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{"created":"2022-01-31T13:48:58.571383+00:00","id":"lit30839","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Ueberhorst, K.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 13: 54-65","fulltext":[{"file":"p0054.txt","language":"de","ocr_de":"Eine neue Theorie der Gesiehtswahrnehmung.1\nVon\nK. Ueberhorst\nin Innsbruck.\nMit 3 Figuren im Text.\nIm Folgenden gebe icb die Grundz\u00fcge einer neuen Theorie der Gesichtswahrnehmung, wie sich dieselbe mir seit dem Erscheinen meiner Schrift: Die Entstehung der Gesichtswahrnehmung (G\u00f6ttingen 1876), welche, wie ich mich sp\u00e4ter \u00fcberzeugte, eine unrichtige Lehre entwickelt, im Laufe der Jahre ausgebildet hat.\nDie Theorie lautet, auf einen kurzen Ausdruck gebracht: Die Gesichts Wahrnehmung, wie alle Wahrnehmung \u00fcberhaupt, ist weder Sinnesempfindung noch Wissen, sondern das Produkt einer besonderen psychischen Th\u00e4tigkeit, deren Wesen darin besteht, eine Sinnesempfindung mit einer anderen gleichzeitig in der Seele vorhandenen Sinnesempfindung bezw. Vorstellung, namentlich ErinnerungsVorstellung, welche beiden Faktoren von einer, jeder Psyche eigenen unbewufsten Intelligenz als Kennzeichen ein und desselben Objektes aufgefafst werden, zu einer eigenartigen Einheit miteinander zu verbinden.\nIch gehe zu den zu erkl\u00e4renden Thatsachen \u00fcber, und zwar verfahre ich hier in der Weise, dafs ich nicht von den im individuellen psychischen Entwickelungsgange anf\u00e4nglichen Erscheinungen zu den sp\u00e4teren fort-, sondern umgekehrt von den letzteren zu den ersteren zur\u00fcckschreite.\nTritt man einmal in ein unbekanntes Zimmer, ein anderes Mal in ein bekanntes, so zeigt sich, wie Jedermann weifs, der\n1 Vortrag, gehalten auf dem III. internationalen Kongrefs f\u00fcr Psychologie zu M\u00fcnchen am 6. August 1896.","page":54},{"file":"p0055.txt","language":"de","ocr_de":"Eine neue Theorie der Gesichtswahrnehmung.\n55\nbemerkenswerte Unterschied, dafs die Wahrnehmung in dem letzteren eine bei weitem vollkommenere ist, als in dem ersteren. W\u00e4hrend man n\u00e4mlich in diesem, dem unbekannten Zimmer, nur sehr ungenau die Gegenst\u00e4nde \u00fcberschaut, solche, auf die man nicht gerade den Blick richtet, \u00fcberhaupt nicht sieht, namentlich wenn sie nur ein weniges nach rechts oder links, nach oben oder unten gelegen sind, aber auch solche, auf die man hinsieht, wenigstens beim ersten Zuschauen nicht scharf zu unterscheiden vermag, ist man in dem bekannten Zimmer sofort \u00fcber alles orientiert, bemerkt alle Einzelheiten und jedes Ding an seinem richtigen Orte, und wenn Ver\u00e4nderungen darin vorgekommen sind, so pflegt man auch \u00fcber sie nicht hinwegzusehen, und alles dieses sogar dann, wenn das Zimmer kaum erhellt ist und man also nur sehr schwache Sinnes ein dr\u00fccke von den Objekten empf\u00e4ngt. Die letztere Erscheinung, das richtige Sehen in dem bekannten Zimmer, erkl\u00e4rt man nun bekanntlich fast allgemein so, dafs man sagt, der unmittelbare sinnliche Eindruck rufe die fr\u00fcheren Vorstellungen des Zimmers und der in ihm befindlichen Gegenst\u00e4nde in die Erinnerung zur\u00fcck und es verschm\u00f6lzen nun diese Erinnerungsvorstellungen mit dem gegenw\u00e4rtigen Eindruck, welches Verschmelzungsprodukt die deutliche Vorstellung ergebe. Diese Erkl\u00e4rung zielt auf das Richtige, ist aber dennoch nicht genau zutreffend, denn nicht eine vermeintliche Verschmelzung liegt vor, vielmehr ist der wirkliche Prozefs der, dafs, nachdem zun\u00e4chst eine in uns unbewufst vorhandene Intelligenz oder mit Kant-schem Ausdrucke ein apriorisches Wissen den gegenw\u00e4rtigen Eindruck und die Erinnerungsvorstellung auf ein und dasselbe Objekt bezogen hat, nunmehr die Anschauungsfunktion in Th\u00e4tigkeit tritt und aus ihnen beiden das neue Gebilde, die gegenw\u00e4rtige deutliche Wahrnehmung als eine eigenartige Einheit derselben herstellt.