiden monocularen Gesichtsfelder gelenkt war, wodurch dieses im Wettstreit ein Uebergewicht erhielt und das andere gerade im Augenblick\nder Entscheidung verdr\u00e4ngte, so dafs dann die Parallelen dem\n10*","page":147},{"file":"p0148.txt","language":"de","ocr_de":"148\nSt. Witasek.\nverschiebenden Einflufs der Querstriche gar nicht ausgesetzt waren. Dazu kam, dafs, als ich die Versuche wegen der Unsicherheit des Ergebnisses immer wieder vornahm, bei l\u00e4ngerem Beobachten nach und nach in dem allgemeinen Hin und Her des Bildes bisweilen Augenblicke vorbeihuschten, in denen die T\u00e4uschung, wenn auch nur sehr unsicher, zu erkennen war.\nDies Alles konnte nat\u00fcrlich nur ein gewisses Mifstrauen gegen die Anfangs mit so grofser Bestimmtheit gemachte Beobachtung begr\u00fcnden, keineswegs aber dazu veranlassen, sie als v\u00f6llig gegenstandslos zu verwerfen. Die Stereoskopversuche hatten eben nur zu g\u00e4nzlicher Unentschiedenheit gef\u00fchrt, und diese Unentschiedenheit forderte energisch dazu auf, die Versuche wom\u00f6glich unter g\u00fcnstigeren Bedingungen fortzusetzen.\nAn dem Fortsetzen nun liefs ich es nicht fehlen. Die g\u00fcnstigeren Bedingungen jedoch wollten sich nicht finden. An der \u00e4ufseren Versuchsanordnung war wenig oder nichts zu \u00e4ndern, am allerwenigsten nat\u00fcrlich konnte ich durch irgend eine Verbesserung das eigentliche Hindernifs, den Wettstreit der Sehfelder, beseitigen. So blieb nichts Anderes \u00fcbrig, als die den\nVersuchen nothwendig anhaftende Unvollkommenheit durch un-\n*\nverdrossene Wiederholung m\u00f6glichst wettzumachen. Ich besah mir immer und immer wieder das stereoskopische Bild, unterzog nach und nach so ziemlich alle bekannten T\u00e4uschungsfiguren dieser Behandlung und notirte sorgf\u00e4ltig die jeweiligen Beobachtungsergebnisse. Die verschiedenen Figuren zeigten in der Hauptsache alle das gleiche Verhalten; der Schein des Ausbleibens der T\u00e4uschung stellte sich Anfangs immer ein, h\u00f6chstens vielleicht, dafs die Gr\u00f6fsent\u00e4uschungen gegen\u00fcber den Richtungs-t\u00e4uschungen der stereoskopischen Behandlung leichter widerstanden, doch mufste er bei l\u00e4ngerer Behandlung \u00fcberall der gewissen Unentschiedenheit Platz machen. Mein Beobachtungsjournal \u2014 dessen vollst\u00e4ndige Wiedergabe den Raumaufwand nicht lohnen w\u00fcrde1 \u2014 berichtet in unaufh\u00f6rlichem Wechsel unter \u00fcbrigens gleichen Umst\u00e4nden T\u00e4uschung sowohl wie Fehlen der T\u00e4uschung. So ziemlich den gleichen Bescheid erhielt ich von anderen Personen, die ich gelegentlich bat, solche Versuche anzustellen.\n1 Es erstreckt sich \u00fcber mehrere Monate und verzeichnet unter genauer Angabe der Begleitumst\u00e4nde Beobachtungen an ca. vierzig Figurentafeln, die ich mir nach und nach, meinen Erfahrungen folgend, angefertigt hatte.","page":148},{"file":"p0149.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n149\nWollte sich so eine Entscheidung nicht erreichen lassen, so hatte die fortgesetzte Uebung im stereoskopischen Sehen, wenn nun auch nicht diesen \u00e4ufseren, so doch den inneren Erfolg, dafs sich mir nach und nach einige Herrschaft \u00fcber den Wettstreit der Sehfelder vermittelte. Die andauernden, auf ruhiges, klares Vereinigen der beiden monocularen Bilder gerichteten Bem\u00fchungen wurden wirklich insoweit gelohnt, als es mir endlich mit einer gewissen Anstrengung m\u00f6glich war, auf gen\u00fcgend lange Zeit ein vom Wettstreit nicht gest\u00f6rtes, ruhiges Vollbild zu erhalten. Dadurch hatte ich also doch g\u00fcnstigere Versuchsbedingungen erlangt. Diese gestatteten nun auch das Beobachtungsergebnifs mit gen\u00fcgender Sicherheit aufzufassen: Das Vorhandensein der T\u00e4uschung war nicht zu verkennen. Freilich auch jetzt noch nicht immer und nicht bei allen Figuren gleich entschieden. Am deutlichsten erkennbar erwies es sich an der Figur von Pisko (\u2014 bekanntlich eine symmetrische Erweiterung der gew\u00f6hnlichen Z\u00f6llner\u2019sehen Figur,, in der die Hauptstreifen nicht nur divergent zu einander, sondern auch noch in der Mitte d. i. an der Symmetrieaxe gebrochen erscheinen \u2014).\nUnbedingt auffallend jedoch zeigte sich die T\u00e4uschung, als ich die Ebene der beiden Stereoskopbilder zur Blickebene in jene Neigung brachte, bei der die Z\u00f6llner\u2019sehe Figur am wirksamsten ist : Die Hauptstreifen (horizontale Blickrichtung vorausgesetzt) um ca. 45 0 zum Horizont geneigt und die Bildebene etwas aus der Verticalen herausger\u00fcckt, Ich erm\u00f6glichte mir das dadurch, dafs ich die gew\u00f6hnlichen Bilderr\u00e4hmchen des Stereoskops durch solche ersetzte, die um eine verticale und eine horizontale, zur Medianebene parallele Axe drehbar waren. Unter diesen Bedingungen war in den Augenblicken, in denen die Ueberwindung des Wettstreites gl\u00fcckte, kein einziges Mal ein Zweifel \u00fcber das Vorhandensein der T\u00e4uschung m\u00f6glich. Gleichzeitig jedoch konnte ich mir nicht verhehlen, dafs die scheinbare Richtungsverschiebung auch dann, wenn sie ganz unverkennbar vorlag, keineswegs so stark war, als unter normalen Umst\u00e4nden. Diese Beobachtung hielt auch stand, als ich sie unter g\u00fcnstigeren Vergleichsbedingungen nachpr\u00fcfte. Ich fertigte mir n\u00e4mlich einen ,,Guckschemmelu an, der vorne, genau so wie das von mir ben\u00fctzte Stereoskop, zwei Guckr\u00f6hren und diesen gegen\u00fcber r\u00fcckw\u00e4rts einen einfachen drehbaren Rahmen trug, so dafs es da-","page":149},{"file":"p0150.txt","language":"de","ocr_de":"150\nSt. Witasek.\ndurch erm\u00f6glicht war, unter ganz gleichen Begleitumst\u00e4nden wie auf dem Stereoskop das entsprechende Vollbild in gleicher Neigung und gleicher Entfernung binocular zu betrachten. Diesen Schemmel stellte ich quer \u00fcber das Stereoskop, so dafs eine seitliche Verschiebung des Kopfes um Kopfesbreite gen\u00fcgte, die Augen von den Guckr\u00f6hren des Stereoskopes weg vor die des Schemmels zu bringen. Ich konnte nun das, was sich mir beim stereoskopischen Sehen in wettstreitfreien Augenblicken darbot, sehr zuverl\u00e4ssig und bequem mit dem nat\u00fcrlichen binocularen Vollbild vergleichen, weil es mir durch diese Vorrichtung erm\u00f6glicht war, beide Beobachtungsobjecte unter sonst v\u00f6llig gleichen Umst\u00e4nden unmittelbar nach einander zu betrachten. Das Ergebnifs, welches ich auf diesem Wege erlangte, best\u00e4tigte unzweifelhaft die schon oben erw\u00e4hnte Beobachtung: Die Richtungsverschiebung der Z\u00d6LLNE\u00df\u2019schen Figur war im stereoskopischen Bilde zwar immer noch vorhanden, aber geringer als in dem normalen binocularen Vollbilde.\nZur weiteren Pr\u00fcfung und allf\u00e4lligen Sicherstellung dieses Befundes schien es mir erforderlich, die beobachtete Thatsache einer Messung zu unterziehen.\nBei der Durchf\u00fchrung dieser Messung bediente ich mich nicht des Stereoskopes ; denn dieses h\u00e4tte unter allen Umst\u00e4nden zu wenig Gew\u00e4hr f\u00fcr gleichm\u00e4fsige und genaue Einstellung geboten. Vielmehr ben\u00fctzte ich ein Spiegelhaploskop 1, das ich zu einem f\u00fcr meine Zwecke geeigneten Mefsinstrumente dadurch vervollst\u00e4ndigt hatte, dafs ich seine gew\u00f6hnlichen, zur Aufnahme der Haploskopfiguren bestimmten Rahmen durch Drehscheiben ersetzte. Diese Drehscheiben2 bestehen, wie es die beifolgende Skizze (Fig. 1) in Draufsicht und Durchschnitt zeigt, im Wesentlichen aus je einer kreisrunden Scheibe (A\u00c2) auf welcher die Cartons mit den zu untersuchenden Figuren centrisch befestigt werden k\u00f6nnen und die um drei in ihrem Mittelpunkt (0) senkrecht auf einander stehende Axen (RR, CG, DO) in mefsbaren Winkeln drehbar ist. In der Ausgangsstellung steht die eine Axe vertical, die zweite horizontal transversal, die dritte sagittal. Solche Drehscheiben erm\u00f6glichen es, ein haploskopisches Bild\n1\tGeliefert von Rothe in Leipzig.\n2\tDieselben wurden nach meinen Angaben vom Mechaniker Diederichs in G\u00f6ttingen mit zufriedenstellender Genauigkeit angefertigt.","page":150},{"file":"p0151.