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{"created":"2022-01-31T13:37:05.246869+00:00","id":"lit30784","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Zehender, W. von","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 20: 353-357","fulltext":[{"file":"p0353.txt","language":"de","ocr_de":"Die Form des Himmelsgew\u00f6lbes und das Gr\u00f6fser-Erscheinen der Gestirne am Horizont.\nEin kurzer Nachtrag zu meiner Arbeit \u00fcber \u201eGeometrisch optische T\u00e4uschung\u201c\n(Bd. XX, S. 66 ff.).\nVon\nW. von Zkiikndek.\nDas Himmelsgew\u00f6lbe erscheint nicht kugelf\u00f6rmig, sondern von obenher abgeflacht (uhrglasf\u00f6rmig). Dies ist ein seit langer Zeit ziemlich allgemeing\u00fcltig gewordener Lehrsatz. Ich habe mich vergeblich bem\u00fcht, zu ermitteln, wer diesen Lehrsatz zuerst ausgesprochen hat und wodurch die allgemeine G\u00fcltigkeit des-selben urspr\u00fcnglich begr\u00fcndet worden ist; ich finde nur, dafs dessen Richtigkeit fast allgemein adoptirt ist, im Uebrigen aber immer nur danach gefragt wird, warum uns der Himmel am Horizont weiter entfernt erscheint, als im Zenith.\nEs sei mir erlaubt die Frage nach der Richtigkeit diese* Lehrsatzes noch einmal aufzuwerfen, und einer n\u00e4heren Pr\u00fcfung unterziehen zu d\u00fcrfen.\nSoweit ich sehen kann, giebt es nur drei M\u00f6glichkeiten, die zur Entstehung einer Vorstellung \u00fcber die Himmelsform Veranlassung geben k\u00f6nnen. Es k\u00f6nnte dieselbe:\n1.\teine angeborene sog. \u201eZwangsvorstellung\u201c sein, oder sie kann\n2.\tdurch Erfahrung erworben, oder\n3.\tdurch Tradition zu einer Glaubenssache geworden sein,\nMit der ersten M\u00f6glichkeit wollen wir nicht rechnen ; sie\nwird den Meisten \u2014 ebenso wie mir \u2014 unm\u00f6glich erscheinen. \u2014 Es bleiben dann nur noch die beiden anderen M\u00f6glichkeiten : Erfahrung oder Tradition.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XX.\n23","page":353},{"file":"p0354.txt","language":"de","ocr_de":"354\nW. von Zehender.\nEin erfahrungsm\u00e4fsiges XJrtheil \u00fcber Form, und Entfernung gr\u00fcndet sich in jedem besonderen Falle auf die Gr\u00f6fee eines Gegenstandes, verglichen mit der Entfernung in. welcher dieser Gegenstand gesehen wird. Kennen wir die Gr\u00f6fse des 'Gegenstandes, dann sind wir im Stande die Gr\u00f6fse der Entfernung in der wir ihn sehen \u2014 wenigstens ann\u00e4hernd \u2014 abzuseh\u00e4tzen, und kennen wir die Entfernung, dann sind wir gleicher Weise auch im Stande seine Gr\u00f6fse ann\u00e4hernd zu sch\u00e4tzen.\nAm Himmel giebt es aber keine Gegenst\u00e4nde von bekannter Gr\u00f6fse, aus denen ein Urtheil \u00fcber dessen Entfernung abgeleitet werden k\u00f6nnte, noch auch \u2014 mit Ausnahme der wenigen Gestirne\u00bb deren Gr\u00f6fse teleskopisch mefsbar ist \u2014 kennen wir am Himmel ihren Abstand von der Erde. Das Ende des Himmels ist f\u00fcr uns ebenso unsichtbar wie die uns umgebende atmosph\u00e4rische Luft Folglich ist es unm\u00f6glich, die Form oder die Entfernung des Himmelsgew\u00f6lbes auf dem Wege der Erfahrung sch\u00e4tzungsweise zu ermitteln. Nur die terrestrischen Gegenst\u00e4nde und die am Himmel gleichsam angehefteten Wolken k\u00f6nnten als Hufserst unzuverl\u00e4ssige Anhaltspunkte zur Absch\u00e4tzung der scheinbaren Himmelsform verwendet werden. Hiervon abgesehen bleibt also nichts anderes \u00fcbrig als anzunehmen, dafs die Vorstellung der uhrglas\u00e4hnlichen Form de\u00ae Himmelsgew\u00f6lbes auf Tradition beruht und auf dem Wege der Tradition zur sogenannten \u201eZwangsvorstellung44 geworden ist\nEs giebt indessen doch noch eine Erfahrung\u00bb die geeignet w\u00e4re, den mathematischen Beweis dieser \u201eZwangsvorstellung\u201c zu erbringen. \u2014 Seit langer Zeit ist bekannt, dafs bei Absch\u00e4tzung, einer Winkelgr\u00f6fse am Himmelsfirmament, jede Winkeibestimmung in der Zenithn\u00e4he constant zu grofs und in der Horizontn\u00e4he constant zu klein ausf\u00e4llt \u2014 Hieraus, l\u00e4fst sich allerdings di# uhrglas\u00e4hnliche Form des Himmelsgew\u00f6lbe mathematisch ab* leiten \u2014 aber nur dann wenn vorausgesetzt wird\u00bb dafs diese ^ unrichtige\u00bb Winkeibestimraung richtig sei \u2014 Man kann aber die Sache auch umkehren, und kann voraussetzen, dafs die Winkelsch\u00e4tzung falsch sei; dann ist nat\u00fcrlicher Weise auch das Reehnungsresultat und die daraus abgeleitete Form des Himmelsgew\u00f6lbes mindestens ebenso falsch.