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{"created":"2022-01-31T15:26:10.028468+00:00","id":"lit30663","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Barth, P.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 19: 316-317","fulltext":[{"file":"p0316.txt","language":"de","ocr_de":"316\nLiteraturbericht.\nArt des Eud\u00e4monismus. Allgemein und nothwendig mufs das sittliche Urtheil sein, darum wollte Kant es nicht aus der Erfahrung, nicht aus der Psychologie ableiten. Aber er irrte, indem er meinte, Erfahrung k\u00f6nne kein allgemeines und nothwendiges Urtheil ergeben, und ferner irrte er in dem Glauben, jede psychologisch begr\u00fcndete Ethik m\u00fcsse nothwendig eud\u00e4monistisch sein. Er hat die psychologische Thatsache des Werthens \u00fcbersehen.\nDiese Function f\u00fchrt den Menschen \u00fcber das unmittelbare Begehren hinaus. Sie bewirkt, dafs die Gef\u00fchle sich nicht mehr nur nach der Intensit\u00e4t und der Dauer der Lust und der Unlust unterscheiden, sondern gewissermaafsen mit Hinzuf\u00fcgung zweier neuen Dimensionen, \u201eauch noch nach der Breite und Tiefe ihres Ursprunges in der Pers\u00f6nlichkeit, d. h. nach der Mannigfaltigkeit und Festigkeit der Beziehungen, in denen ihr Gegenstand zu dem System unserer Werthungen steht\u201c (S. 49). Werthbildung ist analog der Begriffsbildung. \u201eWie die Begriffe vom objectiv Existirenden eine Mannigfaltigkeit von Empfindungsm\u00f6glichkeiten einheitlich zusammenfassen, so bringen die Werthungen in specifischer Weise Einheit in das Chaos der Begehrungsm\u00f6glichkeiten\u201c (S. 66). Sie heben den Streit so weit als m\u00f6glich auf, was bei Herbart eine ethische Forderung ist. Der \u201edispositioneile Charakter\u201c des Werthes ist ein constitutives Merkmal alles Werthes und macht die Unterscheidung eines Werthgef\u00fchls vom Lustgef\u00fchl \u00fcberhaupt erst m\u00f6glich (S. 53). Die Objecte der Werthhaltung wechseln, und der einzige sittliche Endzweck, dem Alles dienen soll, ist eine Fiction. Werthe sind auch durchaus nicht mit Zwecken zu verwechseln. In aller historischen Mannigfaltigkeit aber, die so viele an einer normativen Ethik \u00fcberhaupt verzweifeln l\u00e4fst, bleibt absolut werthvoll \u201edie psychische F\u00e4higkeit oder Function des Werthens\u201c selbst, weil sie die unerl\u00e4fsliche subjective Bedingung aller Werthe \u00fcberhaupt ist (S. 61). Das ethische Ideal besteht darin, \u201edafs man in m\u00f6glichst hohem Maafse ein werthender Mensch sei\u201c (S. 79). Den Schlufs der Schrift bildet eine Kritik der Ansicht Schuppes, der das absolut Werthvolle im Bewufstsein oder der bewufsten Existenz erblickt.\nDie Schrift zeugt von selbst\u00e4ndigem Denken, die schliefsliche Entscheidung freilich ist, wie Kant\u2019s Moralprincip, einseitig formal. Man verlangt doch auch eine gewisse Norm f\u00fcr die Auswahl der Objecte, auf wTelche sich die Werthung richtet. Hier kann nur die Entwickelungslehre von den blofsen Thatsachen zu einer Norm f\u00fchren. Was J. St. Mill betrifft, so meint Kr\u00fcger, dafs bei ihm das Princip der socialen Gl\u00fcckssteigerung rein zum Ausdruck komme. Ich m\u00f6chte erinnern, dafs Mill auch noch die Sympathie und das Entwickelungsprincip verwendet um seine ethischen Forderungen abzuleiten.\tP. Barth (Leipzig).\n0. Stock. Psychologische und erkenntnifstheoretische Begr\u00fcndung der Ethik.\nZeitschr. f. Philosophie u. philos. Kritik Bd. 111 (2), S. 190\u2014204. 1898.\nStock glaubt, man m\u00fcsse f\u00fcr das Sittengesetz ein Apriori, eine \u00fcber das Gebiet des Subjectiven hinausragende Nothwendigkeit finden. Die Zwecke der Gemeinschaft k\u00f6nnen diese Nothwendigkeit nicht geben, sie k\u00f6nnen selbst unsittlich sein. Nothwendigkeit \u00fcberhaupt ruht nur auf","page":316},{"file":"p0317.txt","language":"de","ocr_de":"Literatur bericht.