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H. Gross: Criminalpsychologie. Graz, Leuschner & Lubensky, 1898. 721 S.

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{"created":"2022-01-31T12:54:07.840559+00:00","id":"lit30643","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"H\u00f6fler, A.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 19: 284-295","fulltext":[{"file":"p0284.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechung.\nH. Gross. Criminalpsyehologie. Graz, Leuschner & Lubensky, 1898. 721 S.\nDie Verbindung der W\u00f6rter \u201eCriminal\u201c und \u201ePsychologie\u201c weckt heutzutage Vielen als n\u00e4chste Association den Namen Lombroso 1 und Aehn-liches. Leser, welche mit solchen Erwartungen Gross\u2019 Arbeit auf schlagen, werden sehr \u00fcberrascht sein, z. B. Z\u00f6llner\u2019s Figuren zu erblicken (ich erz\u00e4hle hiermit, wie es zuf\u00e4llig mir selbst ergangen ist), also eine denkbar harmloseste und theoretische Sache. Wie kommt solches in eine Criminalpsychologie? Die specielle Antwort lautet: weil der Untersuchungsrichter wissen mufs, welchen Sinnest\u00e4uschungen ein Zeuge etwa unterlegen sein kann. Ganz allgemein aber ist das vorliegende Werk dahin zu charak-terisiren, dafs es, wiewohl \u201eCriminal\u201c-Psychologie, doch eine \u00e4chte und rechte Psychologie ist, \u2014 eine \u201epsychologische Psychologie\u201c, keine physiologische, keine Cranioskopie von Verbrechersch\u00e4deln u. dgl. ; und auch nicht ein Auszug aus einem Strafgesetzbuch oder ein Entwurf oder Beitrag zu einem solchen. \u2014 Nur deshalb darf ich, der ich eben auch nur Psycholog, nicht Anatom und nicht Criminalist bin, eine Anzeige des Buches zu geben versuchen. Ja, es wird sich aus der Inhaltsanzeige ergeben, dafs das \u201ePsychologisch Educative\u201c, wie es der Verf. (S. 16) nennt, ein Hauptmerkmal vorliegender Psychologie ist; so dafs mir eine Berichterstattung sogar im Hinblick auf meinen engeren Beruf nicht allzufern liegt.\nDie Gliederung des ganzen Werkes ist gegeben durch die beiden Titel:\nI. Subjectiv. Die psychische Th\u00e4tigkeit des Richters.\nII. Objectiv. Die psychische Th\u00e4tigkeit des Vernommenen. Weiter gliedert sich I. in A. Auf nehmende Momente(S.8\u2014124), B. Constructive Momente (S. 130\u2014282).\nWas unter beiden Titeln gemeint ist, wird vielleicht am schnellsten\n1 F\u00fcr die Stellung des Buches zu den \u201etrostlosen Lehren der italienischen Positivisten\u201c (S. 558) sind u. A. folgende Stellen bezeichnend: \u201eAls Lombroso und seine Leute die Lehre von den Stigmen des Verbrechers erfanden, deren Bestes auf den Lehren des vielverspotteten und von Niemandem mehr gelesenen Dr. Gall beruht\u201c u. s. w. (S. 104). \u2014 Oder: \u201eDafs die ungegr\u00fcndeten, abenteuerlichen und willk\u00fcrlichen Behauptungen der Lombrosoleute namentlich durch die Bem\u00fchungen deutscher Forscher widerlegt sind, das weifs Jeder, wenn uns auch Lombroso noch auf dem letzten Criminal-Anthropologencongrefs in Genf zugerufen hat: \u201eDie deutschen und \u00f6sterreichischen Gelehrten glauben meine Lehren nicht \u2014 das macht aber nichts, die Neucaledonier glauben sie auch nicht!\u201c Hierzu noch S. 250, 498 u. A.","page":284},{"file":"p0285.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechung.\n285\ndeutlich, wenn wir die Mitte des ersten Hauptabschnittes, S. 132, \u201eBeweis\u201c aufschlagen: \u201e\u201eAls Beweismittel,\"\u201c sagt unser grofser Lehrer Mit teem aiee, \u201e\u201eals Beweismittel im gesetzlichen Sinne mufs jede Quelle von Gr\u00fcnden betrachtet werden, die nach dem Gesetze f\u00fcr den Richter gen\u00fcgen k\u00f6nnen, um daraus die erforderliche Ueberzeugung abzuleiten, nach welcher der Richter die in Bezug auf die Urtheilsf\u00e4llung relevanten Thatsachen als gewifs annehmen darf.\" \u201c\nWir m\u00fcssen uns also mit dem Verf. in die Lage des Richters hineindenken \u2014 von der Voruntersuchung bis zur Urtheilsf\u00e4llung - , der aus dem Wechselverkehr mit dem Beschuldigten und dem Zeugen, aber auch dem Sachverst\u00e4ndigen, den Geschworenen u. s. f. in sich, dem Richter, jene\u201eGewifsheit\u201c soll erwachsen sehen: ein in allen Stadien psychologischer, nat\u00fcrlich h\u00f6chst zusammengesetzter und wechselvoller Vorgang. Es versteht sich, dafs gerade f\u00fcr diese erste \u201esubjective\" Seite, f\u00fcr eine solche im eigentlichsten Sinne praktische Leistung des Richters als Mannes der That, die herk\u00f6mmlichen Schemata und Eintheilungen keiner wie sonst immer beschaffenen theoretischen, systematischen Psychologie ausreichen k\u00f6nnen ; und die Formgebung und Gliederung des einschl\u00e4gigen Stoffes ist denn auch namentlich in diesem ersten Theil eine v\u00f6llig originelle. Die weitere Gliederung von A. Auf nehmende Momente, ist n\u00e4mlich: 1. Methode (a. Allgemeines, b. die naturwissenschaftliche Methode) ; 2. Psychologisch Educatives (a. Allgemeines, b. Aufrichtigkeit der Angaben, c. Richtigkeit der Aussage, d. Voraussetzungen beim Vernehmen, e. Egoismus, f. Geheimnisse, g. das Interesse); 3. Ph\u00e4nomenologisches (a. Allgemein Aeufseres, b. Kennzeichen im Allgemeinen, c. Kennzeichen im Besonderen, d. Somatisches: Allgemeines, Erregungen, Grausamkeit, Heimweh, Reflexbewegungen, Kleidung, Physiognomisch.es und Verwandtes, die Hand).