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{"created":"2022-01-31T16:13:48.712059+00:00","id":"lit30910","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Heller, Theodor","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 13: 175-186","fulltext":[{"file":"p0175.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Aphasie bei Idioten und Imbecillen.1\nVon\nDr. pkil. Theodor Heller.\nBevor ich den Versuch mache, eine kurze Darstellung der aphatischen St\u00f6rungen bei Idioten und Imbecillen zu geben, mufs ich die Frage zu beantworten suchen, ob man denn \u00fcberhaupt in F\u00e4llen angeborenen Schwachsinnes von Aphasie zu sprechen berechtigt ist. Da die Aphasie von verschiedenen Autoren in sehr verschiedener Weise definiert worden ist, will ich mich auf zwei neuere Bestimmungen beschr\u00e4nken, welche die hier in Betracht kommenden Sprachst\u00f6rungen im weitesten Sinne umgrenzen. Flechsig definiert die Aphasie als das Unverm\u00f6gen, den Gedankeninhalt durch die artikulierte Sprache auszudr\u00fccken, ohne dafs L\u00e4hmung der Sprachmuskulatur oder angeborene Geistesschw\u00e4che zu Grunde liegen.2 3 H. Sachs giebt gleichsam die anatomische Erg\u00e4nzung dieser Definition : er begreift diejenigen Sprachst\u00f6rungen unter dem Namen der Aphasie, \u201ederen anatomischer Sitz in umschriebenen Bezirken der Grofshirnrinde, den Assoziationsfasern oder den das erste Glied des MEYNERTschen Projektionssystems bildenden Stabkranzfasern zu finden oder zu vermuten ist.U3 Aus diesen Bestimmungen geht hervor, dafs man nicht berechtigt ist, von Aphasie bei Idioten und Imbecillen zu sprechen, wenn man sich der Meinung anschliefst, dafs die bei denselben vorkommenden Sprachst\u00f6rungen zentralen Ursprungs ausschliefslieh oder doch\n1\tNach einem in der 3. Sektion des III. internationalen Kongresses f\u00fcr Psychologie in M\u00fcnchen gehaltenen Vortrage.\n2\tGehirn und Seele. Leipzig 1896, S. 14.\n3\tVortr\u00e4ge \u00fcber Bau und Th\u00e4tigkeit des Grofshirns. Breslau 1893, S. 189.","page":175},{"file":"p0176.txt","language":"de","ocr_de":"176\nTheodor Heller.\nder Hauptsache nach auf Intelligenzdefekte zur\u00fcckgef\u00fchrt werden m\u00fcssen. Diese Auffassung tritt uns aber in jenen Einteilungen der Idiotie und Imbecillit\u00e4t entgegen, welche die Sprache als n\u00e4chsten Einteilungsgrund verwenden. Esquirol gab die erste derartige Einteilung, Griesinger stimmte derselben zu, und eine Reihe deutscher und franz\u00f6sischer Autoren versuchte es, auf die Autorit\u00e4t dieser Forscher gest\u00fctzt, gleichfalls, die verschiedenen Grade des angeborenen Schwachsinnes nach den Stufen der sprachlichen Entwickelung zu klassifizieren.\nAlle diese Einteilungen gehen von der Voraussetzung aus, dafs die Sprache eines Individuums als vollkommen ad\u00e4quater Ausdruck seiner Intelligenz angesehen werden k\u00f6nne. Hach Preyer und Kussmaul ist dies aber schon innerhalb der Breite der geistigen Gesundheit nicht durchaus der Fall, noch weniger aber bei Idioten und Imbecillen, was Sollier in vorz\u00fcglich klarer Weise nachgewiesen hat. Vor allem ist hier die Thatsache in Betracht zu ziehen, dafs es Idioten mit hochgradiger Intelligenzschw\u00e4che giebt, bei denen die Sprache mehr entwickelt ist, als bei anderen intellektuell h\u00f6her stehenden,1 oder: es finden sich gleiche oder \u00e4hnliche Sprachdefekte bei Idioten, welche in intellektueller Beziehung auf sehr verschiedenen Stufen stehen. Dafs man sich vielfach mit einem so wenig brauchbaren Einteilungsprinzip begn\u00fcgte, zeigt eben deutlich die grofse Schwierigkeit, welche eine nur halbwegs zutreffende