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{"created":"2022-01-31T13:07:23.196014+00:00","id":"lit30691","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Meyer, Max","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 20: 13-33","fulltext":[{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Beurtheilung zusammengesetzter Kl\u00e4nge.\nVon\nMax Meyer.\n1. Unter zusammengesetzten Kl\u00e4ngen verstehe ich in den folgenden Ausf\u00fchrungen nur solche Kl\u00e4nge, die analvsirbar1 sind, bei denen also mehr als Ein Ton (mehr als Eine Tonh\u00f6he) herausgeh\u00f6rt werden kann. Zu den zusammengesetzten Kl\u00e4ngen rechne ich hier also z. B. nicht eine solche, von einer Stimmgabel auf Resonanzkasten erzeugte Geh\u00f6rsempfindung, bei der es trotz gr\u00f6fster Uebung und Aufmerksamkeit des Beobachters nicht gelingt, mehr als Einen Ton herauszuh\u00f6ren ; dafs auch bei einer solchen Stimmgabel, wie man vermittelst verschiedener Methoden zeigen kann, in der Regel mehr als Eine Sinusschwingung unser Geh\u00f6rorgan trifft, ist eine physikalischphysiologisch interessante Thatsache, die jedoch in rein psychologischer Hinsicht unser Interesse nicht zu erregen vermag. Eine Geh\u00f6rsempfindung, die wir auf keine Weise analysiren k\u00f6nnen, haben wir kein Recht anders zu benennen als \u201eeinen einfachen Ton\u201c.2\n1\tDafs die Analyse eines Klanges auf mehrere Arten vollzogen werden kann, habe ich diese Zeitschrift Bd. 18, S. 281 dargelegt und setze dies hier als bekannt voraus.\n2\tWenn der Physiker eine physikalische Analyse eines Schwingun gs-Vorganges ausf\u00fchren will, so kann er sich dazu eines Resonators bedienen, vermittelet dessen er das St\u00e4rke verh\u00e4ltnils der einzelnen Sinusschwingungen zu Gunsten Einer solchen \u00e4ndert. Eine psychologische Analyse ist dm\u00ab nat\u00fcrlich nicht, da ja bei Benutzung eines Resonators das Sinnesorgan in ganz anderer Weise afficirt wird als vorher.\nH\u00e4ufig wird empfohlen, man solle, wenn man einen Klang analysiren will, den Kopf Mn und her bewegen. Dies ist jedoch auch nur ein Mittel zur physikalischen Analyse, zur Feststellung der existirenden Sinusschwingungen. Das St\u00e4rkeverhftltnifs dieser Schwingungen ist n\u00e4mlich in jedem begrenzten Raume aus bekannten physikalischen Gr\u00fcnden ein","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14\nMax Meyer.\nNat\u00fcrlich kann Niemandem das Recht bestritten werden, gewisse physikalische Vorg\u00e4nge mit dem Namen \u201eTon\u201c zu benennen. Ob freilich die in neuerer Zeit gebr\u00e4uchlich gewordene Definition eines \u201ephysikalischen Tons\u201c als einer Sinusschwingung sich als wissenschaftlich brauchbar bew\u00e4hren wird, ist zweifelhaft, ja unwahrscheinlich. Wie man jedoch auch dar\u00fcber denken mag, jedenfalls rnufs man daran festhalten, dafs eine rein psychologische Untersuchung wie diese sich auch nur auf psychologische, nicht auf physikalische Definitionen st\u00fctzen darf. Wir nennen also einen einfachen Ton diejenige (zum Unterschied von einem Ger\u00e4usch durch eine bestimmte Tonh\u00f6he charakterisirte) Geh\u00f6rsempfinduug, die von dem H\u00f6renden trotz gr\u00f6fster Uebung und Aufmerksamkeit nicht analysirt werden kann.'\n2. Noch zwei andere Fragen von prineipieller Wichtigkeit sind zu erledigen. Ich setzte oben zu dem Worte \u201eTon\u201c in Parenthese \u201eTonh\u00f6he\u201c und zwar aus folgendem Grunde. Das Wort \u201eder Ton\u201c (wenn damit ein ganz bestimmter Ton bezeichnet wird: dieser Ton) wird in zwei Bedeutungen gebraucht, deren\naufserordentlieh verschiedenes an verschiedenen Stellen des Raums. Wenn ich den Kopf bewege \u2014 h\u00e4ufig gen\u00fcgt eine Bewegung von wenigen Centi-metern \u2014, so \u00e4ndere ich damit den mein Sinnesorgan treffenden Reiz zu Gunsten einiger, zu Ungunsten anderer Sinusschwingungen.\nAbgesehen davon, dafs man bei bewegtem Kopf gar nicht einen einzigen Klang, sondern bei jeder Kopfstellung einen anderen h\u00f6rt (dasselbe gilt von beiden Ohren: man h\u00f6rt kaum jemals mit dem einen Ohre gleichzeitig genau denselben Klang wie mit dem anderen), sind Kopf bewegungeil f\u00fcr die psychologische Analyse eines Klanges ebenso wenig f\u00f6rderlich als Bewegungen anderer K\u00f6rpert heile, da sie die Aufmerksamkeit ablenken k\u00f6nnen.\n1 Stumpf (Tonpsychologie II, S. 222) behauptet freilich auch die Existenz unbemerkbarer Empfindungen (von Empfindungsunterschieden will ich hier absehen, obwohl ich auch darin nicht unbedingt Stumpf\u2019s Ansicht theile) und w\u00fcrde daher wohl obige Definition nicht gelten lassen. Mit gleichem Rechte k\u00f6nnte ein Chemiker die Behauptung aufstellen, Gold sei kein einfaches Metall. Solche Behauptungen d\u00fcrften wohl wissenschaftlich ohne Nutzen sein, solange ihnen keine wirkliche Analyse zu Grande liegt und auch nicht gewichtige Gr\u00fcnde dazu zwingen, eine Hypothese zu bilden. In unserem Falle aber sehe ich keine Gr\u00fcnde, die uns dazu zwingen, die Existenz un bemerkbarer Tonempfindungen (nach Lipps\u2019Ausdrucks weise m\u00fcfste ich sagen: solcher unbewufsten, bewufsten Tonempflndungen entsprechenden seelischen Erregungen, die selbst unter den g\u00fcnstigsten subject! ven Bedingungen der Aufmerksamkeit niemals bewufst werden k\u00f6nnten) anzunehmen.","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"Ueher Beurthe\u00fcung zusammengesetzter Kl\u00e4nge.\n15\nmangelnde Unterscheidung von Seiten Unmusikalischer mancherlei Irrth\u00fcmer herbeigef\u00fchrt zu haben scheint Die eigentliche Bedeutung des Ausdrucks \u201eTon\u201c ist \u201eTonh\u00f6he\u201c. Die zweite Bedeutung findet sich beispielsweise in folgendem Falle. Wenn ein aus M\u00e4nnern und Frauen bestehender Chor (z.B. beim Gemeinde gesang in der Kirche) in Octavenparallelen singt, so sagt nicht nur der Musikalische (bei dem es eine Folge der Gew\u00f6hnung sein k\u00f6nnte), sondern auch der Unmusikalische nicht, dafs zweistimmig gesungen werde, sondern dafs M\u00e4nner und Frauen denselben Ton singen. Indessen ersterer weifs, dafs hier mit \u201eEinstimmigkeit\u201c keineswegs gemeint ist, dafs M\u00e4nner und Frauen dieselbe Tonh\u00f6he singen. Letzterer jedoch weifs es h\u00e4ufig nicht, dafs der Satz \u201ees ist derselbe Ton\u201c zwei ganz verschiedene Ur-theile bezeichnen kann; oder er weifs es wohl, denkt jedoch im Augenblick nicht daran: es weifs es in der Theorie, aber nicht in der Praxis.\nUm diese beiden Urtheile auch im sprachlichen Ausdrucke genau zu unterscheiden, k\u00f6nnte man vielleicht unmusikalische Versuchspersonen daran gew\u00f6hnen, im letzteren Falle nicht das Wort \u201eTon\u201c anzuwenden, sondern das Wort \u201eNote\u201c, also beispielsweise zu sagen : \u201eM\u00e4nner und Frauen sangen dieselbe Note.\u201c1 Doch bleibt zu beachten, dafs \u201eNote\u201c hier nicht angewandt ist im Sinne von Note in der Musik (wo alle Octaven-t\u00f6ne gleich benannt sind), sondern zur Bezeichnung eines ganz bestimmten tonpsychologischen Urtheils, das bei Octavent\u00f6nen immer, h\u00e4ufig auch bei Quinten und Quarten, fast nie bei anderen Intervallen auftritt. Die Thatsache des Auftretens dieses Urtheils halte ich psychologisch f\u00fcr eine letzte und nicht weiter erkl\u00e4rbare ; h\u00f6chstens eine physiologische Erkl\u00e4rung halte ich f\u00fcr m\u00f6glich.