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n151\nin jeder beliebigen, genau mefsbaren Lage herzustellen. Sie d\u00fcrften daher bei den verschiedensten raumpsychologischen Untersuchungen gute Dienste leisten.\nTHy\nTV\nFig. 1 (ca. 14 der wirklichen Gr\u00f6fse).\naa Theilkreise mit Zeiger; b Federklemmen; c Senkelhaken;\ne Schraubenschlitze.\nd Oese;\nMit H\u00fclfe dieses Apparates konnte ich die erforderlichen Messungen sehr genau und sicher durchf\u00fchren. Die Cartons, welche ich dabei verwendete, sind durch Fig. 2 A u. B in ver-\nA '\t$\nFig. 2.\nkleinertem Maafsstab wiedergegeben. Ihr Durchmesser betrug 90 mm, der Abstand der parallelen Hauptstreifen in A 23 mm, der senkrechte Abstand der Transversalen 2,4 mm, ihre L\u00e4nge 22 mm, der Winkel der Transversalen mit den Hauptstreifen 30 0 und die Dicke s\u00e4mmtlicher Linien ca. 0,3 mm. %\nIch hatte nun die Gr\u00f6fse der unter den gegebenen Verh\u00e4lt-","page":151},{"file":"p0152.txt","language":"de","ocr_de":"152\nSt Witasek.\nnissen eintretenden scheinbaren Richtungsverschiebung zu messen, und zwar\n1.\tbei normalem, objectivent Vollbilde,\na)\tmonocular,\nb)\tbinocular,\n2.\tbei zum Vollbilde baploskopisch vereinigten Halbbildern.\nZur Messung der Verschiebung am monocularen Vollbilde\nwar auf der dem betreffenden Auge zugeh\u00f6rigen Drehscheibe der Carton A centrisch befestigt und \u00fcber diesen, durch den Mittelpunkt, objectiv parallel zu den Hauptstreifen ein schwarzer Faden gespannt, der die Drehung der Scheibe um die Axe DO nicht mitmachte. Die Differenz der Einstellung der Drehscheibe bei objectivem und bei subjectivem Parallelismus gab die Gr\u00f6fse der Verschiebung an. Die andere Drehscheibe trug dabei einen weifsen Carton ohne Figur.\nDie Messung der Verschiebung am normalen, binocularen Vollbilde h\u00e4tte ich mit H\u00fclfe einer vom Haploskop abgenommenen Drehscheibe, im Uebrigen auf gleichem Wege wie die vorige, durchf\u00fchren k\u00f6nnen. Um jedoch bei allen Messungen dieselben Begleitumst\u00e4nde festzuhalten, zog ich es vor, zwei auf den beiden Haploskopdrehscheiben aufgelegte, congruente und genau gleichstehende Figuren A mit \u00fcber das Scheibencentrum gespannten F\u00e4den stereoskopisch zu vereinigen. Der auf diesem Wege erzielte Bildeffect ist ja derselbe. Dabei mufsten jedoch vorgegebene Verschiebungsgr\u00f6fsen auf den scheinbaren Parallelismus gepr\u00fcft werden. Diejenige, bei welcher das Urtheil am h\u00e4ufigsten und entschiedensten auf parallel lautete, wurde aufgenommen.\nZur Messung der Verschiebung am stereoskopischen Vollbilde war auf der einen Drehscheibe der Carton M, auf dem anderen der Carton B eingestellt und zwar so, dafs die Gerade von B unter Elimination der Wirkung der Netzhautincongruenz parallel zu den Hauptstreifen von A stand. Waren diese z. B. vertical, so bildete jene mit der Verticalen den jeweiligen In-congruenzwinkel. Diese Einstellung wurde sowohl durch Bestimmung der Disparation als auch durch Vergleichen mit der unverschobenen Richtung der Hauptstreifen erreicht und schliefs-lich an den Geraden, in welchen sich die Z\u00f6llner\u2019sehen Transversalen brechen gepr\u00fcft. Die Messung der Verschiebung geschah auch hier durch Drehung der den Carton A tragenden Scheibe bis zu scheinbarem Parallelismus.","page":152},{"file":"p0153.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n153\nGleiche Lage beider Drehscheiben zu den Spiegeln des Haploskopes war in jedem Falle mit H\u00fclfe der Theilkreise leicht herzustellen.\nS\u00e4mmtliche Messungen wurden unter Beobachtung der \u00fcblichen Vorsichten (Zeiger-, Skalen- und Centrircorrectur) durchgef\u00fchrt. Die in den folgenden Tabellen angegebenen Werth e sind das Mittel aus je 5 X 10 Einzelbestimmungen, von denen jede vier Ablesungen erforderte. Die Aufstellung des Instrumentes wurde stets nachgepr\u00fcft und wenn n\u00f6thig corrigirt.\nWas die Haltung der Augen anlangt, so habe ich zu bemerken, dafs mein Blick bei allen Beobachtungen ruhig aber ungezwungen auf das Centrum der Scheibe gerichtet war. Allf\u00e4llige Augenbewegungen brauchte ich umsoweniger \u00e4ngstlich fernzuhalten, als sie, wie sich leicht zeigte, keinen merklichen Einflufs auf das Ergebnifs aus\u00fcbten. Nur bei schiefer Bildlage kam durch Blickbewegung jene bekannte, eigenth\u00fcmliche Unruhe in die Figur. Ich kann jedoch die merkw\u00fcrdige Beobachtung mittheilen, dafs dies nur an dem monocular oder binocular betrachteten objectiven Vollbilde, niemals an dem stereoskopischen der Fall war. \u2014 Der Wettstreit der Sehfelder war so gering, dafs er die Klarheit und Ruhe des Bildes kaum merklich beeintr\u00e4chtigte und auf keinen Fall das Urtheil \u00fcber die Figuren irgendwie h\u00e4tte beeinflussen k\u00f6nnen. \u2014\nIch f\u00fchrte zwei Serien von Messungen aus, die sich durch die Lage der Cartons unterscheiden. Bei der einen erschien die Figur in einer zur frontalen parallelen Ebene und mit verticalen Hauptstreifen (Bildlage I) ; bei der anderen in einer zur Frontal-ebene um 30\u00b0 schiefen, zur Medianebene senkrechten Ebene und mit um 45\u00b0 geneigten Hauptstreifen (Bildlage II).\nDas Ergebnifs stellt sich in folgenden Tabellen dar.\nTabelle I.\n(Messung la; monocular, Vollbild.)\n\tlinkes Auge\t\trechtes\tAuge\n\tVer-\tmittl.\tVer-\tmittl.\n\tSchiebung\tVar.\tSchiebung\tVar.\nBildlage I\t\t1,5\u00b0\t0,15\u00b0\t1,9\u00b0\t0,13\u00b0\nBildlage II ...\t.\t2,2\u00b0\t0,13\u00b0\t2,6\u00b0\t0,15\u00b0","page":153},{"file":"p0154.txt","language":"de","ocr_de":"154\nSt. Witasek.\nTabelle II.\n(Messung lb; binocular, Vollbild.)\n\tVerschiebung\tFehlergrenze\nBildlage I . .\tO O *\\ oa\t\u00b1 0,15\u00b0\nBildlage II . .\t2,9\u00b0\t\u00b1 0,20\u00b0\nTabelle III.\n(Messung 2; stereoskopisches Vollbild.)\n\tlinks Carton A\t\tlinks Carton B\t\n\trechts Carton B\t\trechts Carton A\t\n\tVer-\tmittlere\tVer-\tmittlere\n\tSchiebung\tVar.\tSchiebung\tVar.\nBildlage I\t\t1,0\u00b0\t0,11\u00b0\t1,0\u00b0\t0,16\u00b0\nBildlage II ... .\t1,6\u00b0\t0,12\u00b0\t1,7\u00b0\t0,15\u00b0\nSonach wurde die Beobachtung, die ich zuerst mit blofsem Auge gemacht hatte, durch die genauen Messungen vollinhaltlich best\u00e4tigt. Die stereoskopischen Verschiebungen weisen durchwegs kleinere Maafszahlen auf als die normalen.\nDiese Herabsetzung der Verschiebung ist aber keineswegs durch die relative Differenz der einander entsprechenden Zahlen obiger Tabellen ausgedr\u00fcckt. Man hat n\u00e4mlich zu beachten, dafs diese Zahlen nicht die Gr\u00f6fse von nur einer Verschiebung, sondern die Summe von zweien darstellen; also z. B. bei mon-ocularem, normalem Vollbild, gebildet aus Carton A und dem diametralen Mittelfaden, die Verschiebung der Hauptstreifen von A zusammen mit der des Mittelfadens. Von diesen beiden Summanden bleibt bei meiner Versuchsanordnung der erste im stereoskopischen Vollbilde unver\u00e4ndert. Um also die relative Herabsetzung der Verschiebung zu bestimmen, ist dieser eine Summand in Abzug zu bringen. Da man annehmen kann, dafs beim normalen Vollbilde die zwei Summanden einander gleich sind, so ist die in Abzug zu bringende Gr\u00f6fse leicht bestimmt.","page":154},{"file":"p0155.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n155\nBezeichnet n einen Werth ans Tabelle I, s den zugeh\u00f6rigen aus\nfi__g\nTabelle III, so giebt nicht ---- die Herabsetzung der Ver-\nSchiebung an, sondern \u2014..^.\nDarnach betr\u00e4gt die Herabsetzung der Verschiebung beim stereoskopischen Vollbilde gegen\u00fcber der des monocularen, pro-centuell ausgedr\u00fcckt,\nin Bildlage I: links 66%, rechts 94%; in Bildlage II : links 54%, rechts 69%.\nZur Bestimmung der Herabsetzung im Vergleiche mit dem normalen, binocularen Vollbilde darf nat\u00fcrlich nicht die H\u00e4lfte der in Tab. II angegebenen Binocular ver Schiebung in Abzug gebracht werden, sondern nur die H\u00e4lfte des entsprechenden Werthes aus Tab. I. Bezeichnet ri die Binocularverscbiebung, n die zugeh\u00f6rige monoculare, s die stereoskopische, so ist die\nrelative Herabsetzung gleich\nn -\\-ri \u2014 2 s ri\nsonach\nin Bildlage I: links 75%, rechts 95%; in Bildlage II : links 65%, rechts 72 %.