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{"created":"2022-01-31T14:38:02.404358+00:00","id":"lit30934","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Stern, L. William","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 13: 325-349","fulltext":[{"file":"p0325.txt","language":"de","ocr_de":"Psychische Pr\u00e4senzzeit.\nYon\nL. William Steen.\n1. Zeitlich ausgedehnte Bewufstseinsakte.\nDas Bed\u00fcrfnis, mit komplexen Einheiten zu arbeiten, teilt die Psychologie mit jeder Wissenschaft, und Termini wie \u201eeinheitlicher Bewufstseinsakt\u201c, \u201eBewufstseinsganzes\u201c, \u201ein sich geschlossener Bewufstseinsakt\u201c, \u201epsychisches Gebilde\u201c erweisen sich als unentbehrlich. Aber die Begriffsbestimmung ist schwer, und die Gefahr, k\u00fcnstliche Abstraktionen und Isolationen f\u00fcr nat\u00fcrliche Einheiten zu nehmen, ist grofs.\nWann d\u00fcrfen wir wohl einen Bewufstseinsakt \u201e einheitlich u nennen? Ich meine doch dann, wenn der psychische Inhalt unmittelbar als zusammengeh\u00f6rig aufgefafst wird, oder wenn er in seiner Gemeinsamkeit eine einzelne Auffassungsform zu produzieren vermag. Es w\u00e4re jenes ein mehr subjektives, dieses ein mehr objektives Merkmal, die sich aber sehr h\u00e4ufig vereinigt finden. So schliefsen sich die Glieder einer Ybrgleichung, ferner die psychischen Faktoren eines einfachen Beaktions-vorgangs (von der Beizaufnahme bis zur dadurch ausgel\u00f6sten motorischen \u00c4ufserung) f\u00fcr unser eigenes Empfinden zu einem einheitlichen psychischen Akte zusammen; andererseits w\u00fcrde die Gesamtheit der Formen und Farben, die zum Eindruck einer Landschaft, die Beihe der T\u00f6ne, die zur Auffassung von Melodie und Bhythmus n\u00f6tig sind, zusamt dem auf ihnen beruhenden Urteilsakte, ein Bewufstseinsganzes in obigem Sinne bilden.\nVon diesem Gesichtspunkte aus aber stellt sich eine andere Einheit, die man h\u00e4ufig \u2014 stillschweigend oder ausdr\u00fccklich \u2014-angenommen hat, als eine k\u00fcnstliche heraus: der Zeitmoment.","page":325},{"file":"p0326.txt","language":"de","ocr_de":"326\nL. William Stern.\nDafs nur solche Inhalte zu einem Bewufstseinsganzen geh\u00f6ren k\u00f6nnen, die zu irgend einer Zeit gemeinsam vorhanden, simultan sind, dafs also der in einem gewissen Moment durchs Seelenleben gelegte ideale Querschnitt alle zusammengeh\u00f6rigen Elemente enthalten m\u00fcsse, ist ein Dogma, das, mehr oder weniger verbl\u00fcmt, viele psychologische Betrachtungen beherrscht. Ich halte das Dogma, wenigstens in dieser Verallgemeinerung, f\u00fcr falsch. Ich glaube, dafs es F\u00e4lle giebt, in denen die Auffassung erst zu st\u00e4nde kommt auf G-rund eines zeitlich ausgedehnten Bewufstseinsinhaltes, so zwar, dafs jeder Teil dieses Inhaltes in unaufl\u00f6slichem Zusammenh\u00e4nge stehe mit jedem anderen Teile und nur in diesem und durch diesen Zusammenhang das charakteristische psychische Resultat erzeugen k\u00f6nne \u2014 ohne dafs er doch mit jenen anderen Teilen simultan sein oder durch Nachdauer werden m\u00fcfste; ja es kann unter Umst\u00e4nden die Ungleichzeitigkeit eine notwendige Vorbedingung f\u00fcr das Auffassungsergebnis sein. In solchen F\u00e4llen ist dann der momentane \u201eQuerschnitt durchs Seelenleben\u201c eine ebensowenig nat\u00fcrliche Einheit, wie etwa das mikroskopische Pr\u00e4parat ; der einzelne Punkt in diesem Fl\u00e4chensehnitt l\u00e4fst oft nicht einmal ahnen, welcher Art das kontinuierliche (Gebilde ist, mit dem er seiner Natur nach zusammengeh\u00f6rt. Einen derartigen Bewufstseinsinhalt nur deshalb auseinanderzureifsen, in k\u00fcnstliche Elemente zu zerlegen, weil er nicht im Moment abgeschlossen ist, erscheint mir unberechtigt ; vielmehr sind neben den momentanen1 Bewufstseinsakten die zeitlich ausgedehnten Bewufstseinsakte als selbst\u00e4ndige psychische Einheiten zu betrachten.\nIch stelle daher folgenden Satz auf : Das innerhalb\n1 Der Ausdruck \u201emomentanes Bewufstseinsganzes\u201c soll sich nicht so sehr auf solche Inhalte beziehen, die thats\u00e4chlich nur einen Moment w\u00e4hren (deren Existenz h\u00f6chst fraglich ist), sondern ganz allgemein auf solche, die, abgesehen von ihrer etwaigen Dauer, in jedem Moment vollst\u00e4ndig sind, d. h. alle zusammengeh\u00f6rigen bezw. zur Erzeugung der Auffassung n\u00f6tigen Elemente isochron enthalten, so dafs in der zeitlichen Ausdehnung kein integrierender Faktor gegeben ist. Der Moment ist auch hier eine Abstraktion, aber eine zul\u00e4ssige. Meinung sagt einmal (diese Zeitschr. VI, 448): \u201eEs giebt Vorstellungsobjekte, deren Charakteristisches einer Zeitstrecke bedarf, um sich zu entfalten; es giebt dagegen Objekte, bei denen, was sie kennzeichnet, sich bereits in einem einzigen Zeitpunkt zusammengedr\u00e4ngt findet.\u201c","page":326},{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"Psychische Pr\u00e4sensseit.\n327\n\u25a0einer gewissen Zeitstrecke sich, abspielende psychische \u00abGeschehen kann unter Umst\u00e4nden einen einheitlichen zusammenh\u00e4ngenden Bewufstseins akt bilden unbeschadet der Ungleichzeitigkeit der einzelnen Teile.1 \u2014 Die Zeitstrecke, \u00fcber welche sich ein solcher psychischer Akt zu erstrecken vermag, nenne ich seine Pr\u00e4senzzeit.2\nDer Gedanke, dafs die innerhalb einer kleinen Zeitspanne liegenden Successiva des psychischen Geschehens bisweilen in einer ganz andersartigen Beziehung zueinander stehen k\u00f6nnten, als die \u00fcber l\u00e4ngere Zeitr\u00e4ume sich verteilenden psychischen Inhalte, und dais dieser Unterschied nicht ein gradueller,, sondern ein qualitativer sei, ist nicht neu; auf den mannigfaltigsten Teilgebieten suchte man Formeln f\u00fcr denselben zu finden.3 Aber w\u00e4hrend bisher die verschiedenen Formulierungen ohne den rechten organischen Zusammenhang nebeneinander bestanden, kann man in obigem Satze eine Art von General\u00bb\n1\t\u201eDafs wir einen Komplex von Bewufstseinsinhalten auch, dann in seiner Totalit\u00e4t auffassen k\u00f6nnen, wenn die einzelnen Bestandteile nicht simultan, sondern nur successiv im Bewufstsein sind; dafs wir ferner die Dauer eines Eindrucks und die Ver\u00e4nderung seiner Intensit\u00e4t bezw. \u2022Qualit\u00e4t und die Ortsver\u00e4nderung unmittelbar auffassen k\u00f6nnen\u201c, hat Herr Dr. Schumann schon seit mehreren Jahren in seinen Vorlesungen ausgef\u00fchrt. Er bek\u00e4mpft daher ebenfalls die Ansicht, nach welcher in jedem Momente auch noch die unmittelbar vorangegangenen Momente als Ged\u00e4chtnisbilder im Bewufstsein sind. \u2014 Ich nehme hier gern und mit Dank Gelegenheit, zu erkl\u00e4ren, dafs mir aus privaten Gespr\u00e4chen mit Herrn Dr. Schumann so manche Anregungen zu den oben ausgef\u00fchrten \u25a0Gedankeng\u00e4ngen geflossen sind.\n2\t\u201ePr\u00e4senzzeit\u201c ist somit nicht identisch mit der Zeit, w\u00e4hrend deren eine Vorstellung andauert. S. dar\u00fcber die sp\u00e4teren Ausf\u00fchrungen betr. \u201ePrim\u00e4res Ged\u00e4chtnis\u201c.\n3\tSo wurde die Zeitempfindung (Mach), die unmittelbare Zeitanschauung '.(Wundt, Meumann), die Dauer als primitive Empfindungseigenschaft (K\u00fclpe) der Zeit-,,Vorstellung\u201c entgegengesetzt; das Ged\u00e4chtnisnachbild (Fechner) oder prim\u00e4re Ged\u00e4chtnis (Exner, James) vom eigentlichen Ged\u00e4chtnis unterschieden. Der Umfang des Bewufstseins f\u00fcr successive Eindr\u00fccke wurde festzustellen gesucht (Dietze), die Gruppierung und Rhythmisierung derselben studiert (Meumann, Bolton). Ferner geh\u00f6ren hierher: die Lehre, dafs die \u201escheinbare Gegenwart\u201c zeitlich ausgedehnt sei (James); die Anschauung, dafs auch zeitlich Aufeinanderfolgendes unbeschadet der zeitlichen Extension Verschmelzungen ein-gehen (Cornelius), \u201eGestaltsqualit\u00e4ten\u201c bilden k\u00f6nne (v. Ehrenfels) u. s. w. \u2014 Wir kommen auf die meisten der hier aufgez\u00e4hlten Lehren noch im Texte zur\u00fcck.","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328\nL. William Stern.\nformel erblicken, die f\u00fcr jene Teilph\u00e4nomene eine gemeinsame Grundlage schafft und viele Eigent\u00fcmlichkeiten derselben erst in ihrer wahren Bedeutung \u2014 als Spezialf\u00e4lle einer allgemeinen Gesetzm\u00e4fsigkeit \u2014 erkennen l\u00e4fst.