\nStumpf (Tonpsychologie II S. 65) glaubt die von ihm selbst ausf\u00fchrlich mit Beispielen belegte Thatsache, dafs auf verschieden hohe T\u00f6ne das Urtheil \u201egleich\u201c angewandt wird, durch seinen Begriff der Verschmelzung erkl\u00e4ren zu k\u00f6nnen. Indessen, jenes\n1 Dafs eine Ein\u00fcbung darauf hin, di\u00a9 beiden Arten von Urtheilen durch zwei verschiedene Bezeichnungen auszudr\u00fccken, durchaus nicht ausgeschlossen ist, ersieht man daraus, dafs dieselben Personen, die beim H\u00f6ren von Octavent\u00f6nen das Urtheil f\u00e4llen \u201ees ist derselbe Ton\u201c, auf den 'Unterschied der Urtheile aufmerksam gemacht gar nicht im Zweifel dar\u00fcber sind, dafs der ein\u00a9 Ton betr\u00e4chtlich h\u00f6her ist als der andere.","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16\nMax Meyer.\nUrtheil tritt bei successive!! T\u00f6nen ebenso auf wie bei gleichzeitigen, bei denen es \u00fcberhaupt nur unter Voraussetzung einer Analyse zu Stande kommen kann; Verschmelzung aber definirt Stumpf gerade als ein solches Verh\u00e4ltnifs, wodurch sich gleichzeitige Sinnesempfindungen vor aufeinanderfolgenden auszeichnen. Passender erscheint es, wenn man wie Lipps von \u201eTonVerwandtschaft\u201c spricht. Dies Wort ist recht geeignet, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Intervallen zu bezeichnen und auch die Thatsache zum Ausdruck zu bringen^ dafs man den Begriff einer partiellen Gleichheit anwendet \u2014. einer partiellen insofern, als diejenigen, die von Gleichheit sprechen, dabei sich die Verschiedenheit der Tonh\u00f6he durchaus gegenw\u00e4rtig zu halten imStande sind, ohne freilich das genauer beschreiben zu k\u00f6nnen, worin Gleichheit besteht.1\n8. Schliefslioh mufs ich noch, da im Folgenden viel von \u201eAufmerksamkeit\u201c die Rede ist, sagen, in welchem Sinne ich dieses Wort gebrauche. \u201eDie Aufmerksamkeit eines Individuums ist auf einen seelischen Inhalt gerichtet1, darunter verstehe ich weiter nichts, als dafs dieser seelische Inhalt vor anderen gleichzeitigen Inhalten eine besondere seelische Kraft entfaltet, einen besonderen seelischen Wirkungsgrad besitzt.\nIch leugne nicht, dafs dieser besondere Wirkungsgrad sich h\u00e4ufig auch darin \u00e4ufsert, dafs gewisse Muskelcontractionen her* vorgerufen werden, die ihrerseits wieder Spannungsempfindungen zur Folge haben. Diese Letzteren pflegen im gew\u00f6hnlichen Sprachgebrauche zur Aufmerksamkeit hinzugerechnet zu werden. Sie werden uns jedoch im Folgenden nicht weiter interessiren.\nKeineswegs verstehe ich unter Aufmerksamkeit \u201edie Lust am Bemerken\u201c und unter willk\u00fcrlicher Aufmerksamkeit \u201eden Willen, sofern er auf ein Bemerken gerichtet ist.\u201c Hierdurch w\u00fcrde man gen\u00f6thigt werden, auch ein \u201eBemerken ohne Auf-\n1 Wir sprechen ja auch von Blutsverwandtschaft nicht dann, wenn wir bestimmte K\u00f6rpertheile angeben k\u00f6nnen, die bei einem Individuum ganz genau so gebaut sind, wie bei einem anderen \u2014 was wohl nie der Fall sein d\u00fcrfte \u2014, sondern wenn die Individuen in etwas \u00fcbereinstimmen, was gar nicht ein Theil ihrer selbst ist, dem Erzeuger. Barum kann man auch wohl von Verw andtschaft der T\u00f6ne sprechen, obw ohl nichts an ihnen selbst gleich ist, sondern vielleicht nur Gleichheit eines gewissen, allerdings noch ganz hypothetischen (wahrscheinlich physiologischen) Can s al z u s&mm en -hangs stattfindet.","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"Uehei- Beurtheilung zusammengesetzter Kl\u00e4nge.\n17\nmerksamkeit\u201c anzunehmen. Ich m\u00f6chte zwischen Bemerken und Bemerken keinen Unterschied nur deshalb machen, weil das Bemerken durch verschiedene Ursachen hervorgerufen werden oder verschiedene Folgen haben kann. Eine Unterscheidung zwischen Bemerken ohne und Bemerken mit Aufmerksamkeit ist nur zu sehr geeignet, das Mifsverst\u00e4ndnifs aufkommen zu lassen, als handle es sich, abgesehen von der Verschiedenartigkeit des Causalzusammenhangs auch um zwei an sich verschiedene psychologische Vorg\u00e4nge, die etwa nur zuf\u00e4llig denselben Namen \u201eBemerken\u201c erhalten h\u00e4tten. Andererseits scheint es bedenklich, f\u00fcr das Gef\u00fchl der \u201eLust\u201c und f\u00fcr den \u201eWillen\u201c nicht nur andere Bezeichnungen, sondern sogar f\u00fcr beide Begriffe nur eine einzige Bezeichnung, Aufmerksamkeit, anzuwenden,\n4, Nehmen wir nun an, Jemand h\u00f6re einen aus zehn T\u00f6nen zusammengesetzten Klang, Wie wird sich dann seine Aufmerksamkeit gegen\u00fcber den zehn T\u00f6nen verhalten ? Im gew\u00f6hnlichen Leben pflegt man anzunehmen, dafs unsere Aufmerksamkeit sich immer nur auf Einen seelischen Inhalt, nicht aber gleichzeitig auf mehrere richten k\u00f6nne. Dies ist nun streng genommen allerdings falsch, aber doch insofern richtig, als beim Fehlen besonderer Uebung und beim Fehlen besonderer Willens-th\u00e4tigkeit in der That unsere Aufmerksamkeit fast immer auf nur Einen seelischen Inhalt in h\u00f6herem, auf alle anderen in verschwindend geringem Grade gerichtet ist. Dies zeigt sich auch beim H\u00f6ren von T\u00f6nen, Wenn wir unter den erw\u00e4hnten Umst\u00e4nden zehn T\u00f6ne gleichzeitig h\u00f6ren, so zieht Einer davon die Aufmerksamkeit auf sich. Diese Eine Tonempfindung besitzt allein so viel seelische Kraft, um ein Tonh\u00f6henurtheil hervor-zurufeu. Alle anderen Tonempfindungen verm\u00f6gen nicht, besondere Tonh\u00f6henurtheiie (zun\u00e4chst handelt es sich um blofse Existentiaiurtheile1) hervorzurufen. Jene Eine Tonh\u00f6he wird allein \u201ebemerkt\u201c. Die anderen Tonempfindungen bleiben deshalb jedoch nicht g\u00e4nzlich wirkungslos, sondern rufen jenes Urtheil \u00fcber die Geh\u00f6rsempfindung hervor, das wir ein Klang\u00ab\n1 subjective Existentiaiurtheile nach H. Cohn kl um, Vierteljahrsschrift f. w. Philosophie, Bd. 16,8.418. Bebrigens sehe ich mich neben vielfacher Bebereinstimmung mit Cornelius\u2019 Ausf\u00fchrungen \u00fcber Klanganalyse u. s. w. jjen\u00f6thigt, so vielfach eine von der seinigen verschiedene Beschreibung des Thatbestandes vorzuziehen, dafs ich auf eine Angabe aller einzelnen Punkte; in denen ich von ihm abweiche, hier lieber verzichten m\u00f6chte,\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XX.\t^","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"IS\nMax Meyer.\nfarbenurtheil (auch hier handelt es sich zun\u00e4chst um ein blofses Existentialurtheil) zu nennen pflegen.