\nDieser hier vielleicht noch nicht so ohne weiteres einleuchtende Gedanke wird \u00fcberzeugender, wenn wir zu den vielen Sinnest\u00e4uschungen \u00fcbergehen, wo wir Zeichnungen, also ebene Figuren, als k\u00f6rperliche Gegenst\u00e4nde zu sehen glauben. Ich meine die bekannte Thatsache, dafs uns Bilder von Menschen und Tieren, besonders wenn sie ein\u00e4ugig angesehen werden, gut perspektivisch entworfene Darstellungen von Landschaften und gut schattierte Zeichnungen mathematischer K\u00f6rper und","page":55},{"file":"p0056.txt","language":"de","ocr_de":"56\nK. JJ\u00e9berhorst.\nvon Gebrauchgegenst\u00e4nden aller Art, und alle diese Dinge besonders dann, wenn sie aus weiter Entfernung betrachtet werden, den Eindruck der K\u00f6rperlichkeit machen. Die Erscheinung erkl\u00e4rt sich nun wiederum so, dafs die gegenw\u00e4rtigen Bilder die Vorstellungen der in ihnen dargestellten Gegenst\u00e4nde aus dem Ged\u00e4chtnis hervortreten lassen, dafs sodann beide, die gegenw\u00e4rtigen Bilder wie die ErinnerungsVorstellungen, durch die unbewufste Intelligenz als Kennzeichen ein und desselben Objekts aufgefafst und dafs sie endlich durch die Anschauungsfunktion zu einer Einheit sui generis miteinander verbunden werden. Seit Helmholtz sucht man die T\u00e4uschung gew\u00f6hnlich so zu verstehen, dafs man sagt, die gegenw\u00e4rtige ebene Zeichnung werde nach Analogie der fr\u00fcheren k\u00f6rperlichen Dinge aufgefafst, und es sei daher der ganze Prozefs als ein un-bewufster Analogieschlufs anzusehen, durch den wir folgerten, dafs das in ebener Zeichnung Gesehene vielmehr ein K\u00f6rperliches sei, infolge welches Schlusses wir dasselbe sodann wirklich k\u00f6rperlich s\u00e4hen oder, wie man auch gemeint hat, nur zu sehen glaubten. Gegen diesen Gedanken erhebt sich der Einwand, dafs er der Wahrnehmung ihre Eigenartigkeit raubt, indem er sie in einem ganz andersartigen geistigen Vorgang aufgehen l\u00e4fst, und wir werden ihm daher so lange kein Geh\u00f6r geben, als wir im st\u00e4nde sind, durch eine Erkl\u00e4rung anderer Art den Wahrnehmungscharakter als solchen zu retten.\nKeiner ausf\u00fchrlichen Betrachtung bed\u00fcrfen die T\u00e4uschungen \u00fcber das Sehen von Vertiefungen als Erhabenheiten, ferner von gewissen Zeichnungen, die einer doppelten Deutung f\u00e4hig sind, bald in dieser, bald in jener Weise, u. der gl. mehr, welche T\u00e4uschungen man aus der Verschiedenheit der Erinnerungsbilder zu erkl\u00e4ren hat, die durch die gegenw\u00e4rtige Vorstellung aus dem Schatze des Ged\u00e4chtnisses hervorgerufen werden.\nIch gehe weiter zu denjenigen Gesichtst\u00e4uschungen, die Helmholtz auf die allgemeine Regel zur\u00fcckf\u00fchren will, dafs deutlich zu erkennende Unterschiede bei allen Sinneswahrnehmungen gr\u00f6fser erscheinen als undeutlich zu erkennende von gleicher objektiver Gr\u00f6fse, den T\u00e4uschungen, dafs uns eine geteilte Strecke l\u00e4nger erscheint, als eine gleich lange ungeteilte, dafs ein Quadrat, welches durch Parallelen zu einer der beiden Seiten in eine Reihe von Abschnitten geteilt ist, uns in der Richtung der Abschnitte deutlich l\u00e4nger vorkommt","page":56},{"file":"p0057.txt","language":"de","ocr_de":"Eine neue Theorie der Gesichtswahrnehmung.