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{"created":"2022-01-31T15:58:55.590792+00:00","id":"lit30844","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Stern, W.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 13: 85-88","fulltext":[{"file":"p0085.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n85\npretation. In allen diesen Gebieten mufs die Psychologie mehr ber\u00fccksichtigt werden, als bisher\u00bb\nDie W\u00f6rter sind Urteilselemente, die f\u00fcr sich allein nnd losgel\u00f6st vom Satze keine Bedeutung haben. Daher mufs der fremdsprachliche Unterricht vom Satze ausgehen. Die Betrachtung der Satzformen mufs stets in erster Reihe auf den Seelenzustand des Sprechenden R\u00fccksicht nehmen. Dementsprechend werden neue Definitionen der einzelnen Tempora gegeben. So wird das Pr\u00e4sens den Wahrnehmungs- und Begriffsurteilen, das Pr\u00e4teritum denErinnerungs- und historischen Urteilen, das Futurum den Erwartungsurteilen zugesprochen. Auch das Wesen der Frage- und Bedingungss\u00e4tze wird mehr vom psychologischen Standpunkte aus, unter Ber\u00fccksichtigung der Wirkung auf den H\u00f6rer, erkl\u00e4rt. In der Lehre von den Tropen und Figuren ist bisher allerdings die Psychologie nicht aufser Acht gelassen, aber doch noch immer zu viel \u201eNomenklatur\u201c getrieben worden. Namentlich kommt hier die \u00c4hnlich-keits- und K ont igui t\u00e4tsa s s o z iati on in Betracht; jene zeigt erhebliche individuelle Unterschiede; diese beruht auf dem, was der Mensch von aufsen empf\u00e4ngt (Umgebung, Gewohnheit, Erziehung etc.) und darf deshalb nicht originell sein.\nEin besonders grofses Wirkungsgebiet er\u00f6ffnet sich der Psychologie innerhalb der Interpretation, wenn sich auch hier allgemeine Gesichtspunkte schwer angeben lassen. Verfasser nimmt daher seine Zuflucht zu Beispielen und beschr\u00e4nkt sich auf zwei allgemeine Bemerkungen: 1. Die Grammatik mufs im Dienste der Lekt\u00fcre stehen und nicht umgekehrt, wenn auch die Lekt\u00fcre wiederum dazu dient, das grammatikalische Wissen zu lebendigem Verst\u00e4ndnisse zu entwickeln. 2. Die psychologische Interpretation mufs sich auf eine genaue Kenntnis aller sachlichen (historischen, antiquarischen, arch\u00e4ologischen, litteratur-geschicbtlichen u. a.) Beziehungen zu dem gelesenen Texte st\u00fctzen. Schliefslich weist Verfasser noch an einigen Stellen aus der Ilias nach, wie auch f\u00fcr die sogenannte \u00e4sthetische Interpretation die psychologische Analyse fruchtbringend gemacht werden kann.\nVom Standpunte des Psychologen aus sind derartige Untersuchungen, die das Ergebnis einer zwanzigj\u00e4hrigen Praxis sind, gewifs mit Freuden zu begr\u00fcfsen. Ohne Zweifel birgt die Sprache einen grofsen psychologischen Schatz, der noch lange nicht gehoben ist. Aber auch die Philologie, ja diese in erster Reihe, wird aus derartigen Abhandlungen grofsen Nutzen ziehen, denn hierdurch gewinnt sowohl die philologische Forschung an Tiefe und wissenschaftlichem Werte, als auch der Sprachunterricht f\u00fcr den Lehrer wie f\u00fcr den Sch\u00fcler an Leben, Freude und Interesse.\tArthur Wreschner (Berlin).\nAlexander F. Shand. Character and the Emotions. Mind. New. Series V. S. 203\u2014226. Apr. 1896.\nWir erleben gegenw\u00e4rtig das Werden eines neuen Zweiges psychologischer Forschung, einer Differentialpsychologie. Frankreich hat den Anfang gemacht, in Deutschland regt es sich m\u00e4chtig, und vor mir liegt ein Artikel, welcher beweist, dafs man auch in England das","page":85},{"file":"p0086.txt","language":"de","ocr_de":"86\nLitteraturbericht.