\nEs fragt sich nun, welcher von den zehn T\u00f6nen unseres Beispiels die Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird. Nun k\u00f6nnen Mer subjective Bedingungen vorliegen, z. B. einer von den zehn T\u00f6nen kann erwartet sein; dann wird dieser leicht die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Oder es k\u00f6nnen objective Bedingungen vorliegen und zwar solche von mehrfacher Art: Entweder ist der ganze Klang ruhend, unver\u00e4ndert w\u00e4hrend seiner ganzen Bauer, oder er erleidet partielle (qualitative) Aen-derungen, di\u00a9 stetig oder unstetig erfolgen k\u00f6nnen. Und ferner sind entweder alle T\u00f6ne gleich stark oder einige sind gleich stark oder alle sind verscMeden stark.1 Nach unseren gew\u00f6hnlichen\n1 Unter gleicher Starke verstehe ich nat\u00fcrlich nicht Gleichheit einer durch irgend eine mathematische Formel definirten physikalischen St\u00e4rke, sondern Gleichheit der Empfindungsst\u00e4rke. Zwar ist es sehr schwer, \u00fcber die St\u00e4rke verschieden hoher T\u00f6n\u00a9 zu urtheilen; indessen einen anderen Weg zur Feststellung der Empfindungsst\u00e4rke als diesen subjectiven giebt es nun einmal nicht. Wie sich jene mathematisch definirten Gr\u00f6fsem bei als gleich beurtheilter Empfindungsst\u00e4rke verschieden hoher T\u00f6ne verhalten, ist bis jetzt leider noch nicht durch Versuche festgestellt worden^ Diese Feststellung wird unter Anderem noch dadurch erschwert, dafs in Bezug auf die St\u00e4rke hoher und tiefer T\u00f6ne eine gewisse Voreingenommenheit besteht, die das Urtheil \u00fcber die Gleichheit der St\u00e4rke beeintr\u00e4chtigt. Ziemlich allgemein verbreitet ist di\u00a9 Ansicht, dafs hohe T\u00f6ne bei gleicher Reizst\u00e4rke gr\u00f6fsere Empfindungsst\u00e4rke besitzen als tiefere T\u00f6ne. Indessen, was gilt hier als Reiz? ein Vorgang im Ohr oder irgendwo in der Luft oder in dem Musikinstrument? Und wie ist Reizst\u00e4rke mathematisch zu definiren? Man ist nat\u00fcrlich leicht geneigt, ohne Weiteres die Reizst\u00e4rk\u00a9 eines Contrabasses f\u00fcr viel gT\u00f6fser zu halten, als die einer Piccolofl\u00f6te. Aber mit welchem. Recht? Vorl\u00e4ufig scheint es mir h\u00f6chstens berechtigt zu sagen, dafs die technischen Schwierigkeiten bei der Erzeugung hoher T\u00f6ne von grofser Empfindungsst\u00e4rke geringer sind, als bei der Erzeugung tiefer.\nNach Miinono, diese Zeitschrift Bd. 11, S. 112, hat es freilich \u00fcberhaupt keinen Sinn zu fragen, ob zwei verschiedene Qualit\u00e4ten ihrer Intensit\u00e4t nach gleich oder verschieden grofs sind. Ich meine jedoch, dafs man sehr wohl versuchen kann, zwei verschieden hohe auf einander folgende T\u00f6ne (bei Aufeinanderfolge kann von einer Wirkung der relativen H\u00f6h\u00a9 auf di\u00a9 Aufmerksamkeit nicht di\u00a9 Red\u00a9 sein) daraufhin zu beurtheilen, welcher von beiden T\u00f6nen allein durch seine St\u00e4rke di\u00a9 Aufmerksamkeit in h\u00f6herem Grade in Anspruch zu nehmen vermag. Diesem w\u00fcrde ich dann di\u00a9 gr\u00f6fsere St\u00e4rke zuschreiben. Verschieden hohe T\u00f6n\u00a9 k\u00f6nnen \u2014 das wird","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Beurtheilung zusammengesetzter Kl\u00e4nge.\n19\nErfahrungen auf anderem Gebietern des Lebens k\u00f6nnen wir nun Folgendes erwarten:\na)\tDie st\u00e4rkste Empfindung zieht die Aufmerk* samkeit auf sich.\nb)\tEine stetig anders (h\u00f6her oder tiefer, oder auch st\u00e4rker) werdende Empfindung zieht die Aufmerksamkeit auf sich.\nc)\tEine neu auftretende Empfindung zieht die Aufmerksamkeit auf sich.\nDiese Gesetze nun findet man bei den Tonempfindungen durchaus best\u00e4tigt. Das erste kann nat\u00fcrlich nur bestehen, wenn eine Empfindung alle anderen an St\u00e4rke \u00fcbertrifft. Sind alle (oder einige, und zwar die st\u00e4rksten) gleich stark, so w\u00fcrde die Aufmerksamkeit sich gleichm\u00e4fsig auf die gleich starken Empfindungen vertheilen, wenn nicht andere Umst\u00e4nde Eine vor den anderen Empfindungen beg\u00fcnstigten.\nDie angef\u00fchrten Bedingungen f\u00fcr die Zuwendung der Aufmerksamkeit werden sehr h\u00e4ufig gleichzeitig vorhanden sein und dann auch oft einander widerstreiten. Welche von ihnen aus dem Kampf als Sieger hervorgeht, daf\u00fcr giebt es nat\u00fcrlich keine allgemeine Regel, sondern das h\u00e4ngt davon ab, welche Bedingung Ina einzelnen Fall am st\u00e4rksten ist.* 1\nWenn Jemand seine Aufmerksamkeit auf s\u00e4mmtliche zur Zeit vorhandenen Tonempfindungen gleichm\u00e4fsig vertheilt, und wenn so diese s\u00e4mmtlichen Tonempfindungen gleichzeitig Ton-h\u00f6henexistentialurtheile hervorrufen, so nenne ich das: er h\u00f6rt den JOang analysirt. Wenn er dagegen, wie dies bei Unge\u00fcbten in der Regel, bei Ge\u00fcbten immerhin in sehr vielen F\u00e4llen geschieht, seine Aufmerksamkeit auf nur eine einzige Tonempfindung richtet und nur diese ein Tonh\u00f6henexistential-urtheil hervorruft, so nenne ich das nach gew\u00f6hnlichem Sprachgebrauch: er h\u00f6rt den Klang unanalysirt. Hat er seine Aufmerksamkeit nicht auf alle, sondern nur auf einige der gleichzeitig vorhandenen Tonempfindungen gleichm\u00e4fsig vertheilt und rufen nun diese Letzteren allein Tonh\u00f6henexistentialurtheile Her-\nman Mekong zugeben m\u00fcssen \u2014 in Bezug auf \u201eGr\u00f6fse\u201c nicht direct verglichen werden, wohl aber in Bezug auf eine Wirkung dieser Gr\u00f6fse. Das wire dann eine Art \u201esurrogativer\u201c Vergleichung der Gr\u00f6fsen.\n1 VieEeieht wire ein Versuch, hier zahlenm\u00e4\u00dfige Bestimmungen zu* gewinnen, nicht ohne jeden Erfolg.\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\nMax Meyer.\nvor, so nenne ich das: er h\u00f6rt den Klang theilweise ana-Ijsirt Wenn ich \u00fcbrigens von gleichm\u00e4isig vertheilter Aufmerksamkeit spreche, so meine ich in 'diesem Falle damit nicht absolute Gleichm\u00e4feigkeit, sondern nur so weit reichende, als zum Zustandekommen von mehr1 als. Einem, Tonh\u00f6henexistential-urtheil erforderlich ist\n5. Stumpf stellt in seiner Tonpsychologie (II, \u00a7 25} die beiden folgenden 'Gesetze auf:\na) \u201eIn einem ruhenden Zusammenklang scheint das Ganz\u00a9' 'die H\u00f6he des tiefsten Tones zu haben, auch wenn dieser nicht zugleich der st\u00e4rkste ist\u201c\nbi \u201eBei aufeinanderfolgenden Zusammenkl\u00e4ngen macht das Game scheinbar die Bewegung der in den gr\u00f6fsten Schritten bewegten Stimme mit.\u201c\nDiese Gesetze l\u00e4fst Stumpf allerdings zun\u00e4chst nur bei \u201eana-lysirten\u201c Kl\u00e4ngen gelten, fleh glaub\u00a9 Stumpf recht verstanden zu haben, wenn ich annehme, dafs er hier als \u201eanalysirte\u201c Kl\u00e4nge dasselbe bezeichnet, was ich oben \u201eanalysirt geh\u00f6rt\u00a944 Kl\u00e4nge genannt habe.) Aber er will sie, wie mir seiner Darstellung nach scheint, wenigstens bei Musi kalis eben auch auf unanalysirt geh\u00f6rte Kl\u00e4nge anwenden.\nZun\u00e4chst scheint es mir zweifelhaft, ob musikalische Personen, wenn sie einen Klang unanalysirt h\u00f6ren (was bei ihnen ja seltener als bei Unmusikalischen, aber doch immerhin oft genug vorkommt), \u00fcber die Tonh\u00f6he des Klanges ein anderes Unheil f\u00e4llen als unmusikalische J, vorausgesetzt nat\u00fcrlich, dafs die Aufmerksamkeit des Musikalischen nicht durch vorhergehende Kl\u00e4nge nach einer bestimmten Richtung hingelenkt worden ist, vorausgesetzt ferner, dafs der Musikalische nicht etwa jetzt zwar den Klang unanalysirt h\u00f6rt, vorher ihn aber analysirt hat, wobei dann, musikalisch\u00a9 Gewohnheiten zur Wirkung kommen k\u00f6nnen.\nWenn Unterschiede in der Beurtheilung dann wirklich noch bestehen sollten, so wird es nothwendig sein, di\u00a9 speciellen Re* dingungen hierf\u00fcr aufzusuchen. Di\u00a9 immerhin vagen Begriff1\u00a9\n1 Stumpf behauptet z. B. (Tonpsychologie II, S. 410 unten), dafs bei \u201eUnmusikalischen\u201c und \u201eKindern\u201c die Aufmerksamkeit \u201egewohnheitsm\u00e4fisig\u201c durch die \u201eh\u00f6heren\u201c T\u00f6ne gefesselt werde. Diese \u201eGewohnheit\u201c in\u00fcfste zun\u00e4chst selbst erkl\u00e4rt werden, bevor durch sie etwas erkl\u00e4rt' wird.","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Beurtheilung zusammengesetzter Kl\u00e4nge.