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{"created":"2022-01-31T15:13:10.647094+00:00","id":"lit30961","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Giessler, M.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 13: 380-383","fulltext":[{"file":"p0380.txt","language":"de","ocr_de":"380\nLi Ueraturbericht.\nS Ollier, Moulin, Keller. Observations sur l\u2019\u00e9tat mental des mourants.\nLev. philos. Bd. 41. S. 303\u2014313. 1896. No. 3.\nE. Egger: Le moi des mourants. (Nouveaux faits.) Lev. philos. Bd. 42.\nS. 337\u2014368. 1896. No. 10.\nBeide Abhandlungen beziehen sieh auf fr\u00fchere Untersuchungen von Egger \u00fcber das Ich der Sterbenden (Januar 1896).\nSollier wirft Egger vor, dafs es sich bei diesem nicht um wirkliche Sterbende handle, sondern dafs er nur E\u00e4lle behandle, wo bei den Betreffenden die Idee vorhanden war, dafs sie sterben m\u00fcfsten. Auch m\u00fcsse man, um das Problem vollst\u00e4ndig zu studieren, zwei grofse Klassen von Thatsachen betrachten: 1. solche, wo der Tod durch eine organische Modifikation herbeigef\u00fchrt wird, deren Ende er ist : 2. solche, wo er infolge von \u00e4ufseren Umst\u00e4nden erfolgt. Weiterhin hat man zu unterscheiden, ob der Tod verursacht wird: 1. durch das Alter oder eine fortschreitende Ersch\u00f6pfung, 2. durch eine chronische oder schleichende Krankheit, 3. durch eine akute, schnell verlaufende Krankheit oder durch eine unerwartete physiologische St\u00f6rung, 4. durch einen Unfall, welcher das Subjekt in Voller Gesundheit \u00fcberrascht. Hierbei ist der Zeitraum von Wichtigkeit, welcher verfliefst zwischen dem Moment, wo die Idee des Todes auftaucht und dem Moment, wo der Tod wirklich eintritt. Ferner mufs man dabei ber\u00fccksichtigen: 1. das Alter des Subjekts, 2. den Grad seines pers\u00f6nlichen Gef\u00fchls, 3. seine intellektuelle und moralische Kultur, 4. seine Erregbarkeit. Eine einheitliche, alle F\u00e4lle umfassende Erkl\u00e4rung\" giebt es nicht, denn wir kennen Beispiele, wo dasselbe Subjekt beim Drohen der Todesgefahr verschiedene Male in verschiedener Weise reagiert hat. S. gelangt auf Grund seiner Beispiele zu dem Besultate, dafs das Gef\u00fchl des Wohlseins allen F\u00e4llen gemeinsam ist. Dieses Wohlbefinden besteht jedoch nur in der Abwesenheit von Schmerzempfindungen, hervorgerufen durch An\u00e4sthesie und Analgesie.\nDen Vorgang selbst erkl\u00e4rt er f\u00fcr die F\u00e4lle, wo der Tod durch einen gewaltsamen Zufall herbeigef\u00fchrt wird, folgendermafsen: Dadurch, dafs unsere Aufmerksamkeit sich ausschliefslich der Ursache des drohenden Todes zuwendet, werden wir anderen Eindr\u00fccken gegen\u00fcber an\u00e4sthetisch. Die An\u00e4sthesie f\u00fchrt das Gef\u00fchl der Gl\u00fcckseligkeit herbei. Gleichzeitig jedoch machen wir heftige Anstrengungen, um dem Tode zu entgehen. Durch das Gesicht und Geh\u00f6r suchen wir das, was uns retten kann, und wir sammeln unsere ganze Energie. Das Bewufstsein von unserm Ich befindet sich im Maximum. Hinsichtlich seiner gegenw\u00e4rtigen sowohl als auch teilweise hinsichtlich der fr\u00fcher erworbenen Elemente aber befindet es sich im Minimum. Auf diese Weise erkl\u00e4rt sich das Ph\u00e4nomen der schnellen Wiedererinnerung. \u2014 Die F\u00e4lle, in denen das Individuum einer pathologischen St\u00f6rung unterliegt, erkl\u00e4rt S. folgendermafsen: Die Erm\u00fcdung des Nervensystems zieht An\u00e4sthesie und Analgesie nach sich. Dadurch wird das Gef\u00fchl der Gl\u00fcckseligkeit erzeugt. Das Ich-Gef\u00fchl reduziert sich auf die fr\u00fcheren Eindr\u00fccke, weil die aktuellen organischen Eindr\u00fccke annulliert werden. \u2014 Bei der ersten Klasse von F\u00e4llen ist die Erinnerung nicht so deutlich und vollst\u00e4ndig, wie bei der zweiten. Im ersteren Falle erfolgt die Wiedererinnerung","page":380},{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"Litter aturbericht\n381\ndurch Erh\u00f6hung des alten Ich, im zweiten durch Unterdr\u00fcckung des gegenw\u00e4rtigen Ich.