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{"created":"2022-01-31T12:59:02.805378+00:00","id":"lit30659","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Lange","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 19: 312-314","fulltext":[{"file":"p0312.txt","language":"de","ocr_de":"312\nLi teraturberich t.\n1.\tW. Speranski. Essai sur l\u2019origine psychologique des m\u00e9taphores. Rev. philos.\nBd. 44, S. 494\u2014507 u. 605\u2014621. 1897.\n2.\tA. Riehl. Bemerkungen zu dem Problem der Form in der Dichtkunst.\nVierteljahresschrift f\u00fcr wissenschaftliche Philosophie XXI (3), 283\u2014306 1897\nu. XXII (1), 96\u2014114, 1898.\nF\u00fcr den, der in dem Princip der \u201ebewufsten Selbstt\u00e4uschung\u201c (gew\u00f6hnlich k\u00fcnstlerische Illusion genannt) das Geheimnifs des \u00e4sthetischen Genusses und der k\u00fcnstlerischen Wirkung gefunden zu hahen glaubt, sind die Versuche anderer Aesthetiker, das centrale Problem der Aesthetik ohne Zuh\u00fclfenahme dieses Princips zu l\u00f6sen, nat\u00fcrlich sehr interessant. Es hat etwas Beruhigendes, andere am Fufse des Berges in Felsen und Gestr\u00fcpp herumkriechen zu sehen, w\u00e4hrend man selbst schon auf dem Gipfel angelangt ist und den Sonnenaufgang geniefst. Auch mag wohl ein gewisses Gef\u00fchl der Schadenfreude bei demjenigen mit unterlaufen, der \u00ae^\u00f6h bewufst ist, die betreffende Theorie schon vor f\u00fcnf Jahren publicirt und in verschiedenen wissenschaftlichen und popul\u00e4ren Zeitschriften n\u00e4her begr\u00fcndet zu haben, der also wohl ein gewisses Recht auf Ber\u00fccksichtigung gehabt h\u00e4tte.\nDer russische Aesthetiker, dem wTir die ersten dieser Schriften verdanken, klagt mit Recht dar\u00fcber, dafs die moderne Aesthetik sich nicht folgerecht entwickeln k\u00f6nne, weil jeder neue Aesthetiker die Arbeiten seiner Vorg\u00e4nger unber\u00fccksichtigt lasse. Aber er selbt macht es ebenso, indem er das Princip der \u201eimagination\u201c und \u201eillusion artistique\u201c im Wesentlichen in derselben Weise entwickelt, wie ich es in meiner ihm anscheinend unbekannt gebliebenen \u201ebewufsten Selbstt\u00e4uschung\u201c von 1895 jl894) gethan habe. Der Ge-nufs, den wir an der Zeichnung einer Frucht haben, besteht auch nach seiner Ansicht darin, dafs wir zwar einerseits sehen, es handelt sich um eine Zeichnung auf Papier, aber andererseits doch uns unter der gezeichneten Frucht eine wirkliche vorzustellen suchen. Diese phantasiem\u00e4Mge Belebung des Scheinbildes, oder \u2014 allgemein gefafst \u2014 diese durch Association bewirkte Uebertragung gewisser Eigenschaften von einer Sache auf eine andere, ist in seinen Augen der Kern des \u00e4sthetischen Genusses. In dem Trieb zu dieser Illusion erkennt er auch den Ursprung der Metapher, der mythischen Vorstellungen u. s. w., ganz wie ich es schon seit Jahien in meinen \\orlesungen thue. Dabei setzt er ganz richtig auseinander, dafs die Illusion nur dann Genufs bereite, wenn der Verstand dem Geniefsenden bei der Betrachtung immer sage, dafs die Darstellung nicht mit dem dargestellten Gegenstand identisch sei, wenn das Ernstgef\u00fchl nicht zu stark betheiligt sei u. s. w., kurz alles Dinge, die ich schon in meiner T\u00fcbinger Antrittsvorlesung ausgef\u00fchrt habe. Der Verf. hat auch ganz lichtig bemerkt, dafs die Keime zu dieser Theorie in der klassicisti-schen Aesthetik der Deutschen enthalten sind. Ebensogut wie er bei ihrer Entwickelung von W. v. Humboldt ausgegangen ist, h\u00e4tte er auch von Moses-Mendelssohn oder Lessing oder Goethe oder Schiller ausgehen k\u00f6nnen. Unsere klassischen Dichter wufsten eben sehr wohl, worin das Wesen der k\u00fcnstlerischen Wirkung beruht, und erst die nachkantische Philosophie hat diese klare Erkenntnifs durch allerlei nicht zugeh\u00f6rige Nebenerw\u00e4gungen verdunkelt. Nat\u00fcrlich wird es auch dem Verfasser nicht","page":312},{"file":"p0313.