\n21\n\u201eMusikalisch\u201c und \u201eUnmusikalisch\u201c wird man, wenn es sich um die Aufstellung von Gesetzen handelt, am besten aue der Tom psychologie g\u00e4nzlich verbannen und durch diejenigen Bedingungen ersetzen, die uns im speeiellen Fall dazu veranlassen, ein Individuum musikalisch oder unmusikalisch zu nennen,1\nAufserdem nun halte ich jene beiden Gesetze \u00fcberhaupt nicht f\u00fcr solche. Ganz unbegreiflich aber ist mir, wie Stumpf sie als Gesetz\u00a9 f\u00fcr die Beurtheilung analysirter Kl\u00e4nge hin-steilen konnte (wobei ich \u2014 wie schon erw\u00e4hnt \u2014 annehme, dafs er unter einem \u201eanalysirten\u201c Klange einen \u201eanalysirt geh\u00f6rten44 versteht). Wenn ich einen Klang analysirt (oder auch nur theil-weise analysirt) h\u00f6re, so sehe ich \u00fcberhaupt nicht die M\u00f6glich-keit, von Einer Tonh\u00f6he des Klanges zu sprechen. Darin be-steht ja gerade die Analyse, dafs ich mehrere Tonh\u00f6hen-existentialurtheile f\u00e4lle, und das Analysirt-h\u00f6ren, dafs ich mehrere Tonh\u00f6henexistentialurtheile gleichzeitig f\u00e4lle.\nUebrigens mufs ich hier noch bemerken, dafs ich keineswegs leugne, dafs \u2014 wie bei allen Vorg\u00e4ngen in der Natur, so auch hier \u2014 vom Unanalysirt-h\u00f6ren zum Analysirt-h\u00f6ren ein stetiger Uebergang stattfindet. Die Grenze m\u00fcssen wir ziehen. Nach gew\u00f6hnlichem Sprachgebrauch k\u00f6nnen wir von \u201eAnalysirt-h\u00f6ren14 (schlechthin oder Theilweise-analysirt-h\u00f6ren) erst dann sprechen, wenn mehr als Ein Tonh\u00f6henexistentialurtheil gleichzeitig da ist Wer jedoch die Grenze zwischen Analysirt- und Unanalysirt-h\u00f6ren in ein etwas fr\u00fcheres Stadium des seelischen Processes verlegen will (wozu mir Stumpf1 geneigt zu sein scheint), der mufs ebenfalls angeben, wodurch diese Grenze genau .zu bestimmen ist Ich sehe nur bisher keine M\u00f6glichkeit, die Grenze anders, als ich es gethan, festzulegen, ohne in die schlimmsten Widerspr\u00fcche mit dem sonstigen Sprachgebrauch zu gerathen.\nStumpf also stellt jene Gesetze auf f\u00fcr analysirt geh\u00f6rte Kl\u00e4nge* Er rechtfertigt dies (II, S. 383 f.) folgendermaafsen : \u201eSeite 64 t wurde hervorgehoben, dafs gleichzeitige T\u00f6ne, wenn sie als Mehrheit erkannt werden, uns doch nicht als eine blofse Summe, sondern als ein Ganzes von T\u00f6nen erscheinen. Hiermit h\u00e4ngt\n1 Der Unterschied zwischen Musikalischen und Unmusikalischen ist ja nicht grundwesentlich, sondern nur graduell, was freilich nicht ausschliefst, dafs gewisse Individuen zu gewissen (selbst elementaren) musikalischen Leistungen unter speeiellen Bedingungen nicht f\u00e4hig sind, zu denen andere unter gleichen Bedingungen durchaus f\u00e4hig sind.","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\nMax Meyer.\nes nun zusammen, dafs auch ein\u00a9 Neigung besteht, diesem Ganzen als solchem eine Tonh\u00f6he zuzuschreiben, w\u00e4hrend doch genau genommen nur von einer H\u00f6he jedes einzelnen einfachen Tones gesprochen werden kann, Wir sagen nicht blos, dafs ein Zusammenklang in der hohen oder tiefen Region liege, in dem Sinne, dafs jeder Theil desselben dieser Region angeh\u00f6rt, sondern wir schreiben auch innerhalb dieses durch einen analysirten Zusammenklang umschriebenen engeren Bezirkes demselben als Ganzem in gewissen F\u00e4llen die H\u00f6he eines seiner Theile zu.\u201c Dies kann ich nun wenigstens bei einem \u201eanalysirt geh\u00f6rten\u201c Klange ebenso wenig als thats\u00e4chlich zugeben, als ich die Begr\u00fcndung anzuerkennen vermag. Ich kann in der Behauptung, dafs man einem analysirt geh\u00f6rten Klange nur Eine Tonh\u00f6he zuschreibe, keinen Sinn erkennen : Das w\u00fcrde dann heifsen, mehrere gleichzeitige Tonh\u00f6henexistentialurtheile f\u00e4llen und doch nur ein einziges solches Urtheil f\u00e4llen! Diesen Widerspruch kann ich auch durch Stumpfs Behauptung nicht auf l\u00f6sen, dafs durch Analyse gleichzeitig wahrgenommene T\u00f6ne nicht als eine blofs\u00a9 Summe, sondern als ein Ganzes erscheinen. Alles Gleichzeitige erscheint uns eben dadurch, dafs es gleichzeitig ist, und im Gegensatz zum Vor- und Nachzeitigen, als in bestimmter Weise verkn\u00fcpft (was man so nennen kann : es erscheine als ein Ganzes), aber deshalb nicht als eine Einheit, was ja \u00fcberdies unserer Voraussetzung widersprechen w\u00fcrde, dafs es uns infolge unserer Analyse als Mehrheit erscheint. Eine Mehrheit (von Tonh\u00f6hen), die ich direct, auf Grund mehrerer gleichzeitiger Existential-urthe\u00fce \u00fcber ihre Theile, als eine Mehrheit beurtheile, kann ich wohl gleichzeitig \u2014 in gewissem Sinne \u2014 f\u00fcr \u201eeinheitlich\u201c, aber nicht f\u00fcr eine Einheit (in Bezug auf Tonh\u00f6he) erkl\u00e4ren.\nWas Stumpf an einzelnen Beispielen auf Seite 384 f. an-f\u00fchrt, beweist weiter nichts, als dafs in diesen F\u00e4llen der tiefere Ton die Aufmerksamkeit zwar keineswegs ausschliefslich, aber doch ein wenig mehr auf sich zog als der h\u00f6here, so dafs zwar zwei Tonh\u00f6henexistentialurtheile gef\u00e4llt wurden, aber die Wegnahme des tieferen Tons sich doch auff\u00e4lliger bemerkbar machte. Weiteres kann man wohl nicht aus diesen Beispielen herauslesen,\nWas nun die Frage anlangt, warum in diesen F\u00e4llen der tiefere Ton die Aufmerksamkeit in h\u00f6herem Grade auf sich zog, so halte ich es nicht f\u00fcr unwahrscheinlich, dafs hier ein Gesetz","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Bmrthnlung zusammengesetzter Klange.\n23\nbesteht der Art, dafs bei Gleichheit sonstiger Bedingungen (z. B. St\u00e4rke) der tiefere von zwei gleichzeitig empfundenen T\u00f6nen die Aufmerksamkeit vorzugsweise auf sich lenkt. Nun kann z. B. die Bedingung der St\u00e4rke mit der Bedingung der relativen H\u00f6he in Wettstreit treten. Bei einem Individuum von geringer musikalischer Hebung scheint nach meinen Erfahrungen in einem solchen Falle das Ueberwiegen der St\u00e4rke von gr\u00f6fserer Bedeutung f\u00fcr die Aufmerksamkeit zu sein als die relative H\u00f6he. Bei einem musikalischen Beobachter freilich m\u00f6gen \u2014 wenn er den Klang, wie wir vorausgesetzt haben, bereits analysirt hat und nun analysirt h\u00f6rt \u2014 musikalische Gewohnheiten auch dann noch die Aufmerksamkeit auf den tieferen Ton in etwas h\u00f6herem Grade lenken, wenn dieser selbst schw\u00e4cher als der h\u00f6here ist.