Einteilung und Definition der idiotischen Zust\u00e4nde darbietet. Noch heute wird man sich der Ansicht von Spielmann anschliefsen k\u00f6nnen, dafs jeder Fall von angeborenem Schwachsinn ganz nur f\u00fcr sich und aus sich selbst zu studieren und in seiner Eigenart zu erfassen sei. Nichtsdestoweniger kann man aus praktischen Gr\u00fcnden eine Einteilung der idiotischen Zust\u00e4nde nicht entbehren, und den thats\u00e4chlichen Verh\u00e4ltnissen d\u00fcrften jene Autoren am n\u00e4chsten kommen, welche, wie Sollier, das Verhalten der Aufmerksamkeit zum Ausgangspunkt ihrer Betrachtung w\u00e4hlen.2\nWenden wir uns nunmehr einer Sprachst\u00f6rung zu, welche man als typisch f\u00fcr die schweren idiotischen Zust\u00e4nde be-\n1\tPaul Solliee, Der Idiot und der Imbec\u00fcle. (Deutsche \u00dcbersetzung von Brie.) Hamburg und Leipzig 1891, S. 148.\n2\tA. a. O. S. 17.","page":176},{"file":"p0177.txt","language":"de","ocr_de":"TJber Aphasie bei Idioten und Imbecillen.\n177\nzeichnen kann, nm von hier ans weitere Gesichtspunkte f\u00fcr die Betrachtung des sprachlichen Verhaltens der Idioten und Imbecillen im allgemeinen zu gewinnen.\nEs ist klar, dafs in jenen F\u00e4llen von schwerer Idiotie, in welchen die Intelligenz auf ein Minimum reduziert ist oder g\u00e4nzlich fehlt, sprachliche \u00c4ufserungen nicht zu erwarten sind. Auf diese Idioten ist der Ausspruch von Griesinger anzuwenden, dafs sie nicht sprechen, weil sie nichts zu sagen haben. F\u00fcr die praktische Beurteilung der hier vorliegenden idiotischen Stummheit ist es ziemlich bedeutungslos, dafs man bei schwerer Idiotie nicht selten grobe Defekte in der Inselgegend angetroffen hat, da der Intelligenzmangel an und f\u00fcr sich schon zu vollkommener Sprachlosigkeit f\u00fchren mufs. In den schwersten Graden von Idiotie wird also keine sprachliche \u00c4ufserung produziert; hier besteht eine vollkommene \u00dcbereinstimmung zwischen Intelligenz- und Sprachst\u00f6rung.\nEs giebt jedoch eine grofse Anzahl von Schwachsinnigen, bei welchen gleichfalls keine sprachlichen \u00c4ufserungen vorhanden sind, die jedoch zahlreiche Beweise einer gewissen Intelligenzentwickelung an den Tag legen. Unter welchem Gesichtspunkt sind nun diese zentral bedingten Sprachst\u00f6rungen zu betrachten? Die eben erw\u00e4hnten Geistesschwachen h\u00e4tten gewifs manches zu sagen, aber sie k\u00f6nnen es nicht. Eine Erkl\u00e4rung dieser Sprachst\u00f6rungen finden wir dann, wenn wir dieselben als aphatische St\u00f6rungen im weitesten Sinne betrachten. Benedikt bemerkt ausdr\u00fccklich: \u201edafs der geistige Zustand eines Kranken nicht intakt zu sein braucht, um ihn als aphasisch zu erkl\u00e4ren\u201c, und weiterhin: \u201edafs eine Aphasie bei einem nicht vollst\u00e4ndig psychisch Gesunden darin besteht, dafs er den vorhandenen Teil seiner psychischen Th\u00e4tigkeit nicht in Worte kleiden kann\u201c.1 Zweifellos d\u00fcrfen wir aber auch dann von Aphasie sprechen, wenn die Schwachsinnigen zwar \u00fcber gewisse sprachliche \u00c4ufserungen verf\u00fcgen, letztere jedoch gleichfalls nicht der erreichten intellektuellen Entwickelung der Patienten entsprechen.\nIn neuerer Zeit hat man f\u00fcr manche aphatische Zust\u00e4nde psychologische Erkl\u00e4rungen zu geben versucht, welche vor allem geeignet sind, den individuellen Verschiedenheiten gerecht\n1 Nervenpathologie und Elektrotherapie. Leipzig 1874. S. 827.\n12\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XIII.","page":177},{"file":"p0178.txt","language":"de","ocr_de":"178\nTheodor Heller.