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{"created":"2022-01-31T13:58:02.529246+00:00","id":"lit3097","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wundt, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 2: 1-36","fulltext":[{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"lieber das Weber\u2019sche Gesetz.\nVon\nW. Wundt.\nDie sinnesphysiologischen Arbeiten Ernst HeinrichWebe r\u2019s bilden noch heute die Grundlagen sowohl f\u00fcr die experimentelle Untersuchung wie f\u00fcr die theoretische Er\u00f6rterung der psychologischen Verh\u00e4ltnisse der Sinneswahrnehmungen. War auch im Gebiete der physikalischen Naturerkl\u00e4rung die naive Anschauung, dass die Wahrnehmung ein treues Abbild des wahrgenommenen Objectes sei, l\u00e4ngst in Folge der unaufl\u00f6slichen Widerspr\u00fcche, zu welchen sie f\u00fchrte, verlassen worden, so hatte dennoch diese Anschauung auf psychologischem Gebiet die Herrschaft behauptet. Bezeichnend ist in dieser Beziehung die Bemerkung H erb art\u2019s : \u00abin der Region, in welcher die Fundamente der Psychologie liegen, werde man ganz einfach sagen, dass zwei Lichter doppelt so stark leuchten als eins, dass drei Saiten auf einer Taste dreimal so stark t\u00f6nen als eine\u00ab1). Um so bezeichnender ist diese Aeu\u00dferung, weil sie von demjenigen Philosophen herr\u00fchrt, der f\u00fcr eine exacte Behandlung der psychologischen Probleme mehr gethan hat als irgend ein anderer, und weil sie in einer Er\u00f6rterung vorkommt, welche die Messbarkeit der \u00bbintensiven Gr\u00f6\u00dfen des geistigen Lebens\u00ab gegen einen Angriff von Fries mit Gr\u00fcnden vertheidigt, die vielleicht noch jetzt nicht ganz veraltet sind. Wenigstens der Syllogismus, auf welchen Herbart die Einw\u00e4nde von Fries zur\u00fcckf\u00fchrt, \u00bbGeschicklichkeit im Schachspiel ist nicht messbar ; Geschicklichkeit im Schachspiel ist eine intensive Gr\u00fc\u00dfe ; also :\n1) Herbart, Psychologische Untersuchungen. Zweites Heft. Vorwort. S\u00e4mmtl. Werke, Bd. VII, S. 358.\nWundt, Philos. Studien. II.\n1","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"W. Wundt.\n2\nkeine intensive Gr\u00f6\u00dfe ist messbar\u00ab, \u2014 dieser Syllogismus ist in kaum ver\u00e4nderter Gestalt noch neuerdings zu \u00e4hnlichen Zwecken verwer-thet worden.\nZwar hatten die l\u00e4ngst bekannten Erfahrungen \u00fcber Sinnest\u00e4uschungen auf die Unrichtigkeit der Voraussetzung einer durchg\u00e4ngigen Proportionalit\u00e4t unserer Wahrnehmungen mit den \u00e4u\u00dferen Eindr\u00fccken bereits hingewiesen. Aber diese Erfahrungen hatten, theils weil sie als Ausnahmef\u00e4lle betrachtet wurden, theils weil ihre psychologische Erkl\u00e4rung \u00fcberhaupt noch unzureichend war, jene Voraussetzung nicht wesentlich zu ersch\u00fcttern vermocht.\nWeber war der Erste, der Erscheinungen innerhalb der normalen Wahrnehmungsvorg\u00e4nge theils kennen lehrte, theils von neuem verwerthete, aus denen sich die Unrichtigkeit jener Anschauung ergab. Insbesondere waren es zwei Fundamentalerscheinungen, in deren Nachweis die f\u00fcr die Psychologie epochemachende Bedeutung der Weber\u2019schen Arbeiten bestand. Die eine dieser Erscheinungen war die Thatsache, dass bei den r\u00e4umlichen Sinnen, Tast-und Gesichtssinn, zwei getrennte Eindr\u00fccke eine bestimmte Entfernung erreichen m\u00fcssen, wenn sie als getrennte wahrgenommen werden sollen. Die