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{"created":"2022-01-31T14:05:51.323823+00:00","id":"lit30846","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Stern, W.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 13: 89-94","fulltext":[{"file":"p0089.txt","language":"de","ocr_de":"Litter aturbericht.\n89\nMittelglied zur v\u00f6lligen Erkl\u00e4rung der musikalischen Wirkung. Dieses bildet bei Dauriac das alte Auskunftsmittel \u2014 die \u201eSeele\u201c. Diese Seele erkennt die an ihr vor\u00fcberziehende Musik als Bewegung der Seele und wird nun dadurch selbst auch bewegt. Diese Bewegung enth\u00e4lt allerdings zun\u00e4chst nur quantitative Bestimmungen, indem sie die Tiefe und Intensit\u00e4t des Affekts hervorruft, aber an der Hand dieser quantitativen Bestimmungen k\u00f6nnen wir nach Datjriac auch die Qualit\u00e4t des Vergn\u00fcgens angeben. Die Quantit\u00e4t dient als Zeichen f\u00fcr die Qualit\u00e4t, die wir mit H\u00fclfe eines Raisonnements aus der ersteren zu erkennen verm\u00f6gen. Somit l\u00e4fst sich Dauriacs Ansicht! kurz als emotionale Lokalzeichentheorie bezeichnen.\nWer wie ich kein Anh\u00e4nger von Lotzes Lokalzeichentheorie war, wird auch in Dauriacs Ausf\u00fchrungen keine Bereicherung der Musikpsychologie erblicken k\u00f6nnen. Die Theorie, welche die \u201eK\u00f6rperwelt\u201c von der \u201eseelischen\u201c trennt, vollzieht damit nicht nur eine Isolierung, die in Wirklichkeit nicht existiert, sondern sie setzt auch an Stelle der Erkl\u00e4rung der beiderseitigen Wechselwirkung eine neue Hypothese.\nAllerdings hatte Dauriac Recht, wenn er das Gef\u00fchl hatte, L\u00e9chalas\u2019 Theorie sei nicht ausreichend. Das war sie ebensowenig, wie die Burkes. Aber die Seelentheorie hilft da nicht, weil wir ebensowenig wissen, wie die Musik durch den K\u00f6rper auf die Seele kommt, als wir erkl\u00e4ren k\u00f6nnen, wie sie im Musiker die Seele verlassen und in die K\u00f6rperwelt eintreten konnte. Ein Umstand, den L\u00e9chalas wie Burke zu erw\u00e4hnen ver-gafs, war die Ausl\u00f6sung der Reize in der Hirnrinde. Diese ist es, die die Vielheit der T\u00f6ne zur Einheit der Musik zusammenfafst, gerade so, wie sie mehrere Buchstaben zur Einheit des Wortes, mehrere Worte zur Einheit des Gedankens verbindet. Diese \u201eUnification des sons\u201c \u2014 die Dauriac sehr gut kennt \u2014 ist es, die nur die menschliche Hirnrinde vollzieht, die tierische nicht, sie ist also die Ursache, weshalb das Tier immer nur T\u00f6ne, der Mensch allein Musik kennt. Die \u201eSeele\u201c erkl\u00e4rt diesen Unterschied ebensowenig, als die zuf\u00e4lligen Assoziationen, die wir etwa mit einem Musikst\u00fccke verbinden.\nVon der Ansicht Dauriacs trennt mich also eine tiefe Meinungsverschiedenheit in den psychologischen Grundprinzipien, die ich umsomehr bedauere, als sein Artikel wie immer reich ist an treffenden Einzelbemerkungen, die insbesondere den Fachmusiker interessieren sollten. Nicht zu vergessen die gl\u00e4nzende Darstellung, derzufolge sich die Arbeit wie eine Novelle angenehm liest, wenn sie auch eben deshalb vielleicht zu langatmig geworden ist.\tWallaschek (Wien).\nTheodor Heller. Studien zur Blinden-Psychologie. Leipzig, Wilhelm Engelmann. 1895. 130 S. (Phil. Stud. XI. 2-4. S. 226\u2014253, 406-470 u. 531\u2014562.)\nSo umfangreich die Litteratur \u00fcber das Seelenleben der Blinden, Tauben, Taubstummblinden sein mag, so m\u00fcssen wir doch gestehen : die Ausbeute f\u00fcr eine Psychologie der Mindersinnigen ist bisher recht d\u00fcrftig gewesen. Die Ursache liegt zu Tage: Bei gr\u00fcndlichen Kennern jener Individuen \u2014 hiermit w\u00e4ren in erster Linie die Bliuden und","page":89},{"file":"p0090.txt","language":"de","ocr_de":"90\nlitter a turbericht.