\n57\nals in der Richtung der Parallelen, und dafs ein gleichseitiges Dreieck, welches durch Parallelen zu einer der Seiten in \u00e4hnlicher Weise geteilt ist, wie ein gleichschenkliges aussieht, dessen andere Seiten l\u00e4nger sind als seine erste, dafs von zwei gleich grofsen Winkeln, von denen der eine durch gerade in mehrere kleine Winkel geteilt, der andere aber ungeteilt ist, der erste uns gr\u00f6fser vorkommt, und dafs spitze Winkel gr\u00f6fser aussehen und infolge dessen solche scheinbare Richtungsverschiebungen stattfinden, wie sie an den bekannten Z\u00f6llner-schen und HERiNGschen Mustern und anderen Zeichnungen vorhanden sind. Betreffs dieser T\u00e4uschungen irrt sich Helmholtz, wenn er sie als genau gleichartig ansieht, da vielmehr die zuletzt angef\u00fchrte von dem Gr\u00f6fseraussehen kleiner Winkel eine andere Erkl\u00e4rung fordert als die anderen.\nDie letzteren haben n\u00e4mlich darin ihren Grund, dafs infolge der Erfahrung, dafs im allgemeinen eine gr\u00f6fsere F\u00fclle von in einer bestimmten Richtung gesehenen Unterschieden auf eine gr\u00f6fsere L\u00e4nge verteilt ist, \u00fcberall da, wo auf einer Fl\u00e4che in einer ihrer Richtungen viele Unterschiede vorhanden sind, diese Unterschiede die Vorstellung einer gr\u00f6fseren Ausdehnung, welche dieselben einnehmen, in uns hervorrufen, und dafs sodann diese Vorstellung einer gr\u00f6fseren Ausdehnung mit dem gegenw\u00e4rtigen Eindruck zu einer Einheit verbunden wird.\nWas aber die \u00dcbersch\u00e4tzung der spitzen Winkel anbetrifft, so mufs zun\u00e4chst, um die Sinnest\u00e4uschung an den Z\u00d6LLNERschen und HERiNGschen Mustern zu verstehen, die weitere Thatsache konstatiert werden, dafs wir ebensowohl stumpfe Winkel untersch\u00e4tzen, dafs diese uns kleiner erscheinen als sie sind,1 und dafs der letztere Umstand mit dem ersten, der \u00dcbersch\u00e4tzung spitzer Winkel, zusammenkommt, um den an den fraglichen Mustern auftretenden falschen Schein zu st\u00e4nde zu bringen. Diese doppelte T\u00e4uschung des Gr\u00f6fsersehens spitzer Winkel und des Kleinersehens stumpfer hat aber darin ihren Grund, dafs wir in unserer gew\u00f6hnlichen Umgebung im \u00fcberwiegenden\n1 Diese Untersch\u00e4tzung stumpfer Winkel ist deutlich zu erkennen an der umstehenden Figur 1, wo die Verl\u00e4ngerung von cd die Grade a b nicht, wie es in Wirklichkeit der Fall ist, in b, sondern in dem in einer betr\u00e4chtlichen Entfernung von b gelegenen Punkte e zu erreichen scheint, welche T\u00e4uschung f\u00fcr mein Auge besonders lebhaft dann eintritt, wenn ich die Figur aus einer gr\u00f6fseren Entfernung heraus ansehe.","page":57},{"file":"p0058.txt","language":"de","ocr_de":"58\nK. TJeberh\u00f6rst.\nMafse redite Winkel zu seken bekommen und dafs daher auch der Anblick spitzer und stumpfer Winkel nicht, wie es nach dem bekannten, aber unrichtigen aristotelischen Reproduktionsgesetze sein m\u00fcfste, die Vorstellung spitzer bezw. stumpfer, sondern vielmehr die rechter Winkel wiederhervorruft, dafs das unbewufste Denken sodann die wirklich gesehenen spitzen bezw. stumpfen und die reproduzierten rechten Winkel als ein und dasselbe Objekt kennzeichnend auffafst, hierdurch aber endlich die Wahrnehmungsfunktion dazu veranlafst wird, aus\nbeiden, den spitzen bezw. stumpfen und den rechten Winkeln solche mittlerer Gr\u00f6fse herzustellen, in welchen letzteren allerdings die gegenw\u00e4rtige Vorstellung vor der reproduzierten pr\u00e4valiert, gem\u00e4fs der allgemeinen Regel, dafs \u00fcberhaupt ein gegenw\u00e4rtiger Eindruck vor der aus dem Ged\u00e4chtnis hervorgerufenen Vorstellung den Vorrang hat. Doch findet, wodurch die Richtigkeit der