\nProblem zu beachten beginnt. Die oben zitierte Arbeit von Shand behandelt \u2014 wenigstens in ihrem ersten Teile \u2014 \u201eMethode und Problem der Ethologie\u201c. Ich m\u00f6chte mir gestatten, bei Besprechung dieser Ausf\u00fchrungen auf die eine oder andere prinzipielle Frage jenes Forschungszweiges kurz einzugehen.\nDa sei zun\u00e4chst etwas Terminologisches erw\u00e4hnt. Wir finden f\u00fcr jene Psychologie, welche nicht das allen Psychen Gemeinsame, sondern gerade das Eigenartige gewisser Individuen oder Typen u. s. w. zu erforschen strebt, bereits verschiedene Namen angewandt, die mir aber nicht unbedenklich erscheinen. Shand spricht, im Anschlufs an Mill, von einer \u201eEthologie\u201c, Binet und andere von einer \u201eIndividualpsychologie\u201c. Der Ausdruck \u201eEthologie\u201c oder \u201eCharakterologie\u201c ist entschieden zu eng. Ethos, Charakter, bezeichnet nicht die gesamte Eigenart einer Psyche, sondern wesentlich den Gef\u00fchls- und Willensanteil derselben \u2014 Shand giebt selbst zu, dafs im popul\u00e4ren Denken der Charakter von der Intelligenz gesondert werde, und es ist kein Grund vorhanden, diese Scheidung, wie er vorschl\u00e4gt, zu verwischen. Die differentiellen Eigent\u00fcmlichkeiten im Funktionieren des Ged\u00e4chtnisses, in der Empf\u00e4nglichkeit f\u00fcr sinnliche Eindr\u00fccke (z. B. musikalisches Geh\u00f6r), in der intellektuellen Begabung, zum \u201eCharakter\u201c z\u00e4hlen zu wollen, geht doch nicht wohl an. Viel brauchbarer wT\u00e4re der Ausdruck \u201eIndividualpsychologie\u201c \u2014 wenn derselbe nicht schon anderweitig festgelegt w\u00e4re. So aber hat er bereits seinen wohleingeb\u00fcrgerten Sinn als Gegensatz zur \u201eV\u00f6lker\u201c- oder \u201eSozialpsychologie\u201c und umfafst dann alles, was sich auf die Psyche des einzelnen Menschen, nicht nur auf das Unterscheidende zwischen Individuen bezieht. Eine doppelsinnige Anwendung des Wortes w\u00e4re h\u00f6chst verwirrend. \u2014 Man k\u00f6nnte nun an W\u00f6rter wie \u201eTypenpsychologie\u201c oder \u201ePsychologie der Individualit\u00e4t\u201c oder \u201eder Pers\u00f6nlichkeit\u201c denken; indessen m\u00f6chte ich mir erlauben, als einen Terminus, der jede Forschung psychischer Verschiedenheiten, m\u00f6gen sie nun zwischen Individuen, Typen, St\u00e4nden, Lebensaltern, V\u00f6lkern, Geschlechtern bestehen, umfafst und daher am besten sich der \u201egenerellen Psychologie\u201c nebenordnen l\u00e4fst, das schon oben angewandte Wort \u201eDifferentialpsychologie\u201c in Vorschlag zu bringen. Ethologie w\u00e4re dann ein Teil derselben.\nShand grenzt nun in groben Umrissen die Aufgabe einer solchen Charakterforschung ab. Mill hatte Ethologie als die Untersuchung definiert, welche den Charakter aus der Zusammenwirkung \u00e4ufserer und innerer Umst\u00e4nde erkl\u00e4ren soll, und sie als wesentlich deduktive Wissenschaft hingestellt. Hiergegen wendet sich Shand \u2014 mit vollstem Recht. Die Charakter a bl eitung ist \u2014 ebenso wie die in Laienkreisen so beliebte Chnrakterdeu t ung aus Handschrift etc. \u2014 wissenschaftlich unm\u00f6glich, ehe nicht Charakter kennt ni s vorliegt. Und hier ist noch vieles, wenn nicht alles zu thun. Wie hat dies zu geschehen? Da exakte psychische Messung \u2014 nach Shands, freilich ungerechtfertigter, Meinung \u2014 im Stich l\u00e4fst, m\u00fcssen Analysis und Klassifikation zun\u00e4chst ausreichen. Die Hauptschwierigkeit werde hier in der Auffindung eines Einteilungsprinzipes f\u00fcr die Hauptcharaktertypen bestehen. Neben diese \u201estatische\u201c Aufgabe trete dann die \u201edynamische\u201c, das Ineinanderwirken","page":86},{"file":"p0087.txt","language":"de","ocr_de":"Litter aturbericht.