\nMoulin glaubt, dafs die rekapitulative Halluzination der Sterbenden wenigstens im Falle eines zuf\u00e4lligen und gewaltsamen Todes mit der gr\u00f6fsten Reserve aufgenommen werden m\u00fcsse.\nNach Keller geht dem Gef\u00fchle der Gl\u00fcckseligkeit das Gef\u00fchl der Furcht vorher, und eine Anstrengung des Individuums, sich am Leben zu erhalten. Erst wenn die Anstrengung vergeblich ist, \u00fcberl\u00e4fst sich das Individuum der Ruhe.\nDurch die angef\u00fchrten Entgegnungen angestachelt, ist Egger mit dankenswertem Eifer von neuem daran gegangen, Beispiele zu sammeln, um mit H\u00fclfe derselben seine Theorie zu pr\u00e4zisieren und zu verteidigen. Gegen\u00fcber der Ansicht Solliers, welcher das Ich f\u00fcr die beiden F\u00e4lle unterscheiden zu m\u00fcssen glaubt, wo eine Reaktion gegen den physiologischen Tod, und wo eine solche gegen die Idee des Todes stattfindet, behauptet Egger, dafs man von einem Ich im eigentlichen Sinne nicht sprechen k\u00f6nne, wenn das Bewufstsein durch eine Krankheit getr\u00fcbt ist, oder wenn der Sterbende ein Kind oder ein kindlich Gebliebener ist. E. giebt dem Soleier zu, dafs das Gef\u00fchl der Gl\u00fcckseligkeit durch An\u00e4sthesie und Analgesie, d. h. durch die fast vollst\u00e4ndige Unterdr\u00fcckung der allgemeinen Sensibilit\u00e4t sich erkl\u00e4rt. Weiterhin erg\u00e4nzt er die Theorie Solliers durch die Annahme, dafs das Bewufstsein, welches durch die An\u00e4sthesie eines Teiles seiner Empfindungen beraubt und dadurch leer geworden ist, nun vom Ged\u00e4chtnis aus mit den Vorstellungen des vergangenen Lebens erf\u00fcllt wird. Die An\u00e4sthesie erm\u00f6glicht also zugleich das Gef\u00fchl der Gl\u00fcckseligkeit, Hypermnesie, sowie Schnelligkeit und Fruchtbarkeit des Denkens. Sehr fein macht E. darauf aufmerksam, dafs man auch im an\u00e4sthetischen Zustande des Schlafes die Thatsachen der Hypermnesie und aufserordentlichen Schnelligkeit der Einbildung beobachten k\u00f6nne.\nNach Egger pafst jedoch die Theorie Solliers nur auf diejenigen F\u00e4lle, wo die An\u00e4sthesie von einem Anfalle oder einer Ohnmacht herr\u00fchrt, aber nicht auf die F\u00e4lle von Todesgefahr ohne An\u00e4sthesie, welche vielleicht die zahlreicheren sind, w\u00e4hrend seine eigene Theorie auch diejenigen F\u00e4lle mitumfafst, wo die Integrit\u00e4t des Bewufstseins bewahrt bleibt. Die Hervorrufung des Ich hat also keinen mechanischen, sondern einen intelligiblen und logischen Grund. E. f\u00fchrt eine Reihe von Beispielen an, um an ihnen zu zeigen, dafs die Theorie Solliers sehr wohl Rechenschaft giebt von dem Wohlbefinden, welches bei allen Arten von Anf\u00e4llen, Ohnm\u00e4chten, An\u00e4mien, Schw\u00e4chezust\u00e4nden und im allgemeinen bei allen sanften Todesarten beobachtet worden ist, dafs sie aber das \u00fcberm\u00e4fsige Funktionieren des Ged\u00e4chtnisses und der Intelligenz nicht erkl\u00e4rt. Dazu ist die Idee des Todes n\u00f6tig. Auch die letzten Ausspr\u00fcche von Leuten, welche nicht infolge eines pl\u00f6tzlichen Zufalls, sondern langsam gestorben sind, nimmt E. als Beleg f\u00fcr seine Theorie, sofern dieselben R\u00fcckblicke oder das Facit des vergangenen Lebens enthalten. Verfasser hat sich dabei der M\u00fche unterzogen, die Biographien ber\u00fchmter M\u00e4nner bei Plutarch und Sueton durchzulesen und die geeigneten","page":381},{"file":"p0382.txt","language":"de","ocr_de":"382\nLitter aturbericht\nBeispiele daraus zu sammeln. Sogar bei Geisteskranken vermag der Gedanke an den Tod die Erinnerung an das verflossene Leben zur\u00fcckzurufen, ohne krankhafte An\u00e4sthesie. Sie erwachen gewissermafsen noch einmal, bevor sie sterben. Ihr umnachteter Geist wird wieder hell. Bekannt sind die R\u00fcckblicke in das vergangene Leben in den religi\u00f6sen Bekenntnissen Sterbender.