\nS. 387 sagt Stumpf: \u201eBafs der Eindruck44 (einer gr\u00f6fseren Ver\u00e4nderung beim Fortnehmen des tieferen als des h\u00f6heren von zwei Intervallt\u00f6nen) \u201ebei geringerer Verschmelzung44 (d. h. Con-sonanz) \u201eder beiden T\u00f6ne ein geringerer ist, liegt offenbar daran, dafs, wenn die T\u00f6ne ein weniger eng verkn\u00fcpftes Ganzes bilden, auch der Eindruck einer selbst\u00e4ndigen Tonh\u00f6he des Ganzen weniger auf kommen kann.44 Biese Erkl\u00e4rung auf Grund des STUMPF\u2019schen Verschmelzungsbegriffs will mir deshalb nicht zu sagen, weil ich mir unter Letzterem nichts vorstellen kann, wenn ich darunter ein Ganzes verstehen soll, das gleichzeitig und In demselben Sinne (Tonh\u00f6he) eine Einheit und eine Mehrheit ist Ich glaube, dafs man jene Beobachtung folgendermafsen erkl\u00e4ren mufs : Ber tiefere von zwei Octavent\u00f6nen zieht deshalb die Aufmerksamkeit vor h\u00e4ltnifsm\u00e4fsig st\u00e4rker auf sich als der tiefere von zwei T\u00f6nen eines anderen Intervalls, weil der Beobachter in Folge des im ersten Falle sofort auftretenden Urtheils, das ich oben sprachlich ausgedruckt habe \u201edieselbe Note44, gar nicht n\u00f6thig zu haben glaubt, dem zweiten Ton besondere Aufmerksamkeit zu schenken ; er begn\u00fcgt sich in solchem Falle mit Einem Repr\u00e4sentanten der Gattung. Wenn jedoch jenes Unheil ausbleibt, so hat er weniger Veranlassung, die geforderte \u2014 ihn anstrengende \u2014 gleichm\u00e4\u00dfige Verteilung der Aufmerksamkeit auf beide T\u00f6ne (\u201eUnterscheidung4*, wie Stumpf sagt) zu einer ungleichm\u00e4fsigen werden zu lassen. Diese Erkl\u00e4rung scheint mir deshalb durchaus befriedigend, weil ich selbst bei willk\u00fcrlich gleichm\u00e4fsig vertheilter Auf-merksamkeit keine Spur von der Beobachtung Stumpfs (eines","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nMax Meyer.\nderartigen Unterschiedes zwischen Octave und anderen Intervallen\u00bb gefunden habe.\nEbenso' wenig, wie ich bei analysirt geh\u00f6rten Kl\u00e4ngen das erste Gesetz Stumpf\u2019s anerkennen kann, ebenso wenig das zweite (abgesehen davon, dafs ich auch bei unanalysirt geh\u00f6rten Klingen statt \u201eder in den gr\u00f6fsten Schritten bewegten Stimme\u201c sagen w\u00fcrde \u201eder am schnellsten bewegten\u201c), Speciell seine Beobachtung an Beethoven\u2019s 5, Symphonie kann ich nicht best\u00e4tigen. Stumpf sagt S. 394: \u201eIn Beethoven\u2019s 5, Symphonie giebt beim Wiedereintritt des Themas (Partitur Peters S, 10) das gesammte Orchester mit Ausnahme der 1. Fl\u00f6te, 1. Oboe, der Trompeten und der Pauke das bekannte Terz-Motiv (g\u2014e&), die eben genannten Instrumente aber geben nur das g in entsprechend verschiedenen Octaven. Dem musikalischen Ohr entgeht dies nicht. Gleichwohl scheint das Ganze der Klangmasse als solches in der Terz herunterzust\u00fcrzen.\u201c Ich habe nun gerade diese Stelle oftmals selber beobachtet und habe manchmal den Eindruck gehabt, als wenn der ganze Klang herunterst\u00fcrz\u00a9, manchmal aber auch nicht und zwar dann nicht, wenn ich den in Betracht kommenden Klang so weit analysirt h\u00f6rte, dafs ich ein g und ein es gleichzeitig bemerkte. Wenn ich zwei T\u00f6ne gleichzeitig bemerke, so kann eben von Einer Tonh\u00f6he des Ganzen nicht die Rede sein, da ein Ganzes, insofern man darunter eine Einheit versteht, dann gar nicht existirt. Wenn ich mir jedoch gar keine M\u00fche gab, zu analysiren, so hatte ich vollkommen den Eindruck, dafs das Ganze in die Tief\u00a9 st\u00fcrze. Im ersten Falle, beim Analysirt-h\u00f6ren, ist die Aufmerksamkeit gleichm\u00e4fsig oder doch ziemlich gleichm\u00e4fsig 1 auf ein g und ein es vertheilt, im letzteren Falle zieht das es allein di\u00a9 Aufmerksamkeit auf sich,\n1 Es kann nat\u00fcrlich auch Vorkommen (und ist mix seihst manchmal so gegangen), dafs die Aufmerksamkeit in unserem Beispiel\u00a9 vorzugsweise auf das es, aber doch auch auf das g gerade noch hinreichend stark gerichtet ist, dafs auch letztere Tonempfindung noch ein Existentialurtheil hervorruft. In einem solchen Falle werden wir dann zwar zwei Tonh\u00f6hen als \u00a9xistireed beurtheilen, diejenige aber, di\u00a9 mit gr\u00f6fserer Aufmerksamkeit geh\u00f6rt wird (hier das es), wird von uns als zur Hauptmelodie geh\u00f6rig beurtheilt werden. Insofern man nun die Hauptmelodie als Vertreter (weil sie das Wichtigste ist) eines musikalischen Vorganges ansehen will, \u2014 aber auch nur in diesem Sinne \u2014- w\u00fcrde ich es mir gefallen lassen, wenn man (trotzdem man analysirt h\u00f6rt) sagt, das \u201eGanze\u201c st\u00fcrze herunter, nicht aber im Sinne von Stumpp\u2019s Verschmelzungslehre.","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Beurtheilung zusammengesetzter EMftge.\n25\naus dem einfachen Grunde, weil es eine neu eintretende Empfindung ist.\nStumpf macht \u00fcbrigens selber einen Ansatz dazu, anzuer-kemien, dafs es Mer einen Unterschied macht, ob man analysirt h\u00f6rt oder nicht, indem er auf Seite 395 sagt: \u201eAuch tritt jener Schein beim \u00f6fteren H\u00f6ren und bei der Kenntnifs der Partitur immer mehr zur\u00fcck, ohne doch ganz zu verschwinden,\u201c Oefteres H\u00f6ren erleichtert eben, wie jeder aus Erfahrung weifs, die Ver-theilung der Aufmerksamkeit auf mehrere gleichzeitige Ton-empfindungen ; und dasselbe leistet KenntniXs der Partitur. Wenn ich vorher weifs, was f\u00fcr T\u00f6ne zur Empfindung kommen werden, so kann ich mich nat\u00fcrlich leicht darauf vorbereiten, den Klang analysirt zu h\u00f6ren. Dafs Stumpf trotzdem alle diese Er\u00f6rterungen als solche \u00fcber analysirte Kling\u00a9 bringt, dazu d\u00fcrfte ihn wohl nur seine eigenartige Definition der Klanganalyse gezwungen haben, wonach Analyse nicht etwa das Heraush\u00f6ren mehrerer T\u00f6ne ist, sondern das Urtheil (auch ohne Heraush\u00f6ren) dar\u00fcber, dafs mehrere T\u00f6ne vorliegen.1\n6. Bei unanalysirt geh\u00f6rten Kl\u00e4ngen wendet Stumpf seine beiden Gesetze nur mit allerlei Einschr\u00e4nkungen an, w\u00e4hrend mir Gesetze \u00fcber H\u00f6henbeurtheilung von zusammengesetzten Kl\u00e4ngen als solchen \u00fcberhaupt nur bei unanalysirt geh\u00f6rten Kl\u00e4ngen sinnvoll erscheinen. Einige Bedingungen (objective und subjective) f\u00fcr die Hinlenkung der Aufmerksamkeit (bei unanalysirt geh\u00f6rten Kl\u00e4ngen nat\u00fcrlich auf nur Eine Tonempfindung mit besonderer St\u00e4rke) habe ich bereits erw\u00e4hnt (S. 18 f.). Ich will nun noch an einigen Beispielen einige Einzelheiten der Aufmerksam-keitsvertheilung und ihre Wirkung besprechen.\nBeim H\u00f6ren eines durch ein gew\u00f6hnliches Musikinstrument hervorgebrachten sogenannten \u201eTones11 (Einzelklanges) wird (auch von Musikalischen) im Allgemeinen zun\u00e4chst nur die tiefste zur Empfindung gelangende Tonh\u00f6he bemerkt. Dies ist gar nicht wunderbar, wenn wir bedenken, dafs sie nicht nur den Vortheil der gr\u00f6fsten relativen Tiefe, sondern auch den einer gew\u00f6hnlich aufserordentlich \u00fcberwiegenden Tonst\u00e4rke besitzt; sie nimmt somit die Aufmerksamkeit im Vergleich zu den \u00fcbrigen Theilt\u00f6nen fast allein f\u00fcr sich in. Anspruch.2\n1 Siehe diese Zeitschrift Bd. 18, S. 282.\n1 Stumpf freilich erkl\u00e4rt es (II, S. 313 f.) ausdr\u00fccklich f\u00fcr \u201eunrichtig, zu sagen, dafs beim H\u00f6ren eines unanalysirten Einzelklanges die Aufmerksam-","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nMax Meyer.