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n313\nleicht, sich aus dem in Folge dieser Entwickelung auf gestapelten Wust von schiefen Urtheilen und Formulirungen herauszuwinden, und wir wollen ihm nicht allzusehr ver\u00fcbeln, dafs er die Grenzen zwischen phan-tasie, imagination und illusion nicht scharf genug zieht, den Begriff der illusion nur auf die nachahmenden K\u00fcnste anwendet statt z. B. auch auf die Musik (wo er dem ganzen Streit \u00fcber den Gef\u00fchlsgehalt dieser Kunst mit einem Schlage ein Ende machen w\u00fcrde), dafs er die Bedeutung des Typischen \u00fcbersch\u00e4tzt, dafs er viele selbst\u00e4ndige Gedanken, die ihm gekommen sind, nicht klar und folgerichtig zu Ende denkt. Er hat sich schon ein grofses Verdienst gegen\u00fcber der herrschenden Verwirrung dadurch erworben, dafs er den Unterschied der Ernstgef\u00fchle (\u00e9tat affectiv) und der Illusionsgef\u00fchle klar hervorgehoben und wenigstens das Wesen der nachahmenden K\u00fcnste auf die letzteren gegr\u00fcndet hat. Vielleicht werden unsere deutschen Aesthetiker, wenn erst in Frankreich und Rufs-land noch mehrere von den meinigen unabh\u00e4ngige Versuche dieser Art gemacht worden sind, mit der Zeit inne werden, dafs es sich hier um eine Theorie handelt, die gewissermaafsen in der Luft liegt, die jedenfalls nicht auf die Dauer todtgeschwiegen werden kann.\nDies thut leider der deutsche Philosoph, dem wir die zweite Schrift verdanken. Seine Abhandlung besch\u00e4ftigt sich mit dem zweiten Hauptproblem der Aesthetik, n\u00e4mlich dem Verh\u00e4ltnifs der Kunst zur Natur oder genauer gesagt, mit den bewufsten Ver\u00e4nderungen der Wirklichkeit, die der K\u00fcnstler vornehmen mufs, um \u00e4sthetisch zu wirken. Denn darum und um nichts anderes handelt es sich bei dem \u201eProblem der Form\u201c, das Hildebrand vor einigen Jahren in einer meines Erachtens \u00fcbersch\u00e4tzten Schrift be-handel hat, und von dieser Schrift geht der Verfasser aus, indem er die von Hildebrand f\u00fcr die bildende Kunst gewonnenen Ergebnisse auf die Poesie anzuwenden sucht. Dabei entwickelt er eine Reihe sehr beherzigens-werther Gedanken \u00fcber den k\u00fcnstlerischen Werth der Erinnerungsbilder im Gegensatz zu der unmittelbaren Wahrnehmung, \u00fcber die Nothwendig-keit der Vereinfachung der Natur bei der Schilderung, \u00fcber ideales Zeit-maafs, \u00fcber das Verh\u00e4ltnifs von Form und Gehalt, die Darstellung des H\u00e4fslichen u. s. w. Ob es aber gerade praktisch war, diese Gedanken auf das Prokrustesbett der HiLDEBRAND\u2019schen Beweisf\u00fchrung zu spannen, mag dahin gestellt bleiben, ich wenigstens habe das Gef\u00fchl, dafs sie sich ohne das freier und nat\u00fcrlicher entwickelt, auch das Wesen der Sache noch klarer zur Anschauung gebracht h\u00e4tten. So glaubt der Verf. z. B. eine treffende poetische Analogie zu Hilderrand\u2019s r\u00e4umlichem \u201eFernbilde\u201c in dem zeitlichen Fernbilde d. h. dem \u201eErinnerungsbilde\u201c gefunden zu haben, ohne zu bedenken, dafs das, was er in der Poesie Erinnerungsbild nennt, in den bildenden K\u00fcnsten eine viel genauere Analogie hat, n\u00e4mlich die Ge-sammtheit der vergangenen Einzelwahrnehmungen, die mit Hildebrand s \u201eFernbild\u201c durchaus nicht unmittelber verglichen werden k\u00f6nnen. Die Be deutung dieses Erinnerungsbildes oder besser gesagt, dieser Summe zusammen geschmolzener Einzelwahrnehmungen f\u00fcr den K\u00fcnstler beruht aber \u2014 in der Poesie wie in der bildenden Kunst \u2014 darauf, dafs hier f\u00fcr den K\u00fcnstler die charakteristischen Wirkungsmomente zu beliebiger Verwendung beisammen liegen, die eine zuf\u00e4llige Einzelwahrnehmung, und sei es auch die eines \u201eFern-","page":313},{"file":"p0314.txt","language":"de","ocr_de":"314\nLiteraturbericht.