\nIch greife behufs speciellerer Berichterstattung als Proben des Inhalts wie der Darstellung einige S\u00e4tze heraus : S. 16 \u201ePsychologisch Educatives, a. Allgemeines: Von allen Arbeiten, die dem Criminalisten zukommen, sind jene die wichtigsten, weil folgenschwersten, bei welchem es sich um den Verkehr mit Menschen handelt, die auf seine Th\u00e4tigkeit Bezug haben, also mit Zeugen, Beschuldigten, dann mit Sachverst\u00e4ndigen, Geschworenen, mit Collegen, mit Untergebenen, mit Angeh\u00f6rigen anderer Beh\u00f6rden u. s. w. Ueberall h\u00e4ngt es von seiner Geschicklichkeit, seinem Tact, seiner Menschen-kenntnifs, Geduld und richtigem Auftreten ab, ob er was erzielt oder nicht ; wer sich da die M\u00fche nimmt, zu beobachten, wird bald die grofsen Unterschiede herausfinden, die zwischen den Leistungen der Einzelnen bestehen, je nachdem sie die geeigneten Eigenschaften besitzen oder nicht. Dafs dieselben Beschuldigten und Zeugen gegen\u00fcber von Wichtigkeit sind, bezweifelt Niemand, diese Wichtigkeit liegt aber auch noch anderen Personen gegen\u00fcber vor. Man kann t\u00e4glich wahrnehmen, wie verschieden z. B. Untersuchungsrichter mit den Sachverst\u00e4ndigen verkehren : der Eine stellt die Frage, wie es das Gesetz vorschreibt und verlangt das Gutachten, er sagt zwar nicht ausdr\u00fccklich, wie vollkommen gleichg\u00fcltig ihm das Ganze ist, aber die Sachverst\u00e4ndigen haben gen\u00fcgend Gelegenheit, dies wahrzunehmen. Der Andere erz\u00e4hlt den Sachverst\u00e4ndigen den Fall, er\u00f6rtert die einzelnen M\u00f6glichkeiten, er befragt sie, ob und welche Erhebungen sie etwa","page":285},{"file":"p0286.txt","language":"de","ocr_de":"286\nBesprechung.\nw\u00fcnschen, er erkundigt sich vielleicht um die Art und Weise, wie die Sachverst\u00e4ndigen ihre Aufgabe l\u00f6sen werden, er l\u00e4fst sich von ihnen \u00fcber den Fall belehren und zeigt \u00fcberhaupt Interesse f\u00fcr die schwierige und hundertmal zu wTenig gew\u00fcrdigte Th\u00e4tigkeit des Sachverst\u00e4ndigen\u201c u. s. w. Eben dieses Thema ist es auch, welches unter dem Titel \u201eg. das Interesse\u201c (S. 45\u201451) noch n\u00e4her ausgef\u00fchrt wird und das an F\u00e4llen, wo z. B. dieselbe Frage je nach der Fragestellung den Zeugen zur\u00fcckhaltend oder mittheilsam macht u. dgl. m. (S. 49), die allgemeine Lehre erh\u00e4rtet: \u201eDie erste und unerl\u00e4fslichste Bedingung ist die, dafs man selbst Interesse hat und dieses auch zeigt, denn es ist ganz unm\u00f6glich, Jemandem Interesse einzufl\u00f6fsen, wenn man selber keines hat.\u201c\nDer n\u00e4chste Abschnitt (3. Ph\u00e4nomenologisches, S. 51\u2014130) defmirt: \u2022\u201ePh\u00e4nomenologie ist die systematische Zusammenstellung jener \u00e4ufseren Symptome, die von inneren Vorg\u00e4ngen bewirkt werden, also auch umgekehrt auf ihr Vorhandensein schliefsen lassen;\u201c also eine \u201enormalpsychologische Semiotik\u201c. In der That kann z. B. gerade aus diesem Capital die allgemeine Psychologie, welche sonst angesichts der Ueberf\u00fclle hierhergeh\u00f6riger Thatsachen leicht in Allgemeinheiten stecken bleibt, viel vom Criminalisten lernen, dessen Blick, weil es f\u00fcr ihn immer den Ernstfall gilt, gerade f\u00fcr die lebensvollen Einzelheiten ganz vorzugsweise geschult ist. Beispiele S. 53 von den einander widersprechenden Worten und Geb\u00e4rden einer Kindesm\u00f6rderin; S. 58 von den Timbres der Stimme des Beschuldigten, der vorgeblich nicht weifs, um was es sich handelt, der Stimme des Qu\u00e4rulanten u. s. f. ; \u00fcber Err\u00f6then und Erbleichen (Verf. erz\u00e4hlt S. 372 ein Erlebnifs seines Sohnes, wo dieser ein durch Frieren bewirktes Erbleichen willk\u00fcrlich zu hemmen vermochte). Unter \u201e2. Erregungen\u201c, Beobachtungen aufserordentlicher Affect\u00e4ufserungen (S. 83) u. dgl. Unter \u201e7. Physiognomisches und Verwandtes\u201c werden Daewun\u2019s Gesetze bevorzugt und vortreffliche mimische Bilder zu Verachtung, Hohn, Trotz, Spott, Geringsch\u00e4tzung, Wuth, Ueberzeugung von der eigenen Schuld, Resignation u. s. f. gegeben; all dies unter merkw\u00fcrdigen Anwendungen auf die criminalistische Praxis, z. B. S. 112: \u201eWenn wir . . hei einem Vernommenen die genannten Zeichen der Entschlossenheit: Geschlossenen Mund und herabgestreckte Arme sehen, so k\u00f6nnen wir mit voller Sicherheit annehmen, dafs dies einen Wendepunkt in dem bedeutet, was er gesagt hat und was er sagen wTird. Rehmen wir es an einem Beschuldigten wahr, so hat er gewifs beschlossen, vom Leugnen zu einem Gest\u00e4ndnisse zu schreiten oder beim Leugnen endg\u00fcltig zu verbleiben, oder die Mitschuldigen, den Aufbewahrungsort des Entwendeten u. s. w., oder die Herstellungsart oder sonst etwas Wichtiges anzugeben oder zu verschweigen.\u201c Woraus dann hier und \u00e4hnlich \u00fcberall die praktische Anwendung auf die augenblicklich angezeigtesten Maafsregeln dem Angeklagten, Zeugen u. s. f. gegen\u00fcber sich leicht ergiebt.\nIn B. Constructive Momente giebt Verf. mehr als eine Psychologie, n\u00e4mlich eine Art Logik und Erkenntnifstheorie \u2014 nat\u00fcrlich speciell seines Faches; und: \u201eUnser Specialfach ist das Schliefsen aus dem uns vorliegenden und von uns zusammengetragenen Materiale.\u201c Gleichwohl sind es sehr allgemeine Gesichtspunkte und Theorien, welche der Verf.","page":286},{"file":"p0287.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechung.\n28?\nheranzieht, wie die Titel unter B. zeigen: 1. Das Schliefsen (a. Beweis, b. Causalit\u00e4t, c. Skepsis, d. Empirie, e. Analogie, f. Wahrscheinlichkeit, g. Zufall, h. Ueberreden und Erkl\u00e4ren, i. Schlufs und Urtheil, k. Fehlschl\u00fcsse, 1. Moralstatisches). 