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{"created":"2022-01-31T14:31:41.876426+00:00","id":"lit30887","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Wreschner, Arthur","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 13: 137-140","fulltext":[{"file":"p0137.txt","language":"de","ocr_de":"Litter aturbericht.\n137\ndas nur daran, dafs ich in der Wahl der Spezialisierungen v\u00f6llig frei war und ebenso gut jede andere h\u00e4tte w\u00e4hlen k\u00f6nnen. Nur das Wort \u201eDreieck\u201c, \u201eBewegung\u201c giebt die Allgemeinvorstellung ganz frei von jedem spezialisierenden Zusatz. In \u00e4hnlicher Weise wird die Wichtigkeit der Sprache f\u00fcr die Bildung des Urteils entwickelt. Nachdem nun das Resultat eines Denkprozesses einmal in festen sprachlichen Formeln niedergelegt ist, ist es durch das Gesetz der Kraftersparnis geboten, dafs wir nicht jedesmal beim Gebrauch der betr. Formeln den ihrer Festsetzung vorausliegenden Gedankengang wiederholen, sondern mit den betr. Formeln als etwas Fertigem arbeiten. Der Gedanke wird in solchem Fall \u201eblinde Gewohnheit\u201c, wird mechanisch angewendet. So zeigt sich, dafs der Psittacismus auch den h\u00f6chsten Arten des Denkens, auch dem wissenschaftlichen Denken nicht fremd ist. Dafs diese Ausf\u00fchrungen des Verfassers meist richtig, kaum neu sind, glaube ich zu wissen, obwohl sie die Sprachwissenschaft nur von ferne ber\u00fchren ; dafs sie vortrefflich geschrieben sind, sieht jeder.\nF. Skutsch (Breslau).\n0. Fl\u00fcgel. Neuere Arbeiten \u00fcber die Gef\u00fchle. Zeitschr. f. Philos, u. P\u00e4dag II. Jahrg. Hft. 2. S. 85\u2014107. Hft. 3. S. 165\u2014174. Hft. 4. S. 245\u2014262 Hft. 5. S. 325\u2014346. 1895.\nGegenstand dieses Aufsatzes sind nur die \u00e4sthetischen und sittlichen. Gef\u00fchle; sein Ziel ist der Nachweis, dafs diese Gef\u00fchle selbst\u00e4ndiger Natur, und nicht blofse Verfeinerungen der Selbstsucht sind. Der Titel entspricht insofern nicht ganz dem Inhalte, als Verfasser sich keineswegs blofs referierend verh\u00e4lt, sondern vornehmlich seinen eigenen an Herbart sich engstens anschliefsenden Standpunkt darlegt, allerdings unter weitgehender Ber\u00fccksichtigung der einschl\u00e4gigen, keineswegs immer neuesten Litteratur.\nIn der Einleitung weist Fl\u00fcgel darauf hin, dafs Herbart es vor allem war, der die Psychologie durch Einf\u00fchrung der Analyse und durch den schweren Nachdruck, den er auf die Psychogenese (V\u00f6lkerpsychologie, Anthropologie der Naturv\u00f6lker, P\u00e4dagogik) legte, zu einer Naturwissenschaft machte. In dieser Beziehung folge der vom Verfasser bek\u00e4mpfte Evolutionismus den Spuren Herbarts. Auch letzterer will eine genetische Erkl\u00e4rung des H\u00f6heren aus dem Niederen, des Komplexen aus dem Elementaren; nur befolge er hierbei nicht den falschen Satz: qualis causa talis effectus. In diesem Irrtum befangen, nehme n\u00e4mlich der Evolutionist an, dafs das H\u00f6here bereits potentiell oder keimartig in dem Niederen enthalten ist, und vermische dadurch den spezifischen Unterschied zwischen beiden.\nIn Konsequenz dieser Anschauung untersucht daher auch Verfasser zun\u00e4chst den Verstand der Tiere und unterzieht Romanes {Pie geistige Entwickelung beim Menschen. Leipzig 1893) einer scharfen Kritik, dem er Mangel an psychologischem Wissen und Gefallen am Wortstreite vorwirft. Er giebt zu, dafs das h\u00f6here geistige Leben aus sehr einfachen,","page":137},{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"138\nLitter aturbericht.