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{"created":"2022-01-31T15:14:19.704375+00:00","id":"lit30628","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Zehender, W. von","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 19: 192-202","fulltext":[{"file":"p0192.txt","language":"de","ocr_de":"Vernunft, Verstand und Wille,\nVon\nW. von Zehender.\nDie Vernunft ist nur durch ihre Verbindung mit den Sinnesorganen wirksam und wirklich ; sie vernimmt, was die f\u00fcnf Sinne ihr mittheilen. Das ist gewifs die erste und urspr\u00fcnglichste Bedeutung des Wortes \u201eVernunft\u201c. Als Dienerin ihr zur Seite stehend, wird man sich das Gedachtnifs vorzustellen haben, welches die der Vernunft mitgetheilten Sinneseindr\u00fccke f\u00fcr k\u00fcnftigen Gebrauch registrirt und aufbewahrt. Ob die Vernunft gleichsam herabsteigt zum Auge, um Kenntnifs zu nehmen von den dort entstehenden Netzhautbildern, oder ob der in der Netzhaut entstehende Lichtein druck cerebral w\u00e4rts der Vernunft zugeleitet wird, ist nicht n\u00e4her bekannt. Angenommen wird gew\u00f6hnlich das Letztere; damit ist aber die M\u00f6glichkeit einer, vielleicht auch in entgegengesetzter Richtung (vom Centralorgan zum Auge) verlaufenden Str\u00f6mung keineswegs ausgeschlossen.\nDas zierliche Bildchen der Gegenst\u00e4nde der Aufsenwelt, welches im Inneren des Auges auf der Netzhaut entsteht, bewirkt nicht unmittelbar und nicht f\u00fcr sich allein, dafs wir Kenntnifs von der Beschaffenheit der Gegenst\u00e4nde der Aufsenwelt erlangen, denn dieses Bild kann, wie wir in einem fr\u00fcher in dieser Zeitschrift erschienenen Artikel1 zu zeigen versucht haben \u2014 bei unterbrochener Leitung, oder auch \u2014 wie wir erg\u00e4nzend hier noch hinzuf\u00fcgen wollen \u2014 bei gewissen Erkrankungen im Gehirn, vollkommen sch\u00f6n und scharf da sein, ohne dafs wir das Allergeringste \u00fcber die sichtbare Beschaffenheit der Dinge\nder Aufsenwelt erfahren. Wenn also Blindheit bestehen kann\n\u00ab\nbei v\u00f6llig normaler Beschaffenheit der Augen und bei v\u00f6llig normaler Beschaffenheit des Gehirns, dann darf man fragen :\nWo wird denn eigentlich bewirkt, dafs wir Kenntnifs der Dinge der Aufsenwelt erhalten?\n1 Siehe S. 41.","page":192},{"file":"p0193.txt","language":"de","ocr_de":"Vernunft, Verstand und Wille.\n193\nAusgehend von derjenigen Stelle, an welcher im Auge das Netzhautbildchen entsteht, verlaufen die Nervenfasern in den beiden Sehnerven, nachdem diese sich zuvor in dem Chiasma gekreuzt haben, in das Gehirn; sie vertheilen sich hier in verschiedene, zum Theil zwar bekannte, aber doch noch sehr unvollkommen bekannte Richtungen, um sich schliefslich in der Gehirnrindensubstanz zu verlieren. \u2014 Wenn man die Nerven-f\u00e4den als blofse Leitungsf\u00e4den betrachtet \u2014 als etwas Anderes wird man sie nicht wohl betrachten d\u00fcrfen \u2014 dann mufs die von dem Netzhautbildchen ausgehende Bewegung sich durch die Nervenf\u00e4den weiter fortpflanzen und kann an keiner anderen Stelle ihre Nerven-Endwirkung aus\u00fcben als eben nur da, wo die Nervenf\u00e4den im Gehirn endigen; sie mufs hier sich in Vernunft umsetzen, sie mufs von hier aus, durch die Vernunft, unsere Seele \u2014 in actu apperceptionis \u2014 in Kenntnifs setzen von dem, was in unserem Auge vorgeht, d. h. sie mufs unsere Seele vernehmen \u2014 sie mufs sie sehen, sie mufs sie h\u00f6ren, sie mufs sie f\u00fchlen und empfinden \u2014 lassen, wie die Dinge der Aufsen-welt beschaffen sind. \u2014 Die Vorstellung von den Dingen der Anfsenwelt, welche wir durch das transcendente Zusammenwirken der Vernunft mit unseren f\u00fcnf Sinnen erhalten \u2014 gleichviel wo und wie sie entstanden sein mag \u2014 ist von nun an ein uns innerlich eigen gewordenes Bild, welches vielleicht nach einiger Zeit uns wieder entschwindet, zuweilen aber auch unser lebensl\u00e4ngliches Eigenthum bleibt.