gegebenen Erkl\u00e4rung best\u00e4tigt wird, jenes Pr\u00e4valieren der gegenw\u00e4rtigen Vor-stellung eines spitzen bezw. stumpfen Winkels vor der blos reproduzierten eines rechten viel weniger dann statt, wenn es gelingt, das wirklich vorhandene Fl\u00e4ehenbild sich als ein sich in die Tiefe erstreckendes Objekt auszulegen, was allerdings nicht bei den komplizierten Z\u00f6llnerschen und Hering-schen Mustern, wohl aber oft bei einfachen Zeichnungen der Fall ist, namentlich bei einem Sehen mit nur einem Auge, bei welchem letzteren bekanntermafsen, worauf schon vorhin hingewiesen wurde, stereoskopische T\u00e4uschungen aller Art viel leichter eintreten als beim Sehen mit beiden Augen. In den F\u00e4llen nun, wo jene Auslegung des Fl\u00e4chenbildes in ein in die Tiefe sich erstreckendes Objekt gelingt, da sehen wir den unter dem spitzen bezw. stumpfen Winkel abspringenden Schenkel vielmehr unter einem ann\u00e4hernd rechten Winkel nach\na\n1 e\nFig. 1.","page":58},{"file":"p0059.txt","language":"de","ocr_de":"Eine neue Theorie der Gesichtswahrnehmung.\n59\nhinten gehen,1 und es hat sich auf solche Art sodann die Erinnerungsvorstellung rechter Winkel in viel vollst\u00e4ndigerem Grade in der vorhandenen T\u00e4uschung behauptet.\nKeine besondere Schwierigkeit bietet die Erkl\u00e4rung weiterer bekannter T\u00e4uschungen, wie der, dafs vor einem passiv bewegten Auge die Objekte sich nach der entgegengesetzten Richtung hin zu bewegen scheinen, als nach welcher das Auge bewegt wird, dafs bei Abduzens-L\u00e4hmung, wenn der Kranke das Ange vergeblich nach aufsen zu bewegen sucht, sich die Objekte scheinbar nach aufsen bewegen, dafs, wenn man mit stark gekreuzten Blicklinien Tapetenmuster oder \u00e4hnliche Zeichnungen betrachtet, man ein verkleinertes Bild derselben im Durchschnittspunkte der Blicklinie erh\u00e4lt,2 und andere mehr. Die erste T\u00e4uschung erkl\u00e4rt sich so, dafs bei einer passiven Augenbewegung die Vorstellung der fr\u00fcheren Richtung, in welcher die deutlichst gesehenen Objekte gelegen waren, immer festgehalten wird und infolgedessen nunmehr die jetzt deutlichst gesehenen Objekte in kontinuierlicher Eolge in jene fr\u00fchere Richtung verlegt werden, die zweite dadurch, dafs der Kranke, da er sich einbildet, die Richtung des deutlichsten Sehens den nach aufsen gelegenen Gegenst\u00e4nden in kontinuierlicher Folge zuzuwenden, die deutlichst gesehenen Gegenst\u00e4nde nunmehr in diese eingebildete ver\u00e4nderte Richtung verlegt, die dritte endlich dadurch, bei stark gekreuzten Blicklinien auf Grund der dabei auftretenden Druckempfindungen wirklich eine ungef\u00e4hre Vorstellung von der Entfernung des Durchschnittspunktes der Blicklinie zu erhalten im st\u00e4nde ist und nunmehr in diese Entfernung das neue einfach gesehene Bild des Tapetenmusters hineinverlegt, welches Hineinverlegen in allen drei F\u00e4llen eine durch die Anschauungsfunktion bewirkte Vereinigung der Vorstellung der\nFig. 2. dafs man\n1\tDie T\u00e4uschung ist beispielsweise vorhanden bei der obenstehenden Figur 2, wo beim ein\u00e4ugigen Sehen namentlich der Schenkel a c, aber auch der andere b d unter einem die rechte Richtung anstrebenden Winkel von der mittleren a b nach hinten abspringt.\n2\t\u00dcber die genaue Beschaffenheit der hier vorliegenden T\u00e4uschung s. Eie Entstehung der Gesichtswahrnehmung, S. 76.","page":59},{"file":"p0060.txt","language":"de","ocr_de":"60\nK. Ueberhorst.\ndeutliehst gesehenen Objekte mit der vorgestellten Richtung bezw. Entfernung dar st eilt.