\nIm, R\u00fcckblick auf meine fr\u00fchere Arbeit \u00fcber \u201eGeometrisch-optische T\u00e4uschung\" y/wsr Zeitackr, S.65) m\u00f6chte","page":354},{"file":"p0355.txt","language":"de","ocr_de":"Die Form de* SRmmeltgewSlbe\u00bb etc.\n355\nich hier nachtr\u00e4glich nun noch hervorheben, dafs die schon voi; langer Zeit auf astronomischem Gebiete erfahrangsm^fsig gemacht\u00a9 Beobachtung, die \u2014 soviel ich weifs \u2014 bisher nur auf das Himmelsgew\u00f6lbe Anwendung gefunden hat, weit allgemeiner\u00a9 Geltung verdient, als ihr bisher zu Theil geworden ist Vorausgesetzt also \u2014 und wir glauben die Richtigkeit dieser Voraussetzung f\u00fcr die ebene Fl\u00e4che, \u00fcberzeugend bewiesen zu haben \u2014 dafs :\n\u201eSpitz\u00a9 Winkel, die in horizontaler Richtung sich \u00f6ffnen, gew\u00f6hnlich zu klein, spitz\u00a9 Winkel, die in verticaler Richtung sich \u00f6ffnen, gew\u00f6hnlich zu grofs gesch\u00e4tzt werden\u201c,\t>\ndann ist es wohl erlaubt, dieses f\u00fcr die flache Ebene gefundene Gesetz auch f\u00fcr die dritte Dimension und also auch f\u00fcr das Himmelsgew\u00f6lbe gelten zu lassen.\t.\nHiernach ist di\u00a9 Unrichtigkeit der Winkelsch\u00e4tzung am Himmelsgew\u00f6lbe \u00a9in Vorgang, der auf breiter physiologischer Basis ruht und als solcher ber\u00fccksichtigt und berichtigt werden mufs. Geschieht dies, dann wird die mathematische Deduction einer \u201euhrglas\u00e4hnlichen Himmelsform\u201c hinf\u00e4llig; geschieht dies nicht, dann ist die vermeintlich\u00a9 Himmelsform nicht eine erfahrungsm\u00e4fsig ermittelt\u00a9 Thatsache, sondern ein auf falscher Grundlage aufgebauter Schlufs.\nWir stehen mit dieser Ansicht \u00fcber die Form des Himmelsgew\u00f6lbes nicht ganz isolirt, und stehen damit insbesondere nicht ganz im Widerspruch mit Helmholtz, wenn dieser, nachdem er die Form des Wolkenhimmels als ein \u201ewenigstens im Zenith sehr plattes Gew\u00f6lbe\u201c erkl\u00e4rt hat, weiterhin sagt: \u201eDa wir nun kein Mittel der sinnlichen Anschauung haben, um die Entfernung des Wolkenhimmels von der des Sternenhimmels zu trennen, so scheint es nur nat\u00fcrlich, dafs wir dem letzteren die wirkliche Form des ersteren, so weit wir sie unterscheiden k\u00f6nnen, mit zuschreiben, und dafs auf dies\u00a9 Weise, die doch immer sehr vage, unbestimmte und ver\u00e4nderlich\u00a9 Vorstellung von der flach kuppelf\u00f6rmigen W\u00f6lbung des Himmels entsteht\u201c In engem Zusammenhang\u00a9 hiermit steht die oft discutirte Frage nach den Ursachen des \u201eGr\u00f6fser-Erscheinens\u201c von Mond, Sonn\u00a9 und Sternbildern am Horizont \u2014 Wenn allgemeinhin\nspitze, in horizontaler Richtung sich \u00f6ffnende Winkel kleiner\n28*","page":355},{"file":"p0356.txt","language":"de","ocr_de":"' w. von Zehender.