\nVon der Behandlung des Problems der An\u00e4sthesie wendet sich E. nun den Vorg\u00e4ngen im lebhaft erregten Ich zu. Das Ich im Alter von 8 bis 15 Jahren begreift die Gefahr des Todes sehr wohl, wenn er pl\u00f6tzlich hereinbricht. Aber mit 17 Jahren, vielleicht sogar mit 20 Jahren ist das Ich noch nicht so weit gebildet, um durch die Idee des Todes erweckt zu werden (?!). Der normale J\u00fcngling hat nicht mehr die Sorglosigkeit des Kindes, aber er denkt mehr an die Zukunft als an die Vergangenheit. \u2014 Die Zeit, welche w\u00e4hrend der gef\u00e4hrlichen Situation verstreicht, erscheint Einem deshalb viel l\u00e4nger, als sie in Wirklichkeit is t weil das Individuum von Angst und Erwartung erf\u00fcllt ist. Schon wenn man sich zum Vergn\u00fcgen ins Wasser wirft, erwartet man \u00e4ngstlich den Augenblick, wo man das Tageslicht wiedersieht, und wo die gewohnten Gef\u00fchle zur\u00fcckkehren. \u2014 Was die im Momente der Todesgefahr geschauten Bilder und hervorgerufenen Erinnerungen selbst betrifft, so gelangt Verfasser zu der Ansicht, dafs die Erinnerungen in Wirklichkeit ungeordnet auftreten, und zwar in der Weise, dafs gewisse Erinnerungen in kurzen Intervallen wiedererscheinen, w\u00e4hrend andere noch gegenw\u00e4rtig sind. Es erscheinen z. B. in Wirklichkeit nicht die 3 Erinnerungen A, B, C, sondern es erscheint ABCBABCBA. E. h\u00e4lt daher den Ausdruck fantasmagorie f\u00fcr zutreffender als panorama. \u2014\nMeiner Ansicht nach giebt es keine einheitliche Erkl\u00e4rung f\u00fcr s\u00e4mtliche F\u00e4lle der Reaktion des Ich der Sterbenden. Als sicher wird man mit Sollier annehmen m\u00fcssen, dafs partielle An\u00e4sthesie in Verbindung mit dem Gef\u00fchle eines gewissen Grades von Wohlbefinden in allen\ndiesen F\u00e4llen kurz vor dem Verluste des Bewufstseins eintritt, sei es\n7 ?\ndafs der Gedanke des drohenden Todes die gesamte Energie nach innen konzentriert, um sie zur Abwehr gegen das Verh\u00e4ngnis zu verwerten, sei es, dafs die Erm\u00fcdung des Nervensystems die Peripherie teilweise an\u00e4sthetisch macht. Dagegen nehme ich mit Egger an, dafs ein nicht durch Krankheit geschw\u00e4chtes Ged\u00e4chtnis f\u00e4higer ist, jene Erscheinungen des rapiden Gedankenverlaufs zu beg\u00fcnstigen. F\u00fcr die Schnelligkeit desselben ist es notwendig, dafs die Idee des unausweichlichen Todes das Individuum wirklich ergriffen hat, f\u00fcr den Umfang, den der Gedankenverlauf erreicht, ist die Zeit mafsgebend, welche zwischen dem Auftauchen der Idee des bevorstehenden Todes und dem Verluste des Bewufstseins verfliefst. Die von Egger angef\u00fchrten Beispiele sind die umfassenderen. Jedoch kann man deshalb nicht behaupten, dafs seine Theorie, welche die vier Ph\u00e4nomene: das Gef\u00fchl der Gl\u00fcckseligkeit, die Empfindungslosigkeit des Tastsinnes und des Sinnes f\u00fcr den Schmerz, die Versch\u00e4rfung des Geh\u00f6r- und Gesichtssinnes, die Schnelligkeit des Gedankens fordert, auf alle F\u00e4lle durchweg anwendbar sei. \u2014 Kl\u00e4rende Beziehungspunkte zu den geschilderten Untersuchungen bieten meine","page":382},{"file":"p0383.