\nSuchen wir zun\u00e4chst den Satz an einigen Beispielen zu erh\u00e4rten. Spreche ich oder denke ich ein dreisilbiges Wort, z. B. \u201eTheater\u201c, dann hiefse es den Thatsachen Gewalt anthun, wollte man hier drei getrennte Bewufstseinsph\u00e4nomene annehmen. Es hiefse aber ebenso den Thatsachen Gewalt anthun, wollte man behaupten, die Wort Vorstellung \u201eTheater\u201c werde nur dadurch zu einem Ganzen, dafs ihre Elemente \u2014 die drei Silben \u2014 absolut simultan in meinem Bewufstsein sich bef\u00e4nden. \u2014 Und ist es beim einsilbigen Wort etwa anders? K\u00f6nnen wir das Wort \u201erotu nur deswegen als einheitliches Gebilde erfassen, weil in irgend einem Moment die drei Teilvorstellungen r, o, t gleichzeitig sind? Wodurch liefse sich dann \u201erot\u201c von \u201eOrt\u201c und \u201eTor\u201c unterscheiden? Und wenn man vielleicht einwendet, wir fassen das Wort als Ganzes durch Vermittelung der durchaus simultanen Schriftbilder, wie ist es bei kleinen Kindern und Analphabeten? Man k\u00f6nnte der Sache auch die Wendung geben, dafs man die drei Teilvorstellungen ein durch ihre Succession qualitativ bestimmtes, aber in irgend einem Moment vollst\u00e4ndig vorhandenes Verschmelzungsprodukt bilden l\u00e4fst; doch das w\u00e4re auch nur ein unzureichender Notbehelf. Denn das Fehlerhafte aller derartigen Argumentationen liegt eben schon darin, dafs man die ganze WortvorStellung aus drei Teilmomenten zusammengesetzt denkt, von denen auch die genaueste Selbstbeobachtung keine Spur offenbart. Dem unbefangenen Beobachter zeigt sich hier nichts als ein \u00fcber eine kleine Zeitstrecke sich ausdehnendes Kontinuum, welches eben als solches den Inhalt des Bewufstseinsaktes ausmacht und die Wortauffassung ausl\u00f6st.\nAndere F\u00e4lle, in denen die zeitliche Kontinuit\u00e4t des Be-wufstseinsganzen unmittelbar mit zu seinem Wesen geh\u00f6rt, begegnen uns, wenn wir eine Bewegung beobachten, wenn wir bei einem Gedankeu verweilen, wenn wir einen anhaltenden oder sich allm\u00e4hlich ver\u00e4ndernden Ton h\u00f6ren. Freilich kann ein solcher kontinuierender Prozefs nicht lange w\u00e4hren, ohne unterbrochen zu werden oder in einem Urteilsakt seinen Ab-schlufs zu finden; aber jene Frist von 2\u20143 Sekunden noch","page":328},{"file":"p0329.txt","language":"de","ocr_de":"Psychische Pr\u00e4senzzeit.\n329\nzerpfl\u00fccken zu wollen, oder die \u00dcberzeugung von dem Andauern eines Tones darauf zur\u00fcckzuf\u00fchren, dafs wir seine einzelnen Momente erst isolieren, reproduzieren, simultanisieren und in Beziehung setzen m\u00fcssen \u2014 das verr\u00e4t, wie mich d\u00fcnkt, eine gr\u00fcndliche Verkennung des psychologischen Thatbestandes.1\nAber selbst in den F\u00e4llen, wo successive Teilelemente nicht erst durch Abstraktion geschaffen werden m\u00fcssen, sondern von vornherein vorhanden sind, (wir erw\u00e4hnten ja schon oben die Auffassung mehrsilbiger W\u00f6rter), auch dann verm\u00f6gen sie durch ein einheitliches Bewufstseinsband, trotz ihrer diskreten Succession, zusammengehalten zu werden. Dieses Bewufstseinsband ist der resultierende Auffassungsakt. Nicht alles, was im Be-wufstsein einzeln vorhanden ist, mufs auch in dieser seiner Vereinzelung zur Auffassung gelangen. Dafs vier aufeinander-\nfolgende Sch\u00e4lle J. J\nJ sich unmittelbar als ein bestimmter\nRhythmus oder vier aufeinanderfolgende T\u00f6ne\nf f -\tr\u2014F\t\n\tt-\nt-L . :\t\nsich als eine bestimmte Melodie darbieten, ist nur dadurch m\u00f6glich, dafs die vier psychischen Vorg\u00e4nge sich ohne weiteres, ungeachtet ihrer Verschiedenzeitigkeit, zu einem Gesamtbilde vereinigen. Die vier Glieder sind zwar im Bewulstsein nacheinander, aber doch innerhalb ein und desselben Auffassungs-\n1 \u201eAudi in der Succession ist\u201c, wie Cornelius {Vierteljahrsschr. f. wiss. Phil. XII. 42) mit Hecht betont, \u201edas Bemerken der Mehrheit der Empfindungen kein selbstverst\u00e4ndlicher Prozefs ; nur selten, bei besonderer Konzentration der Aufmerksamkeit, werden die Successiven eines kurzen Zeitraumes einzeln wahrgenommen.\u201c Auch sie bilden ein \u201eunanalysiertes Ganzes\u201c. Er bringt als Beispiel die sogenannten Bewegungsempfindungen und das Gef\u00fchl der Rauhigkeit, wenn man die Hand \u00fcber eine Fl\u00e4che gleiten l\u00e4fst; der Eindruck der Rauhigkeit h\u00f6re sofort auf, sobald man die successiv getasteten Unebenheiten als solche einzeln bemerke. Cornelius spricht hier von \u201eVerschmelzung\u201c successiver Eindr\u00fccke und man k\u00f6nnte diesen Ausdruck acceptieren, wenn er in dem mehr negativen Sinne von \u201eUnanalysiertheit\u201c verstanden w\u00fcrde und nicht etwa bedeuten soll, dafs die einzelnen Elemente in irgend einer Hinsicht das Prius, der sie einigende Prozefs das Posterius sein soll. Denn die Elemente sind in der That erst eine nachtr\u00e4gliche Abstraktion, sie werden nicht durch die Analyse wiedergefunden, sondern erst geschaffen. \u2014 Von \u00e4hnlichen Gedanken wie Cornelius ausgehend, spricht Meinong {diese Zeitschr. VI. 484) von einer \u201esuccessiven Analyse\u201c, die vielleicht besser \u201eAnalyse des Successiven\u201c heifsen sollte.","page":329},{"file":"p0330.txt","language":"de","ocr_de":"330\nL. William Stern.\naktes, innerhalb einer Pr\u00e4senzzeit. Wir h\u00f6ren die vier T\u00f6ne nicht auf einmal, haben auch nicht w\u00e4hrend des vierten, dadurch, dafs noch 1, 2 und 3 andauerten, die ganze Gruppe im Bewufst-sein, sondern die vier bilden eben eine successive Einheit, mit einer gemeinschaftlichen Wirkung, der Auffassungsform.1\n2. Direkte Zeitwahrnehmung. Gegenwartsbewufst s ein.\nDas Dogma von der Momentaneit\u00e4t eines B ewufs t seins-ganzen bezw. von dem notwendigen Isochronismus seiner\n1 Ich kann also Wundt nicht darin beistimmen, wenn er bei Beurteilung der Untersuchungen \u00fcber den Umfang des Bewufstseins f\u00fcr successive Schalleindr\u00fccke von der Voraussetzung ausgeht, \u201edafs wir nur dann durch unmittelbare Anschauung komplexe Sinnes Vorstellungen qualitativ oder quantitativ als gleich oder als verschieden auffassen k\u00f6nnen, wenn von den zwei miteinander verglichenen Vorstellungen jede als ein simultanes G-anzes im Bewufstsein anwesend war.\u201c (Philos. Stud. VI. 255). Als Ganzes, ja; als simultanes, nein. Der in einem Moment durchs Seelenleben gelegte Querschnitt braucht durchaus nicht alle jene Bestandteile zu zeigen, die der L\u00e4ngsschnitt zeigt, und doch k\u00f6nnen die im L\u00e4ngsschnitt enthaltenen Elemente sehr wohl ein organisches Ganzes bilden.\nIn einen \u00e4hnlichen Fehler verf\u00e4llt auch v. Ehrenfels {Viertei\u00dfahrsschr. f. wiss. Philos. XIV.). Er erkennt v\u00f6llig richtig, dafs bei der Auffassung einer Succession der Bewufstseinsakt nicht mit der Wahrnehmung jener Elemente erledigt sei, sondern dafs noch etwas Einheitliches vorhanden sei, das gleichsam \u00fcber dem Ganzen schwebe. Er f\u00fchrt eine Reihe trefflicher Beispiele an: die Wahrnehmung von Ver\u00e4nderungen, Bewegungen, Melodien, und bezeichnet solche einheitlichen Bewufstseinsinhalte mit dem freilich nicht sehr empfehlenswerten Namen \u201ezeitliche Gestaltsqualit\u00e4ten\u201c. Dann aber f\u00e4hrt er fort (S. 263): \u201eBei zeitlichen Gestaltsqualit\u00e4ten kann folgerichtig h\u00f6chstens ein Element in Wahrnehmungsvorstellung gegeben sein, w\u00e4hrend die \u00fcbrigen als Erinnerungs- oder Erwartungsbilder vorliegen.\u201c Nur also um die Bestandteile des zeitlich sich abrollenden Gebildes k\u00fcnstlich zu simultanisieren, wird ihnen eine Ungleichartigkeit zugeschrieben, f\u00fcr welche die innere Wahrnehmung uns gar keinen Anhalt bietet.\nNeuerdings hat Strong {Psychol. Beview III. S. 156) die Lehre von der notwendigen Simultaneit\u00e4t eines einheitlichen Bewufstseinsaktes in einer Polemik gegen James mit Emphase verteidigt. Ihm erscheint eine successive Einheit als eine Monstrosit\u00e4t, als ein Widerspruch in sich selbst. Aber warum? Es kommt nur darauf an, wie man \u201eEinheit\u201c definiert. W\u00e4hlt man hierzu den Gesichtspunkt der resultierenden Auffassungsform, so erscheint die successive Einheit durchaus verst\u00e4ndlich und gerechtfertigt.","page":330},{"file":"p0331.txt","language":"de","ocr_de":"Psychische Pt'\u00e4senzzeit.