2. Das Wissen. \u2014Ich m\u00f6chte hier sogleich einen Dissens, nicht in erster Linie psychologischen, sondern erkenntnifs-theoretischen Inhaltes, aussprechen. In der schon oben angef\u00fchrten Definition von Mitteemaier wTird f\u00fcr die richterliche Urtheilsf\u00e4llung Gewifs-heit verlangt. Ich erlaube mir als Kichtjurist, aber Logiker, bezw. Er-kenntnifstheoretiker, die Meinung auszusprechen, dafs jedes Urtheil im juristischen Sinne nur Wahrscheinlichkeit, nicht Gewifsheit im logischen Sinne, beanspruchen k\u00f6nne. Ich weifs sehr wohl, dafs das jedem Juristen sehr anst\u00f6fsig klingen mufs ; wird man ja doch auch ausgelacht, wenn man die S\u00e4tze: Alle Menschen sind sterblich, Alle nicht festgehaltenen K\u00f6rper fallen, f\u00fcr blos wahrscheinlich erkl\u00e4rt. Aber es sind eben Erfahrungss\u00e4tze, und f\u00fcr sie wird es wohl beim KANT\u2019schen Wort von der blos comparativen Allgemeinheit, die durch Induction zu erlangen ist, sein Bewenden haben. Es ist nun aber diese Crux, wrelche f\u00fcr die Stoffwahl und Stellungnahme dieses ganzen erkenntnifstheoretischen Abschnittes (S. 130\u2014235) bestimmend gewesen zu sein scheint; deshalb die Abschnitte \u00fcber Skepsis und der dringende Hinweis auf Hume (\u201e. . das Eine mufs uns klar sein, dafs jeder Criminalist seinem Amte \u00fcbel vorsteht und in allen Fragen des Beweises im Finstern tappt, wenn er Hume\u2019s Lehren nicht studirt hat\u201c)-; daher aber auch einige Schwankungen in den Anforderungen an den endg\u00fcltigen Sicherheitsgrad des richterlichen Urtheils. Man braucht bei Weitem nicht soweit in der Skepsis zu gehen wie Hume und doch nicht nur angesichts blos einer (S. 149), sondern auch noch so vieler Beobachtungen einen Causalnexus specieller Art nur vermuthen, nie f\u00fcr gewifs erkl\u00e4ren; der Rath an die Criminalisten (S. 162), vom 1000. nicht auf den 1001. Fall zu schliefsen, ist hiermit im Einklang. Allgemeiner ist das, wogegen sich mein Bedenken richtet, S. 184 formulirt: \u201eIn allen Disciplinen giebt es Beispiele daf\u00fcr, dafs etwas lange als Wahrscheinlichkeit gilt, bis es zum Beweis erhoben wurde;\u201c und S. 185: \u201eWas wir vermuthen, bringt uns zu einer Annahme, das M\u00f6gliche giebt uns Wahrscheinlichkeit, was gewifs ist, erscheint uns als Beweis.\u201c Meinerseits glaubte ich (in Uebereinstimmung mit Meinong, dessen Hume-Studien auch der Verf. wiederholt citirt) die Begriffspaare wesentlich anders gruppiren zu m\u00fcssen. Z. B. : Gewifs kann etwas sein mit und ohne Beweis (Letzteres ist dann eben das \u201eunmittelbar Gewisse\u201c und kann volle logische Dignit\u00e4t haben, wenn es \u00fcberdies \u201eunmittelbar evident gewifs\u201c ist); umgekehrt giebt es Beweise auch f\u00fcr Wahrscheinlichkeit \u2014 die \u201eWahrscheinlichkeitsbeweise\u201c, ebenso wie es \u201eWahrscheinlichkeitsschl\u00fcsse\u201c giebt. Ich erlaube mir, statt n\u00e4herer Begr\u00fcndung auf meine Logik zu verweisen (namentlich \u00a7 54 \u00fcber die Evi-denzclassen u. s. w.) ; wobei ich nat\u00fcrlich nicht verkenne, dafs ein Theil des Dissenses nur terminologischer Art ist. \u2014 Speciell zum ebenfalls hier einschl\u00e4gigen Begriff des \u201eZufalles\u201c erlaube ich mir die Bemerkung, dafs von den leider nur zu zahlreichen Definitionen, welche hier (S. 201) zusammengestellt sind, auch mich ebenso wie den Verf. \u201ekeine voll befriedigt\u201c. Vielleicht ist es nicht unbescheiden, wenn ich ebenfalls auf die in meiner","page":287},{"file":"p0288.txt","language":"de","ocr_de":"288\nBesprechung.\nLogik (\u00a7 76) gegebene Analyse dieses Begriffes hinweise, wo der vermeintliche Widerspruch des Begriffes gegen das Causalgesetz durch Hinweis auf eine besondere Relativit\u00e4t des Begriffes (\u201ezuf\u00e4llig\u201c in Bezug auf eine, \u00fcbrigens sich als wahrscheinlich aufdr\u00e4ngende Causalreihe) sehr einfach gel\u00f6st ist.\nDer zweite Haupttheil des Buches, betitelt: \u201eII. Objectiv. Die psychische Th\u00e4tigkeit des Ver nom menen\u201c, konnte sich viel mehr als der erste die festen Kategorien der herk\u00f6mmlichen Psychologie zur Vorlage nehmen. Er bringt unter \u201eA. Gemeinsame Momente\u201c eine Art Abrifs der Psychologie des normalen Menschen \u00fcberhaupt (nat\u00fcrlich ebenfalls \u00fcberall unter Zuspitzung auf criminalistische Anwendungen), unter \u201eB. Unterscheidende Momente\u201c (S. 399\u2014688, Schlufs) eine h\u00f6chst reichhaltige, werthvolle Individualpsychologie, in welcher z. B. allein dem Capitel: \u201eDie Frau\u201c beinahe 100 Seiten gewidmet sind.\nIn dem \u201eersten Abschnitt: Sinneswahrnehmungen\u201c wird \u00fcberall schon R\u00fccksicht genommen auf das die Empfindung fast immer begleitende und eben darum von dem Nichtpsychologen fast immer unbeachtete Moment der \u201eAuffassung\u201c; und von \u201eWahrnehmung und Auffassung\u201c handelt dann auch das zweite Capitel 288\u2014304. F\u00fcr den Criminalisten ist es nat\u00fcrlich von besonderer Wichtigkeit, gerade in diesem Punkte kein Nichtpsychologe zu sein. Der Verf. bringt zahlreiche neue Beispiele zu diesem fruchtbaren Gebiet, z. B. (S. 249) die Erz\u00e4hlung von dem General, der sagte: \u201eIch hatte das Alles gesehen, aber wahrgenommen und gewufst, dafs ich es gesehen, habe ich es erst nach dem Schrei des Kindes, also sp\u00e4ter.