\nbildes\u201c, nicht bieten kann. Diese Wirkungsmomente braucht aber der K\u00fcnstler deshalb, weil er die Natur in einem anderen Stoffe darstellt, als dem, aus welchem sie selbst besteht, und weil er streben mufs, in diesem anderen Stoffe doch die volle Illusion zu erzeugen. Das f\u00fchrt zu gewissen Ver\u00e4nderungen, Vereinfachen, Steigerungen u. s. w., von denen sowohl Hildebrand wie Riehl nur einen verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig kleinen Theil hervorgehoben und gar nicht einmal immer genau begr\u00fcndet haben. So kann also nui dei Gesichtspunkt der Illusion den Schl\u00fcssel f\u00fcr die k\u00fcnstlerische Gestaltung der Natur bieten, und wenn der Verf. diesen Gesichtspunkt, den er nur an einigen Stellen streift, scharf als Leitstern festgehalten h\u00e4tte, w\u00fcrde seine Analyse des poetischen Stils weit vollst\u00e4ndiger, klarer und \u00fcberzeugender geworden sein. Er w\u00fcrde dann auch vermieden haben, das \u00e4sthetische Wesen der Erinnerung als solcher so stark zu betonen. Denn nicht die Erinnerung ist es, die den \u00e4sthetischen Zustand bedingt, sondern die Illusion. Das ist sehr leicht zu beweisen. Ein Unlustgef\u00fchl, dessen ich mich nach l\u00e4ngerer Zeit erinnere, wird dadurch zwar abgeschw\u00e4cht, abei niemals in ein Lustgef\u00fchl verwandelt. Diese geheimnifsvolle Kraft, die doch die Bedingung jeder \u00e4sthetischen Wirkung ist, ist vielmehr lediglich der Illusion eigen, und zwar einfach deshalb, weil eben die Illusion als solche, unabh\u00e4ngig vom Inhalt der Dargestellten, die \u00e4sthetische Lust bereitet. Deshalb, und nur deshalb, kann auch die Kunst das H\u00e4fs-liche dai stellen, und sie bedarf dazu durchaus nicht des Humors oder der Ironie, wenn sie das H\u00e4fsliche nur wirklich glaubw\u00fcrdig darstellt.\nLange (T\u00fcbingen).\nG. C. Ferrari. Ricerche ergogra\u00dfche nella donna. (ErgograpMsche Untersuchungen der Muskelkraft der Frauen.) Riv. Speriment. di Freniatr. Bd. XXIV (1), S. 61\u201486. 1898.\nMit H\u00fclfe des Mosso\u2019schen Ergographen und unter sorgf\u00e4ltig in verschiedenen Zeitr\u00e4umen fortgesetzten Controlversuchen ergab sich aus den (11) beigef\u00fcgten Zeichnungen die merkw\u00fcrdige Thatsache, dafs die Erm\u00fcdung der linken Hand bei Frauen weit sp\u00e4ter und weniger nachhaltig eintritt, als bei M\u00e4nnern. Die Ergebnisse seiner ergographi-schen Lntei suchungen formulirt der Verf. dahin, dafs die Arbeitsleistung der Frauenh\u00e4nde nicht nur von der der M\u00e4nner sich unterscheidet, sondern auch vorzugsweise auf der Kraft der linken Hand beruht, da dieselbe selbst w\u00e4hrend ungew\u00f6hnlicher und l\u00e4ngerer Arbeit nicht erm\u00fcdet und auch dann, nach geringer Pause, die Arbeit auf Anregung des Willens wieder aufzunehmen vermag; mit der rechten Hand erm\u00fcden die Frauen aber in gleicher Weise wie die M\u00e4nner. \u2014 Die Ursache dieses vorwaltenden Manzinismus des Weibes kann nur auf der geringer entwickelten Organisation der linken Hirnh\u00e4lfte beruhen, da die letztere, von der die Bewegungen der rechten Hand abh\u00e4ngen, psychischen Einfl\u00fcssen (wie Bewufstsein, Aufmerksamkeit) Raum giebt, w\u00e4hrend die rechte Hirnh\u00e4lfte rein physiologische Bewegungen vermittelt. \u2014 Bei der lohen Kraftmessung am Dynamometer zeigt sich die Einwirkung der Willenssph\u00e4re f\u00fcr beide H\u00e4nde gleichm\u00e4fsig auch bei den mit dem Ergo-","page":314}],"identifier":"lit30659","issued":"1899","language":"de","pages":"312-314","startpages":"312","title":"1. W. Speranski: Essai sur l'origine psychologique des m\u00e9taphores. Rev. philos. Bd. 44, S. 494-507 u. 605-621. 1897 / 2. A. Riehl: Bemerkungen zu dem Problem der Form in der Dichtkunst. Vierteljahresschrift f\u00fcr wissenschaftliche Philosophie XXI (3), 283-306, 1897 u. XXII (1), 96-114, 1898","type":"Journal Article","volume":"19"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:59:02.805384+00:00"}