Verschiedenheiten dieser Grenzdistanz an den einzelnen Stellen des Tastorgans und der Netzhaut benutzte Weber zur Messung dessen, was er die \u00bbFeinheit des Ortssinns\u00ab nannte. Die zweite Erscheinung bestand darin, dass sich die Unterscheidung der Gr\u00f6\u00dfe zweier Eindr\u00fccke, z. B. der Schwere zweier Gewichte, der L\u00e4nge zweier Linien, nicht von dem absoluten, sondern von dem relativen Unterschied derselben abh\u00e4ngig zeigte, eine Beobachtung, die unmittelbar zur Uebertragung des f\u00fcr die Unterscheidung der Tonh\u00f6hen l\u00e4ngst angenommenen Gesetzes auf andere quantitativ vergleichbare Empfindungen f\u00fchrte. W\u00e4hrend die erste der genannten Erfahrungen die Grundlage aller derjenigen Untersuchungen geworden ist, welche sich auf die Bedingungen der r\u00e4umlichen Wahrnehmungen beziehen, und auf welchen in der heutigen experimentellen Psychologie die ganze Theorie der Entwicklung der extensiven Sinnesvorstellun-gen beruht, hat sich aus den an zweiter Stelle erw\u00e4hnten Erfahrungen und Verallgemeinerungen Weber\u2019s das von Fechner so genannte Gebiet der Psychophysik entwickelt, wobei aber das letztere in seiner thats\u00e4chlichen Ausarbeitung insofern eine gewisse Einschr\u00e4n-","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber das Weber\u2019sche Gesetz.\n3\nkung erfuhr, als es sich mehr und mehr 7,11 einer Lehre von den Beziehungen der intensiven psychischen Zust\u00e4nde zu den dieselben veranlassenden \u00e4u\u00dferen Eindr\u00fccken gestaltete.\nEs soll die Aufgabe der folgenden Untersuchung sein, einige der Bedenken zu pr\u00fcfen, deren Gegenstand in neuerer Zeit theils die von Weber gegebenen Grundlagen der Psychopliysik, theils die durch Fechner eingef\u00fchrten Erweiterungen derselben gewesen sind, und hieran einige Bemerkungen \u00fcber die Deutung zu kn\u00fcpfen, welche dem von Weber und Fechner aufgestellten psychophysischen Grundgesetze gegeben werden kann.\n1. Das Weber\u2019sche und das Fecliner\u2019sehe Gesetz.\nSeine eigenen Beobachtungen und sonstige Erfahrungen \u00fcber die Unterscheidung von Gewichten, Linien, T\u00f6nen u. s. w. glaubte E. H. Weber in dem Satze zusammenfas'sen zu k\u00f6nnen, dasswirbeider Vergleichung \u00e4u\u00df er er Eindrii cke \u00fcberhaupt nur deren Verh\u00e4ltnisse, nicht aber ihre absoluten Werthe zu bestimmen im Stande sind. Er wies darauf hin, dass seine Versuche auf diese Weise nur eine experimentelle Best\u00e4tigung einer auf gewissen Gebieten l\u00e4ngst gemachten Erfahrung lieferten : \u00bbIn der Musik fassen wir die Tonverh\u00e4ltnisse auf, ohne die Schwingungszahlen zu kennen, in der Baukunst die Verh\u00e4ltnisse r\u00e4umlicher Gr\u00f6\u00dfen, ohne sie nach Zollen bestimmt zu haben\u00ab1).\nEwald Hering hat geglaubt, diese Verallgemeinerung als nicht stichhaltig zur\u00fcckweisen zu sollen. Es werden dabei, wie er meint, zwei sehr verschiedene Dinge zusammengefasst. Denn die Raumgr\u00f6\u00dfen und ihre Verh\u00e4ltnisse seien Gegenst\u00e4nde unserer Wahrnehmung, die Schwingungszahlen und ihre Verh\u00e4ltnisse aber nicht. \u00bbDen Ilaumverh\u00e4ltnissen der Dinge entsprechen die Raumverh\u00e4ltnisse unserer Empfindungen oder Vorstellungen, den Verh\u00e4ltnissen der Schwingungszahlen aber entsprechen nicht die H\u00f6henverh\u00e4ltnisse der T\u00f6ne\u00ab. Noch weniger sei die Vergleichung von Gewichtsempfindun-\n1) Tastsinn und Gemeingef\u00fchl. Wagner\u2019s Handw\u00f6rterb. der Physiol. Ill, 2. S. 561.