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{"created":"2022-01-31T13:50:34.873543+00:00","id":"lit30841","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Meyer, Max","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 13: 75-80","fulltext":[{"file":"p0075.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber die Rauhigkeit tiefer T\u00f6ne.\nVon\nMax Meyer.\nOb man tiefe T\u00f6ne f\u00fcr rauh erkl\u00e4ren m\u00fcsse oder nicht, scheint eine ziemlich gleichg\u00fcltige Frage zu sein. Wenigstens sollte man annehmen, dafs ihre Bejahung oder Verneinung zu keinerlei Konsequenzen f\u00fchren k\u00f6nne. Und doch ist dem nicht so. Vielmehr ist die Beantwortung dieser Frage von wesentlicher Bedeutung f\u00fcr die von Lipps ausgef\u00fchrte Theorie der Konsonanz. Lipps1 gr\u00fcndet seine Theorie auf folgende S\u00e4tze: \u201eSehr tiefe einfache T\u00f6ne erscheinen nicht in der Weise glatt und kontinuierlich verlaufend, wie h\u00f6here und h\u00f6chste. Vielmehr sind wir uns bei ihnen der den einzelnen Luftschwingungen entsprechenden einzelnen Tonst\u00f6fse mehr oder weniger deutlich bewufst. Dieser Unterschied der einzelnen Tonst\u00f6fse mufs aber f\u00fcr die Seele auch bei den h\u00f6heren Lagen, wo wir kein Bewufstsein mehr davon haben, dennoch irgendwie vorhanden sein.\u201c Ich will hier nicht darauf eingehen, ob wir berechtigt sind, wenn wirklich eine solche Unterscheidung der einzelnen Tonst\u00f6fse bei tiefen T\u00f6nen geschieht, von da aus darauf -zu schliefsen, dafs auch bei den hohen T\u00f6nen eine, wenn auch nicht bewufste, Einwirkung der einzelnen Tonst\u00f6fse auf die Seele stattfinde. Ich will mich vielmehr darauf beschr\u00e4nken, die beiden ersten S\u00e4tze zu er\u00f6rtern. Dafs die tiefen T\u00f6ne im Gegens\u00e4tze zu den hohen diskontinuierlich seien, findet man auch sonst h\u00e4ufig behauptet. Helmholtz2 sagt bei der Schilderung der Sirene: \u201eBei steigender Geschwindigkeit\n1\tDas Wesen der musikalischen Harmonie und Disharmonie in Psychol. Stud. Heidelberg 1885.\n2\tTonempfindungen. 4. Aufl. S. 296.","page":75},{"file":"p0076.txt","language":"de","ocr_de":"76\nMax Meyer.\nwird die Empfindung der T\u00f6ne st\u00e4rker und st\u00e4rker, aber man h\u00f6rt noch lange nicht auf, die einzelnen Luftst\u00f6fse wahrzunehmen, wenn diese auch immer mehr und mehr miteinander verschmelzen. Erst bei 110 oder 120 Schwingungen (A oder B der grofsen Oktave) wird der Klang ziemlich kontinuierlich.\u201c Ob Helmholtz dies Diskontinuierliche der tiefen T\u00f6ne, das Wahrnehmen der einzelnen Tonst\u00f6fse, als Eigent\u00fcmlichkeit der T\u00f6ne an sich oder als eine Begleiterscheinung aufgefafst hat, ist aus seinen Ausf\u00fchrungen nicht deutlich zu erkennen. Eine klare Unterscheidung dieser beiden M\u00f6glichkeiten, an die bis dahin niemand gedacht zu haben scheint, finden wir erst bei Stumpe:1 \u201eDie tiefen T\u00f6ne besitzen im allgemeinen eine geringere Gl\u00e4tte. \u2014 \u2014 Auch die tiefen Differenzt\u00f6ne \u2014 \u2014 haben etwas Brummendes. Das Brummen ist mir stets genau so deutlich wie der Ton und kommt in dem gleichen Momente bei darauf gerichteter Aufmerksamkeit in dem Gesamtklange zum Vorschein.