\nTauben selbst, sowie ibre Lehrer und Angeh\u00f6rigen, seltener \u00c4rzte etc., gemeint \u2014 finden wir mit wenigen Ausnahmen nicht die gen\u00fcgende psychologische Schulung, die zu einer Verwertung ihres immensen Beobachtungsmaterials erforderlich ist; fachlich gebildete Seelenforscher andererseits sind fast nie in der Lage, durch eingehende Besch\u00e4ftigung mit den Mindersinnigen sich gen\u00fcgenden Einblick in deren Psyche zu verschaffen. So waren wir bis jetzt angewiesen auf Material aus zweiter Hand, das von mehr wohlwollenden als kritischen Geistern gesammelt war, und auf gelegentliche Beobachtungen, deren Deutung oder gar Generalisierung stets h\u00f6chst bedenklich ist. Die Folge war, dafs einige besser bekannte F\u00e4lle (deren Zuverl\u00e4ssigkeit auch noch diskutabel ist) sich zu klassischen Musterbeispielen herausgebildet haben und 'in der psychologischen Litteratur zu Tode gehetzt wurden \u2014 ich erinnere nur an den CHESELDENSchen Blinden und an Laura Bridgman; dafs ferner fast jede psychologische Baumtheorie bisher als Argument zu ihren Gunsten die Baumanschauung der Blinden in Anspruch nahm und in Anspruch nehmen konnte, weil eben Verl\u00e4fsliches, Positives dar\u00fcber noch gar wenig erforscht ist.\nDa ist es sehr erfreulich, dafs wir in den vorliegenden Studien einem Forscher begegnen, der jene beiden oben genannten Desiderata in sich vereinigt. Heller hatte als Sohn eines Wiener Blindenschuldirektors reichlich Gelegenheit, die Blinden jahrelang zu beobachten, sich liebevoll in ihre Eigenart zu versenken und auch wohl\u00fcberlegte Experimente mit ihnen anzustellen. Er hat sich andererseits in der Wundt-schen Schule das wissenschaftliche B\u00fcstzeug zu eigen gemacht, das ihn in den Stand setzte, wirkliche Blinden-Psychologie zu treiben, und so ist denn eine Arbeit entstanden, die unser reges Interesse verdient.\nDie H.sehen Studien besch\u00e4ftigen sich im wesentlichen mit solchen Individuen, welche die eigenartigen Qualit\u00e4ten der Blindenpsyche am reinsten darstellen: mit Blindgeborenen bezw. im ersten Lebensjahr Erblindeten; das Hauptproblem, das ihn besch\u00e4ftigt, ist die Frage, wie die Auffassung r\u00e4umlicher Verh\u00e4ltnisse beim Blinden zu st\u00e4nde komme. Diesem Problem gelten die drei ersten Kapitel : \u201eDer Tastsinn der Blinden\u201c, \u201e\u00dcber die Assoziation von Tast- und Geh\u00f6rsvorstellungen\u201c* \u201e\u00dcber den sog. ,Fernsinn\u2018 der Blinden.\u201c Ein letztes Kapitel gilt den \u201eSurrogatvorstellungen der Blinden.\u201c\n\u201eDer Tastsinn ist die einzige Quelle r\u00e4umlicher Erkenntnis f\u00fcr den Blinden.\u201c Diesen Satz sucht die Abhandlung gegen\u00fcber der \u00f6fter auf gestellten Behauptung, dafs die Blinden ihre geringen r\u00e4umlichen Vorstellungen dem Geh\u00f6r verdanken, zu beweisen. Zu diesem Zweck giebt H. eine gr\u00fcndliche Analyse des Tastaktes und der Tast Vorstellungen, eine Analyse, deren Wert weit \u00fcber ihre speziell blindenpsychologische Abzweckung hinausgeht. Das Tasten mit der Hand findet ausf\u00fchrliche, das mit Lippe und Zunge k\u00fcrzere Besprechung. Beim Tasten mit der Hand unterscheidet H. zwei durchaus verschiedene Arten des Tastens, die erst in ihrer Gemeinsamkeit und Wechselwirkung die Baumanschauung des Blinden herbeizuf\u00fchren verm\u00f6gen: das \u201esynthetische\u201c und das \u201eanalysierende\u201c Tasten. Dort wird das Objekt mit der sensiblen","page":90},{"file":"p0091.txt","language":"de","ocr_de":"Litter aturbericht.