\n331\nGlieder verr\u00e4t aber in dem Augenblick seine v\u00f6llige Haltlosigkeit, in welchem man annimmt, dafs zeitliche Verh\u00e4ltnisse selbst unmittelbarer Inhalt eines Wahrnehmungsaktes sein k\u00f6nnen. Hier mufs man aufs Sch\u00e4rfste zwischen der abstrakten Zeit-,,Vorstellung\u201c und der direkten Zeit-\u201eAnschauung\u201c scheiden. Wundt sagt einmal, dafs er unter einem simultan im Bewufstsein anwesenden Ganzen \u201enicht etwa ein Ganzes, in welchem die Vorstellung d\u00e9s Zeitverlaufs verschwunden w\u00e4re\u201c, verstehe.1 Damit kann er Hecht haben, sofern er eben nur von der Zeitvorsteil ung spricht. Und Meinong wirft einmal die Frage auf2: \u201eIst es denn \u00fcberhaupt m\u00f6glich, eine Zeitstrecke in einem Zeitpunkt vorzustellen?\u201c \u2014 um sie schliefs-lich, freilich unter vollster Anerkennung der entgegenstehenden Bedenken, zu bejahen. Auch er ist im Hechte, wenn er nur das schliefsliche Auffassungsergebnis meint, das nat\u00fcrlich in irgend einem Momente da sein mufs. Aber sobald man an die M\u00f6glichkeit einer direkten Wahrnehmung zeitlicher Verh\u00e4ltnisse \u2014 und das thut Wundt z. B. ausdr\u00fccklich \u2014 glaubt, kann der Bewufstseinsakt, in welchem diese Wahrnehmung erfolgt, selbst nicht mehr punktuell, momentan sein. Hier heilst es entweder auf das eine oder auf das andere verzichten.\nIn der That, f\u00fcr den, der die Simultaneit\u00e4t nicht aufgeben kann und will, giebt es nur eine Konsequenz: eine direkte Zeitauffassung als solche ist \u00fcberhaupt zu leugnen; was wir in einem Moment als in sich geschlossenen Bewufstseinsinhalt haben k\u00f6nnen, sind lediglich Symbole f\u00fcr zeitliche Verh\u00e4ltnisse, keine wirkliche Wahrnehmung von Zeitverh\u00e4ltnissen: es sind Temporal Zeichen.\nDiese Konsequenz ist auch wirklich gezogen worden, u. a. von Lipps3 und Strong.4 Lipps meint n\u00e4mlich, dafs psychische Vorg\u00e4nge, die objektiv zeitlich von einander getrennt sind, in einem bestimmten Moment sich in verschiedenen Ablaufsstadien befinden, und dafs diese qualitativen momentanen und simultanen\n1\tPhilos. Stud. VII, 223.\n2\tDiese Zeitschr. VI, 444.\n3\tGrundthatsachen des Seelenlebens. S. 588.\n4\tA. a. O. S. 155. \u201eThe lapse of time is not directly experienced, hut constructed after the event. The time we are directly conscious of is not the real time that elapsed.\u201d","page":331},{"file":"p0332.txt","language":"de","ocr_de":"332\nL. William Stern.\nVerh\u00e4ltnisse allein uns \u00fcber zeitliche Beziehungen Auskunft zu geben verm\u00f6gen. Temporalzeichen in diesem Sinne sind dann auch die Muskelempfindungen M\u00fcnsterbergs, die Fixationsempfindungen Machs, die Gef\u00fchle des \u201eNocb-Nicbt\u201c und des \u201eNicht-Mehr\u201c bei Volkmann, alles psychische Vorg\u00e4nge, die eine direkte Wahrnehmung zeitlicher Verh\u00e4ltnisse teilweise oder ganz ersetzen sollen.\nDiesen Folgerungen kann ich mich indes nicht anschliefsen; denn die Selbstbeobachtung widersetzt sich der Zumutung absolut, alle Zeitauffassung auf solche mittelbaren Indizienschl\u00fcsse zur\u00fcckf\u00fchren zu wollen. Andererseits sind aber f\u00fcr uns alle der Annahme einer eigentlichen Zeitwahrnehmung entgegenstehenden Schwierigkeiten beseitigt; denn sobald der Satz anerkannt ist: \u201eDie innerhalb einer gewissen Zeitstrecke (der Pr\u00e4senzzeit) liegenden Bewufstseinsinhalte k\u00f6nnen einen einheitlichen Bewufstseinsakt bilden\u201c \u2014, bietet auch der weitere Satz zu keinem prinzipiellen Bedenken mehr Anlafs: \u201eDiese dem Bewufstseinsakt objektiv zukommende Pr\u00e4senzzeit nebst den in ihr enthaltenen zeitlichen Verh\u00e4ltnissen kann auch unmittelbar subjektiv zu einem Inhalte werden.\u201c1\nHier ist nun zweierlei zu unterscheiden. Zun\u00e4chst: es sind die innerhalb der Pr\u00e4senzzeit liegenden zeitlichen Verh\u00e4ltnisse Gegenst\u00e4nde der Auffassung; es handelt sich dann um jene Kategorie psychischer Gebilde, die man unter dem Namen \u201eZeitsinn\u201c oder \u201eunmittelbares Zeitbewufstsein\u201c (Meumann) zu* sammenfafst. Dauer, Succession, rhythmische Gliederung, Geschwindigkeit, Beschleunigung k\u00f6nnen direkt wahrgenommen\n1 Beide S\u00e4tze besagen nat\u00fcrlich nicht dasselbe; \u201edas Nacheinander der Vorstellungen ist noch keine Vorstellung des Nacheinander\u201c (Volkmann; und \u00e4hnlich James: \u201eA succession of feelings, in and of itself, is not a feeling of succession.\u201d) So ist es sehr wohl denkbar, dafs die zeitliche Ausdehnung eines Bewufstseinsaktes vorhanden ist, ohne selbst Bewufstseinsthatsache zu werden. Dagegen erscheint das Umgekehrte ein Ding der Unm\u00f6glichkeit : dafs wir n\u00e4mlich eine direkte Zeitanschauung gewinnen k\u00f6nnten, wenn nicht der dieser Anschauung zu Grunde liegende Bewufstseinsinhalt selbst zeitlich ausgedehnt ist. Theoretisch beweisen l\u00e4fst sich freilich, wie es scheint, dieser Zusammenhang nicht, vielmehr ist er von unmittelbarer Evidenz; wir haben es hier mit jener Eigenart der Zeitanschauung zu thun, die Kant veranlafste, sie als Form des inneren Sinnes zu bezeichnen, \u2014 dafs sie n\u00e4mlich Gegenstand der Auffassung nur sein kann, indem wir sie zugleich als Eigenschaft unserer Bewufstseinszust\u00e4nde denken.","page":332},{"file":"p0333.txt","language":"de","ocr_de":"Psychische Pr\u00e4senzzeit.\n* 333\nwerden, es k\u00f6nnen zeitliche Intervalle direkt mit einander verglichen werden \u2014 aber nur dann, wenn das gesamte Wahr-nehmungs- bezw. Vergleichsmaterial innerhalb der psychischen Pr\u00e4senzzeit liegt.\nNun aber bietet sich noch eine andere M\u00f6glichkeit. Wir nehmen nicht nur jene zeitlichen Verh\u00e4ltnisse wahr, sondern auch die Pr\u00e4senzzeit selbst, oder besser: die zeitliche Pr\u00e4senz selbst, d. h.: \u201eihr Inhalt erscheint uns als gegenw\u00e4rtig\u201c. Hiermit kommen wir zu einem psychologischen Zeitbegriff, der noch wenig Beachtung fand und einer genaueren Analyse wohl wert w\u00e4re.\nWas ist denn \u201eGegenwart\u201c? Ich denke, sie l\u00e4fst sich definieren als der Inbegriff der zeitlich-\u00f6rtlichen Verh\u00e4ltnisse, die Gegenstand direkter Wahrnehmung sein k\u00f6nnen. Werden wir uns der Unmittelbarkeit der Wahrnehmung bewufst, so ist ihr Objekt uns \u201egegenw\u00e4rtig\u201c. Hier zeigt die Zeitauffassung durchgehende Analogie zur Baumauffassung ; zeitliche Gegenwart (= \u201eJetztzeit\u201c) entspricht der r\u00e4umlichen Gegenwart (= \u201eHiersein\u201c); beide stehen im Gegensatz zu jenen zeitlich-\u00f6rtlichen Verh\u00e4ltnissen, die nur reflexionsm\u00e4fsig er-schliefsbar sind (das \u201eEinst\u201c und \u201eK\u00fcnftig\u201c, das \u201eHort\u201c). Und beide Gegenwarten sind nicht punktuell, der ausgedehnten Pr\u00e4senzzeit entspricht ein ausgedehnter Pr\u00e4senzraum. Es giebt innerhalb der temporalen Gegenwart ein \u201efr\u00fcher\u201c und \u201esp\u00e4ter\u201c, wie es in dem. wahrgenommenen Baum ein \u201erechts\u201c und \u201elinks\u201c, ein \u201en\u00e4her\u201c und \u201eferner\u201c giebt ; aber es giebt in der zeitlichen Gegenwart kein \u201evergangen\u201c und \u201ezuk\u00fcnftig\u201c, so wenig wie es innerhalb der lokalen Gegenwart eine Abwesenheit, ein Eortsein oder ein \u201ehinten\u201c giebt.1\nSomit k\u00f6nnen wir, indem wir fr\u00fcher angewandte Beispiele unter dem Gesichtspunkt des Gegenwartsbewufstseins auffassen,\nsagen: die T\u00f6ne der Melodie\n\nsind uns s\u00e4mtlich\n1 Den Gedanken der streckenhaften psychischen Gegenwart fand ich bisher nur an einer Stelle kurz formuliert: bei James (.Principles of Psych. I, 608). Er nennt die dem einzelnen Wahrnehmungsakte zukommende Zeit im Anschlufs an E. B. Clay \u201especions present\u201c, scheinbare Gegenwart, und sagt ausdr\u00fccklich: \u201eDie scheinbare Gegenwart hat Dauer\u201c, ferner: \u201eDie thats\u00e4chlich wahrgenommene Gegenwart ist keine Messerschneide, sondern ein Sattelr\u00fccken mit einer gewissen Breite\u201c.","page":333},{"file":"p0334.txt","language":"de","ocr_de":"L. William Stern.\n334\ngegenw\u00e4rtig und doch deutlich successiy; ein anhaltender Ton ist uns gegenw\u00e4rtig und doch nicht momentan; ein gewisser Abschnitt einer gesehenen Bewegung ist uns gegenw\u00e4rtig und doch kein Ruhepunkt. Der unmittelbaren Wahrnehmung ist eben \u201eGegenwart\u201c etwas Anderes als der logischen Abstraktion, nicht der mathematische Punkt, nicht die blofse Grenze zwischen dem Vergangenen und Kommenden, sondern eine, wenn auch kleine, so doch positive und endliche Zeitstrecke.1\n3. Projektion in die Pr\u00e4senzzeit.