\nWie es zugeht, dafs aus einer bis ins Gehirn fortgepflanzten Bewegung vern\u00fcnftiges Denken entsteht, das wird f\u00fcr sterbliche Menschen vermuthlich auf immer in undurchdringliches Dunkel geh\u00fcllt bleiben. \u2014 Wir wissen ja nicht einmal, wie es zugeht, dafs aus Feuer W\u00e4rme, aus Eis K\u00e4lte, aus Reibung Elektricit\u00e4t u. s. w. entsteht ; wir k\u00f6nnen nicht verstehen, warum nicht ebensogut umgekehrt aus Feuer K\u00e4lte und aus Eis W\u00e4rme sollte entstehen k\u00f6nnen. Wir wissen nur, dafs es so ist, und w\u00fcrden Jeden f\u00fcr einen Narren erkl\u00e4ren, der verlangen wollte, es solle ihm zuvor allererst noch bewiesen werden, dafs es so sei. \u2014 Dies sind \u2014 wenn man es so nennen will \u2014 ebenfalls unbeweisbare Dogmen, deren Zweifellosigkeit lediglich auf dem erfahrungsm\u00e4fsig nie vorgekommenen Anderssein beruht. Noch nie hat Jemand\n13\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XIX.","page":193},{"file":"p0194.txt","language":"de","ocr_de":"194\nW. von Zellender.\nbeobachtet, dafs man sich an einem Eisklumpen erw\u00e4rmen oder am Feuer abk\u00fchlen kann.\nMit der Entstehung unserer Vernunft verh\u00e4lt es sich ebenso. Wir wissen nicht, wie, durch die Bewegung des Lichtes und der Luft und 'durch Vermittelung unserer Sinne, Vernunft in uns entsteht; wir nennen aber \u201eVernunft\u201c Dasjenige in uns, wodurch wir, unter Mith\u00fclfe unserer Sinnesorgane, Kenntnifs von der Beschaffenheit der Dinge der Aufsenwelt erhalten.\nDie Vernunft hat, aufser den f\u00fcnf Sinnen und dem ihr dienenden Ged\u00e4chtnifs, aber noch einen anderen Mitarbeiter. \u2014 Ein zum ersten Mal oder \u00fcberhaupt nur einmal gesehener Gegenstand macht auf den neugeborenen Menschen noch keinen besonders starken Eindruck. Erst dann, wenn ein und derselbe Gegenstand oft und vielleicht t\u00e4glich dem Kinde wiedererscheint, lernt es diesen Gegenstand kennen und wiedererkennen und freut sich sichtlich \u00fcber diesen ersten Anfang seiner Erkenntnifs-kraft. Wenn ihm aber sp\u00e4ter nicht immer dieselben, sondern zuweilen auch andere, einander \u00e4hnliche Dinge gezeigt werden, dann kommt der Verstand zu H\u00fclfe und erleichtert die Arbeit.\nDer Verstand besitzt die F\u00e4higkeit, an einer Mehrzahl von Dingen Aehnlichkeiten (oder Un\u00e4hnlichkeiten) zu entdecken ; er hilft, verm\u00f6ge dieser Eigenschaft, der Vernunft und dem Ged\u00e4chtnisse die wahrgenommenen und gesammelten Sinneseindr\u00fccke, ihren wesentlichen Merkmalen entsprechend zu unterscheiden und zu ordnen. \u2014 Wenn dem kindlichen Auge z. B. eine Mehrzahl verschiedener B\u00e4ume vorgestellt wird, dann bemerkt der kindliche Verstand \u2014 wenn er soweit schon erstarkt ist \u2014 dafs alle diese B\u00e4ume einen Stamm besitzen, der unten im Boden festgewurzelt ist, und (im Sommer wenigstens) oben eine grofse Menge gr\u00fcner Bl\u00e4tter tr\u00e4gt. \u2014 Nun ist es nicht mehr dieser oder jener Baum, der unter der Obhut der Vernunft dem Kinde vorgestellt und dessen Bild in dem kindlichen Ged\u00e4chtnifs aufbewahrt wird; nunmehr