\nDer allgemeine Durchschnitt ergiebt ungef\u00e4hr 75 %. Diese Zahl ist so betr\u00e4chtlich, dafs sie, selbst wenn wir mit R\u00fccksicht auf die Schwierigkeit der Messungen eine sehr hohe Fehlergrenze annehmen, die Beobachtung, deren zahlenm\u00e4fsiger Ausdruck sie ist, zu einem von der Theorie unbedingt zu ber\u00fccksichtigenden Factor erhebt.\nWas folgt demnach aus dieser Thatsache? Die Antwort liegt auf der Hand. F\u00fcr das Urtheil an und f\u00fcr sich, mufs es ganz gleichg\u00fcltig sein, ob die Wahrnehmungsvorstellung, auf die es sich st\u00fctzt, durch ein objectives Vollbild oder durch stereoskopisch vereinigte objective Halbbilder hervorgerufen ist. Denn l\u00fcr die Beurtheilung ist nicht der Weg maafsgebend, auf welchem die Empfindung resp. Wahrnehmungsvorstelhing zu Stande kommt, sondern nur ihre Beschaffenheit. Da sich nun unter Voraussetzung der Urtheilshypothese, in beiden F\u00e4llen, sowohl heim normalen als beim stereoskopischen Vollbilde, dem Urtheile die gleiche Wahrnehmungsvorstellung darbietet, so w\u00e4re die Verschiedenheit des Urtheilsergebnisses schlechterdings unm\u00f6glich. Denn die geringf\u00fcgigen Wettstreiterscheinungen sind f\u00fcr den directen Anblick, f\u00fcr das Erkennen und Beurtheilen der","page":155},{"file":"p0156.txt","language":"de","ocr_de":"156\nSt Witas\u00e9k.\nFigur so gut wie nicht vorhanden. Sonach ist das Ergebnifs meiner Stereoskopversuche mit der Urtheilshypothese unvertr\u00e4glich.\nDagegen steht es mit der Empfindungshypothese in gutem Einklang. Denn der der Empfindung zu Grunde liegende physiologische Vorgang verl\u00e4uft beim stereoskopirten Vollbild jedenfalls anders als heim objectiven. Die M\u00f6glichkeit verschiedenen Empfindungserfolges ist sonach nicht zu bestreiten.\nVielleicht darf sogar die Vermuthung ausgesprochen wrerden, dafs die Verschiebungsherabsetzung mit dem dem Wettstreit zu Grunde liegenden physiologischen Vorg\u00e4nge in causalem Zusammenh\u00e4nge steht. Denn obwohl bei meinen Versuchen der Wettstreit psychisch kaum merklich war, geschweige denn das Erkennen der Figur beeintr\u00e4chtigte, so war er, wenn auch nur in geringem Grade, physiologisch doch vorhanden. Zudem habe ich schon vorhin die Beobachtung mitgetheilt, dafs die Herabsetzung der T\u00e4uschung umsomehr auffiel, je st\u00e4rker sich der Wettstreit bemerkbar machte. Also nicht ein Zusammenhang zwischen dem psychischen Aussehen des Wettstreites und dem Urtheil w\u00e4re m\u00f6glich, sondern nur ein Zusammenhang zwischen seinen physiologischen Grundlagen und denen des Empfindens.\nSich, etwa auf Grund der Variation obiger Procentzahlen, eine weitere Vorstellung \u00fcber die Physiologie des T\u00e4uschungsvorganges zu bilden, ist nat\u00fcrlich v\u00f6llig unzul\u00e4ssig. Die Messungen sind f\u00fcr diesen Zweck zu gering an Zahl und zu wenig variirt. Immerhin kann man in dem Ergebnifs eine gewisse Gesetzm\u00e4fsigkeit erkennen.\nDie Hauptsache jedoch ist unzweideutig entschieden: Die Herabsetzung der Verschiebung beim Stereoskopiren beweist die G\u00fcltigkeit der Empfindungshypothese.1\nDie Messungen haben mir aber noch einen anderen, ebenso klaren und untr\u00fcglichen Beweis f\u00fcr die Empfindungshypothese an die Hand gegeben. Wie aus Tabelle I erhellt, ist die Ver-\n1 Nachdem die obigen Versuche in der Hauptsache bereits abgeschlossen waren, fand ich bei der Literaturdurchsicht, dafs Versuche gleicher Art, freilich nur ganz nebenher und ohne Messungen, bereits vor Jahren von Kundt (Pogg. Ann. 120, 1863, S. 118 ff.) ausgef\u00fchrt worden sind. Sein Ergebnifs ist mit dem meiner Versuche ziemlich gleichlautend: Er meint, die T\u00e4uschung sei bisweilen herabgesetzt, bei manchen Figuren ganz verschwunden. Der Schlufs, den er daraus zieht, stimmt mit dem obigen vollkommen.","page":156},{"file":"p0157.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n157\nSchiebung monocular rechts und links nicht gleich grofs. Mag sein, dafs die Thatsache individuell ist1 und sich nicht bei Jedermann wiederfindet ; sie ist trotzdem eine beobachtete That sache, die ber\u00fccksichtigt werden mufs. Wem die vier Zahlen, durch die sie in meiner Tabelle zum Ausdruck kommt, zu geringf\u00fcgig erscheinen, als dafs man darauf etwas geben k\u00f6nnte, der m\u00f6ge das hohe Gewicht bedenken, das einer jeden von ihnen verm\u00f6ge der grofsen Zahl von Einzelablesungen sowie der Genauigkeit meiner Mefsmethode zukommt. Auch kann ich mittheilen, dafs mir die V er schied enheit der T\u00e4uschungsgr\u00f6fse rechts und links unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden mit freiem Auge bemerkbar ist. Der Unterschied betr\u00e4gt in Bildlage I 21 \u00b0/0, in Bildlage II 15 %, ist also grofs genug, um als Grundlage theoretischer Deductionen verwerthet zu werden. Diese Verwerthung kann wieder nur zu Gunsten der Empfindungshypothese ausfallen. Denn es ist geradezu undenkbar, dafs sich das Urtheil gegen die Daten des einen Auges anders verhalten sollte als gegen die des anderen. Dagegen ist ein graduell verschiedenes Functioniren der beiden Augen in diesem Punkte ebenso gut denkbar, wie in manchem anderen, wo es als solches unzweifelhaft nachgewiesen und anerkannt ist. Also auch diesem Messungsergebnifs gegen\u00fcber versagt die Urtheilshypothese, w\u00e4hrend die Empfindungshypothese darin keine Schwierigkeit zu finden braucht.\n\u00a7 2. Unterschwellige Verschiebungen.\nDer Versuch, \u00fcber den ich unter diesem Titel berichten will, hat sich mir aus einer Ueberlegung ergeben, die an die Thatsache der untermerklichen Verschiedenheiten ankn\u00fcpft.\nBekanntlich kann eine untermerkliche Verschiedenheit zweier objectiver Reize r1 und r2 in zweierlei Umst\u00e4nden begr\u00fcndet sein. Entweder ist die objective Verschiedenheit der beiden Reize so gering, dafs der psychophysische Procefs solcher Feinheit nicht mehr nachzukommen vermag und zwei einander gleiche 2\n1\tAn dem Baue und Zustande meiner beiden Augen ist ein wesentlicher Unterschied nicht zu entdecken. Sie sind beide vollkommen normal und fast emmetrop, der Unterschied der Sehsch\u00e4rfe betr\u00e4gt, falls \u00fcberhaupt einer vorhanden ist, im Maximum D, und kam bei der Bilddistanz von 30 cm in meinen Versuchen keinesfalls zur Geltung.\n2\tWenigstens in hoher Ann\u00e4herung gleich ; absolute Gleichheit ist wohl, in Anbetracht des Continuums, unendlich unwahrscheinlich. Die","page":157},{"file":"p0158.txt","language":"de","ocr_de":"158\nSt. Witasek.\nEmpfindungen liefert. Dann mufs die Verschiedenheit zwischen r\u00b1 und r.2 schon deshalb unbemerkt bleiben, weil sich der Be-urtheilung nur zwei gleiche Empfindungen darbieten. Oder aber es kommen thats\u00e4chlich noch verschiedene Empfindungen zu Stande, aber die Verschiedenheit dieser Empfindungen ist so gering, dafs sie dem vergleichenden Urtheile entgeht. \u201eEs giebt also nicht blos eine Schwelle, welche der Reizunterschied \u00fcberschreiten mufs, um Empfindungsunterschiede zu erzeugen, sondern auch eine Schwelle, die der Empfindungsunterschied \u00fcberschreiten mufs, um merklich zu werden.\u201c * 1\nDafs auch auf dem Gebiete der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen f\u00fcr Verschiedenheitsbetrachtungen Raum ist, haben wir schon bei einer fr\u00fcheren Gelegenheit gesehen und verwerthet. Wenn ich eine Gerade bestimmter Richtung (E) mit gen\u00fcgend wirksamen Z\u00f6llner\u2019sehen Transversalen versehe, so zeigt sie eine andere, von B verschiedene Richtung R\\ Diese Verschiedenheit zwischen R und R' kann ich auch erkennen, wenn ich nur, etwa durch eine Parallele oder durch einen bestimmten (z. B. rechten) Winkel in die Lage versetzt werde, R in der Vorstellung festzuhalten. Darin, dafs ich der Geraden die Richtung R\\ die mir von ihrer wirklichen Richtung R verschieden erscheint, zuspreche, besteht eben die T\u00e4uschung. Die T\u00e4uschungs-urtheile erweisen sich, wie ich schon im Abschnitt II ausgef\u00fchrt habe, vielfach als Verschiedenheitsurtheile.