\nWir betonten schon oben, dafs zeitliche Verh\u00e4ltnisse (Dauer, Folge etc.) direkt nur dann zur Auffassung gelangen k\u00f6nnen, wenn sie innerhalb der psychischen Gegenwart sich abspielen; als vergangen oder k\u00fcnftig lassen sich zeitliche Beziehungen nur indirekt, schemenhaft, symbolisch vorstellen, nur dadurch, dafs wir die Thatsachen der Wahrnehmung auf erweiterte Verh\u00e4ltnisse analogistisch zu \u00fcbertragen suchen.2 Hierbei geht jede Anschaulichkeit verloren.\nIndessen ist das Bed\u00fcrfnis, auch von dem zeitlichen Ablauf vergangener oder k\u00fcnftiger Geschehnisse nicht nur eine \u00fcbertragene, sondern eine direkte, anschauliche Vorstellung zu gewinnen, recht rege; und diesem Bed\u00fcrfnis kommt eine eigent\u00fcmliche psychische Erscheinung entgegen, die man als \u201eProjektion in der Pr\u00e4senzzeit\u201c bezeichnen kann. Auch hier findet sich wieder Analogie zum Baume. Eine weite Raumstrecke\n1\tWenn daher Stbong (Psychol. Rev. III. S. 152) auch damit Recht hat, dafs die Gegenwart psychologisch nichts Ruhendes, sondern etwas fortw\u00e4hrend Fluktierendes sei, so darf man sie doch nicht als \u201emoving point\u201c bezeichnen. Sie ist eben eine in ununterbrochener Verschiebung befindliche kleine Zeitstrecke.\n2\tDiese sehr wichtige Scheidung \u00fcbersah Stbong und kam daher zu der Frage (A. a. 0. S. 156): \u201eIf we can be directly conscious of a feeling that occurred half a second ago, in spite of the fact that the feeling is now past and gone, why not also of a feeling that occurred a whole second ago or a minute ago, or an hour, or a day, or a week? The consciousness would be in no wise more miraculous. Why cannot we be directly conscious of any past experience, no matter how remote ?\u201d Die Antwort h\u00e4tte zu lauten: Weil die psychische Pr\u00e4senzzeit eine beschr\u00e4nkte Dauer hat und nur innerhalb jener Zeit die direkte Erfassung r\u00fcckw\u00e4rtiger psychischer Elemente m\u00f6glich ist.","page":334},{"file":"p0335.txt","language":"de","ocr_de":"Psychische Pr\u00e4senzzeit.\n335\n(ein Land, einen Flufslauf), die als solche niemals Gegenstand eines einzigen Wahrnehmungsaktes sein kann, veranschaulichen wir uns, indem wir sie auf ein kleines St\u00fcck Papier projizieren, wo wir nun das Ganze mit einem Bewufstseinsakt in seinen gesamten r\u00e4umlichen Beziehungen \u00fcberblicken k\u00f6nnen. \u00c4hnlich scheinen auch zeitliche Successionen auf einen verkleinerten Mafsstab gebracht werden zu k\u00f6nnen, dergestallt, dafs sie innerhalb der psychischen Pr\u00e4senzzeit liegen und so wiederum einem einheitlichen AufFassungsakt zug\u00e4nglich sind.\nIch selbst habe beim Singen, Spielen oder Durchdenken eines Musikst\u00fcckes oft folgende Beobachtung gemacht : W\u00e4hrend ich den ersten Takt singe, schweben mir der oder die n\u00e4chsten Takte schon vor, nicht etwa als simultanes Tongewirr, sondern in ihrer zeitlichen Succession und Proportion, freilich mit sehr verk\u00fcrzten absoluten Zeitmafsen. Dies ist namentlich deutlich in den zwischen zwei reellen T\u00f6nen liegenden Zwischenzeiten, die, so kurz sie w\u00e4hren, die Yorwegnahme mehrerer Folge-T\u00f6ne oder gar -Takte enthalten k\u00f6nnen. Es liefse sich dies Ph\u00e4nomen vergleichen mit einer Wanderung, auf der man bei jedem Schritt schon die folgende Wegstrecke vor sich sieht, nur in perspektivischer Verk\u00fcrzung; oder man k\u00f6nnte noch besser an den Blinden denken, der beim Lesen der Blindenschrift mit der linken Hand ein Wort genau abtastet, aber mit der rechten Hand schon voraus ist, um von den n\u00e4chsten Worten sich ein schematisches Bild zu verschaffen.1 \u2014 Die F\u00e4higkeit zur zeitlichen Projektion scheint in Bezug auf Tonfolgen besonders entwickelt zu sein, und hieraus erkl\u00e4rt sich wohl zum Teil auch jene von Ehreneels betonte Thatsache, dafs wir gerade beim H\u00f6ren von Melodien im st\u00e4nde sind, den Inhalt einer besonders grofsen Zeitstrecke zu einem einheitlichen Bewufstseinsakt zusammenzufassen.\n\u00dcbrigens lassen sich \u00e4hnliche Erscheinungen auch beim Sprechen und bei der Willenshandlung beobachten. Im fortlaufenden Vortr\u00e4ge sind, w\u00e4hrend ich ein Wort verlaut baren lasse, schon die n\u00e4chsten W\u00f6rter und, was noch wichtiger ist, auch die n\u00e4chsten Gedankeng\u00e4nge (freilich nicht deren sprachliche Formulierung) meinem Bewufstsein in der richtigen Beihenfolge pr\u00e4sent. Und ferner: Die intellektuelle Seite der\n1 Hellek, Studien zur Blindenpsychologie, Philos. Stud. XI. S 460.","page":335},{"file":"p0336.txt","language":"de","ocr_de":"336\nL. William Stern.\n\u2018Willenshandlung besteht nicht, wie es so oft dargestellt wird, allein darin, dafs ich das Resultat, den Endzweck des Aktes, mit vorstelle, sondern darin, dafs der ganze Verlauf desselben, w\u00e4hrend und indem ich will, als abgek\u00fcrzter, aber keineswegs zeitloser Vorstellungsinhalt gegenw\u00e4rtig ist.\nDoch nicht nur Zuk\u00fcnftiges, sondern auch Vergangenes kann verk\u00fcrzt in die Pr\u00e4senzzeit projiziert werden, so wenn wir am Abend kurz den Ablauf des ganzen Tages an uns vor\u00fcberziehen lassen, oder wenn wir uns fr\u00fchere Erlebnisse, den Gang eines Gespr\u00e4ches, einer Reise \u201evergegenw\u00e4rtigen\u201c (ein h\u00f6chst charakteristischer Ausdruck!). Vielleicht geh\u00f6ren auch jene oft geschilderten Erscheinungen hierher, dafs bei F\u00e4llen pl\u00f6tzlicher Todesgefahr Jahre und Jahrzehnte unseres Lebens in Sekundenfrist das Bewufstsein passieren k\u00f6nnen.\nAm drastischsten aber tritt wohl die zeitliche Projektion in den Tr\u00e4umen auf, wo die h\u00f6heren Urteils bildungen, die uns Zeitverh\u00e4ltnisse symbolisch erkennen lassen, wahrscheinlich sehr zur\u00fccktreten, und wo wir doch oft lange Zeitstrecken, ja Stunden zu verleben meinen, w\u00e4hrend in Wirklichkeit Minuten verflossen sind. Eine solche getr\u00e4umte Stunde kann dann, infolge der Verbindung und Zusammendr\u00e4ngung aller Zeitverh\u00e4ltnisse, thats\u00e4chlich innerhalb der psychischen Pr\u00e4senzzeit liegen.1\nEiner der wichtigsten Vorz\u00fcge der Methode graphischer Darstellung (durch Kurven etc.) besteht darin, dafs wir den stunden-, tage- oder jahrelangen Verlauf gewisser Erscheinungen (Fieber,\n1 Es sei gestattet, hier kurz \u00fcber einen selbsterlebten Fall zu berichten, weil dabei die yerh\u00e4ltnism\u00e4fsig seltene M\u00f6glichkeit gegeben ist, das Mafs der Zeit Verk\u00fcrzung im Traum ungef\u00e4hr zu bestimmen. Die erste sehr fr\u00fch eintreffende Postbestellung fand mich eine Zeit lang meist noch im Bette. Gew\u00f6hnlich weckte mich das Klingeln des Brieftr\u00e4gers, dann \u00f6ffnete das Dienstm\u00e4dchen und brachte mir die eingelaufenen Briefschaften ans Bett. Eines Morgens nun vernahm ich im Schlaf das Klingeln des Postboten, wurde aber dadurch nicht v\u00f6llig geweckt, vielmehr tr\u00e4umte ich noch weiter, dafs die Magd bei mir anklopfte, dafs ich \u201eHerein\u201c rief, einen Brief entgegennahm, \u00f6ffnete und \u2014 er war ziemlich umfangreich \u2014 bis zu Ende durchlas. In diesem Moment aber wurde ich definitiv geweckt, und zwar durch das wirkliche Pochen des M\u00e4dchens, das mir nun erst die eingetroffenen Briefe einh\u00e4ndigte. Be vera lagen zwischen dem Klingeln des Brief boten und dem Pochen der Dienstmagd vielleicht 20 Sekunden: der Inhalt meines Traumes dagegen w\u00fcrde objektiv zum mindesten die sechsfache Zeit ausgef\u00fcllt haben.","page":336},{"file":"p0337.txt","language":"de","ocr_de":"Psychische Pr\u00e4senzzeit.\n337\nSterblichkeit etc.) in konzentrierter Form innerhalb der psychischen Pr\u00e4senzzeit \u00fcberblicken k\u00f6nnen und so von den zeitlich-inhaltlichen Yerh\u00e4ltnissen eine Anschauung erhalten.\nDiese eigenartige \u201eProjektion zum Zwecke der Veranschaulichung\u201c scheint ein psychisches Ph\u00e4nomen von ziemlich allgemeiner Bedeutung zu sein. Aufser der optisch-r\u00e4umlichen Form derselben und der oben geschilderten zeitlichen existiert sie auch auf haptisch-r\u00e4umlichem Gebiete. Heller, der sie bei Blinden genau beobachtet hat, bezeichnet sie dort als \u201e Tastraumzusammenziehung\u201c.1\n4. Prim\u00e4res Ged\u00e4chtnis.