entsteht ein reines Gedankenbild, welches in der \u00e4ufseren Natur seines Gleichen nicht findet, wohl aber jedem naturerzeugten Baum angepafst werden kann. Der Verstand hat die allen B\u00e4umen gemeinsamen charakteristischen Merkmale aufgefunden; es fehlt nun nur noch das den Begriff bezeichnende Wort. Das Kind aber, wenn es den Begriff bereits aufgefafst, das entsprechende Wort vielleicht noch nicht kennen gelernt hat, schafft sich selbst, mit","page":194},{"file":"p0195.txt","language":"de","ocr_de":"Vernunft, Verstand und Wille.\n195\nder in ihm schlummernden Spracherfindungskunst, einen mehr oder weniger deutlich articulirten Laut, der als Anfangsversuch einer Sprache sehr wohl gelten kann, der aber meistens nur den M\u00fcttern, und auch diesen oft nur unvollkommen verst\u00e4ndlich ist.\nIn solcher Weise verhilft der auf keimende Verstand dem Kinde nach und nach zu einer kleinen Sammlung von Begriffen, die das Kind theils mit selbsterfundenen Lauten bezeichnet, theils aber auch den vielleicht schon geh\u00f6rten Worten, anf\u00e4nglich noch schwerverst\u00e4ndlich und unvollkommen, nachbildet.\nZu den primitivsten und unverst\u00e4ndlichsten Lauten kleiner Kinder geh\u00f6rt unstreitig das Weinen und Schreien. Gew\u00f6hnlich betrachtet man diese Laute als einfache Reflexerscheinung des Unbehagens oder des Schmerzes ; man kann aber auch hierbei schon denken an die Mitwirkung einer noch auf tiefster Entwickelung stehenden Seelenth\u00e4tigkeit, die instinctartig sich bem\u00fcht, die Aufmerksamkeit Anderer auf sich zu lenken, oder deren H\u00fclfe anzurufen.\nAus der kleinen Sammlung einfacher Begriffe, zu denen die entsprechenden Worte theilweise vielleicht noch fehlen, entwickelt sich dann, an der Hand tagt\u00e4glicher, durch Nachdenken geleiteter Erfahrung, zuweilen auch schon ein embryonales Urtheil.\nEin Kind, welches, vielleicht zum ersten Mal in seinem kurzen Leben, eine Scheere und ein Blatt Papier in die H\u00e4nde bekommt, freut sich k\u00f6niglich \u00fcber seine Geschicklichkeit, wenn es sieht wie leicht es damit das Blatt Papier in kleine St\u00fccke zerschneiden kann. Vielleicht wird es sogar schon bemerken, dafs die abgeschnittenen Papierst\u00fccke s\u00e4mmtlich kleiner sind als das ganze Blatt, auch wenn es die Worte ,,grofsu und \u201eklein\u201c noch gar nicht kennt. Es wird aber, wenn es sp\u00e4ter diese Worte kennen lernt, sogleich verstehen, was gemeint ist, wenn ihm gesagt wird: \u201eDas Ganze ist gr\u00f6fser als der Th eil.\u201c Man kann also auch annehmen, dafs das Kind, durch sein kleines muthwilliges Experiment, das Axiom schon kennen gelernt hat, bevor es noch die entsprechenden Worte kannte durch welche es ausgedr\u00fcckt wird, und dafs es eben dadurch, dafs es dem Sinne nach das Axiom bereits kennt, f\u00e4hig geworden ist, die Bedeutung der Worte: \u201eGanzes\u201c und \u201eTheil\u201c und die Bedeutung der Worte: \u201egrofs\u201c und \u201eklein\u201c sogleich zu \u201e verstehen. \u2014 Wenn aber auch das Kind die Worte: \u201egrofs\u201c\nund \u201eklein\u201c, \u201eGanzes\u201c und \u201eTheil\u201c zuvor schon kennen gelernt\n13*","page":195},{"file":"p0196.txt","language":"de","ocr_de":"196\nW. von Zehender.