\nelementaren Vorg\u00e4ngen, den sinnlichen Wahrnehmungen, sich entwickele und letztere bereits bei Tieren sich finden; aber Romanes schreibe den Tieren zu viel Intelligenz zu, insofern er die Erscheinungen der Assoziation und Reproduktion zu wenig ber\u00fccksichtige und durch anthropomorphe Deutungen die Kluft zwischen Mensch und Tier zu \u00fcberbr\u00fccken trachte. Allgemeinbegriffe besitze das Tier nicht, wenn auch namentlich an Geschmacks- und Geruchsempfindungen gebundene Gesamteindr\u00fccke, die auf mehrere Objekte Anwendung finden. Es sei z. B. v\u00f6llig verkehrt, dem Tiere eine allgemeine Vorstellung von Efsbarem und Nicht-Efsbarem zuzuschreiben; vielmehr reize jenes die Geschmacksund Geruchsnerven in angenehmer, dieses in widriger oder in gar keiner merklichen Weise. Auch von einer F\u00e4higkeit der V erallgemeinerung sei bei den Tieren keine Rede, sondern nur von einer Reproduktion nach dem Gesetze der \u00c4hnlichkeit. Noch weniger sei man berechtigt, den Tieren ein Verst\u00e4ndnis f\u00fcr Z\u00e4hlen und Kausalit\u00e4t zuzuschreiben. In allen F\u00e4llen, wo dieses scheinbar vorliegt, handele es sich in Wirklichkeit um sinnliche Empfindungen oder h\u00f6chstens um Assoziationsvorg\u00e4nge, die allerdings die Vorstufen der Kausalit\u00e4t sind, aber sich doch von dieser spezifisch unterscheiden. In gleicher Weise fehlen untr\u00fcgliche Beweise daf\u00fcr, dafs die Tiere einen Sch\u00f6nheitssinn besitzen. Allenfalls liefse sich dieser noch in Bezug auf T\u00f6ne annehmen (Singv\u00f6gel) ; aber vielleicht wirke auch das Musikalische nicht \u00e4sthetisch, sondern nur sinnlich angenehm und aufregend; ein Taktgef\u00fchl fehle nach neueren Untersuchungen. Sicherlich l\u00e4sst sich das Gefallen an gl\u00e4nzenden Gegenst\u00e4nden und grellen Farben sowie das Putzen des Gefieders auf sinnliche Empfindungen und das Befolgen der Signale auf eine Assoziation zwischen T\u00f6nen und Bewegungen und auf Nachahmung der Bewegungen anderer Pferde zur\u00fcckf\u00fchren. Dem Tiere fehlt die n\u00f6tige geistige Freiheit und Unabh\u00e4ngigkeit vom K\u00f6rperlichen, um zu einem \u00e4sthetischen Urteil zu gelangen.\nErst nach diesen tierpsychologischen Untersuchungen wendet sich Verfasser dem Menschen zu, um den Ursprung der \u00e4sthetischen und sittlichen Gef\u00fchle bei diesem zu ermitteln. Er giebt dem Evolutionisten, dessen Streit mit dem Anh\u00e4nger einer absoluten Moral und \u00c4sthetik oft nur ein Wortstreit ist, zu, dafs das Angenehme und N\u00fctzliche zuerst den Menschen bestimmte, aber deshalb lasse sich noch nicht das \u00c4sthetische allein aus dem N\u00fctzlichkeitsprinzipe und das Sittliche aus dem Egoismus erkl\u00e4ren. Schon das Sch\u00f6ne in der Natur sei nicht immer n\u00fctzlich und zweckm\u00e4ssig. Sodann aber w\u00fcrden V\u00f6lker, welche nur das N\u00fctzliche im Auge haben, ohne Zweifel im Kampfe ums Dasein den V\u00f6lkern \u00fcberlegen sein, welche auf die Kunst soviel Kraft und Arbeit verwenden, wie die Kultnrnationen. \u201eDer Mensch hat einmal Gefallen am Sch\u00f6nen und der \u00e4sthetische Trieb fordert seine Befriedigung so gut, als jeder andere Trieb.