\nAlle die bisher besprochenen Erscheinungen waren solche bei bereits vorhandenem k\u00f6rperlichen oder, was dasselbe ist, dreidimensionalen Sehen. Gehen wir jetzt weiter zu der Erkl\u00e4rung dieses k\u00f6rperlichen Sehens \u00fcber, so scheint die That-sache des Stereoskops und des Stereoskopierens mit unbewaffneten Augen zu beweisen, dafs es dadurch zu st\u00e4nde kommt, dafs wir zwei Gesichtsempfindungen der \u00e4ufseren Objekte haben, je eine f\u00fcr jedes der beiden Augen. Diese Meinung w\u00e4re jedoch unrichtig, da vielmehr das k\u00f6rperliche Sehen und die Tiefenwahrnehmung, wie Beobachtungen an operierten Blindgeborenen (der Fall der von Wardeop operierten Dame) beweisen, auch schon vermittelst eines Auges allein zu st\u00e4nde kommt, wie denn bereits auch von anderer Seite1 bemerkt ist, dafs wir eigentlich in jedem Augenblicke nur vorwiegend mit einem der beiden Augen zu sehen pflegten, w\u00e4hrend wir die Wahrnehmung des anderen Auges zur\u00fccktreten liefsen, eine Behauptung, deren Wahrheit namentlich in den sehr h\u00e4ufigen F\u00e4llen leicht zu konstatieren ist, wo das zweite Auge dem ersten sehr bedeutend an Sehf\u00e4higkeit nachsteht. Die Bedeutung der Doppelheit des Bildes der \u00e4ufseren Gegenst\u00e4nde kann hiernach nur darin bestehen, dais die zun\u00e4chst durch eines der beiden Augen erhaltene Wahrnehmungsvorstellung mit der Empfindung des anderen zu einer neuen WahrnehmungsVorstellung kombiniert wird, einer solchen, in welcher die Unterschiede beider gleicherweise zur Geltung kommen. Letzteres tritt darin zu Tage, dafs die neue Vorstellung im Vergleich zu der eines Auges allein bedeutend sch\u00e4rfer ausgepr\u00e4gt ist, und dafs namentlich die in ihr enthaltenen Tiefenunterschiede sich viel deutlicher gegen einander abheben, eine Erscheinung, die man leicht beobachten kann, wenn man abwechselnd mit einem und mit zwei Augen die Dinge betrachtet. Nach dieser Lehre w\u00fcrde also durch das Sehen mit den zwei Augen das k\u00f6rperliche Sehen nicht erst hervorgerufen, sondern nur vollkommener gemacht. Wollte man hingegen aber einwenden, dafs das Stereoskopieren beweise, dafs ein Sehen mit den zwei Augen\n1 Schleiden, Zur Theorie des Erkennens durch den Gesichtssinn, Leipzig 1861, S. 61.","page":60},{"file":"p0061.txt","language":"de","ocr_de":"Eine neue Theorie der Gesiclitswahrnehmung.\n61\nauch schon f\u00fcr sich allein das Fl\u00e4chensehen in ein k\u00f6rperliches Sehen k\u00f6nne \u00fcbergehen lassen, so erwidere ich, dafs beim Stereoskopieren der Prozefs wohl vielmehr der sein d\u00fcrfte, dafs das Fl\u00e4chenbild des einen Auges zun\u00e4chst mit H\u00fclfe der Erinnerungsvorstellung in ein k\u00f6rperliches \u00fcbergef\u00fchrt und dafs sodann erst das letztere mit dem Fl\u00e4chenbilde des anderen zu einem einheitlichen verbunden wird, welcher Prozefs allerdings, wie alle hier zur Sprache gebrachten Vorg\u00e4nge, so schnell vor sich geht, dafs seine einzelnen Stadien nicht gesondert k\u00f6nnen beobachtet werden.\nWie wollen wir nun die M\u00f6glichkeit darthun, bereits mit H\u00fclfe eines Auges allein zum k\u00f6rperlichen Sehen und zur Tiefenwahrnehmung zu gelangen? Die einfache Antwort auf diese Frage lautet: Jene M\u00f6glichkeit ist vorhanden auf Grund der Verschiedenheiten in den Gesichtsempfindungen, welche ein-treten, wenn wir den Blick \u00fcber die \u00e4ufseren Objekte hinbewegen, sobald bald dieser, bald jener Teil der Gesamtempfindung die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Hiernach erhebt sich jetzt die weitere doppelte Frage: In welcher Weise wir uns denken, dafs die anf\u00e4ngliche Gesichtsempfindung eines jeden Auges beschaffen ist, und welche Verschiedenheiten