\nh\u00e4tte, so wird man doch zugeben m\u00fcssen, dafs es den Sinn und die Bedeutung dieser Worte nicht eher und nicht anders kennen lernen kann, als wenn man ihm durch \u00e4hnliche kleine Experimente die Sache klar zu machen versucht. Beide Er-kenntnifsarten f\u00fchren an dasselbe Ziel; sie sind beide nur durch Vermittelung empirischer Erfahrung m\u00f6glich. \u2014 Aehn-liche Beispiele aufkeimender Intelligenz lassen sich in grofser Menge leicht heranziehen. Eltern, die ihre Kinder aufmerksam beobachten, finden oft. genug Gelegenheit die Spuren geistigen Erwachens an ihnen zu entdecken \u2014 \u00f6fter vielleicht als es Fernerstehenden glaubw\u00fcrdig zu sein scheint.\nWer je einmal den Moment beobachtet hat, in welchem ein Kind zum ersten Mal in seinem Leben sich aufrichtet und sich auf seine zwei F\u00fcfschen stellt, der wird gewifs nicht irren, wenn er in den Gesichtsz\u00fcgen des Kindes einen triumphirenden Ausdruck zu erkennen glaubt, gleichsam als wolle es sagen : \u201eSehet einmal mich an, ich habe etwas Neues gelernt, ich habe eine neue Erfahrung gemacht: ich kann stehen!\u201c \u2014 Ganz ohne intellectuellen Antrieb wird solches \u201eerste Auf richten\u201c wohl schwerlich zu Stande kommen, auch wenn die dazu n\u00f6thigen Kr\u00e4fte fr\u00fcher schon dagewesen sein sollten. \u2014 Bei Kindern, die am G\u00e4ngelbande gef\u00fchrt werden, bevor sie stehen und gehen k\u00f6nnen, mag dagegen dieser wichtige Lebensmoment nicht ebenso pr\u00e4gnant in die Erscheinung treten. \u2014 Durch diese empirisch gewonnene Erfahrung wird die sp\u00e4tere Erkenntnifs einer Bevorzugung des Menschen vor den Thieren durch seine aufrechte Haltung, mit allen sich weiterhin daran anschliefsenden Vorz\u00fcgen, im Geiste des Kindes schon vorbereitet.\nAehnliche Zeichen der durch Erfahrung geweckten Intelligenz sind bei jedem gesunden Kinde leicht zu finden.\nDie alten griechischen Philosophen, welche der aufrechten Haltung des Menschen, wobei der Kopf \u2014 der Sitz der Seele \u2014 dem G\u00f6ttlichen zugewendet, nach oben gerichtet oder vielmehr nach oben hinaufgezogen wird, grofse Bedeutung beilegten, und darin den Unterschied von Mensch und Thier am deutlichsten erkennbar fanden, h\u00e4tten eigentlich diesen Moment des ersten selbst\u00e4ndigen Sichaufrichtens, den Moment der Ann\u00e4herung an das H\u00f6here, an das G\u00f6ttliche, mit ganz besonderer Feierlichkeit begr\u00fcfsen m\u00fcssen!\nWir besitzen indessen noch ein anderes Merkmal, woran wir","page":196},{"file":"p0197.txt","language":"de","ocr_de":"Vernunft, Verstand und Wille.\n197\nden Beginn des intellektuellen Lebens viel deutlicher erkennen k\u00f6nnen \u2014 das ist die menschliche Sprache. Gew\u00f6hnlich pflegt Beides \u2014 Gehenlernen und Sprechenlernen \u2014 ungef\u00e4hr gleichzeitig zu beginnen.\nBis zum Beginn des Gehenlernens mufste das Kind getragen werden und war in allen seinen Bewegungen und Lebens-\u00e4ufserungen von dem Willen Anderer vollkommen abh\u00e4ngig; nunmehr beginnt in ihm eine gr\u00f6fsere Unabh\u00e4ngigkeit. Das Kind kann sich frei bewegen und bekundet damit den Anfang seiner, freilich erst in viel sp\u00e4terer Lebenszeit zur vollen Geltung kommenden Willensfreiheit.\nMit dem Beginn des Sprechens und durch die Sprache er\u00f6ffnet sich nun eine ganz neue Quelle (indirecter) empirischer Erfahrung. Die bisherige k\u00f6rperliche und geistige Abh\u00e4ngigkeit von Eltern und Pflegern verwandelt sich normaler Weise in ein piet\u00e4tvolles Verh\u00e4ltnifs, in welchem die Eltern zwar immerhin noch als Rathgeber und nachahmungswerthe Vorbilder voranleuchten, naturgem\u00e4fs aber die volle Herrschaft \u00fcber ihre Kinder verlieren. Auf dieser h\u00f6heren Stufe der Entwickelung entsteht ein bis