\nDadurch, dafs auch Successiva innerhalb der Pr\u00e4senzzeit einen einheitlichen Bewufstseinsakt bilden k\u00f6nnen, genau so wie Simultanea, wird die scharfe Scheidung zwischen beiden betr\u00e4chtlich gemildert, und es k\u00f6nnen gewisse zeitlich nacheinander geordnete Bewufstseinsinhalte ganz gleiche Auffassungsresultate ergeben, wie nebengeordnete. Die Erscheinungen des Blickfeldes, die nur durch Augenbewegungen ausgel\u00f6st werden k\u00f6nnen, sind durchaus homogen jenen des Sehfeldes, welche simultanen Eindr\u00fccken ihre Entstehung verdanken. \u00c4hnliches ist auf dem Gebiete des Tastsinnes konstatiert.2\nNun giebt es auch eine ganze Reihe h\u00f6herer Auffassungsformen, f\u00fcr deren Zustandekommen es gleichg\u00fcltig ist, ob successive oder simultane Inhalte vorliegen, vorausgesetzt nur, dafs die konstituierenden psychischen Elemente Teile eines einheitlichen Bewufstseinsakt es sind. Hierher geh\u00f6rt die Auffassung von Identit\u00e4t, Gleichheit, \u00c4hnlichkeit, Verschiedenheit. Wir sind also imstande, die \u00dcbereinstimmung oder die Differenz zweier aufeinander folgender T\u00f6ne ebenso direkt wahrzunehmen, wie die \u00dcbereinstimmung oder Differenz zweier benachbarter farbiger Fl\u00e4chen ; auch hier bedarf es nicht der k\u00fcnstlichen Annahme, die Vergleichung komme nur dadurch zu st\u00e4nde, dafs neben dem zweiten Tone das Erinnerungsbild des ersten bestehe; vielmehr wird der ganze,\n1\tHeller, Studien zur Blinden-Psychologie. Philos. Stud. XI. S. 428.\n2\tHeller, a. a. O. S. 38.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XIII.\n22","page":337},{"file":"p0338.txt","language":"de","ocr_de":"338\nL. William Stern.\ninnerhalb der Pr\u00e4senzzeit sich abrollende Bewufstseinsinhalt gleichm\u00e4fsig zur Grundlage der resultierenden Gleichheits- oder Y erschiedenheitsauffassung.1\nDiese SuccessivVergleichung ist notwendige Vorbedingung f\u00fcr ein wichtiges psychologisches Ph\u00e4nomen, dessen Erkl\u00e4rung bisher meist in einer anderen Richtung versucht wurde: f\u00fcr das sogenannte prim\u00e4re Ged\u00e4chtnis. Bei der Erinnerung an eben Vergangenes hatte man die besondere Lebhaftigkeit und Anschaulichkeit der ErinnerungsVorstellungen, ferner die auffallende Sicherheit der Ged\u00e4chtnisurteile bemerkt, und dies hatte den Anlafs gegeben, hier eine selbst\u00e4ndige, von dein eigentlichen Ged\u00e4chtnis qualitativ verschiedene Form des Ged\u00e4chtnisses anzunehmen.2 Und man meinte, der Unterschied\n1 Beim H\u00f6ren oder Singen z. B. dieser Melodie\n$=pH-b\t\t\nrrT# 0 \"\t\t\t\u2014\tm~\t\nVM1 \u2022\t\t\n\nglaube ich folgende Selbstbeobachtung zu machen: Die Gleichheit der beiden e (vierter und f\u00fcnfter Ton) dr\u00e4ngt sich unmittelbar auf, ohne dafs ich etwa simultan mit dem zweiten e eine Erinnerungsvorstellung des ersten im Bewufstsein h\u00e4tte; die Gleichheit der beiden g dagegen (erster und neunter Ton) wird dadurch erkannt, dafs ich beim H\u00f6ren, resp. Singen des letzten Tones den Anfang der Melodie deutlich reproduziere. Dort direkte Successivvergleichung, hier vermittelte Simultanvergleichung.\n2 Fechner, der von \u201eErinnerungsbildern\u201c spricht (gleichsam als Zwischenstufe zwischen Nachbildern und Erinnerungsbildern; Elemente der Psychophysik, II. S. 493) und Exner, der wohl den Ausdruck \u201eprim\u00e4res Ged\u00e4chtnis\u201c gepr\u00e4gt hat (.Hermanns Handb. d. Physiol., II. 2. S. 281), betonen besonders die Lebhaftigkeit und Sch\u00e4rfe der prim\u00e4ren Ged\u00e4chtnisbilder; H\u00f6fler ( Vierteljahrs sehr. f. wiss. Phil., XI. 340. [1887]) schildert sehr anschaulich die Urteilssicherheit. Bei Gelegenheit einer Besprechung der EBBiNGHAusschen Ged\u00e4chtnisversuche meint er : Es w\u00e4re \u201eein n\u00e4heres Belauschen der Ver\u00e4nderungen, welche die Vorstellungen in der allerersten Zeit ihres \u00dcberganges aus Wahrnehmungs- in Ged\u00e4chtnisvorstellungen erleiden, h\u00f6chst erw\u00fcnscht. Denn eine Reihe von Paradoxen, z. B. dafs wir doch immer nur in dem gegenw\u00e4rtigen Zeitpunkt ,wahrnehmen\u2018 k\u00f6nnen, faktisch aber auch den Inhalt der letzten Vergangenheit wie gegenw\u00e4rtig behandeln, ihn mit der Evidenz der Gewifsheit behandeln zu d\u00fcrfen vermeinen, w\u00e4hrend wir, streng genommen, nur mit der den Ged\u00e4chtnisurteilen zukommenden Evidenz der Wahrscheinlichkeit zu urteilen berechtigt w\u00e4ren \u2014 alle solche h\u00f6chst gew\u00f6hnlichen und nur darum nicht als paradox erkannten Thatsachen d\u00fcrften schliefslich ihre Erkl\u00e4rung nur in dem besonderen Verhalten der Ged\u00e4chtnisvorstellungen in der j\u00fcngsten Vergangenheit finden.\u201c","page":338},{"file":"p0339.txt","language":"de","ocr_de":"Psychische Pr\u00e4senzzeit.\n339\ngr\u00fcnde sich, darauf, dafs man es das eine Mal mit dem Fortdauern der urspr\u00fcnglichen Vorstellung, das andere Mal mit dem Wiederauftreten einer \u00fcbereinstimmenden Vorstellung zu thun habe.1\nMir liegt es nun fern, zu bestreiten, dafs mit jenem Andauern eine wesentliche objektive Bedingung des prim\u00e4ren Ged\u00e4chtnisses gegeben ist \u2014 aber es selbst ist noch nicht damit gegeben. Um n\u00e4mlich eine Vorstellung zu einem Ged\u00e4chtnisbilde zu machen, mufs zu ihrer objektiven \u00dcbereinstimmung mit der urspr\u00fcnglichen Wahrnehmung, als dem weniger wichtigen, hinzukommen die subjektive \u00dcberzeugung von deren Identit\u00e4t ; und die Art, wie diese \u00dcberzeugung zu st\u00e4nde kommt, bedingt den charakteristischen Unterschied zwischen eigentlichem und prim\u00e4rem Ged\u00e4chtnis. Die Identit\u00e4t ist beim eigentlichen Ged\u00e4chtnis eine erschlossene, beim prim\u00e4ren eine unmittelbar erlebte, eine wahr g eno mmen e, Resultat einer direkten successiven Vergleichung.\nAls wir oben auf die Auffassung von Gleichheit oder Verschiedenheit zweier successiver T\u00f6ne exemplifizierten, erschien der Fall noch immerhin denkbar, dafs im Grunde doch eine simultane Vergleichung vorliege, indem der zweite Ton y mit dem Erinnerungsbilde x\u2018 des ersten Tones x verglichen werden k\u00f6nnte. Dies einmal angenommen \u2014 woher wissen wir dann, dafs x\u2018 das Erinnerungsbild von x ist? Hier versagt jeder Versuch einer Simultanisierung. Das Verweilen von x ist selbst\n1 James formuliert den Unterschied zwischen dem eigentlichen und dem prim\u00e4ren Ged\u00e4chtnis folgendermafsen : Ein Gegenstand, an den wir uns im eigentlichen Sinne des Wortes erinnern, ist ein solcher, der vom Bewufstsein abwesend war und nun neu auflebt ; er wird zur\u00fcckgebraeht, neuerweckt, aufgefischt aus einem Reservoir u. s. w. .... Ein Objekt des prim\u00e4ren Ged\u00e4chtnisses wird nicht so zur\u00fcckgebracht, es war nie verloren, es war nicht im Bewufstsein abgerissen von dem unmittelbar Gegenw\u00e4rtigen. (Princ. of Psychol. I. 634.)\nBesonders deutlich ist jenes Fortdauern bei Sinnes Vorstellungen, obwohl es auch bei allen anderen Vorstellungen wohl zu beobachten ist. Wenn ein Sinneseindruck als Empfindung schon vorbei ist mitsamt den sensoriellen Nachwirkungen des Reizes, den sogenannten Nachbildern, so ist er doch nicht \u00fcberhaupt vorbei, sondern die Vorstellung, d. h. gleichsam der innerliche Teil der Empfindung, persistiert noch eine Zeit lang. Sie hat noch einen grofsen Teil der Frische und Sch\u00e4rfe des sinnlichen Eindruckes gewahrt; was sie verloren hat, ist gleichsam die Ojektiviertheit, wir wissen, dafs sie blofs innerlich ist.\n22*","page":339},{"file":"p0340.txt","language":"de","ocr_de":"340\nL. William Stern.\nGegenstand der Wahrnehmung, Inhalt eines einheitlichen Be-wufstseinsaktes und f\u00fchrt, je nachdem die Auffassung auf das Zeitliche oder auf das Materiale gerichtet ist, ebenso unmittelbar zur Wahrnehmung der Dauer wie zur Wahrnehmung der Identit\u00e4t der einzelnen Phasen.\nDie Operationen des prim\u00e4ren Ged\u00e4chtnisses haben also mit denen des eigentlichen Ged\u00e4chtnisses nicht viel mehr als den Namen und einen gewissen objektiven Thatbestand gemein; sie bilden auch nicht ein Mittelglied zwischen Erinnerung und Wahrnehmung, sondern sind selbst ganz eigentliche Wahrnehmungen, freilich nicht simultane \u2014 vielmehr reihen sie sich v\u00f6llig zwanglos der grofsen Gruppe der seitlich ausgedehnten Wahrnehmungsakte ein.1\n5. Dauer der Pr\u00e4senzzeit. Optimalzeiten.