\n87\nvon Typen in einem Individuum und den Wechsel der Typen im Laufe der Zeit zu untersuchen.\nDer Begriff des \u201eTypus\u201c, der sicherlich zur Zeit noch nicht gen\u00fcgend herausgearbeitet ist, scheint mir gar manche Gefahren zu enthalten, denen sich auch Shand nicht ganz verschliefst. Ein psychologischer Typus, so f\u00fchrt er aus, ist nicht die Personifikation einer abstrakten Eigenschaft, sondern ein Komplex von Eigenschaften, die in einem inneren, nicht blofs accidentellen Zusammenh\u00e4nge stehen. Hiermit wendet er sich speziell gegen Paulhan, der bei der Aufstellung von Typen in der That recht wahllos vorgeht. (S. d. Referat : diese Zeitschr. Bd. XI. S. 293). Wenn aber nun Shand meint, dafs wir oft in einem Individuum eine Mehrheit von Typen vorfinden, so m\u00f6chte ich dagegen sagen : nicht oft, sondern immer. Es hat meines Erachtens \u00fcberhaupt keinen Sinn, wenn man einen einzelnen \u201eTypus\u201c auf s\u00e4mtliche psychische Eigenschaften eines Menschen sich erstrecken l\u00e4fst. Es giebt Typen des Ged\u00e4chtnisses (visuell, akustisch), der Gem\u00fctsart (melancholisch, sanguinisch), der Begabung (k\u00fcnstlerisch, mathematisch), und wenn man sagt, dafs jemand einem Typus angeh\u00f6re, so sollte man damit stets, stillschweigend oder ausdr\u00fccklich, den Sinn verbinden: in Bezug auf diese oder jene bestimmte Seite des seelischen Lebens. Wir k\u00f6nnen zuweilen von den anderen Seiten abstrahieren, d\u00fcrfen aber doch nie vergessen, dafs, sobald wir diese in Betracht ziehen, ganz andere Typengruppen in Frage kommen. Nicht die Zugeh\u00f6rigkeit zu einem Typus, sondern die Art, wie disparate Typen Zusammenwirken, macht die Individualit\u00e4t, die Pers\u00f6nlichkeit, und es w\u00e4re ratsam, wenn die Differentialpsychologie \u00fcber dem Typischen das Individuelle nicht gar zu sehr vernachl\u00e4ssigen m\u00f6chte.\nShand wirft sodann als letzte die von Mill an den Anfang gesetzte Frage auf nach den Modifikationen, die der Typus unter dem Einflufs \u00e4ufserer Verh\u00e4ltnisse (circumstances) einnimmt. Diesem Einflufs wird er nicht ganz gerecht. \u00c4ufsere Umst\u00e4nde seien auf den Charakter, so meint er, nur von Wirkung, wenn und insofern sie erlebt, erfahren werden, und die Frage spitze sich deswegen dahin zu, warum gewisse Erfahrungen auf den Einen so, auf den Anderen anders wirken, dort Lust, hier Trauer erwecken, dort beachtet, hier \u00fcbersehen werden. Gewifs, das ist ein Teil des Problems, aber nicht das ganze: die Beeinflussung menschlicher Eigenart durch \u00e4ufsere Verh\u00e4ltnisse braucht durchaus nicht immer den Umweg durch die Erfahrung zu nehmen. Freilich, eine Gefahr z. B. \u2014 worauf Shand exemplifiziert \u2014 ist keine Gefahr und wirkt nicht als solche, wenn ich sie nicht erst als solche erkenne; k\u00f6rperliche Konstitution dagegen, Klima u. a. m. wird einen Einflufs auf den Charakter aus\u00fcben ganz oder ziemlich unabh\u00e4ngig von der Aufnahme der entsprechenden Vorstellungen in meinen Erfahrungsschatz; und wieviel phylogenetische Modifikationen des Charakters durch die Aufsenwelt mag es geben, ohne dafs das Individuum davon eine Ahnung hat; man denke an Vererbung, an den Charakter eines Volkes. Shand beachtet augenscheinlich nur die Einwirkung eines einzelnen Ereignisses auf einen fertigen Charakter, nicht das Werden eines Charakters unter dauernden, mehr oder minder latenten Einfl\u00fcssen. Auf ersteres bezieht","page":87},{"file":"p0088.txt","language":"de","ocr_de":"88\nLitteraturbericht.