\n1*","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4\nW. Wundt.\ngen mit denjenigen von Raumgebilden zusammenzustellen, denn es gebe f\u00fcr unsere Wahrnehmung keine aus verschiedenen gleichzeitigen Gewichtsempfindungen zusammengesetzten Gewichtsgebilde, wie es Raumgebilde gibt, und es k\u00f6nne daher auch von einer unmittelbaren Auffassung der Gewichtsverh\u00e4ltnisse nicht in demselben Sinne die Rede sein, wie von der Auffassung der Raumverh\u00e4ltnisse4).\nIn diesen Ausf\u00fchrungen sind wohl diejenigen Bemerkungen Weber\u2019s, in denen er auf die allgemeine Thatsache der Relativit\u00e4t unserer Gr\u00f6\u00dfensch\u00e4tzungen hinweisen wollte , allzu w\u00f6rtlich genommen, oder es ist vielmehr etwas in sie hineingelegt, was man durchaus nicht nothwendig in sie hineinlegen muss. Weber wollte lediglich durch den Hinweis auf verschiedenartige Erfahrungen anschaulich machen, dass seine eigenen Befunde \u00fcbereinstimmten mit dem, wie Hering selbst sich ansdr\u00fcckt, \u00bbjedem Denkenden mehr oder weniger klar bewussten Umstand, dass es, wie in der ganzen Welt \u00fcberhaupt, so auch in der Welt des psychischen Geschehens immer nur auf Verh\u00e4ltnisse ankommen kann, weil es ein absolutes Ma\u00df der Dinge nicht gibt\u00ab 1 2). Dass aber die von ihm zur Erl\u00e4uterung dieses Satzes gegebenen Beispiele in allen andern Beziehungen \u00fcbereinstimmten, hat Weber keineswegs behauptet.\nTrotzdem d\u00fcrfte in einem Punkte der von Hering erhobene Einwand nicht ganz ungerechtfertigt sein. Wenn Weber die Auffassung r\u00e4umlicher Verh\u00e4ltnisse mit denjenigen von T\u00f6nen und von Gewichten vergleicht, so liegt dem in der That zwar nicht der Gedanke einer v\u00f6lligen Analogie zwischen verwickelten architektonischen Formbeziehungen und einfachen Ton- oder Tastempfindungen, wohl aber die Annahme einer Correspondenz der einfachsten Ma\u00dfverh\u00e4ltnisse in diesen verschiedenen F\u00e4llen zu Grunde. \u00bbUeber die kleinsten Verschiedenheiten der Gewichte, die wir mit dem Tastsinne, der L\u00e4nge der Linien, die wir mit dem Gesichte, und der T\u00f6ne, die wir mit dem Geh\u00f6r unterscheiden k\u00f6nnen\u00ab : so \u00fcberschreibt Weber die Zusammenfassung seiner Versuchsergebnisse3), und es unterliegt keinem Zweifel, dass er den L\u00e4ngenunterschied zweier Linien hier als eine \u00e4hnlich einfache Empfindungsthatsache be-\n1)\tSitzungsber. der Wiener Akademie. III. Abth. Bd. 72, 1875. S.-A. S. 6, 8.\n2)\tHering a. a. O. S. 5.\n3)\tDer Tastsinn und das Gemeingef\u00fchl, S. 559.","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber das Weber'sche Gesetz.\n5\ntrachtet wie den Intensit\u00e4tsunterschied zweier Druck- oder den H\u00f6henunterschied zweier Tonempfindungen. Nach unserer heutigen Kenntniss der Bedingungen extensiver Wahrnehmung ist aber die einfachste r\u00e4umliche Vorstellung ein Resultat der Verbindung mehrerer und sogar verschiedenartiger Empfindungen. Darum ist hier keineswegs von vornherein ein \u00e4hnliches Verhalten zu erwarten, und wenn seihst in einem einzelnen Fall in Folge einer besonderen Einfachheit der Bedingungen ein solches stattfinden sollte, so w\u00e4re dadurch auf andere, in ihren Bedingungen abweichende F\u00e4lle r\u00e4umlicher Wahrnehmung noch gar kein Schluss zu ziehen. In der That habe ich schon vor langer Zeit