\nWo nun Verschiedenheiten irgend einer Art betrachtet werden, da liegt die Frage nahe, ob in dieser Art auch unmerkliche Verschiedenheiten Vorkommen k\u00f6nnen und Vorkommen. Denn damit verh\u00e4lt es sich ja keineswegs bei allen Vergleichungsgegenst\u00e4nden gleich. Verschiedenheiten kommen auch zwischen Zahlen vor, untermerkliche Verschiedenheiten jedoch sind bei ihnen undenkbar; ganz gleich liegt der Fall zwischen Relationen verschiedener Art, z. B. zwischen Causalit\u00e4t und Aehnlichkeit. Wo es sich dagegen um Vergleichungsglieder handelt, die einem Continuum angeh\u00f6ren, da wird man schon von vorneherein geneigt sein d\u00fcrfen, auf untermerkliche Verschiedenheiten zu rechnen.\ndarnach wohl noch zur\u00fcckbleibende Verschiedenheit ist jedoch keine Function der Reiz-Verschiedenheit.\n1 Stumpf, Tonpsych. I, 33, woselbst n\u00f6tigenfalls auch die Begr\u00fcndung dieser vielberufenen Sache nachzusehen ist.","page":158},{"file":"p0159.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n159\nEinem Continuum entstammt auch die Materie jener Ver-schiedenheitsurtheile, in denen sich die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen aussprechen. Wir sehen uns daher umsomehr ver-anlafst zu fragen, ob bei Verschiedenheiten dieser Art Unter-merkliehkeit nachweisbar oder auch nur denkbar ist.\nSo sehr die Frage auf den ersten Blick befremden mag, so entspringt sie doch einer v\u00f6llig correcten Ueberlegung. Das Befremdliche mag \u00fcbrigens in einer allerdings merkw\u00fcrdigen Eigen-th\u00fcmlichkeit des Falles seine Wurzel haben. Wenn wir sonst von untermerklicher Verschiedenheit zwischen zwei objectiven Beizvorg\u00e4ngen r1 und r.2 reden, so verbinden wir damit f\u00fcrs Erste die Idee, dafs r1 und r2 thats\u00e4chlich von einander verschieden sind. Hier jedoch liegt das anders. Die beiden Z\u00f6llner\u2019sehen Hauptstreifen, die auf ihre Richtung mit einander verglichen werden, sind objectiv parallel, haben thats\u00e4chlich gleiche Richtung. Der Gedanke einer untermerklichen Verschiedenheit ist also hier in Bezug auf den objectiven That-bestand (die Reize) gar nicht anwendbar. Nur auf dem Gebiete des subjectiven Correlates, der Wahrnehmungsvorstellung von den Parallelen, ist f\u00fcr eine Verschiedenheit, somit m\u00f6glicherweise auch f\u00fcr eine untermerkliche Verschiedenheit Raum. Daraus folgt aber unmittelbar, dafs, wenn auf dem Gebiete der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen von einer untermerklichen Verschiedenheit, d. i. also einer untermerklichen (Richtungs-, Lage-) Verschiebung \u00fcberhaupt soll gesprochen werden k\u00f6nnen, dies die Anerkennung der Empfindungshypothese voraussetzt, und umgekehrt, dafs es ein Beweis f\u00fcr die Richtigkeit der Empfindungshypothese ist, wenn sich die Existenz untermerklicher Verschiebungen empirisch aufzeigen l\u00e4fst.\nKurz: Ist die scheinbare Verschiebung, in welcher die T\u00e4uschung besteht, blos Sache des Urtheils, dann ist der Fall der untermerklichen oder unbemerkten Verschiebung undenkbar, denn bei einer Urtheilst\u00e4uschung hat ja die ganze Verschiebung gar keine andere Existenz als die, dafs sie vom Urtheil ausgesagt wird. Ist das nicht der Fall, so ist von Verschiebung \u00fcberhaupt nichts da, also auch nichts von einer untermerklichen Verschiebung. Wenn aber die T\u00e4uschung Sache des Empfindens ist, also die Verschiebung bereits von der WahrnehmungsVorstellung mitgebracht wird, so ist der Fall sehr wohl denkbar, dafs eine solche Verschiebung in der WahrnehmungsVorstellung","page":159},{"file":"p0160.txt","language":"de","ocr_de":"160\nSt. Witasek.\nthats\u00e4chlich yorliegt, aber so gering ist, dafs sie unbemerkt bleibt. Also w\u00e4re die allf\u00e4llige Thatsache untermerklicher Verschiebungen nur von der Empfindungshypothese aus zu verstehen und w\u00fcrde unwidersprechlich die G\u00fcltigkeit dieses Erkl\u00e4rungsweges bezeugen.\nVielleicht ist es im Interesse der Klarheit zweckdienlich, diesen Gedanken noch an der Hand einer graphischen Darstellung des quantitativen Verlaufes der T\u00e4uschung zu veranschaulichen. In einem rechtwinkeligen Coordinatensystem sei durch die Ordinaten die Gr\u00f6fse der T\u00e4uschung \u2014 also z. B. bei der Z\u00d6LLNEE\u2019schen Figur die scheinbare Verschiebung der Hauptstreifen, nach Winkelgraden ausgedr\u00fcckt \u2014 durch die Abscissen allenfalls der Winkel, unter welchem die Hauptstreifen von den Transversalen geschnitten werden, dargestellt. Stellen wir uns nun eine von Z\u00d6LLNE\u00df\u2019schen Transversalen gekreuzte Gerade vor, an welcher sich die Transversalen so drehen, dafs der Winkel, den sie mit ihr bilden, nach und nach alle Werthe von 00 bis 1800 annimmt, w\u00e4hrend unterdessen alle anderen, die T\u00e4uschung beeinflussenden Momente constant bleiben, so wird die scheinbare Verschiebung ebenfalls verschiedene Werthe annehmen, bald gr\u00f6fsere, bald kleinere. Tr\u00e4gt man nun zu den die Transversalenwinkel darstellenden Abscissen die zugeh\u00f6rigen Verschiebungen als Ordinaten im Coordinaten-System ein, so erh\u00e4lt man im Allgemeinen eine Curve, die den quantitativen T\u00e4uschungsverlauf zur Anschauung bringt.\nDabei sieht man sich jedoch gleich am Anfang veranlafst, den Fall der Empfindungshypothese von dem der Urtheils-hypothese auseinander zu halten. Und zwar aus folgendem\nFig. 3.\nGrunde. Bei den kleinsten Transversalwinkeln, etwa 0 0 bis 3 \u00b0, tritt noch keine T\u00e4uschung ein; erst bei einem bestimmten gr\u00f6fseren Winkel, etwa 5\u00b0, sagt unser Urtheil eine Verschiebung aus. Diese Verschiebung, die erste die da zu merken ist, hat","page":160},{"file":"p0161.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n161\naber bereits eine bestimmte mefsbare Gr\u00f6fse, etwa 1/2 \u00b0. \u2014 Wir werden also zun\u00e4chst die Curve nicht im Coordinatenursprung ihren Anfang nehmen lassen k\u00f6nnen, sondern vom Punkte A (Fig. 3). Von hier an steigt die Curve bis zum Abscissenwerth 30\u00b0, und f\u00e4llt dann wieder allm\u00e4hlich. In der N\u00e4he von 90 \u00b0, bei 87 0 etwa, kommen wir zu einem Punkte -\u00df, von dem an unser Urtheil nicht mehr t\u00e4uscht, d. h. keine Verschiebung mehr ank\u00fcndigt. In diesem Punkte B jedoch ist noch eine mefsbare Verschiebung vorhanden, die der vom Anfangspunkt der Curve A ungef\u00e4hr gleich ist. Ueber 90\u00b0, 91\u00b0, 92\u00b0... . bleibt das Urtheil dasselbe, d. h. es sagt keine Verschiebung aus. Erst sp\u00e4ter, vielleicht bei 950 wird es wieder zu einem T\u00e4uschungsurtheil, indem es eine Verschiebung, und zwar eine von bestimmt mefs-barer, der im Anfangspunkte A ungef\u00e4hr gleichen Gr\u00f6fse an-giebt. Die Curve setzt also, nachdem sie von B an v\u00f6llig unterbrochen war, bei C wieder ein, um nach einem zum ersten Theil symmetrischen Verlauf einige Grade vor 180\u00b0 bei D wieder abzubrechen. Das ist die Curve des quantitativen Verlaufes der Verschiebungen nach der unmittelbaren Aussage unseres Ur-theiles. So stellt sich demnach auch die Curve der T\u00e4uschungsverschiebungen dar, wenn wir diese als U r t h e i 1 s t\u00e4uschungen verstehen.\nDie Curve gew\u00e4hrt kein befriedigendes, Vertrauen erweckendes Bild. Sie ist zweimal \u2014 bei 0 0 und 900 \u2014 unterbrochen, obwohl sie sich nach der Unterbrechung ganz im vorigen Sinne fortsetzt, so dafs sie geradezu herausfordert zur Erg\u00e4nzung des ausgefallenen St\u00fcckes. Diese Erg\u00e4nzung k\u00f6nnen wir auch vornehmen, ohne mit dem T\u00e4uschungsurtheil in Widerspruch zu gerathen, wenn wir uns auf den Boden der Empfindungshypothese begeben. Wir erhalten dann die Curve der in der Wahrnehmungsvorstellung enthaltenen Verschiebungen. Die Curve verl\u00e4uft ununterbrochen stetig. Von den das unmittelbar Gegebene (hypothetisch) erg\u00e4nzenden Verbindungsst\u00fccken OA, BC, DE braucht nur die psychologisch v\u00f6llig correcte Annahme gemacht zu werden, dafs die von ihnen dargestellten Verschiebungen, wiewohl in der Wahrnehmungsvorstellung gegeben, doch zu klein sind, um durch das Urtheil bemerkt zu werden.\nDaraus folgt unmittelbar, dafs, wenn sich auf irgend einem indirecten Wege die Existenz eines solchen Curvenpunktes M\n11\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XIX.","page":161},{"file":"p0162.txt","language":"de","ocr_de":"162\nSt Witas\u00e9k.