\u201c (247). Ebenso sei auch das Gute und das N\u00fctzliche wohl von einander zu unterscheiden. Allerdings sei die Rechtsordnung n\u00f6tig gewesen, um den Menschen zur Sittlichkeit zu bringen, aber letztere ist eine oft sehr nutzlose Gesinnung, nicht immer ein \u00e4ufseres Verhalten. Wie weit N\u00fctzlichkeit und Sittlichkeit","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n139\nvon einander verschieden sind, zeige schon der Unterschied zwischen Macht und Recht, das Vorhandensein von sittlichen Konflikten, die Reue \u00fcber Sch\u00e4nalichkeiten, die Selbstverurteilung etc. Ferner giebt es gar viele Tugenden, welche aus dem N\u00fctzlichkeitsprinzip sich gar nicht ableiten lassen, z. B. die Wahrheitsliebe. Auch das Wohl wollen, welches mit dem Wohl thun sich nicht immer deckt, ist oft nichts weniger als n\u00fctzlich, sondern bringt geradezu nutzlose Leiden. Ja, Sittlichkeit ist dem Egoismus so sehr entgegengesetzt, dafs jeder letzteren zu verdecken -trachtet. Wenn man trotzdem beide zu identifizieren sucht durch einen Unterschied zwischen h\u00f6herer, edler und niederer, gemeiner Lust, so setze eine solche Unterscheidung bereits eine absolute Moral voraus. Trotzdem giebt aber Verfasser, und nach seiner Meinung auch Herbart, zu, dafs die sittliche Handlung wohlgef\u00e4llig, lusterregend ist. Ja, das angenehme Gef\u00fchl der inneren Freiheit und Befriedigung lasse sich nur nach der absoluten Moral erkl\u00e4ren, w\u00e4hrend nach dem Evolutionismus eine sittliche Handlung nur ein unangenehmer Gehorsam gegen die von aufsen aufgedr\u00e4ngten und durch fremde Erfahrungen Anderer als z weckm\u00e4fsig bew\u00e4hrten moralischen Ideen sei. Auch eine Entwickelung der Moralit\u00e4t d. h. der Anwendung der moralischen Ideen r\u00e4umt Verfasser ein. Mit Unrecht habe man Herbart vorgeworfen, dafs seine moralischen Ideen etwas Fertiges, Angeborenes seien. Zuerst habe auch nach Herbart ein bellum omnium contra omnes, ein naturw\u00fcchsiger Eud\u00e4monismus geherrscht und erst allm\u00e4hlich ging das Unsittliche ins Sittliche \u00fcber. Aber zun\u00e4chst geh\u00f6re doch die Schilderung der Entwickelung des Ethischen in die Psychologie, nicht in die Ethik, welche eine beurteilende, nicht eine beschreibende Wissenschaft sei. Sodann aber sei noch nicht das Unsittliche, Egoistische wesensgleich dem Sittlichen, weil dieses aus jenem hervorging, ebenso wenig wie Liebe sich mit dem Geschlechtstriebe decke, trotzdem jene diesen voraussetze. Auch ging ja der Egoismus nicht so ins Sittliche \u00fcber, dafs ersterer neben dem letzteren nicht mehr existiert. Man mufs zwischen Moralit\u00e4t und Moral wohl unterscheiden, jene habe einen Entwickelungsgang, da die sittlichen Ideen insofern formal und relativ sind, als ihre Verwirklichung im einzelnen Falle Ver\u00e4nderungen unterworfen ist. Die sittlichen Ideen selbst aber sind das h\u00f6chste und das notwendige Resultat des vollendeten Vorstellens, das unver\u00e4nderlich ist, zumal da die vern\u00fcnftige Natur des Menschen immer dieselbe bleibt.\nDen meisten Anspruch auf Beifall und Zustimmung d\u00fcrften unter diesen Ausf\u00fchrungen die Bemerkungen des Verfassers in Bezug auf die Tierpsychologie haben. In der That stiftet in dieser die anthropomorphe Deutung viel Schaden und Unheil an, so dafs jeder Mahnruf zu einem vorsichtigen, n\u00fcchternen und vorurteilsfreien Studium der tierischen Bewegungen mit Freuden zu begr\u00fcfsen ist. Und vielfach ist es dem Verfasser auch wirklich gelungen, in \u00fcberzeugender Weise scheinbar vern\u00fcnftige Handlungen oder \u00e4sthetische und sittliche Gef\u00fchle bei Tieren durch rein sinnesphysiologische Vorg\u00e4nge zu erkl\u00e4ren. Auch der Hinweis des Verfassers darauf, dafs trotz der Annahme einer Entwickelung nicht die Wirkung gleich der Ursache ist, hat viel f\u00fcr sich. Trotzdem","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140\nLitter atur bericht.