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{"created":"2022-01-31T14:16:53.928607+00:00","id":"lit30905","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Pelman","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 13: 155-157","fulltext":[{"file":"p0155.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericlit.\n155\nAber auch diese vier F\u00e4lle, in denen h\u00f6chstens von einer Parese der Abduktoren oder Kontraktur der Adduktoren die Rede ist, geh\u00f6ren eigentlich nicht zur Kategorie derjenigen, von denen die obengenannten Autoren sprechen, wo es sich um Paralyse der Adduktoren im Kehlkopf handelt. Jedenfalls wird durch die 19 negativen F\u00e4lle Raug\u00e9s Behauptung der H\u00e4ufigkeit cerebraler Kehlkopfl\u00e4hmung widerlegt \u2014- so dafs dem Verf. die Ansicht Semons und Horsleys, wonach die Seltenheit durch die doppelte Innervation des Kehlkopfes bedingt ist, wahrscheinlicher klingt.\tFraenkel.\nEmil Kraepelin. Psychiatrie. Ein Lehrbuch f\u00fcr Studierende und \u00c4rzte.\nF\u00fcnfte vollst\u00e4ndig umgearbeitete Auflage, mit 10 Lichtdrucktafeln, 13 Kurven und 13 Schriftproben. Leipzig, J. A. Barth. 1896. 825 S,\nWenn ein Lehrbuch und noch dazu ein Lehrbuch der Psychiatrie, in verh\u00e4ltnism\u00e4fsig kurzer Zeit seine f\u00fcnfte Auflage erlebt, so d\u00fcrfte diese Thatsache an sich gen\u00fcgen, um eine nochmalige Besprechung des Buches nach der guten oder gar nach der schlechten Seite \u00fcberfl\u00fcssig zu machen. Bei Kraepelin liegen die Dinge etwas anders, und er konnte sich keinen Augenblick dar\u00fcber im Unklaren befinden, dafs er mit der neuen Bearbeitung seines Lehrbuches die Kritik geradezu herausfordern und es an abweichenden Meinungs\u00e4ufserungen nicht fehlen w\u00fcrde.\nBis dahin konnte man es sich ruhig eingestehen, dafs uns Kraepelin, wenn er es noch nicht gethan, so doch mit der Zeit das beste Lehrbuch der Psychiatrie liefern werde. Man sah daher der neuen Auflage mit Spannung entgegen und man hoffte, dafs sie, wie ihre Vorg\u00e4nger dies gethan, einen neuen Schritt auf dem Wege der Vollkommenheit bezeichnen werde.\nOb dies nun wirklich der Fall gewesen, und ob die vor uns liegende f\u00fcnfte Auflage in der That einen Fortschritt bedeutet, dar\u00fcber kann man geteilter Meinung sein, und fast m\u00f6chte ich bef\u00fcrchten, dafs sich die Zahl der Zustimmenden nicht in der Majorit\u00e4t befinden wird. Allerdings stellte von jeher die Einteilung und Gruppierung der einzelnen Irrsinnsformen den schw\u00e4chsten Punkt in der Psychiatrie dar, und es war gerade kein Verbrechen, hierin anderer Ansicht zu sein. Aber immerhin stand eine Anzahl dieser Formen fest, und wenn man sie auch hin und her schob, so hatten sie an sich doch B\u00fcrgerrecht erworben, und man war gewohnt, sie in einem ordentlichen Lehrbuche wiederzufinden.\nMit dieser kleinlichen R\u00fccksicht hat Kraepelin gr\u00fcndlich aufger\u00e4umt, er hat, wie er sagt: \u201eden letzten entscheidenden Schritt von der symptomatischen zur klinischen Betrachtungsweise des Irrseins gethan\u201c, und diesen Schritt hat eine ganze Reihe der \u00e4ltesten Psychosen mit dem Leben bezahlen m\u00fcssen.\nWir waren in der Psychiatrie bisher daran gew\u00f6hnt, mit der Manie und Melancholie aufzustehen und mit dem Bl\u00f6dsinn zu Bette zu gehen, und wenn wir uns in der f\u00fcnften Auflage fast vergebens nach den ersten Beiden umsehen, und eigentlich alles so ganz anders ist, wie wir es bislang gelernt und zum Teil wohl auch gelehrt hatten, dann kann man sich nicht so ohne weiteres darin finden, und man wird sich zun\u00e4chst ablehnend verhalten.","page":155},{"file":"p0156.txt","language":"de","ocr_de":"156\nLitteraturbericht.