\nzwischen 0 n. A herausstellt, dies einen Beweis f\u00fcr die Geltung der Empfindungshypothese abgiebt.\nIch habe durch einfache experimentelle Veranstaltungen solche Punkte aufgefunden.\nDamit eine verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig so geringe RichtungsVerschiebung, wie sie bei allen geometrisch-optischen T\u00e4uschungen vorliegt, \u00fcberhaupt auffafsbar ist, bedarf es in der Regel einer in der Wahrnehmung gegebenen Normal-, Maafs- oder Vergleichsrichtung. An einer einzelnen Geraden wird man, auch wenn man sich ihre Richtung noch so gut angesehen hat, die durch Dar\u00fcberlegen von Z\u00f6llner\u2019sehen Transversalen bewirkte Verschiebung im Allgemeinen nicht constatiren k\u00f6nnen. In der Z\u00f6llner\u2019sehen Figur versehen bekanntlich Parallele gegenseitig die Function der Vergleichsrichtung. L\u00f6schen wir alle Hauptstreifen bis auf einen aus, so haben wir keinen Anhaltspunkt mehr, auf Richtungst\u00e4uschung zu erkennen. Das w\u00e4ren also \u201eunbemerkte\u201c Verschiebungen. Aber nat\u00fcrlich keineswegs solche, wie ich sie zum Nachweis \u201euntermerklicher\u201c Richtungsverschiebungen brauche. Denn sie werden von uns nur deshalb nicht erkannt, weil wir in solchen F\u00e4llen die normale, unver-schobene Richtung der Geraden in der Vorstellung nicht gegeben haben, daher nicht im Stande sind, eine Abweichung der scheinbaren Richtung von der wirklichen zu erkennen, auch dann nicht, wenn diese Abweichung eine sonst l\u00e4ngst \u00fcbermerkliche ist. Ich brauche vielmehr eine Versuchsanordnung, die der Wahrnehmungsvorstellung auch eine bestimmte (Richtung) Gerade als Anhaltspunkt zum Beurtheilen der untersuchten Richtung gew\u00e4hrt.\nDie Parallele sowie die scheinbar Gebrochene eignen sich zu solchem Zwecke, wie mir meine Versuche ergaben, aus verschiedenen Gr\u00fcnden nicht. So probirte ich es mit der Senkrechten. Damit gl\u00fcckte es, und zwar auf folgendem Wege.\nBekanntlich nimmt unter allen Winkeln der rechte unserem Urtheil gegen\u00fcber insofern eine gewisse Ausnahmsstellung ein, als wir gegen Ver\u00e4nderungen der Winkelgr\u00f6fse in seiner N\u00e4he bei weitem am empfindlichsten sind. Diese Empfindlichkeitssteigerung beim rechten Winkel geht jedoch keineswegs so weit, dafs wir jede, auch die geringste Abweichung vom rechten Winkel, bereits als solche erkennen k\u00f6nnten. Vielmehr giebt es auch hier eine, zwar sehr kleine, immerhin aber mefsbare","page":162},{"file":"p0163.txt","language":"de","ocr_de":"\u2018 lieber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n163\nSchwelle, innerhalb welcher uns der Winkel immer noch als rechter erscheint, und die er \u00fcberschreiten mufs, um vom rechten Winkel merklich verschieden zu werden. Nun lassen sich gr\u00f6fsere, aber immer noch untermerkliche Abweichungen vom rechten Winkel, die dem directen Anblick entgehen, durch ein sehr einfaches Mittel als thats\u00e4chlich vorhanden zur Anschauung bringen. Stellt man n\u00e4mlich einen genauen rechten Winkel so auf einen (Metall)-Spiegel, dafs der eine der beiden Schenkel in die Ebene des Spiegels zu liegen kommt, und die Ebene des rechten Winkels auf der des Spiegels senkrecht steht1, so bildet der andere Schenkel zusammen mit seinem Spiegelbild eine ununterbrochene ungebrochene Gerade. Ist jedoch der Winkel kein rechter, so wird auf diesem Wege eine in der Spiegelebene gebrochene Gerade zur Anschauung kommen. Da sich dabei die Abweichung vom rechten Winkel verdoppelt, so werden Spiegelbild und Schenkel auch dann eine merklich gebrochene Gerade ergeben, wenn diese Abweichung an und f\u00fcr sich noch untermerklich, jedoch schon nahe der Schwelle ist. So k\u00f6nnen wir vermittels des Spiegels mit unserer Erkenntnifs noch ein St\u00fcck in das Schwellengebiet hinein Vordringen.\nDieses Verfahren giebt das Mittel an die Hand, die gesuchte untermerkliche Z\u00f6llner\u2019sehe Verschiebung aufzudecken. Denn es l\u00e4fst sich ohne Weiters vom reinen Winkel und dessen wirklicher Ver\u00e4nderung auf die durch Z\u00f6llner\u2019sehe Transversale in ihrer Gr\u00f6fse scheinbar ver\u00e4nderten Winkel \u00fcbertragen, und dort zum anschaulichen Nachweis der durch solche Transversale bewirkten scheinbaren Richtungsverschiebung verwenden. Dreht man n\u00e4mlich den einen Schenkel eines rechten Winkels nicht wirklich sondern \u2014 durch wirksame Transversale \u2014 nur scheinbar aus seiner zum anderen Schenkel senkrechten Richtung, so giebt, wenn man an diesen Schenkel den Metallspiegel senkrecht zur Winkelebene anlegt, der durch die Transversalen nur scheinbar abgelenkte Schenkel mit seinem Spiegelbild auch hier eine in der Spiegelebene scheinbar gebrochene Gerade. W\u00e4hlt man nun die Lage der Transversalen so, dafs sie eben unwirksam genug sind, um dem rechten Winkel auf den blofsen Anblick hin auch nur scheinbar das Aussehen eines rechten Winkels zu be-\n1 Das N\u00e4here \u00fcber die Versuchsanordnung siehe weiter unten.\n11*","page":163},{"file":"p0164.txt","language":"de","ocr_de":"164\nSt. Witasek.\nnehmen, also keine merkliche BichtungsVerschiebung an dem Schenkel hervorbringen, so ergiebt die Spiegelprobe trotzdem immer noch eine Gebrochene.1\nWas folgt daraus? Der rechte Winkel erschien auf den blofsen Anblick hin meinem Urtheil trotz der Transversalen als ein rechter Winkel. Sehe ich nun aber das Spiegelbild mit dem gespiegelten Schenkel in einer Gebrochenen, so ist es unm\u00f6glich, dafs sich der Winkel auch schon in meiner Wahrnehmungsvorstellung als rechter Winkel abgebildet h\u00e4tte. Denn da ich den Winkel im Spiegel gerade so grofs sehen mufs wie im Original2, so m\u00fcfsten bei der Spiegelprobe, falls ich ihn wirklich als rechten Winkel s\u00e4he, 2 R, d. i. eine Gerade herauskommen. Das geschieht nicht, es zeigt sich ein Winkel von weniger als 2 R Also mufs sich auch in meiner Wahrnehmungsvorstellung der direct gesehene Winkel kleiner als 90 0 darstellen, aber nur um so weniges kleiner als 90 \u00b0, dafs ich es f\u00fcr sich allein nicht merke und meinem Urtheil diese geringf\u00fcgige Abweichung vom rechten Winkel entgeht, so dafs ich wirklich meine, die Wahrnehmungsvorstellung eines rechten Winkels zu haben.\nDie Bache steht hier f\u00fcr die psychische Wirkung genau so wie dort, wo ich an einem rechten Winkel nicht durch Transversale scheinbar, sondern wirklich einen der beiden Schenkel aus seiner Lage herausr\u00fccke, aber nur so wenig, dafs mir der Winkel immer noch wie ein rechter erscheint. Auch hier stellt er sich dann in der WahrnehmungsVorstellung gewifs kleiner dar, als ein rechter; aber diese Abweichung ist so gering, dafs\n1\tDie durch, zwei zu einander symmetrische Transversalengruppen gebrochen erscheinende Gerade ist ein Analogon zu dem einen Versuche, durch welchen Hering zeigt, dafs der simultane Lichtcontrast eine physiologische Erkl\u00e4rung fordert (Zur Lehre vom Lichtsinne, \u00a7 9). Ein Analogon zum anderen Versuche, der pl\u00f6tzlichen Verdunkelung eines grauen Streifens beim Darunterschieben von weifsem Papier, zeigt sich, wenn man eine Glasplatte, auf welcher parallele Gerade gezogen sind, mit gr\u00f6fserer oder geringerer Geschwindigkeit \u00fcber einen Carton schiebt, auf welchem die Transversalen der PiSKo\u2019sehen Figur aufgezeichnet sind. Die Parallelen ge-rathen dabei in lebhafte Wellenbewegung.\n2\tDiese Bedingung ist in der Regel nur beim binocularen Sehen erf\u00fcllt. Beim monocularen Sehen giebt die scheinbar Senkrechte mit ihrem Spiegelbild wegen der geneigten Lage der verticalen Trennungslinien eine Gebrochene. Die obigen Versuche k\u00f6nnen daher zun\u00e4chst nur binocular vorgenommen werden.","page":164},{"file":"p0165.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n165\nsie dem Vergleichungsurtheil entgeht. Der ganze Unterschied zwischen diesem Fall und dem, wo die Verschiebung durch Transversale bewirkt wird, ist der, dafs das Urtheil, der vorliegende Winkel sei ein rechter, das eine Mal objectiv und sub-jectiv t\u00e4uscht, weil der Winkel sowohl an sich als auch in der Wahrnehmungs vor Stellung kleiner als ein Eechter ist, das andere Mal nur subjectiv, weil der Winkel in Wirklichkeit zwar ein rechter ist, sich in der Wahrnehmungsvorstellung jedoch kleiner als ein rechter abbildet. Die f\u00fcr uns wesentliche Ueberein-stimmung beider F\u00e4lle liegt darin, dafs beide Male in der Wahrnehmungsvorstellung eine untermerkliche Abweichung vom rechten Winkel vorliegt.