\n856\nr\ta r '\t#1\t*\t*\t* f\t\u00bb\t\u2022 \u2022\t\u25a0 r r \u2022\nerscheinen aw ' sie in Wirklichkeit sind, dann muft der Durra-\nmesser des Mondes am Horizont gr\u00f6fser erscheinen als in jeder anderen (h\u00f6heren) Himmelslage. Wenn wih beispielsweise den Mond, der uns am Himmelszelt unter einem Gesichtswinkel von etwa 1\u00b0 erscheint, hoch am Himmel in der N\u00e4he des Zen\u00eeth\u00e9 betrachten, wo unsere Winkelsch\u00e4tzungen durchschnittlich zu grofs ausfallen (also 1\u00b0 -j- *), dann m\u00fcfste der Monddurchmesser um einen Gesichtswinkel = e gr\u00f6fser sein als er ist, wenn er dem. zenithw\u00e4rts blickenden Auge \u2014 1\u00b0 erscheinen sollte; er erscheint also zu klein. Umgekehrt; erscheint er dem horizontal-w\u00e4rts blickenden Auge un,ter' dem Gesichtswinkel 1\u00b0 -\u2014 ^ ; mithin um, den Gesichtswinkel e zu grofs. \u2014 Da indessen die Gr\u00f6fse des \u201eGr\u00f6fser-Brscheinens44 unter verschiedenen Verh\u00e4ltnissen sehr verschieden ist, so kann die Erscheinung nicht aussohMefe-lich und allein von der hier angegebenen Ursache abh\u00e4ngen, W# schliefsen uns deshalb der von Helmholtz vertretenen Ansicht vollkommen an, wonach bei dem Gr\u00f6fser-Erscheinen des Mond\u00ab \u201enicht \u00a9in, sondern viele Motive\u201c (atmosph\u00e4rische Verh\u00e4ltnisse\u2019 wie Feuchtigkeit und Klarheit der Luft und die Luftperspective) \u201eZusammenwirken, die in jedem einzelnen Fai\u00a9 sehr verschieden sein k\u00f6nnen\u201c.\nDi\u00a9 beiden Erscheinungen: \u2014 die vermeintlich uhrglasf\u00f6rmige Gestalt des Himmelsgew\u00f6lbes und das Gr\u00f6fser-Erscheinen der Gestirne am Himmelsrand (letzteres freilich nur theilweise) \u2014 f\u00fchren sich also leicht auf die Volkmann \u2019sehe scheinbare Divergenz zweier vertical stehender Parallellinien zur\u00fcck und die aus ur\u00e4ltester Zeit herstammende Vorstellung einer kugelf\u00f6rmigen Gestalt des Himmels ist deshalb weit besser berechtigt.\nDas Himmelsgew\u00f6lbe hat f\u00fcr uns keine wirklichen Grenzen. Die Entfernung seiner \u00e4ufsersten Grenzen ist f\u00fcr uns in jeder Richtung unermefslich grofs. Setzen wir di\u00a9 Unermefs-liehkeit sich selbst gleich, dann entsteht daraus \u00a9in\u00a9 Kugel von unermefslich grofs\u00a9m Halbmesser. Die Kugelform, hat aber auch noch das Eigent\u00fcmliche, dafs ihr\u00a9 s\u00e4mmtlichen Meridiane in einem Punkt \u2014 im, Pol oder im Zenith \u2014 Zusammentreffen. Di\u00a9 f\u00fcr den Beobachter vertical stehenden Meridian\u00a9 n\u00e4hern sich also zenithw\u00e4rts in Wirklichkeit einander mehr und mehr; nach terrestrischer Vorstellungsweise dagegen erscheinen die Meridiankreise, wegen der unendlich\u00a9\u00bb","page":356},{"file":"p0357.txt","language":"de","ocr_de":"Die Form dm Himmelsgew\u00f6lbes etc.\n357\nGr\u00f6fs\u00a9 des Himmels-Halbmessers \u2014 unter sich als parallel. Wir haben erfahrungsm\u00e4fsig demnach eine Vorstellung vom Parallelismus vertical stehender Linien, die mit der strengen Definition des Parallelismus insofern nicht ganz \u00fcbereinstimmt, als (nach Volkmann) nur solche VerticaUinien parallel erscheinen, di\u00a9 in Wirklichkeit nicht ganz genau parallel sind, sondern \u2014 nach Analogie der Meridiane \u2014 nach oben ein wenig convergiren. Ohne Zweifel steht der, wegen unendlicher Gr\u00f6fs\u00a9 des Halbmessers scheinbar parallele, in Wirklichkeit aber nach oben convergirende Verlauf der Meridiane in nahem Zusammenh\u00e4nge mit der Volkmann\u2019sehen scheinbaren Divergenz vertical stehender Parallellinien,\nDi\u00a9 hieraus abzuleitende Entstehungsweise einer kugeligen Form Vorstellung des Himmelsgew\u00f6lbes und die optische Vei^ gr\u00f6fserung am Himmelsrand l\u00e4fst sich demzufolge ganz ungezwungen auch in diesen Fallen auf ein einziges, einfaches, allgemein. als richtig anzuerkennendes Naturgesetz zur\u00fcckf\u00fchren.\n4 \u2022\n(Eingegangen am 12. April 1899.)","page":357}],"identifier":"lit30784","issued":"1899","language":"de","pages":"353-357","startpages":"353","title":"Die Form des Himmelsgew\u00f6lbes und das Gr\u00f6\u00dfer-Erscheinen der Gestirne am Horizont: Ein kurzer Nachtrag zu meiner Arbeit \u00fcber \"Geometrisch-optische T\u00e4uschung\" ([Zeitschr. f. Psych. u. Physiol. d. Sinnesorg., 1899,], Bd. XX, S. 65 ff)","type":"Journal Article","volume":"20"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:37:05.246874+00:00"}