\nzu werden. Eine gleichfalls psychologische Erkl\u00e4rung legen uns einige Sprachst\u00f6rungen hei angeborenen Schwachsinnszust\u00e4nden nahe, welche seit einigen Jahren Gegenstand einer erfolgreichen p\u00e4dagogischen Therapie geworden sind; die letztere ist im wesentlichen darauf gerichtet, jene psychischen Defekte auszugleichen, welche als veranlassende Ursachen der hier in Betracht kommenden Sprachst\u00f6rungen anzusehen sind.\nEs sei* mir nun gestattet, einige Sprachst\u00f6rungen zu erw\u00e4hnen, bei welchen wir in der Lage sind, die eben gewonnenen Gesichtspunkte anzuwenden. Dieselben werden wir jedoch zum Zwecke eines besseren Verst\u00e4ndnisses in jenen Zusammenh\u00e4ngen betrachten m\u00fcssen, in welchen sie thats\u00e4chlich gegeben sind.\nDen vollsten Gegensatz zu der idiotischen Stummheit bildet jene Sprachst\u00f6rung, welche Co\u00ebn als H\u00f6rstummheit bezeichnet.1 Dieselbe besteht im wesentlichen darin, dafs die Personen gut h\u00f6ren und innerhalb der Sph\u00e4re ihrer geistigen Entwickelung alles verstehen, jedoch nicht sprechen und unter gew\u00f6hnlichen Bedingungen auch nicht zur Sprache zu bringen sind. Die H\u00f6rstummheit f\u00fchrt unter allen Umst\u00e4nden auf angeborene oder in der fr\u00fchesten Kindheit acquirierte Defekte zur\u00fcck, zum Unterschied von verwandten Sprachst\u00f6rungen, welche in dem Verlust bereits erworbener Sprachbewegungs Vorstellung en begr\u00fcndet sind. Hach Treitel ist bei der Mehrzahl der H\u00f6rstummen die Intelligenz so weit entwickelt, dafs in ihr allein nicht der Grund f\u00fcr den Mangel der Sprache zu suchen ist.2 Die von Broadbent, Waldenburg, Benedikt, Glarus und Co\u00ebn beschriebenen F\u00e4lle zeigen \u00fcberhaupt keine Intelligenzdefekte. Allerdings ist hier zu bemerken, dafs die Beurteilung der Intelligenz bei H\u00f6rstummen vielfach sehr schwierig ist, weil die auf Befehl ausgef\u00fchrten Handlungen, welche in Bezug auf F\u00fclle und Kombinationsf\u00e4higkeit beschr\u00e4nkt sind und zum Teil rein automatisch erlernt sein k\u00f6nnen, keinen vollkommen sicheren Schlufs auf die geistigen F\u00e4higkeiten der Patienten gestatten.\nBisweilen findet sich H\u00f6rstummheit kompliziert mit leichten St\u00f6rungen des Ged\u00e4chtnisses, welche sich z. B. in einer auf-\n1\tPathologie und Therapie der Sprachanomalien S. 227 f.\n2\t\u00dcber Sprachst\u00f6rungen und Sprachentwickelung, Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankheiten. Bd. XXIV, Heft 2.","page":178},{"file":"p0179.txt","language":"de","ocr_de":"Uber Aphasie bei Idioten und Imbecillen.\n179\nfallenden Yergefsliclikeit f\u00fcr erteilte einfache Auftr\u00e4ge trotz zweifellos vorhandener Aufmerksamkeit und entsprechender Willensrichtung offenbaren. In diesen F\u00e4llen ist bei den H\u00f6rstummen eine leichte Abschw\u00e4chung der intellektuellen F\u00e4higkeiten \u00fcberhaupt vorhanden, was sich auch dann nachweisen l\u00e4fst, wenn die Patienten durch eine entsprechende p\u00e4dagogische Behandlung ihre Sprechf\u00e4higkeit erlangt haben. H\u00f6here Grade geistiger Schw\u00e4che kommen bei H\u00f6rstummen nicht vor, und dies erscheint mir kennzeichnend f\u00fcr das Wesen der H\u00f6rstummheit.