\u201c Auch ich glaube, dafs gerade diese Formulirung eine sehr zutreffende war (auch die einige Zeilen sp\u00e4ter folgende Darstellung mittels des heiklen Wortes \u201ebewufst\u201c ist correct, wenn man dieses Wort unter den in meiner Psychologie angegebenen Cautelen anwendet). Eben deshalb glaube ich aber, dafs eine Seite fr\u00fcher (S. 248) der Satz: \u201eWie man gewohnte Ger\u00e4usche \u00fcberhaupt nicht h\u00f6rt\u201c, nicht v\u00f6llig exact formulirt ist: man h\u00f6rt sie, thut aber unter den angegebenen Umst\u00e4nden eben nichts als H\u00f6ren, d. h. man hat die Empfindung, kn\u00fcpft aber keine Auf fas sung an sie. Auch m\u00f6chte ich die Interpretation, es sei \u201edie Wahrnehmung retrospectiv aufgehellt\u201c (S. 248) wmrden, nicht w\u00f6rtlich gelten lassen: es d\u00fcrfte vielmehr nur das bei anderweitig in Anspruch genommener Aufmerksamkeit dem baldigsten Vergessen anheimfallende Erinnerungsnachbild (Fechner) der \u201eAufhellung\u201c theilhaftig geworden sein. Die ganze hier (S. 248) mitgetheilte Beobachtung ist eine jedenfalls sehr interessante. \u2014\u25a0 \u201e . . Wie \u00fcberraschend wenig die Leute wahrnehmen\u201c zeigt (S. 297) der Verf. durch ein frappiren-des \u201eLieblingsexperiment\u201c (mit dem Glas Wasser).\nIn \u201e3. Vorstellungen\u201c ber\u00fchrt der Verf. das erkenntnifstheoretische Problem, ob und inwieweit die Vorstellungen dem Vorgestellten sozusagen nahe kommen k\u00f6nnen. Als Praktiker hat er gewifs Recht, sich so zu begn\u00fcgen: \u201eSoweit wir uns mit der Sache befassen, interessiren wir uns f\u00fcr die Verl\u00e4fslichkeit der Vorstellung, f\u00fcr die Identificirung mit dem, was wir als existent und geschehen annehmen\u201c (S. 305). Eben deshalb h\u00e4tte ich auf die mehr als k\u00fchne These nach Tiljvian Pesch: \u201eDas, was in der Vorstellung vorgestellt wird . . ist das transcendente Aufsending . . . Wir","page":288},{"file":"p0289.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechung.\n289\nnehmen die Dinge so wahr, wie sie sind, und dasjenige, was wir wahrnehmen, ist aufser uns objectiv wirklich\u201c um so lieber verzichtet, als sie gewifs falsch ist. \u2014 Um so anregender auch f\u00fcr den Erkenntnifstheoretiker sind die Erw\u00e4gungen des Yerf. dar\u00fcber, wie gut wir auskommen mit einer \u201eVorstellung, die bis auf ganz Weniges vollkommen falsch ist\u201c (S. 307, \u2014 erl\u00e4utert an Vorstellungen, die der Verf. von seinem eigenen Hund und den Hunden Bismarcks und Alcibiades\u2019 hat). \u2014 Es folgen \u201e4. Denkvorg\u00e4nge, 5. Ideenassociationen, 6. Erinnern und Ged\u00e4chtnifs, 7. Der Wille, 8. Das Gef\u00fchl, 9. Die Art der Wiedergabe\u201c; namentlich in diesem letzteren Capitel reiche und originelle Mittheilungen \u00fcber Sprache, Sprechenden und Vernehmenden. Ueberraschend ist es, dafs gegen\u00fcber den \u00fcberaus reichhaltigen Abschnitten \u00fcber Erinnern u. s. f. der Abschnitt \u201eWille\u201c nur vier Seiten umfafst, wiewohl doch auf diesem Gebiet das Problem der Verantwortung und Zurechnung liegt; hier\u00fcber unten noch einige Bemerkungen.\nB. Unterscheidende Momente bringt wie gesagt eine \u00fcberaus reichhaltige Individualpsychologie, wie sie so anregend und fruchtbar vielleicht \u00fcberhaupt nur ein im eigentlichsten Sinne praktischer Psychologe geben kann. Dabei aber hat der Verf., was er z. B. \u00fcber den \u201eUnterschied von Mann und Frau\u201c f\u00fcr Criminalbeurtheilung braucht, auf so breite Basis gestellt und dies \u2014 angesichts des von vornherein so gar nicht pedantischen Themas mit vollstem Recht \u2014 neben wissenschaftlicher auch in aufserwissenschaftlicher Literatur gefunden, dafs sich der lange Abschnitt ebenso am\u00fcsant liest wie etwa Schopenhatjee\u2019s ber\u00fchmtes St\u00fcck \u201eUeber die Weiber\u201c. Diese Aehnlichkeit erstreckt sich \u00fcbrigens nicht auf das Ge-sammtergebnifs, welches vielmehr lautet (S. 490) : \u201eFassen wir Alles zusammen, was wir \u00fcber die Frau wissen, so k\u00f6nnen wir kurz sagen: Die Frau ist nicht besser und nicht schlechter, nicht mehr und nicht weniger werth als der Mann, sie ist nur anders als er, und so wie Alles in der Natur f\u00fcr seinen Zweck richtig geschaffen ist, so ist es auch mit der Frau. Ihr Daseinszweck ist ein anderer, und deswegen ist sie auch anders als er.\u201c Detailproben f\u00fcr den mitgetheilten Gesammteindruck mufs ich mir leider versagen.\nIn \u201eb. Die Kinder\u201c sagt der Verf. Eingangs: \u201eEs w\u00e4re . . ganz unrichtig, wenn man den Unterschied lediglich in der geringeren Entwickelung und Erfahrung, in den wenigen Kenntnissen, im engeren Blick suchen wollte, damit ist nur ein kleiner Theil der Unterschiede erkl\u00e4rt; das Schwergewicht liegt darin, dafs das Kind durch die verschiedene Entwickelung seiner Organe, das verschiedene Verh\u00e4ltnifs, in dem diese zu einander stehen, die verschiedene Art der Functionen in der That zu einem anderen Wesen wird, als der Erwachsene.\u201c Was der Verf. aber dann (S. 491\u2014502) an Z\u00fcgen zur Charakteristik des Kindes als solchen beibringt (z. B. Unverdorbenheit, aufrichtig, ehrlich, gutes Beobachten, interesselos u. s. f.) ist nat\u00fcrlich auch hier nicht physiologischer, sondern psychologischer Art und als solches z. B. auch dem P\u00e4dagogen vielfach werthvoll. \u2014 Es folgen \u201ec. Das Greisenalter\u201c und dann unter \u201ed. Verschiedene Auffassung\u201c Eigenheiten der Beobachtung, mitgebrachte \u201eAnsichten, Stimmung, Situation\u201c; hier auch einige theoretisch interessante Beispiele (und Rathschl\u00e4ge) f\u00fcr\n19\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XIX.","page":289},{"file":"p0290.txt","language":"de","ocr_de":"290\nBesprechung.\nZeitsch\u00e4tzung. \u2014 e. Natur und Cultur (1. Wirkung der Cultur ; 2. Anschauungen Ungebildeter; 3. Einseitige Bildung; 4. Hang; 5. Sonstige Unterschiede; 6. Verstand und Dummheit) ber\u00fchrt die heikle Frage des Segens oder Unsegens der \u201eBildung\u201c f\u00fcr die sittliche Haltung; es klingt pessimistischer als es wohl gemeint ist, wenn der Verf. sagt (S. 5221: \u201eGerade wir, die wir Gelegenheit hatten, Beobachtungen vom criminalistischen Standpunkte w\u00e4hrend der Zeit des Aufschwunges des Volksunterrichtes zu machen, wissen nichts G\u00fcnstiges davon zu berichten.