\n91\nFl\u00e4che so in Verbindung gebracht, dafs es simultan verschiedene Teile derselben ber\u00fchrt; hier wird eine eng begrenzte Stelle des Tastorgans successiv \u00fcber die Konturen des Objekts entlang gef\u00fchrt.\nDas synthetische Tasten beruht auf dem Baumsinn der Haut. H. betrachtet kritisch die Methodik, welche bisher zur Messung der extensiven Hautempfindlichkeit bei Sehenden und bei Blinden zur Anwendung kam, und deckt zahlreiche Fehlerquellen darin auf. Aus eigenen wie fremden Versuchen glaubt er daher nur das allgemeine Besultat entnehmen zu d\u00fcrfen, \u201edafs der Baumsinn der Blinden eine, wenn auch nur geringe, Verfeinerung im Vergleich zu dem der Sehenden aufweist.\u201c\nH. fand auch best\u00e4tigt, dafs bei Baumsinnuntersuchungen an der ruhenden Hand die Blinden eigent\u00fcmliche Zuckungen der ber\u00fchrten Stelle zeigten. Er sieht in diesen \u201eTastzuckungen\u201c nichts als unwillk\u00fcrlich gewordene Tastbewegungen, da der Blinde gew\u00f6hnt sei, jedes synthetische Tasten mit einem analysierenden zu verbinden. \u2014 Die Haut ist wenig geeignet, fl\u00e4chenhafte Eindr\u00fccke simultan aufzufassen, beg\u00fcnstigt dagegen die Auffassung punktf\u00f6rmiger Beize. H. fand, dafs die Sechszahl der Punkte die \u00e4ufserste Grenze f\u00fcr die simultane Auffassung sei, dafs ferner die F\u00e4higkeit hierzu am gr\u00f6fsten sei an der Stelle des deutlichsten Tastens (den Fingerspitzen). H. konstatiert \u00fcberhaupt ^zwischen den Fingerspitzen und den \u00fcbrigen Teilen der Hand \u00e4hnliche Beziehungen, wie sie auf der Netzhaut zwischen dem gelben Fleck und den Seitenteilen bestehen, so dafs man von einem \u201edirekten\u201c und einem \u201eindirekten\u201c Tasten sprechen k\u00f6nne. Solche Analogien sind: Abnahme der extensiven Empfindlichkeit und der Deutlichkeit der Eindr\u00fccke von den Fingerspitzen zur Handwurzel, ferner die Tendenz, bei Ber\u00fchrung seitlicher Handteile eine Bewegung auszuf\u00fchren, welche die Beize auf dem k\u00fcrzesten Wege zu der Stelle der gr\u00f6fsten Tastsch\u00e4rfe hinf\u00fchrt. So interessant solche \u00dcbereinstimmungen mit optischen Verh\u00e4ltnissen sind, so mufs man doch vor einer zu weit gehenden Analogi-sierung warnen; so fehlt z. B. f\u00fcr ein gerade von H. hervorgehobenes Ph\u00e4nomen (dafs bei Bewegung einer konstant bleibenden Punktdistanz von den Fingern zur Handwurzel hin die Ber\u00fchrungspunkte zu konvergieren scheinen und umgekehrt) auf der Netzhaut jedes Analogon. \u2014 Als vollkommenste Art des synthetischen Tastens beschreibt H. dann das \u201eumschliefsende Tasten\u201c, in welchem die Hand oder die H\u00e4nde sich den Formen des Objekts m\u00f6glichst anzuschmiegen suchen. Dieses Tasten ist fast stets mit einem Drehen des Objekts in den H\u00e4nden und einem Wechsel von Andr\u00fccken und Lockerung der H\u00e4nde verbunden; es kommen also nicht nur Hautempfindungen, sondern auch Muskelempfindungen etc. in Betracht. \u2014 \u201eDas synthetische Tasten liefert unter allen Umst\u00e4nden nichts Anderes, als ein schematisches Gesamtbild der Objekte.\u201c Glich das synthetische Tasten dem Sehen mit ruhendem Auge, so das analysierende dem Sehen mit bewegtem Auge : die Konturen des Gegenstandes werden mit der Stelle des deutlichsten Empfindens verfolgt, und an Stelle der extensiven Empfindungen tritt ein System intensiv abgestufter Bewegungs- und Kraftempfindungen. Dieser Analogie entsprechend werden die Ausdr\u00fccke \u201eengerer\u201c und \u201eweiterer Tastraum\u201c","page":91},{"file":"p0092.txt","language":"de","ocr_de":"92\nLitteraturbericht.