\nDadurch ist die Existenz untermerklicher Z\u00f6llner\u2019scher Verschiebungen nachgewiesen. \u2014 Es bleiben nur noch einige Einw\u00e4nde abzuwehren, die gegen die Deutung dieses Versuches vorgebracht werden k\u00f6nnten.\nZun\u00e4chst k\u00f6nnte Jemand meinen, es sei sehr leicht m\u00f6glich, dafs die Anwesenheit der Transversalen das Entstehen einer ungebrochenen Geraden aus dem Hauptstreifen und seinem Spiegelbild \u00fcberhaupt nicht zuliefse; die Transversalen br\u00e4chten immer eine St\u00f6rung und Unordnung in die Figur und m\u00fcfsten unter allen Umst\u00e4nden einen Knick an der Spiegelebene ergeben. \u2014 Dieser Einwand wird jedoch auf das Entschiedenste dadurch widerlegt, dafs man thats\u00e4chlich, wie sich Jedermann leicht \u00fcberzeugen kann, eine leicht geknickte Gerade durch passend gew\u00e4hlte Transversale zu einer scheinbar ungebrochenen machen kann, ein Erfolg, der sich ohne Weiteres auch bei den Spiegelversuchen erzielen l\u00e4fst. Die genaue Messung der Winkel, die das leisten, ist weiter unten angegeben.\nSchwer er wiegend k\u00f6nnte allenfalls folgender zweiter Einwand erscheinen: Durch die Spiegelung wird zwar der direct gesehene Winkel in genau gleicher Gr\u00f6fse reproducirt und zeigt nun mit diesem zusammen einen Winkel, der durch die Spiegelebene in zwei gleich grofse H\u00e4lften getheilt wird. Erscheint nun dieser ganze Winkel kleiner als 180\u00b0, so folgt daraus allerdings, dafs jede der beiden H\u00e4lften jetzt kleiner erscheinen mufs als 90\u00b0, dafs sich also der direct gesehene Winkel jetzt von einem rechten verschieden darstellt, nicht aber, dafs er dies auch fr\u00fcher f\u00fcr sich allein so gethan habe. Durch die Spiegelung sei eben eine ganz andere T\u00e4uschungsfigur zu Stande gekommen, und","page":165},{"file":"p0166.txt","language":"de","ocr_de":"166\nSt. Witasek.\nwas diese an T\u00e4uschungen beobachten l\u00e4fst, d\u00fcrfe naturgem\u00e4fs keineswegs auch einer anderen zugeschrieben werden. Die Annahme ist nicht ausgeschlossen, dafs an dem direct gesehenen rechten Winkel f\u00fcr sich allein durch die Transversalen \u00fcberhaupt keine Verschiebung und somit auch keine T\u00e4uschung stattfinde, und dafs erst das Hinzukommen der gespiegelten Transversalen die Ursache f\u00fcr das Zustandekommen der scheinbaren Verschiebung vervollst\u00e4ndigt.\nDiesem Einwande k\u00f6nnen zweierlei Gedanken zu Grunde liegen. Erstens der, dafs zum Zustandekommen der Z\u00f6llner\u2019-schen T\u00e4uschung ein Hauptstreifen mit einer Gruppe einander paralleler Transversalen \u00fcberhaupt noch nicht gen\u00fcgt, sondern dafs dazu noch die dritte Richtung einer Gruppe von Gegentransversalen erforderlich sei, ein Gedanke, der in der psychologischen Literatur bereits seine Vertretung gefunden hat. 1 2 Ich brauche mich mit seiner Abwehr nicht aufzuhalten, denn auch diese ist schon l\u00e4ngst von anderer Seite geleistet worden.2 Heuse hat durch geeignete Figuren nachgewiesen, dafs jede einzelne Linie f\u00fcr sich, unabh\u00e4ngig von Gegentransversalen, durch ihre Transversalen abgelenkt wird, daher sowohl Classens \u201eDrei-Richtungstheorie\u201c falsch ist als auch die Z\u00f6llner\u2019s, die bekanntlich auf der Convergenz- und Divergenzvorstellung beruht.\nDer zweite Gedanke, der im obigen Einwande steckt, geht nicht so weit wie der erste, w\u00fcrde aber auch gen\u00fcgen, dem Versuche die Beweiskraft zu nehmen: Nicht immer und \u00fcberhaupt, sondern nur, wenn die Wirksamkeit der Transversalen, z. B. wegen ung\u00fcnstigen Winkels, bereits unter ein bestimmtes Maafs gesunken ist, seien zum Zustandekommen der Verschiebung die Gegentransversalen erforderlich. \u2014 Auch dieser Gedanke hat offenbar wenig Schein. Er verlangt zun\u00e4chst f\u00fcr die untere Grenze der Z\u00f6llner\u2019sehen T\u00e4uschung v\u00f6llig willk\u00fcrlich eine neue-, durch keine Erfahrung belegte Gesetzm\u00e4fsigkeit der Entstehung. Ueberdies aber l\u00e4fst sich durch eine einfache Versuchsanordnung zeigen, dafs die einem Z\u00f6llner\u2019sehen Hauptstreifen benachbarten Gegentransversalen auf seine Ablenkung auch im Schwellengebiet gar keinen Einflufs haben. Man zeichne sich die Transversalengruppe (M), die wir zu unserem Spiegelversuch ver-\n1\tClassen, Physiol, des Gesichtssinnes, Braunschweig 1876, S. 198.\n2\tHeuse, Archiv f\u00fcr Ophthalm. XXV, 1, 1879, S. 115 ff.","page":166},{"file":"p0167.txt","language":"de","ocr_de":"Ueher die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n167\nwendet haben, heraus, und vertical dar\u00fcber anschliefsend eine \u2022symmetrische Gegentransversalengruppe (.B). Dann zeichne man durch A und B eine wirklich gebrochene Gerade, deren Winkel aber so gew\u00e4hlt ist, dafs sie in Folge der Z\u00d6LLNER\u2019schen T\u00e4uschung als Gerade erscheint. Legt man nun, auch anschliefsend an A, aber vertical darunter, noch eine zweite Gegentransversalengruppe (0), so kann man deren Winkel ganz beliebig variiren, ohne dafs der Schein der Geraden in AB zerst\u00f6rt w\u00fcrde. Das w\u00e4re aber nicht m\u00f6glich, wenn die Gegentransversalengruppe (C) auf die Wirkung von A einen Einflufs h\u00e4tte. Man mufs bei diesem Versuche nur darauf achten, dafs die Gruppen A und B zum Auge immer dieselbe Lage haben, weil bekanntlich auch von dieser die T\u00e4uschungsgr\u00f6fse abh\u00e4ngt.\nDiese Einw\u00e4nde waren gegen die Anordnung und Deutung des Spiegelversuches gerichtet. Gegen den Grundgedanken, auf dem er auf gebaut ist, wird wohl kaum irgend Jemand etwas sagen k\u00f6nnen. Es ist zu klar, dafs, wenn sich bei geometrischoptischen T\u00e4uschungen untermerkliche Verschiebungen zeigen, diese nur in der Wahrnehmungsvorstellung liegen k\u00f6nnen, die T\u00e4uschungen somit Empfindungst\u00e4uschungen sein m\u00fcssen.\nTiefer freilich, geradezu an der Wurzel fafst die Beweiskraft des Spiegelversuches derjenige an, der die Existenz von unbemerkten und unmerkbaren, d. h. gegen\u00fcber dem Vergleichungsurtheil untermerklichen Verschiedenheiten der Empfindungen bestreitet. Denn, so sehr auch diese Thatsache in den letzten Jahren immer mehr und mehr an Anerkennung gewonnen hat, so ist der Streit dar\u00fcber doch noch nicht verstummt. Es kann aber an dieser Stelle nicht meine Sache sein, in diese Controverse einzugreifen, oder gar, sie zur Entscheidung zu bringen. Auf eines jedoch sei nachdr\u00fccklichst hingewiesen. Wer die Existenz untermerklicher EmpfindungsVerschiedenheiten leugnet, der kann zwar die Beweiskraft des Spiegelversuches nicht anerkennen, aber trotzdem darf er sich consequenterweise den Gegnern der Empfindungshypothese nicht zugesellen. Denn es giebt bekanntlich auch eine Umkehrung der f\u00fcr gew\u00f6hnlich gebr\u00e4uchlichen Form der, geometrisch-optischen T\u00e4uschungen, eine Umkehrung, die objective Verschiedenheiten als gleich erscheinen l\u00e4fst. So kann man z. B. convergirende Gerade durch Z\u00f6llner sehe Transversale zu scheinbar Parallelen machen. Objectiv verschiedene Richtungen erscheinen dann gleich, es liegt also eine unbemerkte Ver-","page":167},{"file":"p0168.txt","language":"de","ocr_de":"168\nSt. Witasek.\nschiedenheit vor ; und wenn man unbemerkte Empfindungs-Verschiedenheiten nicht zulassen will, so mufs man sich zur Annahme bequemen, dafs die Verschiedenheit in der Empfindung, (Wahrnehmungsvorstellung) nicht mehr vorliegt, d. h. also, die Empfindungshypothese anerkennen. Denn darin, dafs man sagt, nur unter normalen, g\u00fcnstigen Vergleichsbedingungen gebe es keine untermerklichen Empfindungsverschiedenheiten, wohl aber bei st\u00f6renden, das Vergleichen erschwerenden Umst\u00e4nden \u2014 wie sie z. B. die Z\u00f6llner\u2019sehen Transversalen bedingen \u2014 liegt, wenigstens dem Spiegelversuch gegen\u00fcber, kein Ausweg. Auch der Spiegelversuch weist ja diese erschwerenden Vergleichsbedingungen auf. \u2014\nIch will nun zur Erleichterung der Nachpr\u00fcfung meiner Versuche in aller K\u00fcrze deren \u00e4ufsere Anordnung und ihre Maafse mittheilen.