\nHaben wir bisher versucht, \u00fcber Wesen und Inhalt der Pr\u00e4senzzeit einige qualitative Bestimmungen zu geben, so wollen wir uns schliefslich der Frage zuwenden, ob und in welcher Beziehung auch quantitative Angaben \u00fcber dieselbe m\u00f6glich sind. Hier w\u00e4re vor allem die Dauer2 der Pr\u00e4senzzeit von Interesse. Indes ist die Bestimmung derselben schwerer, als es zun\u00e4chst\n1\tEine h\u00f6chst bedeutsame Seite des prim\u00e4ren Ged\u00e4chtnisses kann hier nur angedeutet werden : es verh\u00e4lt sich zum eigentlichen Ged\u00e4chtnis \u00e4hnlich, wie sich die unmittelbare Zeitanschauung zur Zeitvorstellung verh\u00e4lt. Wie wir oben ausf\u00fchrten, k\u00f6nnen in der abstrakten Zeitvorstellung alle zeitlichen Verh\u00e4ltnisse, wie Succession, Dauer, Geschwindigkeit nur indirekt und symbolisch aufgefafst werden; diese Symbole erlangen erst dadurch einen Sinn, dafs wir im st\u00e4nde sind, unter Umst\u00e4nden innerhalb der psychischen Pr\u00e4senzzeit jene Zeitverh\u00e4ltnisse als unmittelbare Bewufstseinsinhalte zu erleben. Ganz \u00e4hnlich ist es mit der \u00dcberzeugung von der Identit\u00e4t des Erinnerungsbildes mit der Originalvorstellung. Auch diese \u00dcberzeugung ist beim eigentlichen Ged\u00e4chtnis lediglich eine vermittelte, auf Symbolen (\u201eBekanntheitsqualit\u00e4t\u201c u. a.) beruhende. Und diese Symbole w\u00fcrden vielleicht nie in jenem Sinne der Identit\u00e4t gedeutet werden k\u00f6nnen, wenn wir nicht andererseits unter gewissen Umst\u00e4nden (d. h. innerhalb der Pr\u00e4senzzeit oder des prim\u00e4ren Ged\u00e4chtnisses) die Identit\u00e4t successiver psychischer Gebilde als solche unmittelbar wahrzunehmen in der Lage w\u00e4ren.\n2\tAufser der Dauer k\u00e4me noch der Umfang, d. h. die Quantit\u00e4t des Inhalts, den ein zeitlich ausgedehnter psychischer Akt umfassen kann, in Frage. F\u00fcr eine bestimmte Art von Bewufstseinsinhalten, n\u00e4mlich f\u00fcr successive Schalleindr\u00fccke, ist das Problem von Dietze","page":340},{"file":"p0341.txt","language":"de","ocr_de":"Psychische Pr\u00e4senzzeit.\n341\nscheinen m\u00f6chte, da gewisse naheliegende Schlufsfolgerungen sich als irrig oder zum mindesten als nicht bindend erweisen. Ich mufs daher mit einigen restringierenden Bemerkungen beginnen.\n1.\tEs handelt sich hier nicht um die Zeit der Andauer einer Vorstellung. Wir haben im vorigen Abschnitt ausgef\u00fchrt, dafs das Beharren einer Vorstellung durchaus nicht identisch ist mit dem Auffassen dieser Andauer in einem einheitlichen Bewufstseinsakt. Auch die Zeitwerte sind ganz verschieden, eine Vorstellung kann weit \u00fcber die psychische Pr\u00e4senzzeit hinaus im Bewufstsein verweilen. Somit l\u00e4fst sich aus den Versuchen von Daniels* 1 f\u00fcr unser Problem keine Belehrung holen.\n2.\tEine Vernachl\u00e4fsigung jenes Ph\u00e4nomens, das wir oben als \u201eProjektion in die Pr\u00e4senzzeit\u201c beschrieben, kann zu ganz falschen Zeitwerten f\u00fchren. Infolge jener Projektion kann n\u00e4mlich der Inhalt einer betr\u00e4chtlichen Zeitstrecke Gegenstand des einzelnen Bewufstseinsakt es werden, ohne dafs wir die objektive L\u00e4nge jener Zeitstrecke f\u00fcr die Pr\u00e4senzzeit in Anspruch nehmen d\u00fcrften; denn in der Projektion sind s\u00e4mtliche Zeitverh\u00e4ltnisse mehr oder weniger verk\u00fcrzt.2\n(Philos. Stud. II. 362 ff.) untersucht worden. Er fand, dafs der Umfang des Bewufstseins eine Funktion der Geschwindigkeit sei, mit welcher die einzelnen Vorstellungen einander folgen.\n1\tH. Daniels (Americ. Journ. of Psych. VI. 588) fand, dafs \u2014 bei v\u00f6llig abgelenkter Aufmerksamkeit \u2014 das Ged\u00e4chtnisnachbild etwa 10 Sekunden verweilen k\u00f6nne.\n2\tW\u00e4hlen wir ein Beispiel. Ehrenfels macht einmal darauf aufmerksam ( Vierteljahrsschr. f. wiss. Philos. XIV. 270), dafs in der Zusammenfassung zeitlicher Zusammenh\u00e4nge zu einem Gesamtbilde das Geh\u00f6r dem Gesichte weit \u00fcberlegen sei. Betrachten wir einen schreitenden Menschen, so k\u00f6nnen wir zu einer einheitlichen Auffassung h\u00f6chstens alle jene Gesichtsbilder vereinigen, die zu einem einzigen Schritte geh\u00f6ren. Ein Schritt f\u00e4llt zeitlich zusammen mit einem Taktteil eines Andante, und wie viel solcher Taktteile, ja Takte bilden f\u00fcr unser Geh\u00f6r als \u201eMelodie\u201c ein einheitliches Ganzes! \u2014 Da liegt nun die Konklusion fast am Wege: Folglich ist die Pr\u00e4senzzeit f\u00fcr das Geh\u00f6r um ein Vielfaches l\u00e4nger, als f\u00fcr das Gesicht. Dieser Schlufs ist falsch. Freilich bilden die \u2014 sagen wir, vier Takte einer Melodie einen einheitlichen Bewufstseinsakt, aber nur dadurch, dafs sie mir w\u00e4hrend des Ablaufs ihrer einzelnen Teile als Ganzes in stark verdichteter Form gegenw\u00e4rtig sind. Ob die hierdurch in Anspruch genommene Pr\u00e4senzzeit l\u00e4nger ist, als die eines optischen Aktes, l\u00e4fst sich ohne weiteres nicht besagen.","page":341},{"file":"p0342.txt","language":"de","ocr_de":"342\nL. William Stern.\nVon diesem Gesichtspunkte aus mufs man sagen, dafs die Berechnung, durch welche James1 die Dauer der scheinbaren Gegenwart zu eruieren sucht, nicht zum Ziele f\u00fchrt. Indem er sich an die DiETZEschen Versuche \u00fcber den Umfang des Bewufstseins f\u00fcr successive Schalleindr\u00fccke h\u00e4lt, setzt er die objektive Dauer der noch zu einem Bewufstseinsganzen zu-sammengefafsten Sch\u00e4lle mit der psychischen Gegenwart identisch und gewinnt so einen Zeitwert von 12 Sekunden als den \u201eKern der scheinbaren Gegenwart\u201c. Diese Identifikation ist unberechtigt; meines Erachtens ist bei jenen Versuchen das Zusammenfassen einer gr\u00f6fseren Schlagzahl mit langsamer Folge nur dadurch m\u00f6glich gewesen, dafs jene Schlagfolge in einer Art von projektivischer Rekapitulation auf eine k\u00fcrzere Spanne zusammengedr\u00e4ngt wird und hier zu einem Ganzen zusammen gefafst werden kann. Sonach w\u00e4re der Wert von 12 Sekunden ein zu grofser, und hiermit stimmen auch die Resultate der Selbstbeobachtung, nach denen, sobald die perspektivische Verk\u00fcrzung fehlt, nur der Inhalt von ganz wenigen Sekunden zu einem Bewufstseinsganzen sich zusammenschliefsen kann.\n3.\tEinen Generalwert f\u00fcr die Pr\u00e4senzzeit giebt es nicht. Ihre L\u00e4nge ist durchaus verschieden, je nach der Qualit\u00e4t und Quantit\u00e4t des Bewufstseinsinhalts, je nach der Richtung der Auffassung, je nach der St\u00e4rke der psychischen Energie; \u2014 vom Moment bis zur Dauer von mehreren Sekunden kommen alle Zwischenstufen vor.\n4.\tEinen Maximalwert bestimmen zu wollen, ist h\u00f6chst mifslich, da die Grenzen eines solchen zeitlich ausgedehnten Bewufstseinsganzen meist sehr fliefsende und unbestimmte sind und der Anteil der zeitlichen Projektion sehr schwer zu ermitteln ist.\nSollte man nach alledem auf jede quantitative Bestimmung der Pr\u00e4senzdauer \u00fcberhaupt verzichten m\u00fcssen? Nein. Wenn auch nicht General- und Maximalwerte, so lassen sich doch Op tim al wer te, gleichsam Kulminationspunkte der Pr\u00e4senzzeit, mit voller Entschiedenheit konstatieren.\nIch stelle folgende S\u00e4tze auf:\n1 Princ. of Psych. I. 61 B.","page":342},{"file":"p0343.txt","language":"de","ocr_de":"Psychische Pr\u00e4senzzeit.\n343\n1.\tF\u00fcr jede Art zeitlich ausgedehnter Bewufstseinsakte giebt es einen Optimalwort der Pr\u00e4senzzeit, sei es, dafs dieser subjektiv als angenehmster Zeitwert erscheint (ad\u00e4quate Zeit), sei es, dafs er objektiv die g\u00fcnstigsten. Bedingungen zur Entfaltung des Bewufstseinsaktes bietet (g\u00fcnstigste Zeit).\n2.\tDer Optimal wert ist in hohem Mafse abh\u00e4ngig von dem Inhalt des Bewufstseinsaktes.