\nscheint es mir aber fraglich, oh man von einer Entwickelung sprechen kann, wenn nicht alle Wirkungen der Anlage nach in der Ursache bereits vorhanden sind. Sonst kann man wohl von einer zeitlichen Aufeinanderfolge eines Zustandes auf einen anderen, aber nicht von einer Evolution jenes aus diesem reden. Der innige Zusammenhang zwischen dem Entwickelungsprozesse und der Kontinuit\u00e4t der Ver\u00e4nderungen ist vom Verfasser hierbei nicht ber\u00fccksichtigt \u2022worden. Wie aber leicht ersichtlich ist, f\u00e4llt und steht mit dieser Frage der eigentliche Zweck der ganzen Abhandlung, die Selbst\u00e4ndigkeit der \u00e4sthetischen und sittlichen Gef\u00fchle. Diese zu erweisen ist hei aller Dichtigkeit einzelner Ausf\u00fchrungen dem Verfasser nicht gelungen, wie man schon an den h\u00e4ufigen Zugest\u00e4ndnissen, die er an den Evolutionismus machen mufs, erkennen kann. Ja, letztere sind mitunter so weitgehend, dafs das Wesen der absoluten Moral fallen gelassen wird und der Streit gegen den Evolutionismus zu einem leeren Wortstreit wird. \u2014 Die einzelnen Thatsachen, die Verfasser gegen den Evolutionismus anf\u00fchrt, werden oft nach letzterem ihre Erkl\u00e4rung finden, wenn man an die vielfach best\u00e4tigte That-sache denkt, dafs das Mittel oft durch Gewohnheit und \u00dcbung zum Zwecke wird. So liefse sich z. B. nach dem Evolutionismus das nicht selten geradezu sch\u00e4dliche Wohlwollen, der sittliche Konflikt etc. erkl\u00e4ren. Auch eine andere wichtige Thatsache hat Verfasser scheinbar \u00fcbersehen, dafs der sittliche Mensch ein in der und durch die Gesellschaft gewordenes Wesen ist. Infolgedessen f\u00fchlt er auch innere Zufriedenheit und Freiheit bei sittlichen Handlungen, denn die Sittengesetze haben sich nicht durch fremde Erfahrungen bew\u00e4hrt, sind nach dem Evolutionismus nicht von aufsen dem Einzelnen aufgedr\u00e4ngt, sondern sind aus der Entwickelung der ganzen Menschheit bezw. ganzer V\u00f6lker oder Gesellschaftskreise hervorgegangen, denen auch die betreffende einzelne Person ihr \u00e4ufseres wie inneres Sein verdankt. Es handelt sich bei der evolutionistischen Theorie nicht um die Entwickelung des Einzelnen, sondern der Gesellschaft. Allerdings ger\u00e4t dann der Satz des Verfassers, dafs das vern\u00fcnftige Wesen des Menschen immer dasselbe bleibe, auch ins Schwanken, und das ist vielleicht eine St\u00fctze f\u00fcr den Evolutionismus. \u2014 Auf alle Einzelheiten einzugehen, f\u00fchrte zu weit. Nur das sei noch bemerkt, dafs allerdings die Einteilung in niedrigere und h\u00f6here Lustgef\u00fchle ein moralisches Prinzip voraussetzt, aber nur soweit es sich um die bewertenden Epitheta \u201eniedriger\u201c und \u201eh\u00f6her\u201c handelt, nicht um den thats\u00e4chlichen Unterschied der beiden Lustarten. Letzterer aber kann die Grundlage f\u00fcr das Entstehen der Sittlichkeit gewesen sein. \u2014 Zum Schlufs noch eine etwas \u00e4ufserliche Bemerkung. Die Ausf\u00fchrungen des Verfassers leiden oft an allzu grofser Ausf\u00fchrlichkeit und Breite, und wiederholen sich vielfach. Auch ist Verfasser der grofsen Gefahr, bei ethischen Untersuchungen in den moralisierenden Predigerton zu verfallen, nicht immer entgangen.\nArthur Wreschner (Berlin).","page":140}],"identifier":"lit30887","issued":"1897","language":"de","pages":"137-140","startpages":"137","title":"O. Fl\u00fcgel: Neuere Arbeiten \u00fcber die Gef\u00fchle. Zeitschr. f. Philos. u. P\u00e4dag. II. Jahrg. Hft. 2. S. 85-107. Hft. 3. S. 165-174. Hft. 4. S. 245-262 Hft. 5. S. 325-346. 1895","type":"Journal Article","volume":"13"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:31:41.876431+00:00"}