\nAls Spiegel benutzte ich ein Quecksilberniveau von ungef\u00e4hr 120 X 90 mm Gr\u00f6fse. Die durch Spiegelung zu untersuchenden Figuren zeichnete ich auf St\u00fccke leichten Cartons, deren unterer Rand in einer scharfen Geraden abgeschnitten war und zugleich als der eine Schenkel des betrachteten Winkels diente. Indem ich an diesen Cartons rechts und links doppelte Seitenbl\u00e4tter genau rechtwinkelig nach r\u00fcckw\u00e4rts abbog, erm\u00f6glichte ich es mir, sie ohne irgend welche Rahmenvorrichtung unmittelbar auf die Spiegelfl\u00e4che senkrecht aufzustellen. Die Randdepression des Quecksilbers war so gering, dafs sie nicht im Mindesten st\u00f6rte. Die Maafse der Cartons betrugen 60 mm in der H\u00f6he, 173 mm in der L\u00e4nge, wovon 77 mm auf das die Figur tragende Blatt in der Mitte und jederseits 18 + 30 mm auf die zwei rechtwinkelig zur\u00fcckgebogenen St\u00fctzbl\u00e4tter entfielen. Um die in-directen Urtheilsh\u00fclfen der senkrechten Buglinien zu beseitigen, zog ich auf dem Zeichenblatt rechts, links und oben einen un-regelm\u00e4fsigen Rand \u2014 auf allen Bl\u00e4ttern in derselben Form \u2014 und f\u00fcllte den Zwischenraum von diesem bis zum Ende des Cartons mit schwarzer Farbe aus. Allf\u00e4llige st\u00f6rende Gleitbewegungen des Cartons auf der Quecksilberfl\u00e4che verhinderte ich durch zwei \u00fcber das Niveau ca. 1 mm hervorragende Stiften, an welche der Carton anstehen konnte. Gleichzeitig dienten diese Stiften dazu, die Figur immer an derselben Stelle anbringen zu k\u00f6nnen. \u2014 Dem Spiegel mit dem Carton gegen\u00fcber war an geeignetem Punkte mittels Stativs eine Guckr\u00f6hre zur","page":168},{"file":"p0169.txt","language":"de","ocr_de":"TJeber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n169\nFixirung der Augenlage aufgestellt. Eine zweite solche Guckr\u00f6hre war unter sonst v\u00f6llig gleichen Lageverh\u00e4ltnissen gegen einen kleinen Schieberahmen gerichtet, in welchen sich die Figurencartons leicht und rasch, in verticaler Ebene und mit dem unteren Rande horizontal einstecken liefsen. So konnte ich diese unter \u00fcbrigens ganz gleichen Wahrnehmungs- und Urtheilsbedingungen sowohl mit als ohne Spiegelungen betrachten.\nUm zur Construction von f\u00fcr meinen Zweck geeigneten Figuren einige Anhaltspunkte zu gewinnen, mufste ich mich einerseits \u00fcber die Gr\u00f6fse des Schwellengebietes des rechten Winkels, andererseits \u00fcber die Gr\u00f6fse der richtungsverschiebenden Wirkung von Z\u00d6LLNEa\u2019schen Transversalen bestimmter Anordnung unter den gegebenen Verh\u00e4ltnissen einigermaafsen unterrichten.\nDas Erste erreichte ich mit H\u00fclfe einer einfachen Vorrichtung aus Carton, die auf schwarzem Grunde ein von demselben Rande wie die oben erw\u00e4hnten Figuren begrenztes weifses Feld zeigte, innerhalb dessen sich ein schwarzer Faden im Spielraum von 80 \u2014100\u00b0 mefsbar hin und her schieben liefs. Dieser Carton war zum Auge in die gleiche Lage gebracht, wie nachher die Probefiguren. Die Messung geschah in der Weise, dafs der Faden, zuerst von 80\u00b0 gegen die senkrechte Lage hingeschoben, und die Stelle, an der sich das Urtheil \u201erechter Winkel\u201c zuerst einstellte, abgelesen und notirt wurde; weiter die Stelle,,an der das Urtheil \u201egr\u00f6fser als 900 \u201c eintrat, worauf dann der gleiche Vorgang von der entgegengesetzten Seite her vorgenommen wurde. Ich erhielt so vier Ablesungen a, 6, c, d, aus denen sich\ndie scheinbare Lage des rechten Winkels mit R = \u2014\ndie seines Schwellengebietes mit \u2014\"t\u2014 \u2014\nU\tL\u00e0\nergab. Nat\u00fcr-\nlich begn\u00fcgte ich mich nicht mit einer einzigen solchen Vierergruppe, sondern machte eine gr\u00f6fse Zahl von Ablesungen, hier wie zumeist auch bei den folgenden Messungen 4 x 50, aus denen ich den Mittelwerth zog. Auf diese Weise ergab sich mir als scheinbare Lage des rechten Winkels mit seinem Schwellengebiet (binocular) :\nR = 90,1\u00b0 + 0,3\u00b0\tM. Var. = 0,11\u00b0.\nDie zweite Messung, die der richtungverschiebenden Wirkung der Z\u00f6llneb\u2019sehen Transversalen bestimmter Anordnung, geschah","page":169},{"file":"p0170.txt","language":"de","ocr_de":"170\nSt Witasek.\nmit H\u00fclfe einer Vorrichtung, die sich von der eben beschriebenen nur dadurch unterschied, dafs sie unter dem verschiebbaren, senkrecht einzustellenden schwarzen Faden in einem Ausschnitt eine Gruppe von Z\u00f6llner\u2019sehen Transversalen zeigte, deren Winkel sich durch Drehung ihres Cartons beliebig einstellen liefs. Der Ausschnitt war 38,0 mm hoch und 11,5 mm breit; letztere Zahl giebt gleichzeitig den senkrechten Abstand der Enden der Transversalen an, deren L\u00e4nge sonach mit dem Winkel variirte. Der senkrechte Abstand der Transversalen von Mitte zu Mitte betrug 2,1 mm, ihre Dicke ungef\u00e4hr 0,3\u20140,4 mm. Die Messung der scheinbaren Lage des rechten Winkels wurde nach derselben Methode vorgenommen, wie oben. Die Ergebnisse stellen sich in folgender Tabelle dar.\nTabelle IV.\nWinkel der Transversalen mit der wirkl. Senkrechten\tLage der scheinbaren Senkrechten mit ihrem Schwellen-gebiete\tMittlere Variation\tSomit verschiebende Wirkung\n20 0\t91,9 + 0,3\t0,14\t1,8\n30\u00b0\t91,2 \u00b1 0,4\t0,14\tbi\n40 0\t90,9 \u00b1 0,3\t0,13\t0,8\n50 0\t90,8 \u00b1 0,5\t0,12\t0,7\n60\u00b0\t90,6 + 0,4\t0,18\t0,5\n65 0\t90,6 \u00b1 0,4\t0,13\t0,5\n70\u00b0\t90,7 \u00b1 0,3\t0,12\t0,6\n75 0\t90,4 \u00b1 0,4\t0,14\tCO 0\nSO\u00bb\t90,3 \u00b1 0,2\t0,08\t0,2\n00 Cn 0\t90,4 \u00b1 0,3\t0,11\t0,3 1\nDafs sich das Maximum der verschiebenden Wirkung nicht bei 300 ergab, \u00fcberhaupt die T\u00e4uschungscurve einen anscheinend so unregelm\u00e4fsigen Verlauf nimmt, d\u00fcrfte darauf zur\u00fcckzuf\u00fchren sein, dafs in Folge der Einrichtung meines Apparates die L\u00e4nge und der Schnittpunktsabstand der Transversalen nicht constant waren.\nNach diesen Ergebnissen durfte ich erwarten, dafs sich bei Kreuzung des einen (verticalen) Winkelschenkels durch Transversale von 75 \u2014 85\u00b0 das zeigen werde, was ich suchte; denn das Gebiet des scheinbaren rechten Winkels f\u00e4llt da schon zum\ni","page":170},{"file":"p0171.txt","language":"de","ocr_de":"Ueher die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n171\ngrofsen Theil in das des reinen (nicht mit Transversalen versehenen) rechten Winkels hinein.\nDie darnach mit der peinlichsten Genauigkeit angefertigten zehn Figurencartons untersuchte ich nun in der oben beschriebenen Weise. Wegen der bisweilen ziemlich f\u00fchlbar auftretenden Unsicherheit des Urtheils konnte ich mich auch hier nicht mit einer je einmaligen Urtheilsabgabe begn\u00fcgen, sondern mufste meine endg\u00fcltige Entscheidung nach dem Ausfall der Mehrheit richten. Ich nahm also s\u00e4mmtliche Figurencartons dreifsigmal durch. Dabei wurde beurtheilt\nTabelle V.\nan Carton Nr.\tmit Transversalen von\tder Winkel a rechter\tm u. f\u00fcr sich ls schiefer\t1 bei Spiegelung 1 gerade\tgebrochen\t\n1\t20\u00b0\t\u2014\t30 mal\t\t\t30 mal\n2\t30\u00b0\t\u2014\t30\t\u201e\t\u2014\t30\t\u201e\n3\t40\u00b0\t4 mal\t26 \u201e\t\u2014\t30 \u201e\n4\t50\u00b0\t9 \u201e\t21 \u201e\t\u2014\t30 \u201e\n5\t60\u00b0\t\u201e\t16 \u201e\t\u2014\t30\t\u201e\n6\t65\u00b0\t12 \u201e\t18 \u201e\t\u2014\t30 \u201e\n7\t70\u00b0\t6 \u00bb\t24 \u201e\t8 mal\t22 \u201e\n8\t75\u00b0\t21 \u201e\t9 \u201e\t12 \u201e\t18 \u201e\n9\t80\u00b0\t27\t\u201e\t3 \u201e\t18 \u201e\t12 \u201e\n10\t85\u00b0 !