\nNehmen wir den denkbar einfachsten Fall einer Zeitauffassung. Als solchen hat man bisher bei Zeitsinnversuchen entweder die zweiseitig begrenzte Zeit (das leere Intervall) oder die mit einem gleichm\u00e4fsig anhaltenden objektiven Beiz erf\u00fcllte Zeit betrachtet. Ich glaube nicht, dafs man hiermit in Wirklichkeit schon an der Grenze angelangt ist: Die einfachste Zeit ist diejenige, die einem momentanen Eindruck als die Zeit seines Sich-Auslebens zukommt. Der triviale Satz: \u201eJedes Ding hat seine Zeit\u201c ist psychologisch buchst\u00e4blich wahr. Ich meine mit diesem \u201eSich-Ausleben\u201c weder die blofse sensorielle Nachwirkung, die meist nur eine ganz kurze Dauer hat, noch das oben geschilderte Fortdauern der Vorstellung im Bewufstsein, das oft viel l\u00e4nger w\u00e4hrt, sondern ich meine die Zeit, deren der Eindruck zu seiner vollen psychischen Entfaltung und Wirksamkeit bedarf, und welche als ihm zukommend subjektiv unmittelbar auf-gefafst wird. Der Eindruck hat \u2014 das Bild ist wohl sofort verst\u00e4ndlich \u2014 einen Zeith of,1 der freilich nur nach einer Seite sich erstreckt.\nIch mufs gestehen, dafs ich zwei Hammerschl\u00e4ge, wie sie bei Zeitsinnuntersuchungen zur Markierung eines Intervalls benutzt werden, stets als zwei Zeiten h\u00f6re, und mir scheint, dafs man, um nur auf das Intervall zu achten, von der zweiten Zeit erst abstrahieren mufs, was freilich sehr leicht m\u00f6glich ist. Ich empfinde das Schlagpaar, wenn ich mich so ausdr\u00fccken darf, als zeitlichen Jambus, Spondeus oder Trochaeus,2 je nach-\n1\tDer Ausdruck \u201eZeithof\u201c ist \u2014 in einem etwas anderen Zusammenh\u00e4nge \u2014 zuerst von K\u00fclpe angewandt worden. (Grundri\u00df d. Psychol. S. 403.)\n2\tIch brauche die Ausdr\u00fccke \u201ezeitlicher Jambus\u201c etc. im Gegensatz zum dynamischen Jambus, bei denen nicht die Dauern, sondern die Betonungsverh\u00e4ltnisse dem Eindruck seinen metrischen Charakter verleihen\u00bb","page":343},{"file":"p0344.txt","language":"de","ocr_de":"344\nL. William Stern.\ndem mir die erste Zeit k\u00fcrzer, gleich, oder l\u00e4nger als die dem zweiten Schlag subjektiv zugemessene Zeit erschien.1 Der Spondeuseindruck, bei dem also das doppeltbegrenzte Intervall gleich der \u201eAuslebezeit\u201c des zweiten Eindrucks war, trat bei einem mittleren Zeitwert von 0,5 Sekunden ein. Zwei andere Beobachter fanden diese Art der Vergleichung ziemlich schwierig, sagten aber aus, dafs sie derselben garnicht bed\u00fcrften. Sie \u00fcberliefsen sich dem Eindruck des ersten Schlages, und je nachdem der zweite Schlag das Sich-Ausleben des ersten Eindruckes unterbrach, oder ihm den rechten Abschlufs gab, oder nach dessen Vollendung auf sich warten liefs, wurde ganz spontan das Urteil ausgel\u00f6st: die geh\u00f6rte Zeit sei zu kurz, ad\u00e4quat, zu lang. Die mittleren Werte, bei welchen die Beobachter ad\u00e4quate Zeiten konstatierten, waren 0,51 und 0,52 Sekunden. Die \u00dcbereinstimmung zwischen den drei Beurteilern ist in die Augen springend.2\n1\tDie Versuche wurden an dem im Berliner Psychologischen Institute befindlichen Zeitsinnapparat, der mir von Herrn Dr. Schumann freundlichst zur Verf\u00fcgung gestellt wurde, vorgenommen. Ich f\u00fchrte Schlagpaare, deren Intervalle von 0,36 bis 0,6 Sekunden (in Abstufungen um 0,03 Sekunden) variierten, in unregelm\u00e4fsiger Reihenfolge vor. Die einzelnen Paare waren durch l\u00e4ngere Ruhepausen getrennt. Sind auch die Versuche ihrer geringen Zahl wegen nur als gelegentliche und der Fortsetzung sehr bed\u00fcrftige zu betrachten, so glaubte ich doch die Ergebnisse wegen der Aussagen \u00fcber die gemachten Selbstbeobachtungen und wegen der \u00fcberraschenden \u00dcbereinstimmung ver\u00f6ffentlichen zu sollen.\n2\tDie ad\u00e4quate Zeit wurde zuerst bei Metronomschl\u00e4gen von Vierordt beobachtet. (.Zeitsinn S. 19 [1868].) \u2014 Schumann {diese Zeitschr. IV, 2) h\u00e4lt f\u00fcr ad\u00e4quat die Schlagfolge, \u201ebei welcher die Aufmerksamkeit sich nach jedem Eindruck gerade bequem wieder auf den folgenden vorbereiten kann und bei welcher man dementsprechend auch jeden Eindruck gerade in dem Augenblick erwartet, in welchem er eintritt.\u201c\nIch glaube, dafs es sich weniger um eine aktive Vorbereitung der Aufmerksamkeit auf das Folgende als um ein passives Sich-dem-Eindrucke-Hingeben handelt. Diese Hingabe ist am ungest\u00f6rtesten bei der ad\u00e4quaten Zeit, weil \u2014 darin ist Schumann im Recht \u2014 weder Unterbrechung des ruhigen Ablaufes noch ein Hinziehen der Erwartung vorhanden ist. Die Auffassung eines Eindrucks nebst der Einstellung der Aufmerksamkeit auf einen folgenden hat, wie wir weiter unten sehen werden, eine viel l\u00e4ngere Optimalzeit.\nVierordt und Schumann fanden die ad\u00e4quate Zeit nur an l\u00e4ngeren Schlagfolgen; wie ich oben erw\u00e4hnte, gen\u00fcgen schon zwei Schl\u00e4ge zur Ausl\u00f6sung des Eindrucks. Die obigen Versuche lassen sich \u00fcbrigens mit dem Metronom bequem wiederholen, freilich nicht mit so feinen Abstufungen.","page":344},{"file":"p0345.txt","language":"de","ocr_de":"Psychische Pr\u00e4senzzeit.\n345\nVom Begriff des \u201eZeithofs\u201c aus fallen einige Streiflichter auf ein Problem, das in den Zeitsch\u00e4tzungsuntersuchungen eine gewisse Rolle spielt, die Unterscheidung zwischen leeren und erf\u00fcllten Zeiten. Leere Zeiten nannte man bekanntlich solche, bei welchen nur die Grenzen durch \u00e4ufsere Reize angegeben werden, erf\u00fcllte solche, in denen das Intervall mit diskreten oder kontinuierlichen Reizen angef\u00fcllt ist. Dafs zwischen beiden ein wesentlicher Unterschied bestehe, wurde empfunden,1 aber die Schilderungen dieses Unterschiedes reichen nicht aus. Nirgends n\u00e4mlich findet man das charakteristische Moment der leeren Zeit betont, den Umstand, dafs die vordere Grenze sich ungest\u00f6rt ausleben kann, w\u00e4hrend bei erf\u00fcllten Zeiten gar nicht die Tendenz besteht, die vordere Grenze isoliert zur Geltung kommen zu lassen, vielmehr die Neigung vorherrscht, den ganzen Inhalt zu einem einzigen Auffassungsgebilde zusammenzufassen.2\nAuch f\u00fcr solche erf\u00fcllte Zeitstrecken giebt es ad\u00e4quate .Dauern, deren Gr\u00f6fse freilich noch nicht \u00fcberall untersucht ist. Als bekanntestes Beispiel f\u00fcr die Existenz derartiger Vorzugszeiten bei komplizierteren Bewufstseinsakten, zugleich als Beweis daf\u00fcr, in wie hohem Grade die Dauer der Optimalzeit von dem Inhalt des Aktes bestimmt wird, nenne ich das Tempo einer Melodie. Jede Melodie hat ihr Tempo, d. h. eine gewisse Geschwindigkeit der Tonsuccession, bei welcher ihre Auffassung am besten gelingt und der in ihr liegende Stimmungsgehalt am reinsten zum Ausdruck gelangt. Diese ad\u00e4quaten Tempi der Melodien differieren sehr von einander, bei jeder einzelnen Melodie aber ist die Empfindlichkeit daf\u00fcr, ob sie in ad\u00e4quatem oder einem unpassenden Tempo gespielt werde, wie gelegentliche Versuche zeigen, sehr grofs. \u2014 Die Beziehung der musikalischen Tempi zu den verschiedensten Problemen der Zeitauffassung ist ein bisher brachliegendes Gebiet, das einer psychologischen Bearbeitung wohl wert w\u00e4re.\n1 S. u. a. Meumann, Philos. Stud. XII, 137 und 205.\n* Nur angedeutet sei, dafs vielleicht auch die hei Zeitsch\u00e4tzungen gefundene Indifferenzzeit (0,5\u20140,6 Sec.) mit dem Zeithofe identisch, ist. Indifferenz (d. i. Fehlen einer konstanten \u00dcber- oder Untersch\u00e4tzung der zweiten Zeit) ist dort vorhanden, wo jeder Eindruck sich gerade ausleben kann, so dafs in der That v\u00f6llig gleiche Perzeptionsbedingungen f\u00fcr die erste und zweite Zeit vorhanden sind.","page":345},{"file":"p0346.txt","language":"de","ocr_de":"346\nL. William Stern.\nEine Vorzugszeit ist ferner konstatiert f\u00fcr einfache rhythmische Gebilde. \u201eFordert man einen Beobachter auf, einen m\u00f6glichst wohlgef\u00e4lligen zweigliedrigen, dreigliedrigen oder viergliedrigen Takt zu klopfen, so wird die Geschwindigkeit der Schl\u00e4ge von jedem unbefangenen Beobachter mit der zunehmenden Zahl der Schl\u00e4ge beschleunigt, so dafs die Gesamtzeiten ungef\u00e4hr dieselben bleiben oder doch verh\u00e4ltnism\u00e4fsig langsam wachsen.\u201c1 \u00c4hnlich beobachtete Bolton,2 dafs die L\u00e4nge des wohlgef\u00e4lligsten Rhythmus bei verschiedener Gliedzahl immer etwa eine Sekunde betrage. \u2014 Leicht von Jedermann nachzupr\u00fcfen ist die folgende Beobachtung. Halte ich eine Taschenuhr (welche durch ihr Ticken Intervalle von 0,2 Sek. liefert) ans Ohr, so nehme ich unwillk\u00fcrlich Gruppen wahr, deren jede Gegenstand eines durchaus einheitlichen Bewufst-seinsaktes ist. (Der Eindruck ist aufserordentlich frappant; es ist dies vielleicht eine Beobachtung, bei der die Einheitlichkeit ohne Simultaneit\u00e4t, die streckenhafte Pr\u00e4senzzeit, am drastischsten in die Erscheinung tritt.) Hier zeigt sich nun bei mir, dafs sich \u2014 bei v\u00f6llig passiver Hingabe an den Eindruck \u2014 ohne weiteres Gruppen zu vier Schl\u00e4gen bilden. Zwar bin ich auch im st\u00e4nde, andere Gruppierungen, zu 2, zu 6, zu 8 Schl\u00e4gen herauszuh\u00f6ren, aber stets ist hierzu eine deutliche Willensanstrengung n\u00f6tig ; am schwersten ist es, einen einzelnen \u201eTick\u201c gleichsam zu isolieren und durch einen ann\u00e4hernd momentanen Bewufstseinsakt zu fassen. Somit liegt hier das Optimum bei 0,8 Sekunden, was den obigen ad\u00e4quaten Rhythmuszeiten sehr nahe kommt.