\nHie H\u00f6rstummheit zeigt die charakteristischen Z\u00fcge einer motorischen Aphasie. Nun ist es bekannt, dafs mit der letzteren h\u00e4ufig Schw\u00e4che des Ged\u00e4chtnisses kompliziert ist, und dieser Umstand legt uns die Frage nahe, ob nicht die St\u00f6rung in der motorischen Sprachfunktion auch bei der H\u00f6rstummheit als n\u00e4chste Ursache des Intelligenzdefektes angesehen werden m\u00fcsse. Zu einem \u00e4hnlichen Schlufs gelangt Wildermuth auf Grund zweier F\u00e4lle von Sprachst\u00f6rung bei geistig abnormen Kindern, welche gleichfalls der motorischen Aphasie zuzuz\u00e4hlen sind.1 Hier findet also wahrscheinlich gerade das umgekehrte Verh\u00e4ltnis statt, wie es in Bezug auf den Zusammenhang von Sprach- und Intelligenzst\u00f6rung f\u00fcr die idiotischen Zust\u00e4nde im allgemeinen postuliert wurde,2\nDie Frage der H\u00f6rstummheit ergiebt manche nicht zu untersch\u00e4tzende Schwierigkeit. Wir m\u00fcssen als veranlassende Ursache einer unkomplizierten motorischen Aphasie, wie sie die H\u00f6rstummheit darbietet, einen entweder angeborenen oder in der fr\u00fchesten Jugend erworbenen Defekt der dritten linken Frontalwindung annehmen. Nun ist es bekannt \u2014 und namentlich F\u00e4lle von cerebraler Kinderl\u00e4hmung sind in dieser Hinsicht bemerkenswert \u2014, dafs sich ein rechtsseitiges motorisches Sprachzentrum spontan ausbildet, wenn das linksseitige von Anfang an funktionsunf\u00e4hig ist. Kussmaul bemerkt, dafs Kinder bei erstaunlich ausgedehnten Zerst\u00f6rungen der linken Sprachregion und selbst des ganzen linken Hemisph\u00e4renmantels doch die Sprache erlernen.3 Wie ist es zu erkl\u00e4ren, dafs diese\n1\tEinige Wahrnehmungen \u00fcber Sprachst\u00f6rungen hei Idioten. Zeitsehr. f. Psychiatry 41. Bd, S. 666.\n2\tVergleiche S. 176.\n8 Kussmaul, Pie St\u00f6rungen der Sprache. Leipzig 1885, S. 204.\n12*","page":179},{"file":"p0180.txt","language":"de","ocr_de":"180\nTheodor Heller.\nspontane Funktionsvertretung bei H\u00f6rstummen nicht statt findet? Es k\u00f6nnen hier offenbar verschiedene Momente funktioneller und anatomischer Natur vorhanden sein, auf die hier n\u00e4her einzugehen mich zu weit f\u00fchren w\u00fcrde. Ich m\u00f6chte nur kurz auf einen von A. Pick ausf\u00fchrlich beschriebenen Fall von H\u00f6rstummheit hinweisen, in welchem durch die Annahme entsprechend gelagerter kontralateraler Hirnherde die motorische Aphasie, dann aber auch das Ausbleiben jeder Stellvertretung von Seite des rechtsseitigen Hemisph\u00e4renabschnittes gen\u00fcgend erkl\u00e4rt erscheint.1\nDie H\u00f6rstummheit ist zumeist einer p\u00e4dagogischen Therapie zug\u00e4nglich, und diese kann, wie einige vollst\u00e4ndig geheilte F\u00e4lle von H\u00f6rstummheit zeigen, zu recht erfreulichen Resultaten f\u00fchren. In Bezug auf die erstere stellt Tkeitel die gewifs berechtigte Forderung, dafs die h\u00f6rstummen Kinder, wie die normalen, nach dem Geh\u00f6r und nicht vom Absehen sprechen lernen sollen.1 Die Methoden des Taubstummenunterrichtes, welche bisweilen bei H\u00f6rstummen zur Anwendung kamen,2 erscheinen demnach f\u00fcr letztere wenig geeignet, weil durch den Artikulationsunterricht die motorische Sprachfunk-tion wohl entwickelt, nicht aber mit den bei H\u00f6rstummen vorhandenen Wortklangbildern einheitlich verbunden wird. Die p\u00e4dagogische Behandlung der H\u00f6rstummheit wird den Vorgang der Sprachentwickelung beim normalenKinde nachahmend wiederholen, jedoch viel intensivere Anreize zum Sprechen in Anwendung bringen m\u00fcssen. Von der Anwendbarkeit und dem Erfolg dieser Methode konnte ich mich selbst in einigen F\u00e4llen \u00fcberzeugen.\nWenden wir uns nunmehr jenen F\u00e4llen zu, in welchen zwar sprachliche Aufserungen vorhanden sind, die aber mehr oder weniger von der Breite des Normalen abweichen. Gerade diese Sprachanomalien bieten oft der Erkl\u00e4rung die gr\u00f6bsten Schwierigkeiten dar, weil es sich nicht feststellen l\u00e4fst, was als aphatische und was als dyslogische St\u00f6rung zu betrachten ist.\n1 A. Pick, Mitteilungen aus der psychiatrischen Klinik. Prag. Med. Wochenschr. 1891, No. 25\u201427.