\u201c Stumpe erkl\u00e4rt die Kauhigkeit der tiefen T\u00f6ne durch die Schwebungen der h\u00f6heren Obert\u00f6ne, das Brummen der Differenzt\u00f6ne durch die sie begleitenden Schwebungen der Prim\u00e4rt\u00f6ne. Auch begleitende Ger\u00e4usche und das durch den Tastsinn sp\u00fcrbare Zittern erw\u00e4hnt Stumpe. Letzteres ist unter Umst\u00e4nden noch bei T\u00f6nen von 1500 Schwingungen zu bemerken. Auch dafs der Tastsinn des Trommelfelles bei tiefen T\u00f6nen die einzelnen St\u00f6fse empfinde, \u00fcbergeht Stumpe nicht. \u201eDas alles mufs, auch wenn es augenblicklich nicht wahrgenommen wird, doch mit der Vorstellung wachsender Tonh\u00f6he die wachsende Tongl\u00e4tte im Bewufstsein verkn\u00fcpfen.\u201c Einen entgegengesetzten Standpunkt nimmt Preyer ein. Nach ihm sind einfache, direkt erzeugte tiefe T\u00f6ne diskontinuierlich. Nach ihm giebt eine Gabel von 18,6 Schwingungen einen sch\u00f6nen, milden Ton, der jedoch \u201ewie alle tiefen T\u00f6ne noch nicht kontinuierlich\u201c ist.2 Noch deutlicher dr\u00fcckt er seine Ansicht in den ^Grenzen der Tome ahrnehmung\u201c (S. 14) aus: \u201eWenn man, von den tiefsten T\u00f6nen anfangend, stufenweise in kleinen Intervallen, etwa von 2 oder 4 Schwingungen, aufsteigt, so ist nirgends zu sagen, hier wird der Ton kontinuierlich; vielmehr findet die ganze Tonreihe hindurch, von\n1\tTonpsychol. I. S. 203 ff.\n2\tAkustische Untersuchungen. S. 4.","page":76},{"file":"p0077.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber die Rauhigkeit tiefer T\u00f6ne.\n77\nder Schwingungszahl 20 an bis \u00fcber 300 hinaus, eine merkliche Zunahme der Gl\u00e4tte in der Empfindung statt. \u2014 Man mufs nicht fragen: wo h\u00f6rt die Diskontinuit\u00e4t auf?, sondern: wo fangen die St\u00f6fse an, sich eben zu verschmelzen?\u201c\nStumpe will zwar Preyers Behauptung von der Diskontinuit\u00e4t der tiefsten T\u00f6ne nicht anfechten, wendet sich aber dagegen, dafs selbst bei 300 Schwingungen in der Sekunde die einzelnen Anst\u00f6fse sich noch selten bemerkbar machen, w\u00e4hrend niemand Schwebungen von gr\u00f6fserer Frequenz als 132 zu h\u00f6ren behaupte. Er glaubt, die von Preyer beobachtete Rauhigkeit darauf zur\u00fcckf\u00fchren zu m\u00fcssen, dafs Preyers Gabeln aufser dem Grundtone auch die Oktave gegeben h\u00e4tten, und dafs durch Schwebungen dieser mit dem Grundtone die Rauhigkeit entstanden sei. Diese Erkl\u00e4rung will mir nun nicht sehr Zusagen. Meiner Ansicht nach k\u00f6nnen Schwebungen, d. h. abwechselndes St\u00e4rker- und Schw\u00e4cherwerden eines Tones, nur dann entstehen, wenn in jede Periode der zusammengesetzten Schwingung wenigstens drei Teilschwingungen fallen, also mindestens erst beim Quintenintervall (2 : 3) und bei Intervallen mit gr\u00f6fseren Zahlen, nicht bei der Oktave. Freilich ist hier keine sichere Entscheidung m\u00f6glich, da wir \u00fcberhaupt noch nicht genau wissen, wie die Tonempfindungen durch das Ohr vermittelt werden.\nIch glaube doch, dafs Preyer recht hat, wenn er die bei tiefen T\u00f6nen zu vernehmende Rauhigkeit sich bis zur Schwingungszahl 300 hin erstrecken l\u00e4fst. Ich will mich bei den folgenden Er\u00f6rterungen stets an Stimmgabelt\u00f6ne halten, weil man m\u00f6glichst einfache T\u00f6ne in allen beliebigen Tonh\u00f6hen mit Leichtigkeit nur durch Stimmgabeln hervorbringen kann. Bei obertonreichen Kl\u00e4ngen w\u00fcrden f\u00fcr die Rauhigkeit die Schwebungen der Obert\u00f6ne verantwortlich gemacht werden m\u00fcssen. Preyer erw\u00e4hnt nun sehr richtig, dafs bei tiefen Stimmgabeln, die noch keinen h\u00f6rbaren Ton erzeugen, die einzelnen Schwingungen als stofsartige Ger\u00e4usche bemerkbar seien. Dies ist auch eigentlich selbstverst\u00e4ndlich. Wenn ich mit einem Stocke durch die Luft schlage, so h\u00f6re ich ein Sausen. Ebenso h\u00f6re ich ein oft wiederholtes Sausen, wenn die Stimmgabelzinken oft wiederholte schnelle Bewegungen durch die Luft machen. Werden die Schwingungen schneller, so folgen auch die einzelnen Empfindungen des Sausens schneller aufeinander.","page":77},{"file":"p0078.txt","language":"de","ocr_de":"78\nMax Meyer.