\nJedenfalls ist die Frage berechtigt, ob das Neue auch das Bessere sei, und diesen Beweis hat unseres Erachtens Kraepelin nicht \u00fcberall erbracht.\nWas er bezweckte, war, die Bedeutung der \u00e4ufseren Krankheitszeichen hinter die Gesichtspunkte zur\u00fccktreten zu lassen, die sich aus den Entstehungsbedingungen, aus Verlauf und Ausgang der einzelnen St\u00f6rungen ergeben, und uns so in den Stand zu setzen, auf Grund unserer Krankheitsbegriffe den zuk\u00fcnftigen Gang der Dinge vorauszusagen.\nAn der Wichtigkeit einer derartigen Verwertung der Diagnose f\u00fcr die Prognose wird niemand zweifeln, wohl aber an ihrer Dichtigkeit, und darauf kommt es doch am Ende an.\nUnsere Bedenken werden sich daher in erster Linie gegen die Aufstellung neuer Formen richten, deren Berechtigung am Leben noch nicht \u00fcber allen Zweifel erhaben ist, und sie werden um so mehr ins Gewicht fallen, als es sich hier um ein Lehrbuch handelt, das der psychiatrischen Jugend zur Einf\u00fchrung in ihre Wissenschaft dienen soll. Bei vollster Anerkennung aller anderen Vorz\u00fcge, des redlichen Strebens nach Wahrheit und des unerm\u00fcdlichen Forschungseifers, d\u00fcrfte es Kraepelin kaum gelingen, diesen Vorwurf so ohne weiteres von sich abzuschieben. Es will mich fast bed\u00fcnken, als ob die Vertiefung in exakte Forschung und die anhaltende Besch\u00e4ftigung mit exakten Methoden den Autor dahin gef\u00fchrt h\u00e4tten, seine dort gewonnenen Anschauungen auch auf die Psychiatrie \u00fcbertragen und dabei \u00fcbersehen zu haben, dafs es sich hier nicht um eine exakte Wissenschaft handle. Die Identit\u00e4t von Ursache und Wirkung liegt bei einem so zusammengesetzten Organe, wie das Gehirn es ist, nicht ganz so einfach, wie bei dem gew\u00f6hnlichen wissenschaftlichen Experimente, und wollte man die auf diese Weise gewonnenen Schl\u00fcsse ohne weiteres auf die psychischen Vorg\u00e4nge \u00fcbertragen, denn wird es an Trugschl\u00fcssen nicht fehlen.\nNicht als ob sich Kraepelin hier\u00fcber nicht klar w\u00e4re und als ob er sich etwas \u00e4hnliches h\u00e4tte zu Schulden kommen lassen, aber er am wenigsten darf es uns verdenken, wenn wir uns nach dem Gesetze der Kausalit\u00e4t nach einem zureichenden Grunde f\u00fcr die merkw\u00fcrdige Umwertung der bisher gang und g\u00e4ben Begriffe umsehen und m\u00f6glicherweise einen verkehrten finden.\nVielleicht ist es die uns angeborene oder erworbene Philistrosit\u00e4t, die uns an den altvertrauten Bezeichnungen festhalten l\u00e4fst, vielleicht auch der Misoneismus des Alters, der sich gegen die Schaffung neuer Begriffe str\u00e4ubt, und Kraepelin h\u00e4tte Recht, wenn er uns entgegenhielte: erst nachpr\u00fcfen und dann r\u00e4sonnieren.\nAber dar\u00fcber vergeht eine gewisse Zeit, und mittlerweile macht das Lehrbuch seinen Weg, und ich kann mir nicht helfen, einen Nutzen sehe ich darin nicht.\nEin Gl\u00fcck ist es bei alledem, dafs man bei dem bisherigen Gange der Auflagen kein Cidher zu sein und keine 500 Jahre zu leben braucht, um die Aussicht zu haben, auch noch die folgende Auflage zu erleben. Noch ist ja das letzte Wort nicht gesprochen, und vielleicht wird sich der Autor zu dem Alten, vielleicht auch wir zu dem Neuen uns bekehren, und qui vivra verra.","page":156},{"file":"p0157.txt","language":"de","ocr_de":"Li tie)'a turberich t.