\n1\tTkeitel, Uber Aphasie im. Kindesalter. Sammlung klinischer Vortr\u00e4ge No. 64, S. 11.\n2\tUckermann, Drei F\u00e4lle von Stummheit ohne Taubheit etc. Ztschr. /. OhrenheilMe. XXI, S. 313 ff.","page":180},{"file":"p0181.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Aphasie bei Idioten und Imbecillen.\n181\nViele dieser oft sehr komplizierten und merkw\u00fcrdigen F\u00e4lle w\u00fcrden, wie schon Georgens bemerkt,1 unserem Verst\u00e4ndnis n\u00e4hergebracht werden k\u00f6nnen, wenn man genaue Daten \u00fcber die Sprachentwickelung des betreffenden Kindes zur Verf\u00fcgung h\u00e4tte. Thats\u00e4chlich unterscheidet sich die Sprachentwickelung mancher Idioten oft sehr wesentlich von der normaler Kinder, abgesehen von dem Umstande, dafs Idioten \u00fcberhaupt sp\u00e4ter sprechen lernen als geistig gesunde Kinder.\n* Jedes normale Kind macht in seiner Sprachentwickelung ein Stadium durch, in dem es wohl versteht, was zu ihm gesprochen wird, nicht aber selber zu sprechen vermag. \"Wie Sollier erw\u00e4hnt, verstehen im Gegens\u00e4tze dazu die idiotischen Kinder nicht fr\u00fcher, bevor sie sprechen k\u00f6nnen.2 In schweren F\u00e4llen von Idiotie erfassen die Kinder nur solche W\u00f6rter, welche im Bereiche ihres eigenen sprachlichen K\u00f6nnens gelegen sind.\nH\u00e4ufig bleibt die Sprachentwickelung der Idioten auf einer Stufe stehen, welche von normalen Kindern alsbald zu Gunsten einer h\u00f6heren Ausbildung ihres Sprechverm\u00f6gens \u00fcberwunden wird. Wernicke bemerkt, dafs alle Kinder, welche sprechen lernen, ein Stadium durchmachen, in welchem sie in pr\u00e4gnanter Weise die RoMBERGsche Echolalie zeigen.3 Ein \u00e4hnliches sprachliches Verhalten findet man aber bei manchen Idioten als bleibenden Zustand. Auf einer h\u00f6heren Stufe der Sprachentwickelung tragen die Laut\u00e4ufserungen der Kinder den Charakter des Agrammatismus, welcher darin besteht, dafs die Kinder die W\u00f6rter noch nicht grammatikalisch richtig formen k\u00f6nnen, den Infinitiv und noch etwa das Partizipium der Vergangenheit verwenden und die Redeteile \u00fcberhaupt miteinander verwechseln. Dasselbe Verhalten finden wir nun station\u00e4r bei vielen Idioten. In der \u00fcberwiegenden Mehrzahl der F\u00e4lle ist hier der Agrammatismus als dyslogische St\u00f6rung aufzufassen und giebt als solche der Thatsache Ausdruck, dafs die Schwachsinnigen nicht im st\u00e4nde sind, jene logischen Funktionen zu vollziehen, als deren objektiver Ausdruck die verschiedenen Formen der Redeteile anzusehen sind. Dafs dies jedoch nicht immer zutrifft,\n1\tGeorgiens und Deinhardt, Die Heilp\u00e4dagogik, I, Leipzig 1861, S. 807 f.\n2\tA. a. O., S. 151.\n3\tDer aphasische Sy mptomenlcomplex. Breslau 1874, S. 33.","page":181},{"file":"p0182.txt","language":"de","ocr_de":"182\nTheodor Heller.\nbeweist ein von Kraepelin erw\u00e4hnter Fall, welcher einen jugendlichen Herzkranken betrifft, bei welchem sich im Anschlufs an eine Hirnerkrankung ein eigent\u00fcmlicher Agrammatismus einstellte, trotz dessen die Intelligenz vollkommen erhalten war und sogar nicht unbetr\u00e4chtlich \u00fcber das Normale hinausging.1 Ich selbst habe vor kurzem ein geistig abnormes M\u00e4dchen von acht Jahren beobachtet, welches Agrammatismus zeigte, trotzdem aber in gewissem Grade lernf\u00e4hig war und eben einzelne W\u00f6rter zu lesen und zu schreiben begann*\nEs sei mir gestattet, hier mit einigen Worten auf die bei Schwachsinnigen vorkommende Taubstummheit einzugehen. Fr\u00fcher nahm man an, dafs Taubstummheit ein bei Idioten sehr h\u00e4ufig vorkommendes Gebrechen sei, was sich wohl daraus erkl\u00e4rt, dafs