\n317\nlogischen, nicht auf psychologischen Zusammenh\u00e4ngen. Dies f\u00fchlte Kant, als er seine Ethik in so enge Beziehung zur Erkenntnifstheorie setzte. Der Zusammenhang beider ist aber noch viel enger als Kant annahm. Vernunft und Erkenntnifs zeigen dem Menschen nicht nur den Zweck seines Lebens, sie sind dieser Zweck selbst. Die Autonomie des Sittengesetzes aber ist gewahrt, wo der absolute Zweck als im Bewufstsein \u00fcberhaupt enthalten gedacht ist. F\u00fcr n\u00e4here Begr\u00fcndung verweist Stock auf seine Schrift: Lebenszweck und Lebensauffassung, GreifswMd 1897.\nP. Bakth (Leipzig).\nF. Ch. Sharp. An Objective Study of Some Moral Judgments. Am. Journal of Psychol. IX (2), 198\u2014234. 1898.\nSharp meint, dais Beobachtung der thats\u00e4chlichen moralischen Urtheile besonders der civilisirten Menschen gegenw\u00e4rtig nothwendiger sei als die Construction neuer ethischer Systeme, die doch schliefslich nur die Pers\u00f6nlichkeit ihres Urhebers widerspiegelten.\nZum Zwecke einer solchen Beobachtung hat er ein Verfahren angewendet, das man experimentale Ethik, wenigstens experimentale ethische Urtheilslehre nennen kann. Er hat 152 Studenten der Universit\u00e4t Wisconsin (m\u00e4nnlichen und weiblichen), die noch keine ethischen Studien gemacht hatten, 10 F\u00e4lle ethischer Casuistik vorgelegt, zum Theile mit Angabe und Ab\u00e4nderung der obwaltenden n\u00e4heren Umst\u00e4nde, wodurch die Fragen sich vermehren. Z. B. Howard, der Reformator des englischen Gef\u00e4ngnifswesens, hatte einen Sohn, der ohne seines Vaters Erziehung ein verkommener Mensch werden mufste. Sollte der Vater sich ihm widmen oder sein Reformwerk fortsetzen? (Vorausgesetzt ist, dafs nach Lage der Dinge das Eine das Andere ausschlofs.)\nDie 1500 Antworten, die Sharp erhielt, von denen er mehrere mit-\ntheilt, sind sehr verschieden. Sie stehen zu einander oft in diametialem Gegens\u00e4tze, auch ein und derselbe Urtheiler hat \u00fcber gleiche F\u00e4lle nicht immer die gleiche Meinung, viele der Antwortenden zeigen sich inconsequent. Kant\u2019s Dogma, dafs es kein irrendes Gewissen geben k\u00f6nne, erweist\nsich somit, meint Sharp, als Irrthum.\nDie Antworten werden nun nach mannigfaltigen Gesichtspunkten classificirt, z. B. in Bezug auf die Schnelligkeit der Entscheidung, die in einem Theile der Antworten angegeben ist, in Bezug auf den Grad der Sicherheit, mit dem das Urtheil gef\u00e4llt wird, vor Allem aber nach dem \u201eethischen Typus\u201c, nach dem die Urtheile gef\u00e4llt werden. Der Typus der reinen Utitarier ist h\u00e4utiger, als der der reinen \u201eIntuitionalisten odei \u201eAesthetiker\u201c, wie Sharp diejenigen nennt, die nicht auf die Ergebnisse sondern auf die Beweggr\u00fcnde des Handelns sehen. Den ersten Typus aus-schliefslich festgehalten findet er bei 9 Personen, den zweiten bei 4. Alle Uebrigen, also 139 von 152, schwanken zwischen beiden Standpunkten. Im Ganzen aber spielt die \u201e\u00e4sthetische\u201c Auffassung eine geringere Rolle als die utilitarische. Der Artikel liefert gutes Material zur Psychologie des ethischen Urtheils. Darum verdient Sharp\u2019s Verfahren Fortsetzung und Nachahmung.\tP- Barth (Leipzig).","page":317}],"identifier":"lit30663","issued":"1899","language":"de","pages":"316-317","startpages":"316","title":"O. Stock: Psychologische und erkenntni\u00dftheoretische Begr\u00fcndung der Ethik. Zeitschr. f. Philosophie u. philos. Kritik Bd. 111 (2), S. 190-204. 1898","type":"Journal Article","volume":"19"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:26:10.028474+00:00"}