nachzuweisen vermocht, dass unsere Unterscheidung der L\u00e4ngenunterschiede gerader Linien v\u00f6llig zusammenf\u00e4llt mit der Unterscheidung der Bewegungsempfindungen des Auges *). Das Zutreffen des Weher\u2019schen Gesetzes in diesem Fall hat also lediglich in der relativ einfachen Beschaffenheit der Bewegungsgesetze des Auges seine Quelle, und es ist nur ein weiterer Beleg f\u00fcr die G\u00fcltigkeit jenes Gesetzes im Gebiet der Bewegungsempfindungen, nicht aber f\u00fcr seine G\u00fcltigkeit bei extensiven Wahrnehmungen \u00fcberhaupt. Letzteres findet seine Best\u00e4tigung darin, dass schon Weber im Gebiet der r\u00e4umlichen Wahrnehmungen des Tastsinns dasselbe nicht nachzuweisen vermochte , entsprechend der verwickel-teren Anordnung der Bewegungen.\nBetrachten wir demnach das Weber\u2019sche Gesetz zun\u00e4chst als einen nur f\u00fcr einfache und rein intensive Empfindungen g\u00fcltigen Satz, so l\u00e4sst sich demselben die Form geben: Der Unterschied zweier Reize muss proportional den Reizgr\u00f6\u00dfen wachsen, wenn gleich merkliche Unterschiede der Empfindung entstehen sollen. Weber hatte als Ma\u00dfstab dergleichen Merklichkeit die Ebenmerklichkeit der Unterschiede benutzt, wobei er unter dieser denjenigen Grad der Merkbarkeit verstand,, bei welchem ein Unterschied in allen F\u00e4llen eben noch deutlich erkannt wird. Nachdem aber das gleiche Verhalten durch die Methode der mittleren Abstufungen f\u00fcr \u00fcbermerkliche Gr\u00f6\u00dfen und durch die Fehlermethoden f\u00fcr Gr\u00f6\u00dfen diesseits der Grenze des Ebenmerklichen im Weber\u2019schen Sinne wahrscheinlich gemacht ist, kann die oben\n1) Beitr\u00e4ge zur Theorie der Sinneswahrnehmung, S. 415.","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6\nW. Wundt.\nausgeprochene Verallgemeinerung des Satzes keinem Bedenken begegnen. Dass die Pr\u00fcfung desselben oberhalb und unterhalb der Grenze des Ebenmerklichen noch manches zu w\u00fcnschen \u00fcbrig l\u00e4sst, bleibt dabei nicht ausgeschlossen ; doch verh\u00e4lt es sich mit der W e -ber\u2019schen Methode nicht wesentlich anders.\nVon derobigenForm desW e b e r\u2019schen Gesetzes unterscheidet sich nun diejenige, welche Fe chn er demselben gegeben hat. Sie lautet in ihrer dem Webe r\u2019schen Gesetze m\u00f6glichst angen\u00e4herten Fassung folgenderma\u00dfen: Der Unterschied zweier Reize muss proportional den Reizgr\u00f6\u00dfen wachsen, wenn gleiche Unters chiede der Empfindung entstehen sollen. Wir wollen dieses Gesetz als das Fechner\u2019sche Gesetz bezeichnen. Sein Unterschied von dem Webe r\u2019schen Gesetze besteht, wie man sieht, lediglich darin, dass in ihm an die Stelle der \u00bbgleich merklichen Unterschiede\u00ab gleiche Unterschiede der Empfindung getreten sind.\nDie Bedeutung dieses Unterschiedes erhellt am klarsten, wenn man jedem der beiden Gesetze eine mathematische Formulirung gibt. Bezeichnet man mit R eine beliebige Reizgr\u00f6\u00dfe, mit J R einen eben merklichen oder allgemeiner einen gleich merklichen Zuwachs derselben, so wird das Weber\u2019sche Gesetz dargestellt durch die Gleichung\nJ R\n\u2014- = Const.,\ndas Fechner\u2019sche dagegen durch die Gleichung\nJ R R\n1.