\nErinnert sei ferner daran, dafs es auch f\u00fcr sprachliche Zeitfolgen entschiedene Vorzugswerte giebt, die dadurch bestimmt sind, dafs wir den successiven Inhalt des Gesprochenen gerade bequem auffassen k\u00f6nnen, ohne uns \u00fcberhasten zu m\u00fcssen, aber auch ohne unserem Gedankenverlauf k\u00fcnstliche Hemmschuhe anlegen zu m\u00fcssen. Darum erscheint uns auch ein Diskurs in einer fremden Sprache, die wir nicht beherrschen, als \u201ezu schnell\u201c, d. h. unad\u00e4quat. Und \u00fcberall dort, wo die Auffassung des Gesprochenen nicht so leicht vor sich geht oder mit gr\u00f6fserer Nachdr\u00fccklichkeit und Gr\u00fcndlichkeit er-\n1\tMeumann, Philos. Stud. X. 71.\n2\tAm. Journ. of Psych. VI. 214.","page":346},{"file":"p0347.txt","language":"de","ocr_de":"Psychische Pr\u00e4senzzeit.\n347\nfolgen soll, wird die ad\u00e4quate Zeit verl\u00e4ngert, so in der Predigt, bei Vortr\u00e4gen, auf der B\u00fchne.1\nNannte ich ad\u00e4quate Zeit jenen Pr\u00e4senzwert, welcher dem Individuum selbst am sympathischsten und angemessensten erschien (oft ohne dafs es selbst wufste, warum), so bezeichne ich als g\u00fcnstigste Zeit eine solche, die die objektiv g\u00fcnstigsten Bedingungen zum Vollzug eines zeitlich ausgedehnten Bewufst-seinsaktes enth\u00e4lt, ohne dafs das Individuum subjektiv diesem Zeiteindruck eine besondere Sympathie entgegenbringen oder \u00fcberhaupt die zeitlichen Verh\u00e4ltnisse als solche beachten m\u00fcfste.\nDerartige g\u00fcnstigste Zeiten sind mehrfach konstatiert, namentlich in solchen F\u00e4llen, wo kurze Zeit nach einem Anfangseindruck ein zweiter Eindruck besondere Beachtung finden sollte. Der psychische Vorgang besteht dann darin, dafs zun\u00e4chst der. Anfangseindruck einen gewissen Spielraum zur Entfaltung erh\u00e4lt (die oben besprochene Auslebezeit), und dafs im engen Anschlufs daran die Aufmerksamkeit auf den kommenden Eindruck eingestellt, vorbereitet wird. Dies Ph\u00e4nomen, das sich unmittelbar als zusammenh\u00e4ngender psychischer Akt darstellt, hat natur-gem\u00e4fs eine g\u00fcnstigste Zeit von gr\u00f6fserer L\u00e4nge, als wir sie fr\u00fcher f\u00fcr die Auslebezeit konstatierten ; kommt doch hier noch eine Vorbereitungszeit als weiteres Moment hinzu. Es zeigt sich nun \u00fcbereinstimmend aus verschiedenartigen Versuchen, dafs der Optimalwert zwischen 1 und 2 Sekunden liegt.\nSo ergab sich, dafs Reaktionsversuche mit vorbereitenden Signalen dann die k\u00fcrzesten Reaktionswerte lieferten \u2014 d. h. die g\u00fcnstigste Einstellung des psychischen Mechanismus dokumentierten \u2014, wenn die Zwischenpause zwischen Signal und Reiz IV2 Sekunden betrug.2 \u00c4hnliche Intervalle haben sich bei fast allen psychologischen Versuchsmethoden, wo man vorbereitende Signale gebrauchte, eingeb\u00fcrgert, da sie sich empirisch als die g\u00fcnstigsten erwiesen.\nSodann ergaben Versuche \u00fcber die Abh\u00e4ngigkeit des Ged\u00e4chtnisses von der Zeit Folgendes: W\u00e4hrend im allgemeinen die Leistung des Ged\u00e4chtnisses mit der Zeit stetig abnimmt\n1\tDie Tempi des Sprechens oder auch die den verschiedenen Individuen sympathischsten Tempi des Sprechen-H\u00f6rens m\u00f6gen ein ganz charakteristisches differentialpsychologisches Merkmal sein.\n2\tDwelshatjsers, Philos. Stud. VI. 217.","page":347},{"file":"p0348.txt","language":"de","ocr_de":"348\nL. William Stern.\n(Ebbinghaus\u2019 logarithmische Kurve), stellte sich in den ersten zwei Sekunden ein allm\u00e4hliches Ansteigen der Sicherheit heraus. Das haben sowohl Wolfe bei Tonged\u00e4chtnis versuchen1, wie Lewy bei Experimenten \u00fcber das Ged\u00e4chtnis f\u00fcr gesehene L\u00e4ngen2 konstatiert.\nEndlich seien in diesem Zusammenh\u00e4nge auch die von mir angestellten Yer\u00e4nderungsversuche erw\u00e4hnt. Hier fand ich, dafs auf die Wahrnehmungsschwelle f\u00fcr allm\u00e4hlich sich \u00e4ndernde Heize nicht allein der Umfang der durchlaufenen Heizskala oder die Geschwindigkeit von Einflufs ist, sondern auch die Zeit: stets liefs sich eine Zeitgegend konstatieren, innerhalb welcher die Tendenz zur F\u00e4llung des Yer\u00e4nderungsurteils am gr\u00f6fsten ist \u2014 ziemlich unabh\u00e4ngig von der angewandten Geschwindigkeit der \u00c4nderung3 \u2014, innerhalb welcher also die g\u00fcnstigste Adaptation der Aufmerksamkeit anzunehmen ist. Diese Zeitgegend lag bei meinen Experimenten \u00fcber Helligkeitsver\u00e4nderung4 um eine Sekunde herum ; bei den Ton\u00e4nderungsversuchen5 lag sie betr\u00e4chtlich h\u00f6her, so hoch, dafs wir kaum mehr von einer einheitlichen Pr\u00e4senzzeit sprechen k\u00f6nnen. Sie betrug dort n\u00e4mlich (bei den verschiedenen Personen verschieden) 4\u20147 Sekunden, war aber wiederum bei jeder einzelnen Person, ungeachtet der wechselnden Ver\u00e4nderungsgeschwindigkeit, ziemlich konstant. Hier scheinen wir es mit der Kulmination einer zweiten Pr\u00e4senzzeit zu thun zu haben. Man mufs nur in Betracht ziehen, dafs zur einheitlichen Zusammenfassung zeitlich kontinuierender Eindr\u00fccke ein, starker Aufwand von Aufmerksamkeitsenergie geh\u00f6rt, und dafs die Aufmerksamkeit schon vom vorbereitenden Signal an bis zum Beginn der Ver\u00e4nderung ziemlich stark in Anspruch genommen war; somit ist es sehr wohl denkbar, dafs bald nach Beginn der Ver\u00e4nderung ein gewisser Nachlafs ein tritt, dafs diesem aber bald ein erneuter Aufschwung der Aufmerksamkeit folgt,6 die nunmehr wiederum ein gr\u00f6fseres St\u00fcck des Ver\u00e4nde-\n1\tPhilos. Stud. III. 552.\n2\tDiese Zeitschr. VIII. 244.\n3\tMan erwartet doch a priori, dafs mit der gr\u00f6fseren Geschwindig^ keit die Verk\u00fcrzung der bis zum Moment des Bemerkens verfliefsenden Zeit mindestens proportional ginge.\n4\tDiese Zeitschr. VII. 266.\n5\tDiese Zeitschr. XI. S. 1 ff.\n6\tDie Periodizit\u00e4t der Aufmerksamkeit ist ja bekannt.","page":348},{"file":"p0349.txt","language":"de","ocr_de":"Psychische Pr\u00e4senzzeit\n349\nrungsaktes zu einer Pr\u00e4senzzeit zusammenfassen kann. In die Optimalgegend dieser Zeit (die aufser dem gegenw\u00e4rtigen Stadium des Ver\u00e4nderungsVorganges m\u00f6glicherweise auch eine Reproduktion der Anfangsphase enth\u00e4lt) f\u00e4llt dann das Bemerken der Ver\u00e4nderung.1\nZu einem derartigen zweiten Zeitoptimum giebt es \u00fcbrigens Analoga in den oben erw\u00e4hnten Gred\u00e4chtnisversuchen von Wolfe und Lewy, welche beide ebenfalls in der Zeitgegend von 5\u20147 Sekunden ein nochmaliges Ansteigen der Gred\u00e4chtnissicherheit konstatierten.\nRecht interessant w\u00e4re die Untersuchung der Frage, ob bei Reaktionsversuchen, bei denen man bisher lediglich Minimalzeiten zu produzieren strebte, sich dann, wenn man den Reagenten seinem subjektiven Belieben \u00fcberl\u00e4fst, ebenfalls Optimalzeiten ergeben w\u00fcrden.\n1 W\u00fcrde man eine Ver\u00e4nderung durch s\u00e4mtliche nur denkbare Geschwindigkeiten durchf\u00fchren, so w\u00fcrde sich wahrscheinlich eine Reihe von solchen g\u00fcnstigsten und bevorzugten Zeitwerten finden, deren jeder f\u00fcr eine ganze (gr\u00f6fsere oder kleinere) Gruppe von Geschwindigkeiten gilt. Auf diese Weise vereinigen sich meine Resultate mit denen Strattons {Philos. Stud. XII. S. 569), der f\u00fcnf sehr verschiedene Geschwindigkeitsgrade benutzte und hierbei, im scheinbaren Gegensatz zu mir, eine Abnahme der Empfindlichkeit und eine starke Verl\u00e4ngerung der Zeiten mit abnehmender Geschwindigkeit feststellte.","page":349}],"identifier":"lit30934","issued":"1897","language":"de","pages":"325-349","startpages":"325","title":"Psychische Pr\u00e4senzzeit","type":"Journal Article","volume":"13"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:38:02.404364+00:00"}