\nsich dann auch die von ihm ausgesprochene Hoffnung, dafs wir k\u00fcnftig einmal, bei genauer Typenkenntnis, im st\u00e4nde sein werden, eine Prognose \u00fcber den Einflufs eines bestimmten Ereignisses auf ein bestimmtes Individuum anstellen zu k\u00f6nnen.\nDie folgenden Teile der Abhandlung Shands stehen nur in ganz losem Zusammenh\u00e4nge mit dem ersten. Sie wollen die Prinzipien entwickeln, nach denen eine Einteilung der Gef\u00fchle zu erfolgen hat, eine Einteilung, die nach Shand notwendige Vorbedingung f\u00fcr eine Klassifikation der Typen ist. Die Hauptscheidung, die er macht, ist die zwischen \u201eemotions\u201c und \u201esentiments\u201c, Affekten einerseits, Neigungen, Interessen, Tendenzen andererseits. Ihr Unterschied liegt in dem Grade der Organisation. Die Neigungen sind hochorganisierte Gef\u00fchle, die Affekte stehen auf einer Stufe relativer Isolierung und Einfachheit; jene sind stabil, diese wechseln, jene bilden die Zentren, um welche sich diese gruppieren. So ist die Liebe zu jemandem ein \u201esentiment\u201c, welches unter verschiedenen Umst\u00e4nden die verschiedensten \u201eemotions\u201c : Freude, Trauer, Hoffnung, Mitleid u. s. w., ausl\u00f6sen kann. Die Affekte streben danach, sich zu dauernden Tendenzen auszubilden.\nW. Stern (Berlin).\nLionel Dauriac. \u00c9tudes sur la Psychologie du Musicien. VI. Le Plaisir et L\u2019\u00c9motion Musicale. Rev. Phil. Bd. 41. S. 1\u201423 u. Bd. 42. S. 155\u2014173. Juli u. August 1896.\nEs scheint, dafs die Musikpsychologie aus gewissen Grundfragen nicht herauskommen will. Noch immer besch\u00e4ftigt sie das Problem der Wirkung der Musik auf den Menschen, noch immer scheinen alle Erkl\u00e4rungsversuche nicht gen\u00fcgend zu sein, obgleich sie seit mehr als einem Jahrhundert immer wieder mit denselben Methoden operieren. Seit Burke vor mehr als hundert Jahren die Ursache des \u00e4sthetischen Vergn\u00fcgens auf eine zweckm\u00e4fsige Bewegung der Eingeweide zur\u00fcckf\u00fchrte und man ihm darauf erwiderte, dafs eine erh\u00f6hte Peristaltik denn doch etwas Anderes sein m\u00fcsse, als die Wirkung einer Symphonie von Beethoven, seit jener Zeit bek\u00e4mpfen sich die physiologische und psychologische Dichtung mit derselben Intensit\u00e4t und, wie es scheint, auch mit derselben Aussichtslosigkeit wie ehedem. In der Polemik, die Dauriac in seinem Aufsatz gegen L\u00e9chalas (Rev. Phil. XVII. 1894 ; Mode d\u2019action de la musique) einflicht, und in der das Prinzip seiner Theorie zu Tage tritt, kann man \u00e4hnliche Gegens\u00e4tze bemerken. L\u00e9chalas be-zeichnete als die beiden Mittel, durch welche Musik auf den Organismus wirke: \u201ele nerf acoustique et le nerf pneumogastrique\u201c. Der letztere beschleunige die Atmung und damit die Blutzirkulation, und damit sei das Vergn\u00fcgen erkl\u00e4rt, das wir an der Musik haben. Mit Recht entgegnet ihm Dauriac, dafs damit die Wirkung der T\u00f6ne, aber nicht die der Musik erkl\u00e4rt sei, und Sein Beispiel von dem Effekt der Marseillaise zeigt zur Gen\u00fcge, dafs noch ein anderes Element zur Sprache kommen m\u00fcsse, das kurz als assoziative Wirkung bezeichnet werden k\u00f6nnte. Da nun Musik ohne T\u00f6ne nicht denkbar ist, so ist L\u00e9chalas\u2019 Theorie nicht gerade falsch, aber nicht vollkommen gen\u00fcgend. Es fehlt noch ein","page":88}],"identifier":"lit30844","issued":"1897","language":"de","pages":"85-88","startpages":"85","title":"Alexander F. Shand: Character and the Emotions. Mind. New. Series V. S. 203-226. Apr. 1896","type":"Journal Article","volume":"13"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:58:55.590798+00:00"}