\u201c Aber (S. 524): \u201eNiemandem wird es beifallen, Verwilderung und Erziehungslosigkeit des Volkes zu w\u00fcnschen, und wenn wir den Werth der Verstandesbildung sehr gering veranschlagen, so bleibt uns noch die sittliche Erziehung und wie unendlich hoch diese einzusch\u00e4tzen ist\u201c u. s. w. Vortrefflich sind die mitgetheilten Z\u00fcge von Bildung und Halbbildung, namentlich einseitiger Bildung und ihrer Wirkung f\u00fcr die Haltung z. B. solcher Zeugen vor Gericht. Ich stelle dem Beispiel von den angeketteten Rettungsk\u00e4hnen (S. 529, \u201edas kann nur ein Ungebildeter thun\u201c) das in diesen Tagen von mir wdeder einmal drastisch erlebte Beispiel der Wegmarkirung an die Seite, welche in den geradesten Alleen sich an jedem dritten Baum fand, an den Kreuzwegen aber regelm\u00e4fsig fehlte.\nEs schliefsen sich an: 2. Besondere Einfl\u00fcsse (a. Gewohnheit, b. Vererbung, c. Voreingenommenheit, d. Nachahmungstrieb und Masse, e. Leidenschaft und Affect, f. Ehre, g. Aberglauben). 3. Unrichtigkeiten, a. Sinnest\u00e4uschungen: 1. Allgemeines, 2. Gesichtst\u00e4uschungen, 3. Geh\u00f6rst\u00e4uschungen, 4. T\u00e4uschungen des Tastsinnes, 5. T\u00e4uschungen des Geschmacksinnes, 6. T\u00e4uschungen des Geruchsinnes ; b. Hallucinationen und Illusionen ; c. Phantasievorstellungen; d. Mifsverst\u00e4ndnisse: 1. Sprachliche Mifsverst\u00e4ndnisse, 2. Sonstige Mifsverst\u00e4ndnisse ; e. Das L\u00fcgen : 1. Im Allgemeinen, 2. Das pathoforme L\u00fcgen. 4. Besondere Zust\u00e4nde a. Schlaf und Traum; b. Rausch; c. Suggestion. \u2014 Hier z. B. in dem soviel durcharbeiteten Abschnitt \u00fcber Sinnest\u00e4uschungen noch immer manches neue und interessante Material; z. B. S. 605 die gruselige Geschichte von der aufgethauten Leiche, welche der Verf. w\u00e4hrend der Section sich noch immer bewegen sah. Das Eingangs erw\u00e4hnte Befremden, von Gesichtst\u00e4uschungen in einer Criminalpsychologie zu lesen, schwindet sofort angesichts Stellen wie folgende (S. 592): \u201eSolche Betrachtungen, sagen wir z. B. durch ein Schl\u00fcsselloch, spielen in Straff\u00e4llen nicht selten eine Rolle. Man versuche einmal, durch ein Schl\u00fcsselloch zu sehen und die erblickten, bekannten, oder noch besser unbekannten Gegenst\u00e4nde nach ihrer Gr\u00f6fse abzusch\u00e4tzen ; um wie viel zu gering die Angaben ausfallen, ist erstaunlich.\u201c F\u00fcr die T\u00e4uschungen des Tastsinns geben die Empfindungen bei Verwundungen (S. 622) eigenth\u00fcmliches Material; nicht ganz verstanden habe ich hier den Satz: \u201eDa diese Arbeit (eines vom Verf. hierzu angeregten Gerichtsarztes) nur psychologischen Werth haben soll, so ist es ganz gleichg\u00fcltig, ob der Verletzte die Wahrheit sagt oder nicht.\u201c \u2014\nEs ist mir leider nicht m\u00f6glich, auch nur in inhaltlicher, geschweige in formeller Beziehung durch Wiedergabe weiterer Einzelheiten ein halbwegs anschauliches Bild von Eigenart und Werth des Buches zu geben. Daher nur noch einige etwas allgemeinere Bemerkungen.","page":290},{"file":"p0291.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechung.\n291\nBefremdet hat es mich, dafs das Buch nirgends sozusagen ex offo von Zurechnung und Verantwortung bezw. Zurechnungsf\u00e4higkeit und Verantwortlichkeit handelt. Nicht einmal in dem so reichhaltigen Sachregister sind diese vier Termini angef\u00fchrt. Vielleicht erkl\u00e4rt sich der Verzicht des Verf. daraus, dafs, sobald Zweifel \u00fcber die Zurechnungsf\u00e4higkeit entstehen, ohnedies der \u00e4rztliche Sachverst\u00e4ndige befragt werden mufs ; doch w\u00fcrde diese Begr\u00fcndung schwerlich der gesammten Intention des ganzen Buches entsprechen, da es ja eben in psychologischen Dingen \u2014 und zu diesen geh\u00f6ren doch die Komponenten des Begriffes \u201eZurechnung\u201c \u2014 den Richter selbst mit zum \u201eSachverst\u00e4ndigen\u201c machen will. \u2014 Vielleicht auch begr\u00fcndet der Verf. seinen scheinbaren Verzicht damit, dafs eben das ganze Buch allenthalben Beitr\u00e4ge zum Zurechnungsproblem enthalte. Und in der That sind die Stellen, welche sich mit jenem Begriff ber\u00fchren, sehr zahlreiche; ich notire folgende: S. 97 \u201eReflexbewegungen\u201c. Der Verf. f\u00fchrt eine Er\u00f6rterung Lotze\u2019s \u00fcber diese an, in der es unter Anderem heifst, dafs bei ihnen die That erfolgt \u201eohne von irgend einem eigentlichen Entschlufs des Handelnden auszugehen oder begleitet zu sein. Die Verh\u00f6re von Verbrechern sind voll von Aussagen, die auf diese Entstehungsgeschichte ihre Handlungen deuten\u201c . . und von denen man \u201eeine Verwirrung der Begriffe \u00fcber Zurechnung und Strafbarkeit bef\u00fcrchtet; allein die Anerkennung jener psychologischen Thatsache \u00e4ndert die sittliche Beurtheilung nur wenig . .\u201c Der Verf. scheint letzterer Ansicht Lotze\u2019s, wie ich glaube mit Recht, nicht zuzustimmen, indem er Beispiele daf\u00fcr anf\u00fchrt, \u201ewie solche Reflexbewegungen criminalistische Bedeutung erhalten k\u00f6nnen\u201c. Dem einen der zwei selbsterlebten F\u00e4lle f\u00fcgt er bei : \u201eH\u00e4tte ich damals den gr\u00f6fsten Schaden angerichtet, ich w\u00e4re daf\u00fcr nie verantwortlich zu machen gewesen.\u201c \u2014 Hierzu S. 660 das Erlebnifs des Berliner Irrenarztes: \u201eK\u00f6nnte man da nicht auch einmal auf dem reflec-torischen Wege zum Einbrecher werden?