dahin noch unbekanntes Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltnifs von anderen Menschen. \u2014 Kommt nach Erlernung des Sprechens, in einer etwas sp\u00e4teren Zeit, die Erlernung des Lesens und Schreibens noch hinzu, dann wird damit zugleich der Zusammenhang mit, und die Abh\u00e4ngigkeit von anderen Menschen in sehr viel weiterem Umfange er\u00f6ffnet. Nunmehr bildet sich ein Verkehr, nicht blos mit pers\u00f6nlich anwesenden, sondern auch mit solchen Personen, die dem Raum und der Zeit nach in weiter Entfernung von uns leben ; es entsteht ein Verkehr nicht nur mit Lebenden, sondern auch mit solchen, die l\u00e4ngst nicht mehr unter den Lebenden weilen. \u2014 Der Geistesverkehr mit Menschen, die in altersgrauer Vorzeit gelebt haben, hat noch das Eigenth\u00fcmliche, dafs er f\u00fcr sich allein schon wie ein \u00fcberm\u00e4chtiger Zauber auf das menschliche Gem\u00fcth einwirkt. Wenn, w\u00e4hrend des irdischen Lebens, das h\u00f6here Alter einen gewissen, ehrfurchtgebietenden EinfLufs auf die j\u00fcngeren Generationen aus\u00fcbt, so tritt die Nachwirkung des irdischen Lebens l\u00e4ngstverstorbener M\u00e4nner, die durch Tugend und Geistesgr\u00f6fse sich ausgezeichnet haben, sehr oft um so viel st\u00e4rker hervor, je weiter die Zeit zur\u00fcckliegt, in der sie gelebt haben. Solche M\u00e4nner geniefsen \u2014 durchschnittlich gesprochen \u2014 einen so hohen Grad von Vertrauen,\n/","page":197},{"file":"p0198.txt","language":"de","ocr_de":"198\nW. von Zehender.\nvon Hingebung und Verehrung, wie er keinem zeitgen\u00f6ssischen Sterblichen zu Theil wird, und n\u00f6thigen uns mit \u00fcberw\u00e4ltigender Kraft zu der Ueberzeugung, dafs die ganze Menschheit, in ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ein durch Vernunft einheitlich zusammenh\u00e4ngendes geistiges Ganzes bildet \u2014 Einige ihrer, aus uralter Zeit bis auf uns gekommenen Schriften werden \u2014 von den verschiedensten V\u00f6lkern und Religionsgemeinschaften \u2014 ,,heilige B\u00fccher\u201c nicht nur genannt, sondern als solche thats\u00e4chlich auch verehrt, und nicht selten wird ihr Ursprung von unmittelbar g\u00f6ttlicher Eingebung abgeleitet. \u2014 Die Griechen hielten ihre \u00e4ltesten Philosophen und Weltweisen f\u00fcr besonders glaubw\u00fcrdig deswegen, weil sie dem Zeitalter, in welchem die G\u00f6tter auf Erden gelebt haben, n\u00e4her stehen. Denn nach ihrer Ansicht stammt die Menschheit von den G\u00f6ttern ab !\nAuch die klassischen Schriften der alten Griechen und R\u00f6mer werden \u2014 trotz aller realistischen Gegenstr\u00f6mung \u2014 immer und immer wieder als unentbehrliches H\u00fclfsmittel geistiger Ausbildung hochgesch\u00e4tzt und wirken in unverg\u00e4nglicher Jugendfrische viel intensiver und nachhaltiger als alle literarischen Producte der Neuzeit.\nDer Verstand bleibt seiner wesentlichen Function nach zeitlebens unver\u00e4ndert derselbe. Er zeigt sich zwar individuell etwas verschieden und mag auch wohl, durch Uebung und Ausdauer, an Sch\u00e4rfe und Schlagfertigkeit gewinnen ; n\u00e4her betrachtet \u00e4ndern sich aber nur die Aufgaben, die ihm im weiteren Verlaufe des Lebens gestellt werden. Dieselben werden gr\u00f6fser, schwieriger und complicirter.