Open Access
{"created":"2022-01-31T15:01:19.836311+00:00","id":"lit30939","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Brahn, Max","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 13: 355-356","fulltext":[{"file":"p0355.txt","language":"de","ocr_de":"Litter aturbericht.\n355\nLaute nur darum so leicht nach, weil das H\u00f6ren derselben Reflexe im Stimmorgan hervorbringt, daher bildet es zun\u00e4chst oft eigene Worte, es spricht seine Sprache, nicht die unsrige. Das Sprechen lernt das Kind also seihst, was wir es lehren k\u00f6nnen, ist nur unsere Sprache. W\u00e4re es nicht richtiger zu sagen, das Artikulieren und Lautehilden lerne das Kind selbst, Worte hervorzubringen, m\u00fcsse es gelehrt werden? Das Wort f\u00e4llt von aufsen her als Samenkorn in die Seele des Kindes, wo es langsam belebt und durchdrungen wird, so dafs es einen ganz bestimmten Begriff, die M\u00f6glichkeit einer sinngem\u00e4fsen Anwendung erh\u00e4lt. Diese dauernde Verarbeitung des kindlichen Wortschatzes \u00e4ufsert sich in den Wortneusch\u00f6pfungen nach gewissen Analogien und in seinem dauernden Suchen und Fragen nach Erkl\u00e4rungen. Das Kind hat dadurch viele Verh\u00e4ltnisse der Aufsenwelt schon erfafst, ehe es zum Bewufstsein des eigenen Ich kommt, da es dieses Wort \u201eIch\u201c nicht zu h\u00f6ren bekommt und daher zu seiner Verarbeitung nicht kommt. Die Angeh\u00f6rigen pflegen dem Kinde das Verst\u00e4ndnis erleichtern zu wollen, indem sie sich selbst \u201eVater, Mutter\u201c nennen, wenn sie mit dem Kinde reden. So lernt das Kind den Ichbegriff erst kennen, wenn es sich im Spiele oder sonst irgendwo als Ursache von Bewegungen und Ver\u00e4nderungen erkennt.\nMax Beahn (Leipzig).\nTh. Ribot. Les caract\u00e8res anormaux et morbides. Ann\u00e9e psychol. II.\nS. 1\u201417. 1896.\nDen normalen Charakter erkennt man in seiner idealen Form daran, dafs er eine bestimmte Art des Strebens und Wollens hat, die ihm Einheit und Festigkeit giebt, und ferner daran> dafs man stets vorher bestimmen kann, was er unter gegebenen Umst\u00e4nden thun wird. Je weiter sich ein Charakter von der Einheit und Vorherbestimmbarkeit entfernt, um so mehr geh\u00f6rt er nach der Seite der atypischen und kranken Charaktere. Def Moralist nennt hier oft abnorme Charaktere solche, die dem Psychologen als v\u00f6llig einheitliche erscheinen, da sie nicht sowohl die Art des Wollens als die Mittel und Wege zum Ziele ver\u00e4ndern; ferner kann auch das Lebensalter scheinbar bedeutende Ver\u00e4nderungen hervorbringen, die jedoch alle den Kernpunkt nicht treffen. Geht man den Weg von den stetigen Formen der Ideal Charaktere r\u00fcckw\u00e4rts zu den v\u00f6llig krankhaften, so ergeben sich drei Formen der Abweichung von der Norm, die vom nur Atypischen zur v\u00f6lligen Krankeit f\u00fchren.\nA. Die sich in zeitlicher Aufeinanderfolge widersprechenden Charaktere: 1. Die von der Norm abweichenden, die wiederum zwei Formen zeigen: \u00ab) Eine und dieselbe Neigung eines Individuums wechselt v\u00f6llig ihre Richtung (Raymundus Lttllus, Paulus, Lutheb), aber immer kann man in dem Schmetterling noch die Puppe wiedererkennen, \u00df) Die v\u00f6llige Wandlung des Charakters, bei der ein Streben durch das gegenteilige, eine Art, zu leben, durch die entgegengesetzte verdr\u00e4ngt wird (Diocletian, Julianus Apostata, Augustinus, Tolstoj). Den Grund geben moralische Umwandlungen, die langsam oder ganz pl\u00f6tzlich kommen, den Zwangshandlungen \u00e4hnlich, durch die anhaltende Wirkung von ihnen\n23*","page":355},{"file":"p0356.txt","language":"de","ocr_de":"356\nLitteraturbericht.