man die verschiedenen Formen der Pseudotaubheit nicht von der echten Taubheit zu unterscheiden vermochte, ein Umstand, der auch zu der Annahme f\u00fchrte, dafs die Taubstummheit Idiotismus hervorrufen k\u00f6nne. Thats\u00e4chlich ist echte Taubstummheit eine bei Idioten sehr selten anzutreffende St\u00f6rung im scharfen Gegensatz zum Kretinismus, bei welchem Taubheit oder Schwerh\u00f6rigkeit als geradezu typische Befunde bezeichnet werden k\u00f6nnen.2 Mygind hat nachgewiesen, dafs Gehirndefekte irgend welcher Art eine nur sehr untergeordnete Holle in der Pathogenese der Taubstummheit spielen.3 Dies gilt aber strenggenommen nur von geistig normalen Individuen. Kedlich fand bei einer taubstummen Idiotin Atrophie beider zentralen H\u00f6rfelder,4 was uns die Deutung der mangelnden H\u00f6r- und Sprechf\u00e4higkeit als totale Aphasie nahelegt. Es sei hervorgehoben, dafs die Patientin \u00fcber ein gewisses Ausmafs von Intelligenz verf\u00fcgte und zu einfachen h\u00e4uslichen Verrichtungen in der Anstalt herangezogen werden konnte; es handelte sich demnach hier sicher nicht um idiotische Stummheit.5\nWir gelangen nunmehr zu einer Gruppe von Sprach-\n1\tPsychiatrie, 4. Auflage. Leipzig 1893, S. 643\n2\tvon Wagner, \u00dcber den Kretinismus. Mitteil. d. Vereins d. \u00c4rzte in Steiermark. G-raz, 1893, S. 99 f.\n\u2014 Weitere Untersuchungen \u00fcber den Kretinismus. Jahrb. f. Psychiatr. XIII., 1895, S. 19.\n3\tMygind, Taubstummheit. Berlin und Leipzig 1894, S. 173.\n4\tFreund, Labyrinthtaubheit und Sprachtaubheib Wiesbaden 1895, S. 55 f.\n5\tVergleiche S. 177.","page":182},{"file":"p0183.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Aphasie bei Idioten und Imbecillen.\n183\nSt\u00f6rungen, welche eine psychologische Erkl\u00e4rung verlangen, die insofern von hoher praktischer Bedeutung ist, als sie der p\u00e4dagogischen Behandlung der ersteren, welche sehr g\u00fcnstige Erfolge erzielen kann, gleichsam den Weg weisen. Hier m\u00f6chte ich zun\u00e4chst jene Sprachdefekte erw\u00e4hnen, welche durch schwere St\u00f6rungen des Ged\u00e4chtnisses bedingt sind. Im Gegensatz zu Treitel, welcher einen sehr lehrreichen Fall dieser Art beschreibt,1 bin ich nicht der Ansicht, dafs diese Sprachst\u00f6rung der H\u00f6rstummheit zuzuz\u00e4hlen ist, weil die letztere charakterisiert erscheint durch ein vollst\u00e4ndig intaktes Wortverst\u00e4ndnis, das jedoch bei schweren Ged\u00e4chtnisst\u00f6rungen namentlich im Kindesalter stets in Mitleidenschaft gezogen wird. Die leichten Ged\u00e4chtnisst\u00f6rungen bei der H\u00f6rstummheit sind nicht als die Ursache, sondern als Begleiterscheinung derselben aufzufassen.2\nDa die Aufmerksamkeit als die fundamentale Funktion jeder Intelligenzleistung anzusehen ist, so werden wir hierdurch zu jenen Sprachdefekten gef\u00fchrt, denen St\u00f6rungen der Aufmerksamkeit zu Grunde liegen. Die Wichtigkeit der Aufmerksamkeit f\u00fcr die Sprachfunktion im allgemeinen geht aus der Entwickelungsgeschichte der kindlichen Sprache und aus den auch innerhalb der physiologischen Breite vorkommenden Versprechungen bei Zerstreutheit zur Gen\u00fcge hervor. Von Interesse ist hier ein von John Grien Hibben mitgeteilter Fall, welcher ein M\u00e4dchen von acht Jahren betrifft, das nur dann h\u00f6rte, wenn es den Eindr\u00fccken seine Aufmerksamkeit zuwandte, sonst aber absolut taub schien.3 Auf Apperzeptionsst\u00f6rungen m\u00f6chte ich gleichfalls die von meinem Vater 1894 genau beschriebene psychische Taubheit4 zur\u00fcckf\u00fchren. Den beiden Hauptformen der Idiotie entsprechend unterscheidet derselbe innerhalb der psychischen Taubheit maniakalisch (oder vielmehr erethisch) und apathisch Sprachlose, deren Verhalten trotz der\n1\t\u00dcber Aphasie im Kindesalter, S. 26.