in der Gesichtsempfindung auftreten, wenn wir den Blick \u00fcber die Dinge hinbewegen, Verschiedenheiten, die der Anschauungsfunktion die Motive zur Entwertung verschiedener Tiefenlage der empfundenen Lichtpunkte dar bieten? Die Antwort auf die erste Frage lautet: Die anf\u00e4ngliche Gesichtsempfindung jedes einzelnen Auges m\u00fcssen wir uns in der Weise denken, wie die Anh\u00e4nger der sensualistischen Wahrnehmungstheorie sie sich vorstellen, n\u00e4mlich als ein Bild der \u00e4ufseren Objekte auf einer Kugelfi\u00e4che, oder als ein umgekehrtes Bild des ISTetzhaut-bildes, welches Sehding entweder direkt auf dem Augapfel oder wahrscheinlicher in einer nicht sehr grofsen Entfernung vor dem letzteren gelegen ist.1 In Beantwortung der zweiten Frage andererseits lassen sich die bei der Bewegung des Blickes auftretenden Unterschiede im zweidimensionalen Gesichtsfelde dahin charakterisieren, dafs man sagt, dafs die Bilder solcher \u00e4ufseren Punkte, die anfangs s\u00e4mtlich in der Hauptsehrichtung lagen, nach vollzogener Bewegung des Auges nicht mehr in\n1 S. hierzu: Die Entstehung der Gesichtswahrnehmung, S. 84.","page":61},{"file":"p0062.txt","language":"de","ocr_de":"62\nK. Ueberhorst.\nein und der n\u00e4mlichen Sehrichtung sich, befinden, vielmehr s\u00e4mtlich in verschiedene Sehrichtungen fallen, indem die Bilder der dem Beobachter n\u00e4her gelegenen Punkte weiter von der nunmehrigen Hauptsehrichtung abliegen, als die der ferner gelegenen Punkte, und dafs ferner jetzt die Bilder solcher \u00e4ufseren Punkte in die Hauptsehrichtung fallen, die anfangs\nnicht darin lagen, indem die Bilder der dem Beobachter n\u00e4her gelegenen Punkte von der damaligen Hauptsehrichtung weiter entfernt waren, als die der ferner gelegenen. Diese Thatsache ist aber eine Folge des Umstandes, dais der Durchschnittspunkt der /\tLichtrichtungen oder, wie\nHelmholtz sie nennt, der Bichtungslinien nicht der Drehpunkt des Auges ist, sondern bedeutend vor demselben liegt, in Folge dessen dieser Punkt bei Blickbewegungen fortw\u00e4hrend seine Lage \u00e4ndert, hierdurch aber sein Lageverh\u00e4ltnis zu den \u00e4ufseren Objekten kontinuierlich ein anderes wird. Dies Verh\u00e4ltnis m\u00f6ge schematisch erl\u00e4utert werden, was freilich nur in sehr grober Weise geschehen kann, an der nebenstehenden Fig. 3, wo A das Auge, Jo den Knotenpunkt in einer anf\u00e4nglichen, h1 in einer sp\u00e4teren Augenstellung, fJo aber die Hauptsehrichtung in jener, /j Jo\u00b1 in dieser bezeichnet, und wo die in der anf\u00e4nglichen Hauptsehrichtung fh gelegenen Punkte a und b sich sp\u00e4ter, wenn der Knotenpunkt in lo1 sich befindet, in verschiedenen Punkten der Netzhaut, n\u00e4mlich in a und \u00df, ab bilden, und wo ferner die in der sp\u00e4teren Hauptsehrichtung ft Jo1 gelegenen Punkte c und d anfangs, als der Knotenpunkt sich noch in Jo befindet, gleichfalls in verschiedenen Punkten der Netzhaut, n\u00e4mlich in y und \u00f4, ihr Bild haben, und wo wir sehen, dafs die den n\u00e4her gelegenen\nFig. 3.","page":62},{"file":"p0063.txt","language":"de","ocr_de":"Eine neue Theorie der Gesichtswahrnehmung.