\nSchliefslich kann ick sie nickt mekr auseinander kalten; sie versckmelzen zu einem rauken Ger\u00e4usche. Sie versckmelzen aber nickt zu einem Tone, d. k. aus den einzelnen Stofs-ger\u00e4uscken wird nickt ein Ton. Das Ger\u00e4usck bleibt Ger\u00e4usck, nur wird aus dem intermittierenden Ger\u00e4usche ein gleich-m\u00e4fsiges. Daneben geschieht, wenn ick von langsameren Schwingungen zu schnelleren \u00fcbergehe, noch etwas Anderes. Bei einer gewissen Schnelligkeit tritt ein schwer zu h\u00f6render, von dem Ger\u00e4usche noch fast verdeckter tiefer Ton auf. Die geringe Intensit\u00e4t hat ihre Analogie auf optischem Gebiete, wo an den Enden des Spektrums auch nicht pl\u00f6tzlich Licht durch Dunkelheit abgel\u00f6st wird, sondern eine allm\u00e4hliche Abnahme der Lichtintensit\u00e4t zu beobachten ist. Bei vergr\u00f6fserter Schnelligkeit der Schwingungen wird der Ton leichter wahrnehmbar und h\u00f6her. Das Ger\u00e4usch macht neben dem Tone seine oben beschriebenen Ver\u00e4nderungen durch. Es hat mit dem Tone direkt gar nichts zu tliun, ist vielmehr eine zuf\u00e4llige, freilich mehr oder weniger stets mit tieferen T\u00f6nen verbundene Begleiterscheinung. Bei hohen T\u00f6nen f\u00e4llt das Ger\u00e4usch fort; nicht, weil hier von den Zinken der Gabel \u00fcberhaupt keine Beibungsger\u00e4usche oder vielmehr (da sie nicht zur Empfindung gelangen) keine unregelm\u00e4fsigen Luftersch\u00fctterungen hervorgerufen w\u00fcrden, sondern weil sie aus physikalischen Gr\u00fcnden so schwach sind, dafs sie bei ertr\u00e4glich starken T\u00f6nen unterhalb der Beizschwelle bleiben. Ich glaube daher, dafs Preyer durchaus recht hat, wenn er auch bei nicht ganz tiefen T\u00f6nen noch von Bauhigkeit redet. Bur ist dies nicht eine Bauhigkeit der T\u00f6ne selbst, sondern ein neben den T\u00f6nen einhergehendes Ger\u00e4usch.\n\u00dcbrigens kann dieses den tiefen T\u00f6nen einen rauhen Charakter verleihende Ger\u00e4usch auch noch anders erkl\u00e4rt werden. Es ist gar nicht ausgeschlossen, dafs im Trommelfell oder in den Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen oder in anderen Teilen in oder am Ohre bei einer ausgiebigen Schwingung eine Ger\u00e4usch verursachende Ersch\u00fctterung entsteht, bei periodischen Schwingungen also ein periodisches Ger\u00e4usch. Im \u00fcbrigen verhielte sich alles ebenso wie oben.\nLipps schliefst : Da die tiefen T\u00f6ne diskontinuierlich sind, so sind es auch, wenn auch unbewufst, die hohen. Ich glaube mit ebenso grofsem Bechte schliefsen zu d\u00fcrfen : Da die hohen","page":78},{"file":"p0079.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fcber die Rauhigkeit tiefer T\u00f6ne.\n79\nT\u00f6ne kontinuierlich sind, so sind es, wenn auch besondere Umst\u00e4nde zun\u00e4chst den Schein des Gegenteils erwecken, auch die tiefen. Ich vermag auch an den tiefsten T\u00f6nen, die ich h\u00f6re, nichts Diskontinuierliches zu entdecken, habe vielmehr, wenn ich die Aufmerksamkeit auf die T\u00f6ne selbst richte, stets eine gleichm\u00e4fsige, glatte Tonempfindung; daneben h\u00f6re ich dann freilich das erw\u00e4hnte periodische Sausen, das ich aber ganz gut von der eigentlichen Tonempfindung trennen kann, zumal es nicht bei allen Gabeln in gleicher St\u00e4rke und Klangfarbe auftritt.