\nJE,\nworin J E einen constant bleibenden Empfindungsunterschied und k eine Constante bedeutet, deren Gr\u00f6\u00dfe von der Schnelligkeit des Ansteigens der Empfindung mit dem Reize abh\u00e4ngt. In das Weber\u2019sche Gesetz gehen also nur messbare Reizgr\u00f6\u00dfen und Reizunterschiede ein, das F e c h n e r\u2019sche Gesetz enth\u00e4lt au\u00dferdem eine quantitative Bestimmung der Empfindung, welche letztere mit den Reizgr\u00f6\u00dfen in eine functionelle Beziehung gesetzt ist. Die weiteren Umgestaltungen, die Fe chn er mit seinem Gesetze vorgenommen hat, sind von untergeordneter Bedeutung, und es d\u00fcrfte kaum ein triftiger Einwand gegen dieselben geltend gemacht werden k\u00f6nnen, obgleich es an solchen nicht gefehlt hat. Statuirt man einmal, dass die Empfindungen","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"Ucbcr das Wcber'sche Gesetz.\n7\nals Gr\u00f6\u00dfen eingefiihrt und mit den Reizgr\u00f6\u00dfen in functioneile Beziehung gesetzt werden, so l\u00e4sst sich auch gegen die Annahme eines stetigen Wachsthums derselben und demnach gegen die Ueberf\u00fchrung der Differenzwerthe J R und J E in die Differentialgr\u00f6\u00dfen d R und d E nichts einwenden. In der That beruht der gelegentlich hiergegen erhobene Widerspruch auf einem offenbaren Missverst\u00e4ndniss der Weber\u2019schen Versuche. Indem man behauptete, die Thatsache der Ebenmerklichkeit bestimmter Reizrmterschiede, der s. g. Unterschiedsschwelle, beweise ein discontinuirliches Wachsthum der Empfindung, \u00fcbersah man, dass die Grenze des Ebenmerklichen ein aus der stetigen Zunahme der Merklichkeit willk\u00fcrlich herausgegriffener Punkt ist, und dass schon die Anwendung der Fehlermethoden und der Methode der mittleren Abstufungen lediglich auf dieser stetigen Ab- und Zunahme der Merklichkeit diesseits und jenseits der Grenze des Ebenmerklichen beruhtr). Ebenso l\u00e4sst sich gegen die von Fechner auf der Grundlage seiner Differentialformel gegebene Ableitung des logarithmischen Gesetzes und gegen die sinnreiche Einbeziehung der Thatsache der Schwelle in das letztere nichts stichhaltiges einwenden. Denn der Streit gegen die Annahme negativer Empfindungen beruht, wie ich anderweitig gezeigt habe, lediglich auf einer missverst\u00e4ndlichen Auffassung der Bedeutung, welche in diesem Fall allein dem Begriff der negativen Gr\u00f6\u00dfen beigelegt werden kann 2).\nAnders scheint es sich mit der von Fechner dem Web er\u2019schen Gesetze gegebenen Interpretation zu verhalten, wonach gleich merkliche und gleiche Unterschiede der Empfindung identisch sind. Diese Voraussetzung l\u00e4sst sich bestreiten , und sie ist in der That von vielen Seiten bestritten worden, bald weil man sie im Widerspruch mit der Grundannahme eines durchg\u00e4ngigen Parallelismus des physischen und psychischen Geschehens fand, welche Anil Stadler, \u00fcber die Ableitung des psychophys. Gesetzes. Philos. Monatsh. Wenn Stadler bemerkt, so lange der Unterschied einer Empfindung von einer Bd. 14. andern unter derUnterschiedsschwelle bleibe, wachse er nicht etwa um kleinere Quanta, sondern er wachse gar nicht, so ist eben diese Behauptung ein Irrthum. Denn die Beobachtung zeigt, dass mit der Ann\u00e4herung an die Schwelle in einer grossen Zahl von Beobachtungen vollkommen stetig die Zahl derjenigen F\u00e4lle zunimmt, in welchen der in Wirklichkeit gr\u00f6\u00dfere Reiz auch gr\u00f6\u00dfer gesch\u00e4tzt wird, bis endlich der Punkt erreicht ist, wo dies in allen F\u00e4llen stattfindet.\n2) Vgl. meine Grundz\u00fcge der physiolog. Psychologie. 2. Aufl., I, S. 361.","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8\nW. Wundt.