\nsofort verst\u00e4ndlich. Nur im engeren Tastraum ist die Verbindung von synthetischem und analytischem Tasten m\u00f6glich. Das analysierende Tasten allein ist oft als der eigentliche Raumanschauung-schaffende Akt f\u00fcr den Blinden bezeichnet worden. Mit Unrecht. Wird rein analysierend verfahren \u2014 wobei der Gegenstand w\u00e4hrend des Tastens seine Stellung zur Person nicht ver\u00e4ndern darf \u2014 so wird die Vorstellungsbildung im Blinden nicht gef\u00f6rdert, sondern erschwert, ja unm\u00f6glich gemacht. H. beschreibt eine Reihe von hierbei entstehenden Urteilst\u00e4uschungen, die man als \u201ehaptisch-geometrische\u201c mit den ganz entsprechenden und jetzt so viel diskutierten optisch-geometrischen T\u00e4uschungen in eine recht lehrreiche Parallele bringen k\u00f6nnte. Auf Grund rein analysierenden Tastens kann ein Blinder zwar eine successive Aufz\u00e4hlung der Merkmale eines Objektes, seiner Ecken, Kanten etc. geben, aber zu einem anschaulichen Raumgebilde wird es ihm erst dann, wenn er die analytisch gewonnenen Merkmale in einem synthetischen Tastakt wirklich zusammenfassen oder wenigstens vorstellen kann. H. schildert nun, wie die Vereinigung beider Tastakte gew\u00f6hnlich vor sich geht. Das \u201eKonvergenz-Tasten\u201c im engeren Tastraum (mit Daumen und Zeigefinger) oder im weiteren (mit beiden Armen) erh\u00e4lt n\u00e4here Beschreibung. Hierbei findet fortw\u00e4hrender Wechsel zwischen Konturenverfolgung und Anpressung des Gegenstandes an Hand oder Arm, d. h. Wechsel zwischen der Erzeugung von Muskel-, Gelenk- etc. -Empfindungen und extensiven Hautempfindungen statt. \u2014 Das durch synthetisches Tasten gewonnene schematische Bild wird vervollst\u00e4ndigt durch das analytische ; so kommt eine gen\u00fcgende Raumanschauung zu st\u00e4nde \u2014 aber nur innerhalb des engeren Tastraums. Will der Blinde die im weiteren Tastraum durch Tastbewegungen gewonnenen Abmessungen r\u00e4umlich vorstellen, so wird das ganze Gebilde in den engeren Tastraum proj iziert, infolge dessen der durch die Wahrnehmung gewonnene successive Eindruck in ein Simultanbild umgewandelt wird. Die Konstatierung dieser Projektion (Heller bezeichnet sie als \u201eTastraumzusammenziehung\u201c) scheint mir von prinzipieller Bedeutung zu sein. Wenn Blinde einen Gegenstand nach einem selbstgew\u00e4hlten Mafsstabe in Thon nachahmen (ein neuer und augenscheinlich recht zweckm\u00e4fsiger Unterrichtsgegenstand), so w\u00e4hlen sie stets eine Modellgr\u00f6fse, die dem engeren Tastraum entspricht.\nIn dem Paragraphen: \u201eDie Entwic kelung des Tastraums\u201c zieht nun Heller die Konsequenzen der bisherigen Darlegungen. Er bek\u00e4mpft sowohl die Anschauung, die dem Blinden jede Raumwahrnehmung abspricht, wie die, dafs er lediglich durch analysierendes Tasten zu Raumvorstellungen komme, wie endlich die, dafs er den wahrgenommenen Raum in der Phantasie beliebig ausdehnen und so sich stark der Raumanschauung des Sehenden n\u00e4hern k\u00f6nne. \u201eDie unmittelbare Raumvorstellung des Blinden beschr\u00e4nkt sich auf jenen engen Umkreis, der bestimmt ist durch die doppelte M\u00f6glichkeit des synthetischen und analysierenden Tastens.\u201c Auch individuell ist die Entwickelung der Raumvorstellung h\u00f6chst verschieden; w\u00e4hrend blinde Handwerker immer zur Auffassung einfacher r\u00e4umlicher Verh\u00e4ltnisse bef\u00e4higt sind, verm\u00f6gen oft blinde Musiker u. A. kaum ihre Eindr\u00fccke objektiv r\u00e4umlich zu beziehen.","page":92},{"file":"p0093.