\nNun scheint mir ein gewisses Gesetz darin zu bestehen, dafs die Aufmerksamkeit, wenn sie einer Empfindung einmal zugewandt ist, mit einiger Festigkeit dabei verharrt und dem \u2014 ganz oder theilweise \u2014 Uebefgehen auf andere Empfindungen Widerstand entgegensetzt. Ist nun bei dem Beobachter der Wille vorhanden, die Aufmerksamkeit noch anderen Empfindungen zuzuwenden, so wird jener Widerstand \u00fcberwunden, und zwar um so leichter \\ je mehr Uebung und specielle Begabung der Beobachter besitzt. Wenn jedoch eine solche willk\u00fcrliche Hinwendung der Aufmerksamkeit auf eine andere Empfindung unterbleibt, so scheint nach Ablauf einer gewissen, verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig sehr langen Zeit die Aufmerksamkeit sich von selbst sozusagen auf die Wanderung zu begeben. Wenn man einen Beobachter einen unver\u00e4nderlichen Klang \u2014 einen Einzelklang eines Instruments oder einen auf andere Weise zusammengesetzten Klang (Accord) \u2014 lange Zeit hindurch h\u00f6ren l\u00e4fst und ihn zu weiter nichts auffordert, als seinen Geh\u00f6rsempfindungen \u00fcberhaupt seine Aufmerksamkeit dauernd zuzuwenden, so f\u00fchrt er h\u00e4ufig eine wirkliche Analyse des Klanges aus, wenn sie auch gew\u00f6hnlich unvollkommen bleibt Die Zeit, die zu einer solchen unwillk\u00fcrlichen Analyse verbraucht wird, ist nat\u00fcrlich sehr verschieden je nach angeborener Begabung und bereits vorhandener Uebung des Beobachters im Aufmerken auf Geh\u00f6rsempfindungen.\nWir k\u00f6nnen uns die Frage vorlegen, was geschehen wird, wenn wir einen Beobachter zwei gleich starke T\u00f6ne nur eine ganz kurze Zeit h\u00f6ren und ihn dar\u00fcber urtheilen lassen, welches Intervall die T\u00f6ne bildeten. F\u00fcr einen Beobachter, der die musikalischen Intervalle richtig zu benennen weifs, kommt es dann nur darauf an, die beiden erforderlichen Tonh\u00f6henexistential-urtheile zu f\u00e4llen. Wenn nun beide T\u00f6ne gleich stark sind, so\nkeit vorzugsweise dem Grundtone zugewandt sei. Sie ist dem Klang ausschliefs-lieh als Ganzem zugewandt; dem Grundton dagegen weder ausschlie\u00dflich noch vorzugsweise.\u201c Diese Stellungnahme ist durch Stumpf\u2019s Theorie der Aufmerksamkeit bedingt.\n1 Wenn ich hier von \u201eLeichtigkeit\u201c und \u201eSchwierigkeit\u201c spreche, so will ich damit weiter nichts ausdr\u00fccken, als dafs unter gewissen Bedingungen ein gewisser seelischer Vorgang mit gr\u00f6fserer oder geringerer \u201eGeschwindigkeit\u201c abl&uit, als unter anderen Bedingungen. \u00bbStumpf hat leider im zweiten Band der Tonpsychologie, wo er von Leichtigkeit und Schwierigkeit der Klanganaiyse spricht, diese Begriffe nicht genau definirt.","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"Ucber Heurt bribing zusammengesetzter Kl\u00e4nge.\n27\nk\u00f6nnte man annehmen, dafs die Aufmerksamkeit sich sofort gleiehm\u00e4fsig auf die beiden T\u00f6ne vertheilt. Dies scheint mir aber \u2014 selbst bei ge\u00fcbten Personen \u2014, wenn die H\u00f6he der T\u00f6ne vorher nicht bekannt ist, selten zu geschehen. Es ist sehr wahrscheinlich, dafs auch bei gleicher Tonst\u00e4rke doch die subjectiven Bedingungen der Aufmerksamkeit selten f\u00fcr beide T\u00f6ne gleich g\u00fcnstig sind, und dafs daher in der Regel die Aufmerksamkeit zuerst auf Einen der beiden T\u00f6ne gelenkt wird.\nBei den Versuchsreihen, die ich mit Analysen letzterer Art\ngemacht habe, hat sich das merkw\u00fcrdige Ergebnifs gezeigt, dafs\ndie Analvse \u2014 das F\u00e4llen der beiden Existentialurtheile \u2014 bei \u00bb\ngleicher Zeitdauer des Klanges bei den consonanteren Intervallen mit bei weitem gr\u00f6fserer Sicherheit ausgef\u00fchrt wird als bei den weniger consonanten. Daraus folgt, dafs zu gleicher Bestimmtheit der Urtheile bei den dissonanteren Intervallen eine l\u00e4ngere Dauer des Klanges erforderlich ist. Hieraus wiederum schliefse ich, dafs das Uebergehen der Aufmerksamkeit von einer Tonempfindung zu einer Anderen leichter ist, wenn die beiden T\u00f6ne ein consonantes Intervall bilden. Dies ist auch nach den obigen Ausf\u00fchrungen \u00fcber die Verwandtschaft der T\u00f6ne ganz erkl\u00e4rlich.\nWeniger ge\u00fcbte Personen brauchen zu einer gleichen Analyse betr\u00e4chtlich mehr Zeit, als ich sie damals als Klangdauer angewandt habe. Der Durchschnitts-Unmusikali sehe braucht dazu nach meinen Erfahrungen in der Regel weit mehr als zwei bis drei Secunden. Ich bin daher \u2014 abgesehen von sonstigen Gr\u00fcnden \u2014 \u00fcberzeugt, dafs die Versuchspersonen in den Versuchsreihen mit Unmusikalischen von Stumpf1 und Faist2 nur ausnahmsweise wirklich analysirt haben. Uebrigens habe ich in meiner Abhandlung \u00fcber Tonverschmelzung u. s. w.8 es als selbstverst\u00e4ndlich bezeichnet, dafs die Versuchspersonen in allen F\u00e4llen, wo eine wirkliche, wenn auch nur unvollkommene Analyse stattfand, auch ein Mehrheitsurtheil abgegeben h\u00e4tten. Ich glaube, dafs es bei den Unmusikalischen doch wohl nicht so selbstverst\u00e4ndlich ist, dafs sie beim Heraush\u00f6ren von zwei T\u00f6nen .stets ein Mehrheitsurtheil abgeben. Wenn die beiden heraus-\n1 Tonpsychologie II, \u00a7 19.\n5 Diese Zeitschrift Bd. 15, 8.102. * Diese Zeitschrift Bd. 17, S. 415.","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28\nMax Meyer.\ngeh\u00f6rten T\u00f6ne eines der consonanteren Intervalle bilden, so werden die Unmusikalischen oft jenes eigent\u00fcmliche Urtheil f\u00e4llen, das ich ausgedr\u00fcckt habe: \u201ees ist dieselbe Note\u201c, das sie selbst aber ausdr\u00fccken: \u201ees ist derselbe Ton\u201c.\nMan mufs hier bedenken, dafs die Unmusikalischen, so oft eie \u00fcberhaupt analysirten, sicherlich die Methode des successiven Heraush\u00f6rens1 angewandt haben, da diese die leichteste i\u00dft. Wenn dann an das zweite Tonh\u00f6henexistentialurtheil sich sogleich das Urtheil der partiellen Gleichheit anschliefst, das die Unmusikalischen ausdr\u00fccken : \u201ees ist derselbe Ton\u201c, so liegt doch die Gefahr sehr nahe, dafs der Beobachter \u2014 namentlich bei Octaven \u2014 auch oft ein Einheitsurtheil abgiebt, obwohl er zwei verschiedene Tonh\u00f6henexistentialurtheile gef\u00e4llt hat Auf die M\u00f6glichkeit dieser Begriffsverwechselung scheint aber weder Stumpf noch Faist seine Beobachter aufmerksam gemacht zu haben.\n7. Ich mufste oben Stumpf\u2019s Begriff der Tonverschmelzung ablehnen, weil dieser mir zu verlangen scheint, dafs eine Mehrheit in demselben Sinne, in dem sie eine Mehrheit ist, zugleich eine Einheit sei. Nicht weniger ablehnend mufs ich mich ver-halten gegen einen anderen Begriff der Tonverschmelzung, den ich Mer in der Form zur Darstellung bringen will, die Lipps ihm. gegeben hat.2 Lipps schreibt: \u201eZwei T\u00f6ne verschmelzen zu einem Klange, damit will ich sagen, statt dafs ich mir zweier an H\u00f6he, vielleicht auch an St\u00e4rke verschiedener T\u00f6ne bewufst bin, findet sich in meinem Bewufstsein nur die eine, jede solche Verschiedenheit ausschliefsende Tonqualit\u00e4t, die ich als Klang be-zeichne.\u201c Er erl\u00e4utert diesen Vorgang n\u00e4her als einen dem analogen, wenn zwei Metalle in fl\u00fcssigem Zustande mit einander verschmelzen. Ich kann jedoch gar nichts Analoges hierin erblicken. Zwei T\u00f6ne, die ich gleichzeitig h\u00f6re, \u201everschmelzen\u201c ebenso wenig mit einander, wie zwei durch verschiedene Netz-hauttheile vermittelte Gesichtsempfindungen \u201everschmelzen\u201c. So wenig di\u00a9 benachbarten farbigen B\u00e4nder des Spectrums, von dem ich einen Punkt fixire, zu einer Mischfarbe verschmelzen, so wenig mehrere gleichzeitige Tonempfindungen zu einem Mischton, Wenn ich. gleichzeitig c und e unanalysirt h\u00f6re, so m\u00fcfste ich,\n1\tDiese Zeitschrift Bel. 18, S. 281, unter b.