\nn\u00e4hme eine Proportionalit\u00e4t der Empfindung mit den sie begleitenden Erregungsvorg\u00e4ngen fordern sollte, bald weil man sie f\u00fcr im Widerspruch mit gel\u00e4ufigen Erfahrungen hielt. Auf den ersten dieser Einw\u00e4nde werden wir, da er mit der Deutung des Webe r\u2019schen Gesetzes zusammenh\u00e4ngt, weiter unten zur\u00fcckkommen. Dagegen k\u00f6nnen wir an den empirischen Einw\u00e4nden, welche die G\u00fcltigkeit des psychophysischen Gesetzes \u00fcberhaupt bedrohen, hier nicht vor\u00fcbergehen. Wenn man in der einen Hand zu 100 Grm. nochmals 100 Grm. und dann in der andern zu 1000 Grm. nochmals 1000 Grm. hinzuf\u00fcgt, so unterliegt es in der That, wie Hering bemerkt, keinen Zweifel, dass im zweiten Fall die Gewichtszunahme gr\u00f6\u00dfer erscheint als im ersten >). Wenn aber nun H e r i n g hieraus schliesst, dass weder das F e c h n e r\u2019-sche noch das Web er\u2019sche Gesetz richtig sein k\u00f6nne, so \u00fcbersieht er, dass das angef\u00fchrte sowie die andern von ihm beigebrachten Beispiele zu den genannten Gesetzen in gar keiner directen Beziehung stehen, sondern dass diesen Gesetzen von ihm stillschweigend ein anderes substituirt worden ist, welches lauten w\u00fcrde: Der Unterschied zweier Reize muss proportional den Reizgr\u00f6\u00dfen wachsen, wenn der Unterschied der Reize gleich gro\u00df gesch\u00e4tzt werden soll. Dieses Gesetz ist nat\u00fcrlich falsch, und es ist nicht anzunehmen, dass W eher und Fechner an dessen Richtigkeit geglaubt haben. Denn nirgends ist von diesen Forschern bemerkt worden, dass nach ihrer Ansicht gleich merkliche oder gleich gro\u00dfe Empfindungsunterschiede in unserer Sch\u00e4tzung gleich gro\u00dfen Reizunterschieden \u00e4quivalent seien. Dagegen sind die Erfahrungen, welche das Gegentheil beweisen, so allgemein gel\u00e4ufig, dass sie jenen Beobachtern schwerlich werden entgangen sein.\nImmerhin ist es bemerkenswerth, dass selbst dies dritte, im allgemeinen jedenfalls falsche Gesetz, welches ich der K\u00fcrze wegen das Hering\u2019sche Gesetz nennen will, in gewissen Skmesgebieten eine ann\u00e4hernde G\u00fcltigkeit zu besitzen scheint. Hierher geh\u00f6rt vor allem die Empfindung der Lichtst\u00e4rke. Wenn zu einer Kerze, welche einen dunkeln Raum schwach beleuchtet, eine weitere Kerze kommt, so sind wir geneigt, dies als einen viel bedeutenderen Zuwachs an objectiver Lichtst\u00e4rke aufzufassen, als wenn zu zehn Kerzen eine wei-\n1) a. a. O. S. 14.","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber das Weber'sche Gesetz.\n9\ntere hinzukommt. Ebenso zeigt die schon von Fechner herbeigezogene Sch\u00e4tzung der Sterngr\u00f6\u00dfen nach ihrer Lichtst\u00e4rke , dass wir die objectiven Helligkeiten in eine arithmetische Reihe ordnen, wo sie in Wirklichkeit in einer geometrischen Progression zunehmen. Bekanntlich ist nun zwar das Weber\u2019sche Gesetz beim Gesichtssinn nur in beschr\u00e4nktem Umfange g\u00fcltig. So weit es aber gilt, scheint ihm das Hering\u2019sche Gesetz vollst\u00e4ndig parallel zu gehen. Wie es in dieser Beziehung mit den Schall- und Temperaturempfindungen steht, ist leider noch nicht zureichend untersucht. Es d\u00fcrfte aber wohl namentlich f\u00fcr die letzteren ein \u00e4hnliches Yerh\u00e4ltniss Platz greifen. Denn es scheint keinem Zweifel unterworfen zu sein, dass \u00fcberall da, wo wir f\u00fcr die Sch\u00e4tzung der objectiven