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n93\nDie folgenden Paragraphen handeln von der Blindenschrift; nach einem Abrifs ihrer Geschichte sucht H. die psychologischen Bedingungen des Lesens dieser Schrift zu analysieren. Bei der Kleinschrift (Buchstabenschrift) finden wir wieder synthetisches und analysierendes Tasten verbunden, oft so, dafs jede Hand je eine Tastart \u00fcbernimmt; bei der praktischeren Brailleschrift (Punktschrift), wo sich alle Zeichen dem Schema j j einf\u00fcgen, wird von den Vorgeschritteneren rein synthetisch gelesen, was auch der oben erw\u00e4hnten Beobachtung entspricht, dafs sechs Punkte die h\u00f6chste simultan aufzufassende Zahl darstellen. Auch \u00fcber Verlesungen stellte H. einige Beobachtungen an.\nDas Tasten mit Lippe und Zunge. Obwohl die Zunge eine noch feinere extensive Empfindlichkeit besitzt als die Finger, wird doch das Zungentasten (in Verbindung mit dem Lippentasten) nur selten ge\u00fcbt. H. fand es bei 8 von 50 Z\u00f6glingen, die es namentlich bei botanischen Untersuchungen anwendeten. Der Grund zu der geringen Anwendung liegt in der fast an Unm\u00f6glichkeit grenzenden Schwierigkeit, das Tastbild festzuhalten.\nDas II. Kapitel handelt \u201e\u00dcber die Assoziation von Tast- und Ge h\u00f6rs vor Stellungen\u201c. \u201eZwischen Tast- und Geh\u00f6rssinn besteht eine innige Wechselwirkung: der Geh\u00f6rssinn entleiht von dem einzigen Baumsinn des Blinden auf einer fr\u00fchen Stufe der Bewufstseinsentwicke-lung seine r\u00e4umlichen Beziehungen, und indem er dann der vorzugsweise Fernsinn des Blinden wird, erm\u00f6glicht er auch den Tastvorstellungen in gewissen Grenzen eine Projektion in die Entfernung und verleiht ihnen zweifellos auch zum Teil ihren objektiven Charakter.\u201c Dagegen ist er nicht der prim\u00e4re Baumsinn, kann aber die Tastvorstellungen, mit denen er h\u00e4ufig verbunden ist, ersetzen, und thut es auch, da die konstruktive Entwickelung namentlich komplizierter Tastvorstellungen dem Blinden stets immense Schwierigkeiten bereitet. So kommt es, dafs f\u00fcr manche Blinden die Vorstellungen der Aufsenwelt schliefslich Geh\u00f6rsvorstellungen werden.\nIII. \u00dcber den sog. \u201eFernsinn\u201c der Blinden. Hiermit sind jene Empfindungen gemeint, die dem Blinden vor der direkten Ber\u00fchrung die Ann\u00e4herung an einen festen Gegenstand verraten. H. weist nach, dafs es sich hier um die Tastperzeption reflektierter Luftwellen durch die Stirnhaut handelt, dafs aber auch die durch eine nahe Wand herbeigef\u00fchrte Modifikation des Schrittger\u00e4usches und Anderes mitspielt. Er sucht experimentell den Anteil jener beiden Faktoren zu bestimmen.\nDas IV. Kapitel endlich gilt den \u201eSurrogatVorstellungen der Blinden.\u201c Surrogatvorstellungen (Hitschmann) sind solche, welche der Blinde mit den unz\u00e4hligen Bezeichnungen verbindet, die er in der Sprache der Sehenden findet, und die nur f\u00fcr den Sehenden eigentliche Bedeutung besitzen. H. unterscheidet Surrogatvorstellungen, die sich auf Baumverh\u00e4ltnisse und solche, die sich auf Farben und Helligkeiten beziehen. Surrogatvorstellungen der ersteren Art sind es, wenn der Blinde statt eines komplizierten Tastbildes nur ein hervorstechendes tastbares Merkmal (homologe S.-V.) oder eine Geh\u00f6rsvorstellung (disparate S.-V.) einf\u00fchrt. H\u00e4ndedruck und Stimme werden ihm so zu wesent-","page":93},{"file":"p0094.txt","language":"de","ocr_de":"94\nLitteraturbericht.