\u201c Allgemeiner S. 101:\t. Liegt\n\u00fcberhaupt Gehirnth\u00e4tigkeit vor, so tritt auch die Frage der Verantwortlichkeit in den Kreis der Betrachtungen, und wir m\u00fcssen sagen, dafs immer dann, wenn eine Reflexbewegung als das Motum bei einer That angenommen werden kann, die Frage der Zurechnung nach einem Mehr oder Mipder in besondere Berechnung gezogen werden mufs. Zu bemerken w\u00e4re noch, dafs die Frage, ob eine Reflexbewegung vorliegt, sozusagen \u201evon Amts wegen\u201c zu er\u00f6rtern ist, denn es wird nur sehr selten Vorkommen, dafs Einer sagt: \u201edas war reine Reflexbewegung\u201c \u2014 er sagt vielleicht: \u201eich weifs nicht, wie das kam\u201c oder \u201eich konnte nicht anders\u201c oder er leugnet vielleicht das ganze Geschehnifs ab, weil es ihm ja thats\u00e4chlich nicht zum Bewufstsein gekommen ist. Dafs hier sehr schwierige Fagen, sowohl in der Richtung auf den Beweis, als in der Richtung auf Beurtheilung der Schuld zur L\u00f6sung kommen, ist freilich zweifellos \u2014 ob wir dann von mangelhafter Einrichtung der Hemmungscentren oder von b\u00f6sem Willen sprechen, ist ganz gleichg\u00fcltig.\u201c \u2014 Ebenfalls in das Problem der Zurechnung einschl\u00e4gig w\u00e4ren weiteres die Stellen S. 96: \u201eMan denke an Heimweh in allen F\u00e4llen, wo kein rechtes Motiv f\u00fcr eine Gewaltthat zu finden ist.\u201c \u2014 S. 154 \u00fcber die F\u00e4lle, wo \u201ekein Plan vorlag\u201c \u2014 wo \u201eZufall,\n19*","page":291},{"file":"p0292.txt","language":"de","ocr_de":"292\nBesprechung.\nLaune und pl\u00f6tzlicher Antrieb das Ganze geleitet hat\u201c \u2014 wo der Th\u00e4ter sich planlos forttreiben liefe\u201c. \u2014 S. 323 ff. \u00fcber Unbewufstes speciell \u201edie Wichtigkeit, welche unbewufste Handlungen f\u00fcr uns haben\u201c. S. 472, wo getadelt wird, dafs, wenn die Frau aus Liebe Helferin des Mannes bei Verbrechen wird, \u201ewir dies damit abthun, dafs wir urtheilen ,, \u201eMitschuld an Verbrechen des . . . .\u00ab\u00ab \u2014 dafs die Frau aber ihrer Natur nach nicht anders konnte, daf\u00fcr haben wir keine Gesetzesstelle\u201c. S. 480 \u00fcber Affect-verbrechen und daf\u00fcr, dafs Jemand ,,glaubte, das Verbrechen begehen zu m\u00fcssen . S. 483 \u201eDie Lehre von der verminderten Zurechnungsf\u00e4higkeit will man nirgends mehr recht gelten lassen, nur beim Kindesmord l\u00e4fst man sie durch ein Hinterpf\u00f6rtchen wieder hereinschl\u00fcpfen\u201c. S. 487 (nach Corvin): die Frauen beten alle Tage: \u201eF\u00fchre mich nicht in Versuchung\u201c, und setzen im Gedanken hinzu : \u201edenn sieh\u2019, lieber Gott, wenn du es thust, dann kann ich nichts daf\u00fcr\u201c. \u2014 S. 501 \u00fcber gerichtliche Strafbarkeit von Kindern (ich m\u00f6chte hier bemerken, dafs der kleine Betr\u00fcger zwar nicht wissen mag, \u201edafs er gerichtlich strafbar wurde\u201c; aber dafs er nicht mehr blos gelogen, sondern schon betrogen habe, d\u00fcrfte er meist recht gut wissen). \u2014 S. 504 \u00fcber Verbrechen des Greisenalters aus seiner an Schlaftrunkenheit grenzenden Langsamkeit und Einseitigkeit im Denken. \u2014 S. 514: \u201eWir h\u00f6ren \u00f6fter von Verbrechern, dafs sie der gefafste Plan gereut habe, \u201e\u201enun war er einmal beschlossen und wurde ausgef\u00fchrt\u201c\u201c. S. 523 ; \u201eDas \u00f6sterreichische Recht kennt den \u201e\u201emildernden Umstand\u201c\u201c der \u201e\u201evernachl\u00e4ssigten Erziehung \u2018 \u201c. S. 536: Die theoretische Begriffsbestimmung des Charakters (nach Drobisch) ; mit der hier angeschlossenen Bemerkung : \u201eAuf dem \u201ethats\u00e4chlich\u201c liegt der Ton, das Thats\u00e4chliche l\u00e4fst sich feststellen und diese Feststellungen sind verwerthbar\u201c steht im inneren Zusammenhang der Schlufssatz des Capitels von S. 551 : \u201eSo kommt man zum seltsamen Schlufs, dafs wir Criminalisten auch hier, wie in anderen F\u00e4llen, den Menschen nicht als das nehmen d\u00fcrfen, was er \u00fcberhaupt ist, sondern als das, was er im besonderen Falle ist. Der schlechteste Mensch kann etwas absolut Gutes gethan haben, der gr\u00f6fste L\u00fcgner kann heute die Wahrheit reden, und der Thor kann heute weise handeln, der Mensch als solcher ber\u00fchrt uns nicht, wichtig ist uns die angenblickliche Kundgebung desselben. Sein \u00fcbriges Wesen ist uns nur Beurtheilungsmaterial \u201c (Sollte nicht gerade bei diesen S\u00e4tzen das Problem des Verh\u00e4ltnisses speciell der strafrechtlichen zur allgemeineren, sittlichen Zurechnung einzusetzen haben ? Denn die sittliche Zurechnung glaubt gerade \u201eden Menschen als das nehmen zu m\u00fcssen, \u201ewas er \u00fcberhaupt ist\u201c. Ich sehe mich freilich gerade im Augenblick durch die Polemik zwischen Liszt 1 und mir nur zu eindringlich dar\u00fcber belehrt, dafs Criminalisten und Ethiker noch viel guten Willen brauchen werden, sich auch nur \u00fcber einen gemeinsamen Ausgangspunkt, von dem aus ihre Wege dann immerhin auseinandergehen m\u00f6gen, zu einigen.) Weiteres: S. 567 Handlungen, wo Imitation den gr\u00f6fsten Theil des Antriebs ausgemacht hat; S. 568, wo das \u201eThun in der grofsen Masse\u201c\n1 Liszt betont in seiner Erwiderung auf meine \u201eSieben Thesen etc.\u201c (Ztschr. f. d. gesammte Strafrechtswissenschaft, 18. Bd., 1898, 2. u. 3. Heft) hinsichtlich der von mir als zum Wesen des Zurechnungsvorganges gef or-","page":292},{"file":"p0293.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechung.\n293\nbeim Einzelnen \u201enicht blos ganz sinnlos, sondern objectiv genommen auch verbrecherisch\u201c ist; S. 569 \u201eim besonderen Falle festzustellen, wie viel Verschulden den Anthropos und wie viel den Makroanthropos trifft, das wird unsere wichtige Aufgabe sein\u201c. S. 575 \u00fcber Leidenschaften und Affecte als Quelle von Verbrechen; S. 577: \u201eWir alle kennen zahlreiche Beispiele, wo bis dahin ganz anst\u00e4ndige Menschen nur durch den Anblick einer grofsen Summe Geldes zu schweren Verbrechen verleitet wurden.\u201c (Nebenbei bemerkt: Liefse sich hier wirklich beweisen, dafs \u201eganz anst\u00e4ndigen Menschen\u201c, d. h. solchen, die nicht auch schon fr\u00fcher den \u201ehundert Dukaten Schopenhauer\u2019s\u201c zug\u00e4nglich waren, solche Verblendung passirt sei, so w\u00e4ren es doch wohl Beispiele zu dem vielmifsbrauchten \u201eunwiderstehlichen Zwang\u201c und dann w\u00e4re ja wohl auch die Zurechnung wenigstens \u201evermindert\u201c.) \u2014 Ich will nat\u00fcrlich meinerseits keineswegs behauptet haben, dafs in den hier zusammengestellten problematischen F\u00e4llen wirklich \u00fcberall verminderte oder gar keine Zurechnungsf\u00e4higkeit vorliege. Ich wollte eben nur darauf hingewdesen haben, dafs der Verf. es an Materialien zum Zurechnungsproblem keineswegs hat fehlen lassen. Vielleicht errathen wir gar seine Intention am genauesten, wenn wir vermuthen, er sei auf eine zusammenh\u00e4ngende Er\u00f6rterung des Problems gerade deshalb nicht eingegangen, weil ein solches Capitel innerhalb einer Criminalpsycho-logie allzuleicht sich zu einer Monographie ausw\u00fcchse, wie die Criminal-psychologie selbst, die ja der Verf. laut Vorwort \u201enoch immer lediglich als ein Capitel der Criminalistik aufgefafst wissen will\u201c, sich doch zu einem stattlichen Band neben seinem \u201eHandbuch f\u00fcr Untersuchungsrichter\u201c ausgewachsen hat. Jedenfalls w\u00e4re gerade der Verf. der richtige Sachverst\u00e4ndige f\u00fcr die psychologische Seite der Zurechnungsprobleme, dessen H\u00fclfe sich der Psychiater gern und dankbar gefallen liefse. \u2014 Verf. sagt ja einmal (S. 582, gelegentlich der Sinnest\u00e4uschungen): \u201e. . Nur fl\u00fcchtig h\u00e4tten wir uns da auf den Grenzgebieten aufzuhalten, wo die krankhafte Natur der Sache nicht deutlich ausgesprochen ist. Hier haben wir uns so viel Klarheit zu verschaffen, dafs wir \u00fcberhaupt nur erkennen, dafs der Arzt zu fragen ist.\u201c Ungleich weiter- und tiefergehend als bei den Sinnest\u00e4uschungen scheinen mir solche Competenzschwierigkeiten und n\u00f6thigen-falls die Stellung des Richters \u00fcber dem Arzte in allen F\u00e4llen, wo auch nur von Ferne die strafrechtliche Zurechnungsf\u00e4higkeit fraglich zu werden droht. \u2014\nderten R\u00fccksicht auf \u201edie bleibende Eigenart, den Charakter, die Willensrichtung des Th\u00e4ters\u201c, \u201edafs diese Auffassung der Zurechnung die Grundlage meiner (Liszt\u2019s) ganzen Criminalpolitik bildet; dafs ich von ihr ausgehend zu der Unterscheidung der acuten und der chronischen Criminalit\u00e4t gelangt bin\u201c etc. \u2014 W\u00e4re das nicht eine den oben angef\u00fchrten F\u00e4llen von Gross genau gegentheilige Auffassung? Aber freilich \u2014 es ist trotz der Versicherung Liszt\u2019s nicht ausgemacht, dafs er heute noch an jener Auffassung der Zurechnung im allgemeinsten (nicht speciell strafrechtlichen) Sinne festzuhalten verm\u00f6ge; wie ich dies in dem gleichzeitig erscheinenden Artikel \u201eLeugnet Liszt allgemein Zurechnung und Zurechnungsf\u00e4higkeit?\u201c (Gross\u2019 Archiv, I. Bd., 1. Heft) zu zeigen versuche.","page":293},{"file":"p0294.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechung.\n294\ni; Das Endurtheil \u00fcber das ganze Buch wird sich nach der Frage richten : Wem und was wird es n\u00fctzen? Denn aus der Praxis ist es hervorge-gangen und ihr will es dienen. Unterscheiden wir aber auch hier wieder speciell die criminalistischen Leser vom allgemeinen Psychologen. Erstere, welche sich der Verf. als seine n\u00e4chsten Leser denkt, sucht er hierf\u00fcr wahrlich nicht durch Complimente zu gewinnen. Durch das ganze Buch ziehen sich Kraftstellen wie die auf S. 47, wo Verf. \u201ejenes sachliche Interesse\u201c schildert, \u201edas der unvergleichlich gr\u00f6fste Theil der Juristen f\u00fcr sein Fach nicht hat. Und dies beruht aber wieder auf einer f\u00fcr uns traurigen Thatsache; der Mediciner studirte Medicin, weil er Mediciner werden wollte, der Chemiker studirte Chemie, weil er Chemiker werden wollte, der Physiker studirte Physik, weil er Physiker werden wollte u.s. w. \u2014 nur der Jurist studirte Jus, nicht weil er Jurist, sondern weil er Beamter werden wollte, und da er keine ausgesprochenen Interessen hatte, so w\u00e4hlte er als Beamter wieder jenen Zweig, wo er am besten Aussicht zu haben glaubte. Das ist bittere Wahrheit und die allgemeine Regel.\u201c OderS. 234: \u201eLeider sind gerade wir Juristen aus unseren Strafgesetzen unsinnige Definitionen gewohnt . .\u201c Oder die lustige Stelle (S. 297) : \u201eIch finde das a.n Zeugen h\u00e4ufig ge\u00fcbte Herumpressen geradezu l\u00e4cherlich, das Schl\u00fcsseziehen aus dem Erprefsten aber oft gewissenlos. Einleitungen wie: \u201eAber Sie werden doch wissen \u2014\u201c, \u201eErinnern Sie sich doch nur an das Eine \u2014 \u201eSie werden doch nicht so stumpfsinnig sein, dafs Sie nicht bemerkten, ob\u2014\u201c, \u201eAber, liebe Frau, Sie haben doch Augen \u2014\u201c und wie diese Liebensw\u00fcrdigkeiten sonst noch heifsen m\u00f6gen, erreichen schliefslich meistens eine Antwort \u2014 aber was ist sie werth?