\n63\nPunkten a und c entsprechenden Bilder a und y weiter von f bezw. fx ab liegen, als die den ferner gelegenen Punkten b und d entsprechenden Bilder \u00df und \u00f6. Diese Lagever\u00e4nderungen der einzelnen Empfindungen in monokularem Gesichtsfelde bei der Augenbewegung sind es nun, welche von der unbewufsten Intelligenz erfafst und als gleicherweise f\u00fcr die \u00e4ufseren Objekte charakteristisch gesetzt werden, in der Weise aber von der Anschauungsfunktion verwertet werden, dafs sie den Lichtempfindungen, welche bei der Blickbewegung weiter von dem deutlichst empfundenen Farbenpunkte sich entfernen, eine n\u00e4here, denjenigen aber, welche sich von diesem deutlichst empfundenen Farbenpunkte weniger weit entfernen, eine entferntere Tiefenlage beilegt. Bei diesem ganzen Prozefs ist sodann noch das zu bedenken, dafs die Blickbewegung eine kontinuierliche ist und dafs aus dem letzteren Grunde die auftretenden Lagever\u00e4nderungen der einzelnen Lichtempfindungen zu dem deutlichst empfundenen Lichtpunkte mit besonderer Klarheit von der unbewufsten Intelligenz k\u00f6nnen erfafst und als das, was sie sind, n\u00e4mlich als blofse Lagever\u00e4nderungen, k\u00f6nnen erkannt werden. Und so d\u00fcrfte denn dargethan sein, auf welche Art bereits mit H\u00fclfe des monokularen Sehens Tiefen- und k\u00f6rperliche Wahrnehmung m\u00f6glich ist, und hiermit wahrscheinlich gemacht sein, dafs sie daher auch wirklich in der von uns charakterisierten Weise entsteht.\nNachdem wir solcher Gestalt die wichtigsten Thatsachen der Gesichts Wahrnehmung aus unserer Hypothese zu verstehen gesucht haben, bemerken wir noch, dafs auch die k\u00f6rperliche und Tiefenwahrnehmung beim Gef\u00fchlssinn und Geh\u00f6r in ihr eine Erkl\u00e4rung findet. Wenn ich vermittelst des Tastens eine Vorstellung von der Gestalt des K\u00f6rpers zu erlangen vermag, so kommt solches in der Weise zu st\u00e4nde, dafs die einzelnen bei der Bewegung der Hand \u00fcber den Gegenstand auftretenden Ber\u00fchrungsempfindungen von der unbewufsten Intelligenz s\u00e4mtlich als Kennzeichen eines und desselben Objektes erfafst werden und dafs sodann die Anschauungsfunktion die Vorstellung eines einheitlichen Objekts von ganz bestimmter Gestalt und Gr\u00f6fse aus ihnen herstellt. Und wenn ich, mit einem Stabe die Erde ber\u00fchrend, die stattfindende Ber\u00fchrung nicht blos an der ber\u00fchrten Handfl\u00e4che, sondern auch am Ende des Stabes zu haben glaube, so entsteht diese T\u00e4uschung dadurch,","page":63},{"file":"p0064.txt","language":"de","ocr_de":"64\nK. Ueb erh\u00f6r st\ndafs ein Teil der an der Handfl\u00e4che auftretenden Ber\u00fchrungsempfindungen mit dem aus der Wahrnehmung des Gesichts bekannten Orte des Stab-Endes zu einer einheitlichen Vorstellung verbunden wird. Und \u00e4hnlich wie die letztere Erscheinung ist die beim Geh\u00f6rssinn, dafs man einen Schall an einem in einer bestimmten Richtung und Entfernung gelegenen Orte zu haben glaubt, indem diese Erscheinung darin ihren Grund hat, dafs die Anschauungsth\u00e4tigkeit die Empfindung des Schalls mit der Vorstellung des auf irgend eine Weise aus der Erfahrung bekannten Ortes zu einer Einheit verbindet*\nZum Schlufs er\u00fcbrigt es noch, das Verh\u00e4ltnis der aufgestellten Hypothese zu den bisherigen wichtigsten Theorien der Gesichtswahrnehmung darzulegen. Dieselbe stimmt mit der sensualistischen oder, wie Helmholtz sie nennt, der nativistischen Theorie darin \u00fcberein, dafs sie die R\u00e4umlichkeit als bereits in der durch den physiologischen Reiz hervorgerufenen Sinnesempfindung unmittelbar enthalten lehrt, wobei sie als Gesetz aber Sinnesempfindungen hinstellen m\u00f6chte, dafs der Ort derselben urspr\u00fcnglich entweder direkt auf dem entsprechenden Sinnesorgan oder nicht weit vor demselben, ersteres bei Haut und Zunge, letzteres bei Nase, Ohr und Gesicht gelegen ist. Die Theorie lehrt ferner mit der empiristischen, dafs eine grofse Anzahl der Erscheinungen bei der Wahrnehmung mit H\u00fclfe der Erfahrung, d. h. von fr\u00fcheren aus dem Ged\u00e4chtnis wiederhervortretenden Vorstellungen, zu