\nliehen Surrogaten f\u00fcr die Vorstellung einer ganzen Pers\u00f6nlichkeit. F\u00fcr Farben sucht der Blinde nach Surrogatvorstellungen, welche am besten dem Gef\u00fchlscharakter derselben entsprechen: musikalische Klangfarben und Akkorde werden substituiert, wor\u00fcber H. eine lehrreiche Tabelle giebt.\nDie HELLERSchen Studien sind nach drei Seiten hin: f\u00fcr die Blinden-Psychologie, f\u00fcr die allgemeine Psychologie und f\u00fcr die Blinden-P\u00e4da-gogik, von Wert und werden hoffentlich nicht ohne Fortsetzung bleiben.\nW. Stern (Berlin).\nJ. Mark Baldwin. Heredity and Instinct. Science. N. S. Vol. III. No. 64. S. 438\u2014441 und No. 67. S. 558\u2014561. 1896.\nVerfasser stellt sich gegen\u00fcber Romanes auf den Standpunkt, dafs f\u00fcr die Erwerbung zweckm\u00e4fsiger Eigenschaften durch das Einzelindividuum und f\u00fcr die Vererbung erworbener Eigenschaften nicht blols die blind waltende nat\u00fcrliche Zuchtwahl das Mafsgebende sei, sondern dafs auch die tierische Intelligenz eine wichtige Rolle dabei spiele. Letztere forme aus der Menge der organisch m\u00f6glichen Bewegungen die zweckm\u00e4fsigen Handlungen, die dann zum \u201eInstinct\" werden, durch \u00dcbung und Vererbung. Als Beispiel f\u00fcr den Einflufs der Intelligenz werden Beispiele von Erziehung und Nachahmung unter Tieren angef\u00fchrt.\nSchaefer (Rostock).\nG. Gtjicciardi und G. C. Ferrari. I testi mentali per l\u2019esame degli alie-nati. Rio. di Freniatr. Vol. XXII. 2, S. 297\u2014314. 1896.\nDie Experimentalpsychologie, die seit 1879 durch Wundt in Leipzig eine Arbeitsst\u00e4tte und seitdem in allen zivilisierten Staaten Nacheiferer gefunden hatte, ist weder in Italien seit dem Tode des jung verstorbenen Buccola noch sonstwo durch die Untersuchung an Geisteskranken, die doch recht eigentlich die Physiologie der Seele zu vervollst\u00e4ndigen geeignet ist, erheblich gef\u00f6rdert worden. Kraepelin, der selbst in Deutschland fast allein steht, sucht den Grund f\u00fcr diese Vernachl\u00e4ssigung in dem Umstande, dafs man, durch die grofsen Fortschritte in der Mikroskopie und Neurologie verf\u00fchrt, sich an diesen gen\u00fcgen lasse, so dafs fast jede Irrenanstalt ihr kleines histologisches Laboratorium besitze, welches ihr einen gewissen Schein von Wissenschaftlichkeit verleiht. Durch Tamburini ist erst seit Jahresfrist in dem psychiatrischen Institut zu Reggio-Emilia ein wirkliches Laboratorium f\u00fcr Psychologie geschaffen worden, aus welchem die obengenannte Arbeit, betr. die Anwendung der individuellen Psychologie auf Geisteskranke, hervorging.\nDie testi mentali genannten Pr\u00fcfungsmittel (das Wort ist die direkte \u00dcbertragung des von Cattel 1890 gebildeten Wortes mental test und test die englische Bezeichnung f\u00fcr Pr\u00fcfstein, Reagens u. s. w.), deren sich die Verfasser zun\u00e4chst bedienen, haben ihrer Meinung nach den Vorzug, dafs sie auch f\u00fcr ganz ungebildete Personen passen und den Geisteskranken sympathisch sind, sich wiederholt kontrollieren und vor allem die Versuchsperson nicht merken lassen, was man aus ihr herausbringen will.\nVon besonderem Wert sei es, dafs auch bei Irren mittelst der tests,","page":94}],"identifier":"lit30846","issued":"1897","language":"de","pages":"89-94","startpages":"89","title":"Theodor Heller: Studien zur Blinden-Psychologie. Leipzig, Wilhelm Engelmann. 1895. 130 S. (Phil. Stud. XI. 2-4. S. 226-253, 406-470 u. 531-562)","type":"Journal Article","volume":"13"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:05:51.323828+00:00"}