\nDie subjective Vernunft nimmt dagegen bei der, durch Vermittelung des Sprechens, Lesens und Schreibens allm\u00e4hlich sich vollziehenden gewaltigen Umwandelung eine ganz andere und neue Gestalt an. War sie w\u00e4hrend der ersten Kinderjahre ausschliefslich nur auf Wahrnehmung der eigenen Sinneseindr\u00fccke beschr\u00e4nkt, so gelangt sie nun in die Lage, indirect auch anderer MenschenSinnesempfindungen nachempfinden und mitempfinden, und ihre empirischen Erfahrungen vernehmen zu k\u00f6nnen. Sie erlangt dadurch die F\u00e4higkeit, gleichsam mit fremden Augen zu sehen, mit fremden Ohren zu h\u00f6ren, mit fremder Empfindung zu f\u00fchlen, ja selbst mit fremden Gedanken und Urtheilen Tauschhandel zu treiben. \u2014 Hatten sich","page":198},{"file":"p0199.txt","language":"de","ocr_de":"Vernunft, Verstand und Wille.\n199\nbis dahin \u2014 mit H\u00fclfe des Verstandes \u2014 in dem Kinde schon einige Begriffe gebildet, die durch sprachliche Ausdr\u00fccke verk\u00f6rpert wurden, und waren aus den Begriffen mitunter auch schon Urtheile entstanden, so dr\u00e4ngt jetzt auf einmal eine ganze F\u00fclle fremder Begriffe und Urtheile fertig geformt in das Kinderhirn hinein. Nicht nur die eigenen, sondern auch die fremden Erfahrungen sollen von nun an aufgenommen und erprobt und erwogen und verarbeitet werden. Dabei baut sich ein Urtheil auf das andere, bis hinauf in die luftigsten H\u00f6hen! Kein Wunder, wenn bei diesem Vorg\u00e4nge der gr\u00f6fste Theil der Arbeit dem Ged\u00e4chtnifs zugeschoben wird, denn die Kr\u00e4fte der Vernunft werden durch diese gewaltige Erweiterung ihrer bisherigen Th\u00e4tigkeit bis ins Unermefsliche \u00fcberb\u00fcrdet! In ihrem vollen Umfange \u00fcbersteigt diese Riesenarbeit die Kraft jedes einzelnen Menschen ; theoretisch genommen \u2014 wenn nicht Raum und Zeit Beschr\u00e4nkung auferlegte \u2014 versetzt sie ihn aber doch in die M\u00f6glichkeit, die ganze Summe alles menschlichen Wissens und Erkennens in sich auf nehmen zu k\u00f6nnen; er m\u00f6chte wohl \u2014 mit Wagner in G\u00f6the\u2019s Faust \u2014 ausrufen:\nIch weifs zwar viel,\nDoch m\u00f6cht\u2019 ich Alles wissen!\nJedermann hat indessen seine eigene individuell begrenzte Vernunft, die solche universelle Ausdehnung in der Wirklichkeit nicht zul\u00e4fst. Dagegen mufs man zugeben, dafs die individuelle Vernunft von nun an nicht mehr in demselben Maafse wie fr\u00fcher auf Individualit\u00e4t Anspruch machen kann; sie geh\u00f6rt zwar immerhin noch demjenigen, in dessen k\u00f6rperlicher H\u00fclle sie wohnt, sie ist aber von nun an ebenso sehr auch an das Dasein der Vernunft aller \u00fcbrigen Menschen gebunden. In diesem Sinne mufs man sagen : es giebt \u00fcberhaupt nur eine allenM enschen gemeinsame Vernunft. Der einzelne Mensch kann an der Vernunft des Menschengeschlechtes nur participiren; er kann als Einzelmensch nicht ganze volle und freie Vernunft sein. Die Vernunft des einzelnen Menschen wohnt bei ihm gleichsam zur Miethe, und hat gegen ihn nur als Mietherin gewisse besondere Verpflichtungen zu erf\u00fcllen. Fester als mit dem einzelnen Menschen h\u00e4ngt sie aber in sich selbst zusammen und giebt dadurch auch ihrerseits zu erkennen, dafs das Vernunftleben der Menschheit ein grofses organisches Ganze bildet, welches durch menschlichen Unverstand zwar verwirrt","page":199},{"file":"p0200.txt","language":"de","ocr_de":"200\nW. von Zehender.\nund zerrissen, aber nicht zerst\u00f6rt werden kann. \u2014 Die Vernunft bildet den geistigen Kitt, der die Menschheit zusammenh\u00e4lt ; ohne den Kitt, der die Menschen zusammenh\u00e4lt, ist die Menschheit nur eine blofse Summe von Individuen, die sich fremd und feindselig einander gegen\u00fcber stehen (bellum omnium contra omnes).