\nverschieden. Auch k\u00f6rperliche Einfl\u00fcsse k\u00f6nnen solche Wandlungen veranlassen, so Kopfverletzungen etc.\n2. Die krankhaften Formen der sich successiv widersprechenden Charaktere. Es sind die alternierenden Charaktere (von dem Schema A, B, A, B....), wie sie besonders bei den Formen der Verdoppelung der Pers\u00f6nlichkeit Vorkommen. W\u00e4hrend man gew\u00f6hnlich die \u00c4nderungen des intellektuellen Lehens hierbei in den Vordergrund stellt, ist Verfasser geneigt, den Wechsel in der affektiven Disposition in den Vordergrund zu stellen, der seinerseits von physiologischen Ver\u00e4nderungen abh\u00e4ngig sein soll. Besonders scharf ausgepr\u00e4gt ist diese Form des Wechsels bei dem ganzen G-ebiete des zirkul\u00e4ren Irreseins. Keime zu solchem Wechsel sind schon im normalen Leben vorhanden, greifbar sind die Ver\u00e4nderungen nur, wo sie im Hochrelief deutlich zu Tage treten.\nB.\tDie sich in zeitlicher Koexistenz widersprechenden Charaktere. Sie vereinigen in gleicher St\u00e4rke zwei entgegengesetzte Neigungen zu gleicher Zeit in sich \u2014 unter gegebenen Umst\u00e4nden kann man also zwei Handlungen als gleich wahrscheinlich Vorhersagen. Es treten uns hier wieder zwei Formen entgegen: a) eine unvollkommene, die in dem so h\u00e4ufigen Zwiespalt zwischen Denken und F\u00fchlen, Theorie und Praxis, Grunds\u00e4tzen und Neigungen besteht, \u00df) Eine vollkommene, die in dem Nebeneinanderbestehen zweier Formen des F\u00fchlens, Wollens Handelns sich \u00e4ufsert, deren eine der anderen ins Gesicht schl\u00e4gt: so der Religiosit\u00e4t und der Ausschweifung, der Liebe und des Hasses gegen einen und denselben Gegenstand. Die Erkl\u00e4rung aus der Dualit\u00e4t der Gehirnhemisph\u00e4ren zur\u00fcckweisend, sucht Ribot, von dem normalen Geisteszustand ausgehend, eine Erkl\u00e4rung zu gewinnen. Ein sehr ernster Mensch kann Anf\u00e4lle ausgelassener Freude haben, ein anderer kann pl\u00f6tzlich von einer Leidenschaft ergriffen werden, die seinen Gewohnheiten v\u00f6llig widerspr\u00f6cht. Denkt man sich diesen Zustand perpetuiert, so hat man die eben beschriebenen Formen.\nC.\tDie v\u00f6llig wechselnden polymorphen Charaktere. Wir\nhaben es hier mit denjenigen Individuen zu thun, von denen wir im Deutschen sagen, dafs sie gar keinen Charakter haben, d. h. dafs jede M\u00f6glichkeit einer Vorherbestimmung ihrer Handlungen fortf\u00e4llt, da an Stelle der Einheit eine totale Mannigfaltigkeit der Tendenzen getreten ist. Als angeborene Eigenschaft ist dieser Charakter nur eine Teilerscheinung der allgemeinen Degeneration (besonders Hysterischer), als erworbene Eigenschaft ist er meist eine Folge von Gehirnkrankheiten, besonders Verletzungen des Stirnlappens. Es handelt sich um besonders schnelle, partielle Ersch\u00f6pfung des Gehirns, wie sie bei Entarteten h\u00e4ufig ist. Die Eigent\u00fcmer eines solchen angeborenen Charakters sind auf kindlicher Stufe der Charakterentwickelung stehen geblieben, die des erworbenen auf sie zur\u00fcckgesunken: \u201ekindliche S tufe der Entwickelung\u201c (infantilisme psychologique) ist der zusammenfassende Ausdruck f\u00fcr diese Charaktere. Dabei kann die h\u00f6chste Stufe der geistigen, d. h. der intellektuellen Entwickelung, damit zusammenfallen, wie es beim Genie vorkommt: das Volk spricht dann von ihnen als von \u201egrofsen Kindern\u201c.\tMax Brahn (Leipzig).","page":356}],"identifier":"lit30939","issued":"1897","language":"de","pages":"355-356","startpages":"355","title":"Th. Ribot: Les caract\u00e8res anormaux et morbides. Ann\u00e9e psychol. II. S. 1-17. 1896","type":"Journal Article","volume":"13"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:01:19.836317+00:00"}