\n2\tPhilosoph. Monatshefte Bd. 28, S. ,660.","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"Heber Beurthe\u00fcung zusammengesetzte!* Kl\u00e4nge,\n29\nfalls die von Lipps beschriebene Verschmelzung existirte, einen Klang von mittlerer H\u00f6he h\u00f6ren. Dies ist aber nicht der Fall; solch ein Zusammenfliefsen von T\u00f6nen giebt es gar nicht, Sondern, wenn ich jenen Zweiklang analysirt h\u00f6re, so f\u00e4lle ich gleichzeitig zwei Tonli\u00f6henexistentialurtheile, und wenn ich ihn unanalysirt h\u00f6re, nur Eines, Das ist der ganze Unterschied. Ob ich nun in letzterem Falle die Tonempfindung c oder e als existirend beurtheile, das hingt davon ab, f\u00fcr welchen der beiden T\u00f6ne die Aufmerksamkeitsbedingungen gerade g\u00fcnstiger sind. Es besteht hier zwischen Gesichts- und Geh\u00f6rsempfindungen kein principieller Unterschied. Wir bemerken auch nicht alle unsere gleichzeitigen Gesichtsempfindungen; d. h. nicht jede Gesichtsempfindung ruft ein Existentialurtheil hervor, Der wesentlichste Unterschied zwischen Gesichts- und Geh\u00f6rsempfindungen beruht darauf, dafs unser Gesichtsfeld selten durch verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig wenige farbige Flecke, die sich mit gleich vielen Empfindungen der Tonreihe vergleichen liefsen, ausgef\u00fcllt ist, sondern vielmehr durch eine \u00fcberaus bunte Mannigfaltigkeit, die wir erfahrungs-m\u00e4fsig zu Gruppen zusammenfassen, d. h. die in Gruppen zur psychischen Wirkung gelangt. Dafs eine so viel gr\u00f6fsere Zahl solcher Gruppen gleichzeitige Existentialurtheile hervor-rufen kann, als dies bei T\u00f6nen m\u00f6glich ist, und dafs es auf dem Gebiete des Sehens kaum Menschen giebt, die den Unmusikalischen auf dem Gebiete des H\u00f6rens in Bezug auf Unf\u00e4higkeit, ihre Aufmerksamkeit zu vertheilen, gleichgestellt werden k\u00f6nnten, beruht auf einer entwickelungsgeschichtlichen Nothwendigkeit, die ich schon fr\u00fcher1 betont habe.\nMusikalische haben oft \u00fcber das Musikh\u00f6ren von Seiten Unmusikalischer recht seltsame Ansichten. Der Unterschied zwischen dem beiderseitigen Musikh\u00f6ren ist jedoch gar nicht so sehr grofs, als man h\u00e4ufig annimmt. Jedenfalls findet ein derartiges Zusammenfliefsen der T\u00f6ne, wie es Lifps beschreibt, auch bei Unmusikalischen nicht statt. Wenn ein Unmusikalischer \u2014 oder besser ausgedr\u00fcckt: ein im Vertheilen der Aufmerksamkeit auf mehrere gleichzeitige Tonempfindungen Unge\u00fcbter \u2014 Musik h\u00f6rt, so fesselt gew\u00f6hnlich2 diejenige Stimme seine Anfmerksam-\n1\tDime Zeittchrift Bd, 17, S. 414, Aam. 3.\n2\tVorausgesetzt, dafs die Aufmerksamkeit nicht so sehr durch ander\u00a9 Umst\u00e4nde abgelenkt ist, dafs gar kein Tonh\u00f6henexistentialurtheil liervor-gerufen wird, die betreffende Person also die Klinge \u00fcberh\u00f6rt.","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30\nMax Meyer.\nkeit, die am bewegtesten ist (nicht, wie man nach Stumpf\u2019s zweitem Gesetz annehmen k\u00f6nnte, die die gr\u00f6fsten Schritte macht).1 Dies pflegt im Allgemeinen die melodief\u00fchrende Stimme zu sein, die ja gew\u00f6hnlich auch durch die gr\u00f6fste Intensit\u00e4t ausgezeichnet ist. Doch fesselt auch dann die melodief\u00fchrende Stimme die Aufmerksamkeit des Beobachters, wenn eine schneller bewegte Stimme zwar vorhanden ist, aber in viel geringerer Intensit\u00e4t. Wird jedoch eine Melodie durch einen figurirten Bafe begleitet, so zieht dieser, weil er noch die g\u00fcnstige Bedingung der relativen Tiefe f\u00fcr sich hat, gew\u00f6hnlich stark die Aufmerksamkeit an sich. Der im Vertheilen der Aufmerksamkeit auf zwei oder mehr gleichzeitige Tonempfindungen ge\u00fcbte Beobachter h\u00f6rt in solchem Falle mit Leichtigkeit, ohne sich besonders anstrengen zu. m\u00fcssen, zwei Stimmen neben einander heraus. Der unge\u00fcbte Beobachter, f\u00fcr den das gleichzeitige Bemerken von zwei T\u00f6nen 8 ein ganz seltener Ausnahmefall ist, ger\u00e4th jedoch gew\u00f6hnlich in diesem Falle entweder dauernd in die tiefere oder noch h\u00e4ufiger bald in die tiefere, bald in die h\u00f6here Stimme und kommt dann gar nicht zur Erkennung der Hauptmelodie. Dies scheint mir der Grund zu sein, warum wenig Ge\u00fcbte (Unmusikalische) \u2014 wie ich oft festgestellt habe \u2014 durch eine solche Musik sehr wenig befriedigt werden, bei der die Hauptmelodie, in deren Wahrnehmung sich das musikalische Interesse des Unge\u00fcbten5 concentrirt, durch einen figurirten Bafs begleitet wird.\nWenn nun ein musikalisch wenig Ge\u00fcbter beim H\u00f6ren vielstimmiger Musik eine Melodie heraus h\u00f6rt, indem allein die T\u00f6ne\n1 Bafs die im schnellsten Tempo bewegte Stimme die Aufmerksamkei an sich zieht, ist nach den fr\u00fcheren Er\u00f6rterungen leicht einzusehen; neu auftretende Empfindungen haben ja vor ruhenden in Bezug auf die (Richtung der Aufmerksamkeit einen besonderen Vorzug. Wenn aber die Aufmerksamkeit erst einmal bei einer Stimme ist, so kann sie nicht leicht auf eine andere \u00fcbergehen, weil die T\u00f6ne der ersteren Stimme in Folge ihrer melodischen Verkn\u00fcpfung (diese vorausgesetzt !) stete in gewisser Weise f\u00fcr die Aufmerksamkeit vorbereitet sind. Dies gilt nat\u00fcrlich umsomehr, wenn die betreffende Melodie dem H\u00f6rer bereite bekannt ist.\n\u00c4 D. h. Analysirt-h\u00f6ren, was nicht dasselbe ist, wie Analysiren ; wer Letzteres kann, braucht Ersteree deshalb noch nicht zu k\u00f6nnen.\n8 Die Uebung im musikalischen H\u00f6ren besteht vor Allem darin, dale die Aufmerksamkeit eich nicht mehr so leicht auf eine einzige der gleichzeitigen Tonempfindungen concentrirt, was beim Unge\u00fcbten die Regel ist.","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"IJeher Beurthe\u00fcung zusammengesetzter Kl\u00e4nge.\n31\ndieser Melodie mit gen\u00fcgender Aufmerksamkeit geh\u00f6rt werden, um Tonh\u00f6henexistentialurtheile hervorzurufen : in welcher Weise h\u00f6rt er dann die \u00fcbrigen \u2014 h\u00f6heren und tieferen \u2014 T\u00f6ne? Er h\u00f6rt sie in derselben Weise wie die Obert\u00f6ne des Klanges eines einzigen Instruments, Diese Tonempfindungen rufen keine Ton-h\u00f6henexistentialurtheile hervor, sondern nur ein Klangfarben-urtheil (worin ich hier auch die Urtheile \u00fcber gr\u00f6fsere oder geringere Consonanz der Kl\u00e4nge einschliefse).1 Nicht nur durch solche T\u00f6ne kann ein Klangfarbenurtheil hervorgerufen werden, die h\u00f6her sind als der Ton, der ein Tonh\u00f6henexistentialurtheil hervorruft, sondern auch durch solche, die tiefer sind. Diebest\u00e4ndige Ver\u00e4nderung der Klangfarbe (mit Einschlufs der Consonant j ist es, wodurch vielstimmige Musik f\u00fcr den wenig musikalisch Ge\u00fcbten sich vor einer einfachen Melodie vorteilhaft auszeichnet. Aber die Harmonisirung mufs so einfach sein, dafs sie den unge\u00fcbten H\u00f6rer nicht am Heraush\u00f6ren der Melodie hindert Sonst hat sie den entgegengesetzten Erfolg und macht ihm die Musik nicht nur nicht angenehmer, sondern \u00fcberhaupt ungeniefsbar.