\n2\tVergleiche S. 179.\n3\tPsych. Rev. II. S. 869\u2014375. Beferat von J. Cohn, Band X dieser Zeitschrift, S. 288.\n4\t\u00dcber psychische Taubheit im Kindesalter. Vortrag, gehalten in der Sektion f\u00fcr Kinderheilkunde der 66. Versammlung deutscher Naturf. u. \u00c4rzte in Wien. Dresden, B. J. Teubner, 1894v\n\u00dcber einen Fall von psychischer Taubheit im Kindesalter. Wr. Min. Wochenschr. IX, S. 755 f.","page":183},{"file":"p0184.txt","language":"de","ocr_de":"184\nTheodor Heiler.\nim allgemeinen gegens\u00e4tzlichen Zustandsbilder insofern eine \u00dcbereinstimmung aufweist, als bei beiden Gruppen, allerdings aus verschiedenen Gr\u00fcnden, keine verl\u00e4fsliche Schallreaktion zu erzielen ist und in den meisten F\u00e4llen auch eine Fixation der im Gesichtsfeld mit objektiv dominierender St\u00e4rke auftretenden Lichteindr\u00fccke nicht erfolgt. Die zur Heilung der psychischen Taubheit angewandten Konzentrations- und Aktivit\u00e4tsmethoden wenden sich nicht direkt an das Sprach-verm\u00f6gen, sondern an die psychische Funktion der Aufmerksamkeit, welche in dem einen Falle eingeengt, in dem anderen \u00fcberhaupt erst erregt wird. Selbstverst\u00e4ndlich wird durch die eben angef\u00fchrten Methoden auf dem Wege der Begriffsentwickelung auch auf die allgemeine Intelligenz der Kinder f\u00f6rdernd eingewirkt, so dafs sich schliefslich nicht blofs die Sprechf\u00e4higkeit einstellt, sondern auch Materien^r\u00f6rhanden sind, welche den Gegenstand der sprachlichen \u00c4ufserungen der Kinder bilden.\nVon Interesse ist eine Form der Stummheit ohne Taubheit, welche gleichsam eine mittlere Stellung zwischen den peripher und den zentral bedingten Sprachst\u00f6rungen einnimmt. Es finden sich bisweilen bei geistig abnormen Kindern geringe Bildungsdefekte der Artikulationswerkzeuge, namentlich der Z\u00e4hne und des Gaumens, welche an und f\u00fcr sich um so weniger den Sprachmangel erkl\u00e4ren k\u00f6nnen, als geistig normale Kinder mit den gleichen Defekten \u00fcber ein intaktes oder doch nur wenig beeintr\u00e4chtigtes Sprachverm\u00f6gen verf\u00fcgen. Offenbar hatten auch die letzteren bei der Erwerbung der Lautsprache mit einigen Schwierigkeiten zu k\u00e4mpfen, welche Unlustgef\u00fchle verursachten; diese wurden jedoch durch die intensiveren Lustgef\u00fchle, welche sich aus der Beth\u00e4tigung des Sprachtriebes ergeben, \u00fcberwunden, und so gelangen diese Kinder mit einem erh\u00f6hten Aufwand von Willensenergie in den Besitz der artikulierten Sprache. Bei geistig abnormen Kindern gen\u00fcgen relativ geringe Schwierigkeiten, welche sich den ersten Sprechversuchen entgegenstellen, dazu, dieselben zum Verzicht auf die artikulierte Sprache zu bewegen, wobei man sich diesen Vorgang allerdings nicht im Sinne einer bewufsten Deflexion zu denken hat ; dies wird um so eher der Fall sein, wenn aufser der peripheren noch gewisse zentral bedingte Hindernisse vorhanden sind, wie in einem von mir beobachteten Falle, in welchem die Uvula fehlte und die schw\u00e4chere Entwickelung der rechten","page":184},{"file":"p0185.txt","language":"de","ocr_de":"Liber Aphasie bei Idioten und Imbecillen.