st\u00e4nde kommt. Sie h\u00e4lt dabei aber trotzdem an der von mir bereits in meiner fr\u00fcheren Publikation aufgestellten Behauptung fest, dafs die Wahrnehmung weder Sinnesempfindung noch Wissen ist, sondern etwas Eigenartiges, um welcher Eigenartigkeit willen ich f\u00fcr Theorien, die das n\u00e4mliche lehren, mit einem Kantischen Terminus den besonderen Namen der \u00e4sthetischen Theorien (von aV\u00f6&ijtiig-'Wahrnehmung) bildete.1 Unsere neue Hypothese lehrt weiter mit Wundt, dafs in der Wahrnehmung eine sch\u00f6pferische Synthese enthalten ist,2 mit dem Unterschiede jedoch, dafs sie diese Synthese nicht eine solche von raumlosen Sinnesempfindungen und von Innervationsempfindungen sein l\u00e4fst, von welchen Empfindungen weder die einen3 noch h\u00f6chst wahr-\n1\tDie Entstehung der Gesichtswahrnehmung, S. 127 u. 152.\n2\tGrundz\u00fcge der physiologischen Psychologie, 1. Aufl. S. 484 u. 627.\n3\tVergl. Stumpf: Der psychologische Ursprung der Baumvorstellung, S. 106 u. ff., Schuppe: Erkenntnistheoretische Logik, S. 60.","page":64},{"file":"p0065.txt","language":"de","ocr_de":"Eine neue Theorie der Gesichtswahrnehmung.\n65\nscheinlieh auch die anderen1 existieren, sondern eine solche von bereits r\u00e4umlich ausgedehnten Empfindungen bezw. von bereits vorhandenen Vorstellungen. Indem die Theorie endlich behauptet, dafs die Anschauungsfunktion ihre Anregung erhalte von einer unbewufsten Intelligenz, welche die in den Sinnesempfindungen und Vorstellungen enthaltenen \u00dcbereinstimmungen und Unterschiede erkenne und sie als ein und dasselbe Objekt kennzeichnend erfasse, hierbei den Gedanken eines Objekts oder Hichtichs \u00fcberhaupt erst schaffend, bringt sie die Lehre Schopenhauers zur Anerkennung, dafs die Wahrnehmung mit durch eine apriorische Erkenntnis hervorgerufen werde, mit dem Unterschiede jedoch, dafs sie aus der letzteren die Wahrnehmung nicht unmittelbar, wie er will, sondern erst mittelbar entstehen l\u00e4fst. Und wenn man nun daran An stofs nehmen wollte, dafs ich hier von einer unbewufsten Intelligenz rede, das Dasein einer solchen behauptend, so erwidere ich, dafs seit Hartmanns Philosophie des Unbewufsten wohl niemand mehr mit Fug und Hecht an einer in jeder Psyche enthaltenen unbewufsten Intelligenz zweifeln d\u00fcrfte, und dafs man es daher nicht ungerecht finden wird, wenn ich auch bei der Entstehung der Wahrnehmung die Wirksamkeit dieser unbewufsten Intelligenz zu erkennen glaube.\nEs m\u00f6ge mir gestattet sein, beim Abdruck dieser Arbeit auf einen sehr unangenehmen Druckfehler hinzuweisen, der sich in die Schrift \u00fcber die Entstehung der Gesichts Wahrnehmung Seite 10 Zeile 11 eingeschlichen hat, darin bestehend, dafs zwischen den beiden Worten \u201eObjekte\u201c und \u201eunter\u201c die Worte \u201eund der vorgestellten Objekte\u201c ausgelassen wurden, so dafs der ganze Satz vielmehr zu lauten hat: \u201edafs sie die Unterschiede des vorstellenden Subjekts von dem vorgestellten Objekte und der vor gestellten Objekte unter einander in sich enth\u00e4lt.\u201c Diesen Druckfehler will ich f\u00fcr die Besitzer meiner genannten Schrift hier verbessert haben.\n1 Vergl. G-. E. M\u00fcller und Schumann: \u00dcber die psychologischen Grundlagen der Vergleichung gehobener Gewichte, Bonn 1889, S. 80 u. ff.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XIII.\n5","page":65}],"identifier":"lit30839","issued":"1897","language":"de","pages":"54-65","startpages":"54","title":"Eine neue Theorie der Gesichtswahrnehmung","type":"Journal Article","volume":"13"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:48:58.571389+00:00"}