\t30\t\u201e\t\u2014\t\t30\t\u201e\nVollkommen beweisend im Sinne meiner Ausf\u00fchrungen ist daher Nr. 10. Aber auch bei Nr. 8 finden sich im Allgemeinen die Urtheile \u201erechter Winkel\u201c und \u201egebrochen\u201c ziemlich entschieden zusammen. Ja selbst die Ergebnisse von Nr. 5 und 6, bei denen sich mit der v\u00f6lligen Sicherheit des Urtheils \u201egebrochen\u201c eine so deutliche Neigung zum Urtheil \u201erechter Winkel\u201c verbindet, k\u00f6nnen als Beweisthatsachen in Anspruch genommen werden. \u2014 Dafs das Ergebnifs der Spiegelproben nicht g\u00e4nzlich den Berechnungen entsprach, die sich auf Grund der Tabelle IV anstellen liefsen, darf bei diesen so aufserordentlich empfindlichen, daher durch geringe Ungenauigkeiten bereits gest\u00f6rten Versuchen nicht Wunder nehmen. \u2014","page":171},{"file":"p0172.txt","language":"de","ocr_de":"172\nSt. Witas\u00e9k.\nY. Ergebnifs.\nEs er\u00fcbrigt nun nur noch, Rechenschaft dar\u00fcber abzulegen, ob das Ergebnifs der vorliegenden Arbeit, das sowohl in analytischer als auch in experimenteller Untersuchung zu Gunsten der Empfindungshypothese ausgefallen ist, f\u00fcr das ganze Gebiet der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen oder nur f\u00fcr einen Theil davon G\u00fcltigkeit beanspruchen kann. Ein kurzer R\u00fcckblick auf die vorgef\u00fchrten Beweisgr\u00fcnde wird das zur Entscheidung bringen.\nDer erste Abschnitt des analytischen Theiles, der im negativen Beweisgange zur Ablehnung der Urtheilshypothese gef\u00fchrt hat, st\u00fctzte sich auf zwei verschiedene Gedanken. Der eine ist das Princip der unmittelbaren Evidenz der (inneren, subjectiven) Verschiedenheitsurtheile, der andere betrifft die psychologische Unklarheit und Undenkbarkeit der von der Urtheilshypothese angenommenen falschen (inneren) Benennungsurtheile (Agnosci-rungen). Die genannten Urtheilsclassen umspannen zwar das ganze Gebiet der geometrisch - optischen T\u00e4uschungen. Die Schwierigkeiten jedoch, die ich in ihrer Verwendung von Seiten der Urtheilshypothese gefunden habe, d\u00fcrften nicht bei allen T\u00e4uschungsarten vorliegen. Das Princip der Evidenz der Ver-gleichungsurtheile versagt, wie ich schon im II. Abschnitt, \u00a7 4, gezeigt habe, \u00fcberall dort, wo zum Zwecke des Vergleiches eine (zeitliche oder r\u00e4umliche) Uebertragung des einen Vergleichsgegenstandes zum anderen durch das Ged\u00e4chtnifs nothwendig ist und dadurch die M\u00f6glichkeit einer gesetzm\u00e4fsigen Ver\u00e4nderung der Vorstellung vorliegt. Dies trifft meines Erachtens am ehesten bei den bestrahlten Distanzen 1 sowie an der von Bezold mitge-theilten perspectivischen Gr\u00f6fsent\u00e4uschung2 zu ; vielleicht auch bei der bekannten Uebersch\u00e4tzung untertheilter Strecken, wohl kaum mehr bei der M\u00fcller-Lyer\u2019sehen und der Poggendoree\u2019-schen T\u00e4uschung; keinesfalls jedoch ist bei der Z\u00f6llner\u2019sehen T\u00e4uschung die M\u00f6glichkeit eines solchen Ausweges gegeben. Soweit sie sich \u00fcberhaupt als Vergleichst\u00e4uschung ausspricht, ist obiges Evidenzprincip auf sie unbedingt anwendbar.\nAuch dafs die psychologische Undenkbarkeit falscher Benennungsurtheile dort nicht zutrifft, wo ihr Gegenstand eigentlich erst durch Phantasieth\u00e4tigkeit zu erg\u00e4nzen ist, wie z. B. bei den\n1\tSiehe die Figur 30 bei Thi\u00e9ry {Phil. Stud. Bd. IX, S. 608).\n2\tWiedem. Ann. XXIII, 1884, S. 351.","page":172},{"file":"p0173.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n173\neinem und demselben Kreise angeh\u00f6rigen Bogen, erhellt schon aus den Ausf\u00fchrungen meines II. Abschnittes. Dagegen ist es wieder die Z\u00f6llner\u2019sehe T\u00e4uschung, die ohne Zweifel ganz und gar unter die Beweiskraft dieses negativen Argumentes f\u00e4llt.\nWas ferner die Ergebnisse der experimentellen Untersuchung anlangt, so sind auch sie s\u00e4mmtlich an der Z\u00f6llner\u2019sehen Figur gewonnen. Ob analoge Versuche mit anderen T\u00e4uschungsfiguren zu gleichem Ergebnifs f\u00fchren, oder \u00fcberhaupt durchf\u00fchrbar sind, dar\u00fcber kann ich gegenw\u00e4rtig eine bestimmte Auskunft nicht geben.\nSonach kann auf Grund der vorliegenden Arbeit nur von der Z\u00f6llner\u2019sehen T\u00e4uschung mit Bestimmtheit behauptet werden, dafs sie eine Empfindungst\u00e4uschung ist.\nFreilich ist damit mehr gesagt, als es auf den ersten Blick vielleicht scheinen mag. Was von der Z\u00f6llner sehen T\u00e4uschung gilt, gilt naturgem\u00e4fs auch von jeder mit ihr verwandten, gleichartigen. Dadurch ist aber ein sehr gewichtiges Theil \u2014 ja geradezu das Centralgebiet der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen in Anspruch genommen. Dafs die \u00dcERiNo\u2019sche, PisKo\u2019sche Figur ebenso wie die Gr\u00f6fsent\u00e4uschung an \u00fcber einander liegenden Kreissegmenten u. s. w. dazu geh\u00f6rt, liegt auf der Hand. Von der LoEB\u2019schen T\u00e4uschung ist es meines Erachtens evident nachgewiesen 1 und von der M\u00fcLLER-L/YER'schen und der Poooen-DOREE schen wird man das Gleiche vorl\u00e4ufig wenigstens ver-muthen d\u00fcrfen. Es bleibt also nicht mehr viel \u00fcbrig, so dafs man jedenfalls gut daran thun, dasjenige, was f\u00fcr das Centralgebiet gilt, auch f\u00fcr den Rest wenigstens als heuristisches Princip im Auge zu behalten. \u2014\nIch m\u00f6chte schliefslich noch an einige bereits bekannte Beobachtungen erinnern, die sich als Bekr\u00e4ftigung des Ergebnisses meiner Untersuchung darstellen.\nDie Gr\u00f6fse der T\u00e4uschung im Z\u00f6llner\u2019sehen Muster kann bei monocularem Sehen eine andere sein als bei binocularem.2 F\u00fcr die theoretische Bedeutsamkeit dieser Thatsache verschl\u00e4gt es nichts, dafs sie individuellen Schwankungen ausgesetzt zu sein scheint.\n1\tHeymans, Quantitative Untersuchungen etc., diese Zeitschrift XIV, S. 101 ff., 1897.\n2\tThi\u00e9ry a. a. O. Cap. I, \u00a7 1. \u2014 Hering, Beitr\u00e4ge z. Physiol. I (Leipzig 1861), S. 73.","page":173},{"file":"p0174.txt","language":"de","ocr_de":"174\nSt. Witasek.\nZ\u00f6llner 1 hat bemerkt, dafs die T\u00e4uschung durch rothes Licht herabgesetzt wird. Bekannt ist ferner, dafs die Figur in (d\u00fcnnen) weifsen Strichen auf schwarzem Grunde ausgef\u00fchrt, st\u00e4rker wirkt als umgekehrt.\nDie T\u00e4uschung ist bei einer bestimmten Distanz der Figur vom Auge am st\u00e4rksten.2 Wird die Distanz gr\u00f6fser, so nimmt die T\u00e4uschung ab, um endlich ganz zu verschwinden. Dies tritt bereits an einem Punkte ein, an dem das v\u00f6llig deutliche Auffassen der Figur noch keineswegs beeintr\u00e4chtigt ist.\nKeineswegs bedeutungslos ist die bekannte Thatsache, dafs sich die T\u00e4uschung allem besseren Wissen gegen\u00fcber unbedingt erh\u00e4lt; sie scheint der Herrschaft des Erkenntnifsgrundes, der das Urtheil unterliegt, entr\u00fcckt zu sein. Ja selbst, dafs sich die T\u00e4uschung von der exacten Messung fassen l\u00e4fst, deutet darauf hin, dafs sie gleichsam compacterer Natur ist als ein fl\u00fcchtig schwankendes, irregeleitetes Urtheil. Und zuletzt: Der Psychologe kann es nicht \u00fcbersehen, dafs die ganze Erscheinung klar und deutlich den psychologischen Habitus der Wahrnehmungsvorstellung und nicht den des Phantasiegebildes zur Schau tr\u00e4gt.\nDas Ergebnifs der vorliegenden Arbeit war also bereits durch mannigfaltige Beobachtungen vorbereitet. Es lautet:\nDie Z\u00f6llner\u2019sehe und die mit ihr verwandten geometrisch-optischen T\u00e4uschungen sind nicht Urtheils- sondern Empfindungst\u00e4uschungen.\nZum Schl\u00fcsse sei es mir gestattet, daran zu erinnern, wie seinerzeit Hering\u2019s \u201eLehre vom Lichtsinne\u201c die Behandlung der Licht- und Farbent\u00e4uschungen wohl endg\u00fcltig auf den richtigenWeg der Empfindungshypothese gef\u00fchrt hat. Nicht zum Wenigsten durch Hering angeregt, suchte ich hiermit das Gleiche f\u00fcr die T\u00e4uschungen des Baumsinnes anzubahnen. Vielleicht findet sich einmal auch der Gedanke, der es gestattet, beide Arten von Gesichtst\u00e4uschungen unter einer Formel zu erfassen.\n1\tZ\u00f6llner, Ueber die Natur der Kometen. (Auch Pogg. Annalen CXIV, 1861, S. 587 ff.)\n2\tKundt, Untersuchungen \u00fcber Augenmaafs etc. Pogg. Ann. CXX, 1863, S. 118 ff.\n(.Eingegangen am 28. September 1898.)","page":174}],"identifier":"lit30556","issued":"1899","language":"de","pages":"81-174","startpages":"81","title":"Ueber die Natur der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen","type":"Journal Article","volume":"19"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:47:19.255875+00:00"}