\n185\nK\u00f6rperh\u00e4lfte auf einen wahrscheinlich vor der Geburt abgelaufenen linksseitigen Hirnprozefs hinwies. Das zw\u00f6lfj\u00e4hrige schwachsinnige M\u00e4dchen zeigte bei normalem Geh\u00f6r Mangel aller spontanen Sprach\u00e4ufserungen, doch konnte man es durch wiederholte intensive Aufforderungen und in Aussicht gestellte Belohnungen dahin bringen, dafs es einzelne Gegenst\u00e4nde in durchaus verst\u00e4ndlicher Weise benannte, sobald man die Anfangslaute der betreffenden W\u00f6rter anklingen liefs. Dieser Fall scheint mir zu beweisen, dafs die Hauptursache der Sprachlosigkeit bei diesen Kindern auf psychischem Gebiete, in der herabgesetzten Willens th\u00e4tigkeit, in dem Unverm\u00f6gen, die Unlustgef\u00fchle zu \u00fcberwinden, welche bei den gew\u00f6hnlichen Sprechversuchen entstehen, zu suchen ist. Dafs diese F\u00e4lle ein dankbares Gebiet f\u00fcr eine p\u00e4dagogische Behandlung sind, beweist ein von meinem Vater vor einigen Jahren behandeltes Kind, bei welchem \u00e4hnliche Verh\u00e4ltnisse, wie in dem eben angegebenen Falle, bestanden, das sp\u00e4terhin in den vollkommenen Besitz der Sprache gelangte und gegenw\u00e4rtig mit Erfolg Volksschulunterricht geniefst.\nEs sei mir zum Schl\u00fcsse gestattet, in K\u00fcrze jene Momente zusammenzufassen, welche sich aus der Untersuchung der Sprachst\u00f6rungen bei Idioten und Imbecillen ergeben. Da man nicht im st\u00e4nde ist, bestimmte Sprachdefekte auf eine begrenzte Gruppe von idiotischen Zust\u00e4nden zu beziehen, so sind alle jene Einteilungen hinf\u00e4llig, welche die Sprache zum Ausgangspunkt w\u00e4hlen. Dabei soll jedoch nicht in Abrede gestellt werden, dafs in zahlreichen F\u00e4llen die Sprachst\u00f6rungen der Idioten lediglich aus deren Intelligenzdefekten hervorgehen, wobei man allerdings, soweit es \u00fcberhaupt zu einer sprachlichen Entwickelung kommt, nicht sowohl Anzahl und Vollst\u00e4ndigkeit der vorhandenen W\u00f6rter,1 als deren Gedankeninhalt ber\u00fccksichtigen und in jedem einzelnen Falle pr\u00fcfen mufs, ob eine vollkommene \u00dcbereinstimmung zwischen Intelligenz- und Sprachdefekt nachzuweisen ist, so zwar, dafs sich die Sprachst\u00f6rungen in demselben Mafse bessern, als die Defekte der allgemeinen Intelligenz \u2014 etwa durch erziehliche Einwirkungen \u2014 ausgeglichen werden. Wo diese \u00dcbereinstimmung, abgesehen\n1 Yergl. Moreau, Der Irrsinn im Kindesalter (deutsche \u00dcbersetzung von G-alatti). Stuttgart 1889, S. 284.","page":185},{"file":"p0186.txt","language":"de","ocr_de":"186\nTheodor Heller.\nvon jenen geringen Schwankungen, welche auch innerhalb der physiologischen Breite Vorkommen und abgesehen von den peripheren Sprachst\u00f6rungen, nicht stattfindet, kann man die Annahme nicht abweisen, dafs hier aphatische St\u00f6rungen vorliegen, wobei allerdings der Begriff der Aphasie im weitesten Sinne anzuwenden ist und die komplizierenden Bedingungen zu ber\u00fccksichtigen sind, welche durch die stets vorhandene Geistesschw\u00e4che gegeben werden. Eine \u00e4hnliche Zweiteilung der bei Idioten und Imbecillen vorkommenden Sprachst\u00f6rungen hat L. Meyer bereits angedeutet,1 Wildermuth ausgesprochen,2 und Treitel erw\u00e4hnt bei der Besprechung der Aphasie im Kindesalter F\u00e4lle, welche offenbar geistesschwache Individuen betreffen. Dafs diese Unterscheidung auch praktische Bedeutung hat, dar\u00fcber kann kein Zweifel bestehen, wenn man in Betracht zieht, wie h\u00e4ufig unrichtige Schl\u00fcsse von dem sprachlichen Verhalten auf die Erziehungsf\u00e4higkeit geistig abnormer Kinder gemacht worden sind.\n1\t\u00dcber Hemmungsdeformit\u00e4ten bei Idioten. Arch, f. Psychiatr. Band V, S. 4.\n2\tA. a. O., S. 662.","page":186}],"identifier":"lit30910","issued":"1897","language":"de","pages":"175-186","startpages":"175","title":"\u00dcber Aphasie bei Idioten und Imbecillen","type":"Journal Article","volume":"13"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:13:48.712065+00:00"}