\n157\nNicht unerw\u00e4hnt d\u00fcrfen wir lassen, dafs durch die Beif\u00fcgung einer Anzahl gut ausgew\u00e4hlter photographischer Abbildungen von Kranken (meist Gruppenbilder zusammengeh\u00f6riger F\u00e4lle) der Lehrzweck des Buches wesentlich gef\u00f6rdert wurde, und dafs die Ausstattung eine vortreffliche ist.\t,\tPelman.\nP. Flechsig. Die Grenzen geistiger Gesundheit und Krankheit. Eede, gehalten zur Feier des Geburtstages Sr. Majest\u00e4t des K\u00f6nigs Albert von Sachsen, am 23. April 1896. Leipzig. Veit & Cie. 1896. 48 S.\nFlechsig f\u00fchrt seine in der vielbesprochenen Eede \u00fcber Gehirn und Seele niedergelegten Gedanken in dieser Eede weiter aus.\nMit Unrecht schm\u00e4he man die Psychiater, und Unsinn sei es, den gesunden Menschenverstand \u00fcber ihre Wissenschaft erheben zu wollen. Nur der wissenschaftlichen Psychiatrie st\u00e4nden die Mittel zu Gebote, um auf geistigem Gebiete Gesundheit und Krankheit zu unterscheiden, und dies gelte besonders, seit die Hirnlehre und hier wiederum die Lehre vom Hirnhau dahin gelangt sei, f\u00fcr die Auffassung der Seelenerscheinungen in wichtigen Beziehungen mafsgehend zu werden.\nDer Laie urteile lediglich auf Grund von Anschauungen, die er an gesunden Menschen gewonnen habe, der Psychiater dagegen kenne auch die Abweichungen von der geistigen Norm. Aber seihst die an sich schon unvollkommenen Beobachtungen des Laien seien durchaus subjektive, und daher erkl\u00e4re sich auch das geringe Ergebnis seiner Beobachtungen am mittleren normalen Menschen. So wissen wir unter vielem anderen nicht einmal, wie viele Prozent der Bev\u00f6lkerung redlich sind, und wir sind hier wie in den meisten anderen wichtigen Gebieten auf die oberfl\u00e4chlichsten Sch\u00e4tzungen angewiesen.\nAuch aus den Dichtern seine Wissenschaft zu sch\u00f6pfen, geht nicht recht an. Selbst Shakespeare ist allzusehr Poet, und seine Ophelia deliriert nicht als Ophelia, sondern als Shakespeare. Wohl sind die Umrisse richtig gezogen, die Grundlinien entsprechend gelegt, aber der Inhalt ist Dichtung und keine Wahrheit.\nIn \u00e4hnlicherWeise bringt uns die Psychophysik dem Verst\u00e4ndnisse kaum wesentlich n\u00e4her, wohl aber thut dies der gl\u00fcckliche Gedanke des psychiatrischen Forschers, die freie Kombination der Erfahrungen auf den verschiedensten Gebieten der Wissenschaft, und nicht am wenigsten das Streben, jede geistige Erscheinung zur\u00fcckzuf\u00fchren auf Erscheinungen und Eigent\u00fcmlichkeiten, auf Faktoren der k\u00f6rperlichen Organisation, mit anderen Worten auf k\u00f6rperliche Vorg\u00e4nge. Wir zergliedern die Seele, und wir kn\u00fcpfen die so gewonnenen seelischen Elemente an ihre materiellen Tr\u00e4ger an, insbesondere an das Gehirn.\nSo wird die Analyse des kranken Menschengeistes in erster Linie zu einem physischen Problem, und die Psychiatrie zur Lehre von den Variationen des Seelenlebens unter ver\u00e4nderten k\u00f6rperlichen Bedingungen.\nEs ist somit die Hirnforschung und nicht der gesunde Menschenverstand, wodurch uns die Kunde wird von der Macht k\u00f6rperlicher Faktoren auf das Geistesleben, von welcher der Laie allenfalls in der Alkoholintoxikation eine gelegentliche Vorstellung gewinnt.","page":157}],"identifier":"lit30905","issued":"1897","language":"de","pages":"155-157","startpages":"155","title":"Emil Kraepelin: Psychiatrie. Ein Lehrbuch f\u00fcr Studierende und \u00c4rzte. F\u00fcnfte vollst\u00e4ndig umgearbeitete Auflage, mit 10 Lichtdrucktafeln. 13 Kurven und 13 Schriftproben. Leipzig, J. A. 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