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturberieht.\n383\nUntersuchungen \u00fcber den rapiden Gedankenverlauf beim pl\u00f6tzlichen Auftaueben des Gedankens an eine unausgef\u00fchrte Absicht. (Vergl. Giessler, \u00fcber die Vorg\u00e4nge bei der Erinnerung an Absichten. Halle, Kaemmerer, 1895.)\nM. Giessler (Erfurt).\nMabel W. Leaboyd. The \u201eContinued Story\u201c. (Minor Studies from the Psychological Laboratory of Wellesley College, communicated by Mary Whiton Calkins.) Americ. Joury. of Psychol. Vol. VII. No. 1. S. 86 bis 90. 1895.\nUnter \u201eFortgesetzte Geschichten\", Continued Stories, versteht Verfasserin die gew\u00f6hnlich nicht niedergeschriebenen, freigeschaffenen Erz\u00e4hlungen, besser Dichtungen, die von den Erfindern nicht selten \u00fcber Wochen, Monate, selbst Jahre fortgesponnen worden waren, und bei denen diese selbst meist (3/i der F\u00e4lle) als die Haupthelden in verschiedenen mit der Zeit sehr wechselnden Situationen auftreten, entsprechend den mit der Zeit wechselnden W\u00fcnschen und Idealen. Die Nachforschung bei Volkschulkindern, m\u00e4nnlichen und weiblichen Studenten und einigen mitten im Leben stehenden Personen ergaben zun\u00e4chst, dafs sich derartige Tr\u00e4umereien bei Kindern mehr nachweisen liefsen, als bei Erwachsenen, welche wohl teilweise die Erinnerung daran verloren haben, und bei M\u00e4dchen h\u00e4ufiger waren als bei Knaben, wie auch bei den Erwachsenen die Zahl der sich an solche Tr\u00e4umereien erinnernden Frauen weit gr\u00f6fser war als die der M\u00e4nner.\nAnstofs zu solchen Tr\u00e4umereien, welche vorwiegend angenehmen Gef\u00fchlston trugen, gab meist ein gerade gelesenes Buch oder ein besonderes Erlebnis. Als sehr g\u00fcnstige Bedingung hierf\u00fcr erwies sich die Einsamkeit, besonders die Nacht. Es ist sicher ein anziehendes Gebiet des Seelenlebens, das die feinf\u00fchlige Verfasserin hier aufdeckt und wissenschaftlich zu durchdringen versucht hat, so sehr sich auch die zarten Phantasiegebilde der derb zugreifenden Faust wissenschaftlicher Forschung zu entziehen streben.\tM. Offner (M\u00fcnchen).\nArthur Allin. The \u201eRecognition-Theory\u201c of Perception. Americ. Journ. of Psychol. Bd. VIL S. 237\u2014248. 1896.\nUnter der Wiedererkennungstheorie der Wahrnehmung versteht der Verfasser diejenige Theorie, nach welcher bei jeder Wahrnehmung ein Wiedererkennen des fr\u00fcher wahrgenommenen gleichen Objektes stattfindet, also die Reproduktion fr\u00fcherer gleichartiger Eindr\u00fccke auf Grund der sog. Ahnlichkeitsassoziation. Als ihre Vertreter nennt Verfasser unter anderen Spencer, Bain, Dewey, besonders H\u00f6ffding und \u00fcberraschender Weise auch Empedokles und Demokrit, weil diese, wie noch mancher Andere \u00fcbrigens von den Alten, gesagt haben, dafs nur das Gleiche Gleiches erkenne. Indes hat dieser Satz gar nichts zu schaffen mit der in Rede stehenden Frage ; er ist vielmehr eine allerdings recht schwache Ahnung von der sog. spezifischen Energie der Sinne, wie auch W. Windelband in seiner \u201eGeschichte der alten Philosophie\u201c, S. 218, Anm. 5, richtig bemerkt. Gegen die Theorie macht Verfasser geltend:","page":383}],"identifier":"lit30961","issued":"1897","language":"de","pages":"380-383","startpages":"380","title":"Sollier, Moulin, Keller: Observations sur l'\u00e9tat mental des mourants. Rev. philos. Bd. 41. S. 303-313. 1896. No. 3 / E. Egger: Le moi des mourants. (Nouveaux faits.) Rev. philos. Bd. 42. S. 337-386. 1896. No. 10","type":"Journal Article","volume":"13"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:13:10.647100+00:00"}