\nAber auch im musikalischen H\u00f6ren ge\u00fcbte Personen d\u00fcrften selten dar\u00fcber hinauskommen, mehr als dreistimmige Musik vollkommen analysirt zu h\u00f6ren. Sie werden solche Musik im Allgemeinen teilweise analysirt h\u00f6ren und manchmal auch unanalysirt; denn das Analysirt-h\u00f6ren ist (auch wenn nur teilweise analysirt geh\u00f6rt wird) so anstrengend, dafs es kaum Jemand stundenlang ohne Unterbrechung fortsetzen kann. Aber musikalisch Ge\u00fcbte k\u00f6nnen auch sehr viel \u00fcber die Zusammensetzung der 'Klinge aus der blofsen Klangfarbe auf Grund ihrer Erfahrung erschliefsen. Mancher glaubt Manches in Bezug auf die Zusammensetzung eines Klanges herausgeh\u00f6rt zu haben blos deshalb, weil er es (indirect) richtig als vorhanden beurteilt\nDie Qualit\u00e4tsurteile \u00fcber zusammengesetzte Kl\u00e4nge sind nat\u00fcrlich von sehr grofser Bedeutung f\u00fcr die Gef\u00fchlswirkung der Kl\u00e4nge. Leider ist jedoch auf'1 diesem Gebiete im Einzelnen noch recht wenig mit Sicherheit festgestellt\n1 Den Ausf\u00fchrungen St\u00fcmpf\u2019s \u00fcber die Bedingtheit der Klangfarbe im engeren Sinne durch die \u201eTonfarbe\u201c stimme ich gegen\u00fcber den Angriffen von H. Cornelius durchaus zu. Was in der That Farbe der Theilt\u00f6ne ist, beurtheilen wir als zugeh\u00f6rig zu der Einen von uns als existirend be-nrtheilten Tonh\u00f6he.","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nMax Meyer.\n8. Bei Intensit\u00e4tsurtheilen \u00fcber zusammengesetzte Kl\u00e4nge und ihre Theile ist die Frage von grofser Bedeutung, ob Empfindungen durch Aufmerksamkeit verst\u00e4rkt werden k\u00f6nnen, wie es Stumpf (II, S. 314), wenn auch mit gewissen. Einschr\u00e4nkungen, behauptet. Ich mufs mich hier den Bemerkungen durchaus anschliefsen, mit denen Lifts in der oben erw\u00e4hnten Besprechung sich dagegen wendet, dafs eine Verst\u00e4rkung durch Aufmerksamkeit von Stumpf nachgewiesen sei. Von einer Verst\u00e4rkung durch Aufmerksamkeit k\u00f6nnte nur dann die Bede sein, wenn man einen Ton deutlich anschwellen h\u00f6rte. Dafs man 'ihn. sp\u00e4ter als existirend beurthei.lt und fr\u00fcher nicht, beweist keine Verst\u00e4rkung der Empfindung.\nStumpf macht auf S. 316 noch die specielle Bemerkung, die Verst\u00e4rkung k\u00f6nne nicht auf beiden Ohren zugleich erfolgen. Was er aber mit dieser Behauptung erkl\u00e4ren will, dafs man n\u00e4mlich beim Heraush\u00f6ren von Beit\u00f6nen die Aufmerksamkeit h\u00e4ufig mit Vortheil Einem Ohre allein zuwende, daf\u00fcr scheint mir eine andere Erkl\u00e4rung viel n\u00e4her liegend. Man. h\u00f6rt \u00fcberhaupt fast nie (im begrenzten Raum) irgend einen Ton auf beiden Ohren gleich stark. Wenn man nun die Aufmerksamkeit demjenigen Ohre zuwendet, auf dem man den betreffenden Beiton st\u00e4rker h\u00f6rt, so h\u00f6rt man ihn nat\u00fcrlich leichter heraus, als wenn man die Aufmerksamkeit auf das andere Ohr richtet Dafs es beim, Heraush\u00f6ren von Beit\u00f6nen stets Erleichterung gew\u00e4hrt, wenn man. die Aufmerksamkeit auf ein beliebiges, aber nur ein einziges Ohr richtet, kann ich aus meiner Erfahrung nicht best\u00e4tigen.\nEine bemerkenswerte Thatsache scheint darin zu bestehen, dafs es bei consonanteren Intervallen schwerer ist, die St\u00e4rke gleichzeitiger T\u00f6ne gegen einander abzusch\u00e4tzen, als bei weniger consonanten. Man wird sich hier vorl\u00e4ufig wohl, damit begn\u00fcgen m\u00fcssen, dafs man annimmt, bei consonanteren Intervallen werde das St\u00e4rkeurtheil nicht nur durch den zu beurtheilenden, sondern auch durch, den anderen Ton beeinflufst.1 Weiter gehende Erkl\u00e4rungen scheinen mir bedenklich, so lange diese Thatsache nicht genauer untersucht ist.\nStumpf ist geneigt, Versuche, die ich nunmehr selber beschrieben habe2, durch Hinweis auf die eben erw\u00e4hnte Urtheilsschwierig-\n1\tDime Zeitschrift Bd. 18, S. 289 f.\n2\tDiese Zeitschrift Bd. 17, S. 406 f.","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Beurtheilung zusammengesetzter Kl\u00e4nge.\n33\nkeit zu erkl\u00e4ren, indem er angiebt1, der Beobachter sei durch \u00a9ine gewisse \u201eF\u00fclle\u201c des Eindrucks dazu bestimmt worden, das Urtheil \u201e1 Ton\u201c oder \u201e2 T\u00f6ne\u201c abzugeben. Ich benutze diese Gelegenheit, um zu bemerken, dafs Mer unter \u201eF\u00fclle\u201c \u00fcberhaupt nicht Intensit\u00e4t zu verstehen war. Der Beobachter (Giebing) hat das Wort \u201eF\u00fclle\u201c in seiner Aussage \u00fcberhaupt nicht gebraucht, sondern nur das Wort \u201eHarmonisch\u201c. Ich glaubte damals das m\u00f6glicherweise mifsverst\u00e4ndliche Wort \u201eHarmonisch\u201c durch das Wort \u201eF\u00fclle\u201c interpretiren zu d\u00fcrfen, womit ich nat\u00fcrlich nicht Intensit\u00e4t meinte, sondern F\u00fclle in \u00e4hnlichem Sinne, wie ein kleineres Gem\u00e4lde den Eindruck gr\u00f6fserer F\u00fclle erwecken kann als ein gr\u00f6fseres. Leider konnte ich den Abdruck dieses aus einer kurzen m\u00fcndlichen Besprechung herstammenden Mi\u00dfverst\u00e4ndnisses nicht verhindern, da mir die betreffenden Sitze St\u00fcmpf\u2019s an jener Stelle erst nach erfolgter Publication zu Gesicht kamen.\nDafs wir Kl\u00e4nge ihrer St\u00e4rke nach mit einander vergleichen k\u00f6nnen, auch wenn wir sie analysirt h\u00f6ren, wird Niemand leugnen. Kann man doch auch von zwei Malern sagen, X male besser als Y, selbst wenn einige Gem\u00e4lde von Y besser sind als einige von X. Ebenso wenig jedoch, wie meine Werthsch\u00e4tzung der gesammten k\u00fcnstlerischen Th\u00e4tigkeit des Malere X durch neu mir bekannt werdende Gem\u00e4lde dieses Meisters unbeeinflufst bleibt, ebenso wenig d\u00fcrfte mein Intensit\u00e4tsurtheil durch neu hinzu\u00ab kommende T\u00f6ne unbeeinflufst bleiben.2 Ich kann daher das Gesetz Stumpfs : \u201eDas Hinzukommen anderer, selbst einer grofsen Zahl anderer T\u00f6ne bedingt keine Verst\u00e4rkung des Empfindungsganzen\u201c als ein psychologisches Gesetz bis j atzt nicht anerkennen. Der Clavierversuch, mit dem Stumpf es begr\u00fcndet, giebt viel zu gewichtigen Einw\u00e4nden Raum, als dafs er \u00fcberzeugend wirken k\u00f6nnte. Bei dem Mangel exacter Beobachtungen auf diesem Gebiete kommt man hier leider \u00fcber Vermuthungen noch nicht hinaus.\n1\tBeitr\u00e4ge zur Akustik und Musikwissenschaft, 1. Heft, S. 39 f.\n2\tVon der physiologisch bedingten Aenderung der Empfindungsst\u00e4rke der einzelnen einfachen T\u00f6n\u00a9 durch das Hinzutreten anderer ist hier abzusehen, da es sich ja um di\u00a9 Beurtheilung der ganzen (analysirt geh\u00f6rten) Summe handelt, wobei die physikalisch-physiologischen Verh\u00e4ltnisse so her-gestellt zu denken sind, dafs die Empfindungsst\u00e4rke der bereite vorhandenen T\u00f6ne durch das Hinzutreten neuer stets unver\u00e4ndert gelassen wird.\n(Eingegangen am 20\u00bb November 1898.)\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XX.\n3","page":33}],"identifier":"lit30691","issued":"1899","language":"de","pages":"13-33","startpages":"13","title":"Ueber Beurtheilung zusammengesetzter Kl\u00e4nge","type":"Journal Article","volume":"20"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:07:23.196019+00:00"}