\nEs bleibt uns nun noch \u00fcbrig, mit ganz besonderem Nachdruck darauf hinzuweisen, dafs mit dem errungenen Standpunkt voller physischer Selbstst\u00e4ndigkeit noch ein anderes, ganz neues und eigent\u00fcmliches Moment ins Leben tritt. Unsere freigewordene physische Natur verleiht uns nicht nur die Freiheit der Selbstbewegung und der Selbstth\u00e4tigkeit; sie zwing*t uns zugleich, von der neugewonnenen Freiheit Gebrauch zu machen. Wir werden nicht mehr auf den Armen getragen, wir k\u00f6nnen gehen, wohin wir wollen, aber wir m\u00fcssen gehen, wir m\u00f6gen wollen oder nicht, wir k\u00f6nnen und m\u00fcssen uns bewegen, wir k\u00f6nnen und m\u00fcssen irgend etwas mit unserer Bewegungsfreiheit vollbringen, solange wie Leben in unserem K\u00f6rper ist. Leben, und von der erlangten Bewegungsf\u00e4higkeit keinen Gebrauch machen, ist thats\u00e4chlich nicht m\u00f6glich.\nHieran kn\u00fcpft sich die hochwichtige Frage : welchen Gebrauch sollen und wollen wir von der erlangten k\u00f6rperlichen Freiheit unserer Bewegungen machen?\nDie moralische Seite der Antwort \u2014 soweit sie nicht durch die Kr\u00e4fte unserer Intelligenz sich von selbst beantwortet \u2014 lassen wir selbstverst\u00e4ndlich ganz unber\u00fchrt; sie geh\u00f6rt nicht in den Bereich unserer Competenz.1\nBei jeder harmonisch und naturgem\u00e4fs durchgebildeten Pers\u00f6nlichkeit ergiebt sich die Antwort auf diese Frage ganz von selbst: \u201eUnsere Handlungen k\u00f6nnen vern\u00fcnftiger Weise nicht anders als in Uebereinstimmung mit dem jeweiligen Entwickelungsstandpunkte unseres Verstandes und unserer Vernunft vollzogen und ausgef\u00fchrt werden.\u201c Fremder Einfhifs, der diese Uebereinstimmung durchbricht, macht uns zu etwas Anderem als das, was wir wirklich sind. Aber \u2014 Verstand und Vernunft kommen nicht fix und fertig auf die Welt; sie entwickeln sich\n1 In einer \u00fcbrigens sehr wohlwollend gehaltenen Kritik meiner\nSchrift: \u201eDie Welt religion en auf dem Columbia-Congrefs von Chicago\u201c, in der Hannoverschen Deutschen Volkszeitung11, Nr. 7938, hat die Yerkennung des von aller Moral-Theologie v\u00f6llig unabh\u00e4ngigen Charakters meiner Schrift, zn argen Mifsverst\u00e4ndnissen gef\u00fchrt.","page":200},{"file":"p0201.txt","language":"de","ocr_de":"Vernunft, Verstand und Wille.\n201\n(\u00e4hnlich wie der K\u00f6rper) nach und nach langsam aus Finsternifs zum Licht; sie sind mithin \u2014 wie Alles auf Erden \u2014 dem Irrthum unterworfen !\nDer Verstand ist unerbittlich, er kennt keine R\u00fccksichtnahme irgend welcher Art; er ist seiner eigensten Natur nach zwar bescheiden und anspruchslos, er wird aber leicht unliebensw\u00fcrdig und absprechend, wenn er zur Ruhe und zum Schweigen verwiesen wird, da wo er mitzureden ein wohlbegr\u00fcndetes Recht zu haben glaubt. \u2014 Die Vernunft dagegen schaut sich um nach allen Richtungen ; sie streckt ihre F\u00fchlf\u00e4den aus, \u00fcberallhin, wo sie, direct oder indirect, etwas Neues und Wissenswerthes zu vernehmen ist; sie achtet und beachtet Alles, was zu ihrer Kenntnifs kommt ; sie beachtet und ber\u00fccksichtigt insbesondere auch die U r t h e i 1 e anderer Menschen und empfiehlt \u2014 besonders in den Jugendjahren \u2014 wenn sie selbst noch nichts Besseres zu empfehlen weifs, dem Beispiele und der Handlungsweise Anderer nachzufolgen. \u2014 So kommt es, dafs Verstand und Vernunft nicht immer ganz \u00fcbereinstimmender Meinung sind.