\u201c Dafs der Verf. sein Buch nicht nur geschrieben, sondern auch ver\u00f6ffentlicht hat trotz dieser schlimmen Ansicht von der Gegenwart, ist ein Zeichen von starken Hoffnungen auf die Zukunft hinsichtlich der Bildung der engeren Fachgenossen des Verf. in den \u201eRealien\u201c ihres Faches. An Ermuthigung hierzu fehlt es dem Verf. nicht, wie die dritte Auflage seines \u201eHandbuches f\u00fcr Untersuchungsrichter\u201c beweist. Auch jeder Nicht jurist hat allen Grund, solange alle \u00f6ffentlichen Dinge unter der Oberhoheit der Juristen stehen, diesen diejenige Vertiefung ihrer Bildung zu w\u00fcnschen, welche der Verf. durch sein Buch anstrebt; fast m\u00f6chten wir es als gl\u00fcckliche F\u00fcgung und als Trost begr\u00fcfsen, dafs es in demselben Jahr erschien, in welchem das Publikum durch den \u201eBiberpelz\u201c und die \u201eB\u00fcrgermeisterwahl\u201c so indiskret erschreckt worden ist.\nDann aber der Nutzen des Buches f\u00fcr den allgemein-theoretischen Psychologen: Ich habe in der Vorrede zu meiner Psychologie einbekannt, wie peinlich ich es empfinde, dafs unsere abstracte Wissenschaft den con-creten Thatsachen des Alltages gegen\u00fcber sich so schwerf\u00e4llig, so wenig schmiegsam, so unf\u00e4hig erweist, diesen Thatsachen gerade dorthin zu folgen, wo sie anfangen, interessant, mannigfaltig, lebensvoll zu werden ; kurz, den Gegensatz von wissenschaftlicher und k\u00fcnstlerischer Psychologie. Das vorliegende Buch, als einem concreten Erscheinungsgebiete von vornherein zugewandt, hatte es da unvergleichlich leichter als eine allgemeine systematische Psychologie; und es hat dieses Beneficium voll ausgenutzt. Von einem Hauptvorzug des Buches, der zugleich flotten und behaglichen Darstellung, hat sich in dieser Anzeige kein Bild geben lassen. In hunderten","page":294},{"file":"p0295.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechung.\n295\nvon interessanten, zum Theil am\u00fcsanten Geschichten aus dem Leben f\u00fchrt uns der Verf. seine criminalistische und beinahe h\u00e4ufiger noch aufser-criminalistische Casuistik vor, indem ihn das Leben selbst mindestens ebenso wirksam zum Psychologen gemacht hat, wie fieifsiges und vielseitiges Studium der vorhandenen Literatur. Geradezu imposant ist der Umfang dieser allgemein psychologischen und der criminalpsychologischen Literatur, welche den einzelnen Capiteln beigegeben ist. Ich bin sonst nicht eben ein Freund derartig geh\u00e4ufter Literaturnachweise, sofern sie nicht geradezu den Charakter wenigstens relativ vollst\u00e4ndiger Literaturverzeichnisse f\u00fcr eine bestimmte Zeitperiode haben ; denn w as k\u00f6nnen dem einfachen Leser Hunderte von B\u00fcchertiteln Anderes einbringen, als einen embarras cle richesse? Hier aoer steht die Sache andeis. Zun\u00e4chst der praktische Criminalist als Leser des Buches gedacht: er soll Respect bekommen vor der Ueberf\u00fclle psychologischen Materials und wird dem Verf. Dank wissen, dafs er sich anstatt seiner durch diese Liteiatur hindurch gearbeitet hat. Dann aber wieder der allgemein-theoretische Ps> cho-log: er wird hier Namen genannt finden, die ihm vielleicht trotz fleifsigen Umsehens in der psychologischen Literatur zum ersten Mal begegnen. Denn der Verf. greift mit Vorliebe auch auf \u00e4ltere Literatur, speciell criminalistische (auch belletristische) mit ihrer reichen Casuistik zur\u00fcck. Wer nicht auf die Belebung auch der theoretischsten Psychologie durch Beispiele beim Forschen wie beim Lehren und Lernen im allgemeinsten Sinne, also auch beim Psychologieb\u00fccher-Schreiben, aus irgend einem Grunde verzichten zu k\u00f6nnen glaubt, wird immer wieder in Gross\u2019 Buch eine Fundgrube solcher psychologischer Nahrung und W\u00fcrze finden. Mag der reine Theoretiker hin und wieder eine Unebenheit, z. B. unvermitteltes Nebeneinanderstellen einander widersprechender Citate, mit seinem gerade f\u00fcr solche Dinge fachm\u00e4fsig gesch\u00e4rften Blick entdecken \u2014 so wird das f\u00fcr den durch keine Theorie voreingenommenen Leser meist eine Aufforderung sein, sich die Dinge selbst von zwei und mehr Seiten anzusehen und \u00fcberhaupt diesen Dingen selbst, d. h. den psychischen Ph\u00e4nomenen, ins Antlitz zu schauen. Ich weifs f\u00fcr den ausgezeichneten Gesammteindruck des ganzen Buches zur k\u00fcrzesten Charakteristik kein besseres Wort, als das schon Eingangs angef\u00fchrte des Verf.: Das psychologisch Educative. Jeder Leser, sei er Criminalist oder nicht, wird die Lesung des Buches als einen Anreiz zur Erwerbung jenes psychologischen K\u00f6nnens (nicht nur Wissens) empfinden und so an sich selbst die Hoffnung des Vorwortes verwirklicht sehen: \u201e . . Wie die angef\u00fchrte, noch lange nicht vollz\u00e4hlige Literatur beweist, ist das f\u00fcr uns wichtige Material ein uber-grofses, und vielleicht noch umfangreicher ist das lebende psychologische Material, welches uns Criminalisten allein zur Verf\u00fcgung steht. Dieses ist bis heute fast v\u00f6llig unverwerthet gelegen, obwohl es eine unabsehbare Menge von Belehrung enth\u00e4lt. Dieses Material mufs erst gesammelt, gesichtet und verwerthet werden \u2014 hierzu wollte ich die Anregung bieten, und wenn diese auf gegriffen wird, so ist der Zweck des Buches erreicht.\nA. H\u00f6eler (Wien).","page":295}],"identifier":"lit30643","issued":"1899","language":"de","pages":"284-295","startpages":"284","title":"H. Gross: Criminalpsychologie. Graz, Leuschner & Lubensky, 1898. 721 S.","type":"Journal Article","volume":"19"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:54:07.840565+00:00"}

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