\n\u00c4hnlich, wie mit direkt erzeugten tiefen T\u00f6nen, verh\u00e4lt es sich mit tiefen Differenzt\u00f6nen. Schneller werdende Schwebungen gehen nicht etwa so in einen Differenzton \u00fcber, dafs nun statt der Schwebungen ein Differenzton geh\u00f6rt wird. Je schneller die Schwebungen werden, um so mehr gehen sie in ein Schwirren der Prim\u00e4rt\u00f6ne \u00fcber, bis sie schliefs-lich ganz verschwinden. Ganz verschieden davon ist der bei wachsender Verschiedenheit der Prim\u00e4rt\u00f6ne neben den Schwebungen aus gewissen physiologischen Ursachen auftretende Differenzton. Schwebungen und Dififerenzton k\u00f6nnen nebeneinander bestehen und von einem einigermafsen ge\u00fcbten Beobachter mit Leichtigkeit auseinander gehalten werden. Auch bei den Differenzt\u00f6nen ist es nicht ausgeschlossen, dafs durch die ausgiebigen Schwingungen des Trommelfells etc. periodische Ger\u00e4usche noch im Ohre erzeugt werden, die den Anschein erwecken, als sei der Differenzton rauh und diskontinuierlich.\nLipps1 schildert das Zustandekommen der Tonempfindung\nfolgendermafsen: \u201eDie tiefen T\u00f6ne------reizen den Nerven in\nder Weise, dafs zwischen je zwei Beizungen, die zwei einzelnen\nSchwingungen entsprechen,--------ein Moment relativer Buhe\noder Ungereiztheit sich einschiebt.u Da die Diskontinuit\u00e4t eines qualitativ bestimmten Tones in nichts anderem bestehen kann als darin, dafs eben dieser Ton periodisch auftritt und verschwindet, so bleibt hier keine andere M\u00f6glichkeit, als die Annahme, dafs jede einzelne (nach Lipps einer Schwingung entsprechende) Beizung den Ton \u2014 und zwar diesen bestimmten \u2014 hervorruft, jede Buhepause ihn verschwinden l\u00e4fst. Wie man da der \u2014 meiner Meinung nach etwas peinlichen \u2014\n1 Grundthatsachen des Seelenlebens. S. 262.","page":79},{"file":"p0080.txt","language":"de","ocr_de":"80\nMax Meyer.\nKonsequenz entgehen kann, dafs bereits eine einzige Schwingung eine qualitativ bestimmte Tonempfindung hervorruft, vermag ich nicht einzusehen. Wenn man, um diese Konsequenz zu vermeiden, annehmen will, dafs die qualitative Bestimmtheit erst durch die Wiederholung bewirkt wird, so kommt man meines Erachtens wieder auf eine periodische Schallempfindung neben dem Tone hinaus, denn dann ist eben dieser qualitativ bestimmte Ton nicht mehr intermittierend (da die wiederholten Reizungen gleichm\u00e4fsig stark aufeinanderfolgen, so ist kein Grund zur Intermittenz), sondern das Intermittierende ist dann etwas anderes, von anderer (oder auch gar keiner, unbestimmter, ger\u00e4uschartiger oder wie man will) qualitativer Beschaffenheit als dieser Ton.\nIch hielt es f\u00fcr notwendig, gegen die \u00fcberall herumspukende Behauptung, dafs tiefe T\u00f6ne diskontinuierlich seien, Front zu machen. Freilich beweisen kann man es niemandem, dafs tiefe T\u00f6ne genau so glatt sind, wie hohe; hier ist jeder auf Selbstbeobachtung angewiesen. Der Zweck dieser Zeilen ist erreicht, wenn dadurch verhindert wird, dafs von der Diskontinuit\u00e4t tiefer T\u00f6ne als von etwas Selbstverst\u00e4ndlichem und wie von einer ausgemachten Thatsache gesprochen wird.","page":80}],"identifier":"lit30841","issued":"1897","language":"de","pages":"75-80","startpages":"75","title":"\u00dcber die Rauhigkeit tiefer T\u00f6ne","type":"Journal Article","volume":"13"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:50:34.873549+00:00"}