\nHier tritt nun das Princip der vollen physischen Bewegungsfreiheit \u2014 als Wille \u2014 in seine eigenartige und eminent ein-flufsreiche Stellung mit hinzu. \u2014 Verstand und Vernunft sind Stubengelehrten vergleichbar, die am gr\u00fcnen Tisch sitzen und deliberiren, was zu thun und was zu lassen ; was recht und was unrecht sei. \u2014 Der handelnde Mensch, der, allein gelassen, nur den thierischen Neigungen (dem Distincte) folgt, der aber als vernunftbegabtes Wesen, seinem Verst\u00e4nde und seiner Vernunft folgen will und folgen soll und folgen mufs, verlangt mit Recht eine Antwort auf die Frage: \u201eWas soll ich thun?\u201c \u2014 Er mufs ja handeln, er mag wollen oder nicht; er mufs folglich auch wissen, was er zu thun und was er zu lassen hat; er allein kann die richtige Antwort auf diese Frage nicht finden!\nWie auch die Antwort ausfallen m\u00f6ge \u2014 durch eine wunderbare Umkehrung der gegebenen Verh\u00e4ltnisse wird der handelnde Mensch nun selbst wieder der Lehrmeister seiner eigenen Lehrer ! \u2014 Ebenso wie Physiker und Physiologen durch das Experiment die Richtigkeit ihrer Gedanken pr\u00fcfen, ebenso wird durch den handelnden Menschen die Richtigkeit dessen gepr\u00fcft, was Verstand und Vernunft ihn f\u00fcr richtig","page":201},{"file":"p0202.txt","language":"de","ocr_de":"202\nw. von Zehender.\nhalten l\u00e4fst. Der Wille wird durch seine Handlungen zum wahren Pr\u00fcfstein der Gedanken, er wird als solcher der kr\u00e4ftigste und zuverl\u00e4ssigste F\u00fchrer der ganzen Gedankenwelt, zugleich aber auch der schonungslose Verr\u00e4ther aller Heimlichkeit ! Der Wille ist in viel pr\u00e4gnanterem Sinne als blofse Worte der untr\u00fcgliche Interpret menschlicher Gedanken.\nDer Wille mufs \u2014 vern\u00fcnftigerweise \u2014 sich nach den Gedanken richten ; ebensosehr m\u00fcssen aber auch die G e -danken sich nach dem richten, was durch den Willen hervorgebracht wird; sie m\u00fcssen in aufrichtiger Wahrheitsliebe an den Folgen der Handlungen das wiedererkennen, was urspr\u00fcnglich von ihnen ausgegangen und was durch sie veranlagst worden ist,1 und m\u00fcssen \u2014 soweit n\u00f6thig \u2014 sich reformiren, wenn Gedanke und Handlung nicht \u00fcbereinstimmt.\nDas Gecl\u00e4chtnifs, welches als Schriftf\u00fchrer oder als Archivar der intellectuellen Kr\u00e4fte unseres Geistes zu betrachten ist, bedarf keiner ausf\u00fchrlichen Er\u00f6rterung. Es ist klar, dafs ein absolutes Fehlen des Ged\u00e4chtnisses jede Geistes-th\u00e4tigkeit vollst\u00e4ndig lahm legen w\u00fcrde ; und ebenso klar ist es, dafs, wenn das Ged\u00e4chtnifs alle Geistesarbeit allein \u00fcbernehmen wollte, nur eine geistlose Vielwisserei daraus entstehen kann. In seiner richtigen Stellung als treue und gewissenhafte Dienerin des Verstandes und der Vernunft ist es von unsch\u00e4tzbarem Werth!\nWas vom Ged\u00e4chtnifs gilt, gilt ebensosehr von allen einzelnen Geisteskr\u00e4ften.\nNur bei v\u00f6llig harmonischer Entwickelung aller Geistesund Seelenkr\u00e4fte kann die menschliche Natur wahrhaft gedeihen!\n1 Vgl. meine Schrift: Zehendeb, Die Weltreligionen auf dem Columbia Congrefs von Chicago im September 1893. Art. Glaube. M\u00fcnchen, Selbstverlag, Mcolaistr. 8.\n(.Eingegangen am 24. September 1898.)","page":202}],"identifier":"lit30628","issued":"1899","language":"de","pages":"192-202","startpages":"192","title":"Vernunft, Verstand und Wille","type":"Journal Article","volume":"19"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:14:19.704381+00:00"}