Reizst\u00e4rken kein anderes Hilfsmittel besitzen als unsere Empfindung, das Hering\u2019sche mit dem Weber\u2019schen Gesetze zusammenf\u00e4llt, dass dagegen \u00fcberall da, wo wir gewohnheitsm\u00e4\u00dfig noch andere Hilfsmittel zur Absch\u00e4tzung absoluter Unterschiede der Reize anwenden, mit der G\u00fcltigkeit des Weber\u2019schen Gesetzes diejenige des Hering\u2019sehen durchaus nicht gegeben ist. Dieser Unterschied l\u00e4sst sich augenscheinlich darauf zur\u00fcckf\u00fchren, dass das Webe r\u2019sche Gesetz an und f\u00fcr sich nur von unseren Empfindungen und von den rein subjectiven Th\u00e4tigkeiten, die bei der Vergleichung verschiedener Empfindungen stattfinden, abh\u00e4ngt, w\u00e4hrend die G\u00fcltigkeit oder Ung\u00fcltigkeit des Hering\u2019schen Gesetzes au\u00dferdem noch von allen denjenigen Erfahrungen bedingt ist, welche wir Gelegenheit hatten, \u00fcber die objectiven Verh\u00e4ltnisse der Sinnesreize zu sammeln.\nSind auf diese Weise die von Hering gegen das Weber\u2019sche Gesetz gemachten Einw\u00e4nde nicht stichhaltig, weil sie sich gar nicht auf dieses, sondern auf ein ganz anderes, willk\u00fcrlich demselben sub-stituirtes Gesetz beziehen, so ist nun aber damit die Frage nach der Berechtigung der Fechner\u2019schen Formulirung noch nicht entschieden. In der That sind gegen die Uebertragung des Weber\u2019schen in das Fechner\u2019sche Gesetz zwei sehr von einander abweichende Einw\u00e4nde erhoben worden. Der eine, den Brentano1) geltend\n1) Psychologie vom empirischen Standpunkte. I, S. 88 f.","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10\nW. Wundt.\nmachte, und der gleichzeitig in einer von Plateau ') gegebenen Formel seinen Ausdruck fand, behauptet, als gleich merkliche Empfindungen seien nicht solche von gleicher absoluter, sondern solche von gleicher relativer Gr\u00f6\u00dfe zu betrachten, so also dass jeder Zuwachs der Empfindung dann gleich merklich bleibe, wenn er zu der vorhandenen St\u00e4rke der Empfindung im gleichen Verh\u00e4ltnisse stehe. An Stelle des Fechner\u2019schen Gesetzes\nJ R\nk.\nR\nJE\nw\u00fcrde also hier die Formel treten\nJ R___JE\nk' R E\nDer zweite Einwand, der angesichts so verschiedener Interpretationen allerdings nicht mehr ganz ferne zu liegen scheint, erkl\u00e4rt die Fechner\u2019sche ebenso wie jede andere Formulirung, bei der die Empfindung in eine functioneile Gr\u00f6\u00dfenbeziehung zum Reize gesetzt werde, f\u00fcr willk\u00fcrlich, weil eine bestimmte Ma\u00dfeinheit f\u00fcr die Empfindungsgr\u00f6\u00dfe niemals fixirt werden k\u00f6nne, was doch vor der Aufstellung einer bestimmten Ma\u00dfbeziehung unerl\u00e4sslich sein w\u00fcrde. Es wird angemessen sein, zuerst die letztere Ansicht nebst den zu ihrer Unterst\u00fctzung beigebrachten Gr\u00fcnden einer genaueren Betrachtung zu unterziehen.\n2. Ueber die M\u00f6glichkeit einer Mafseinheit der Empfindung.\nDie Umwandlung des Weber\u2019schen in das Fechner\u2019sche Gesetz beruht in erster Linie auf der Voraussetzung, dass die Empfindung \u00fcberhaupt messbar sei. Ueberall ist aber zur theoretischen sowohl wie zur praktischen Messbarkeit von Gr\u00f6\u00dfen erforderlich, dass man im Stande sei, dieselben in Theilen oder Vielfachen einer bestimmten Ma\u00dfeinheit auszudr\u00fccken. Der Einwand, dass eine solche Ma\u00dfeinheit nicht gefunden werden k\u00f6nne, ist daher der einschneidendste , der sich gegen das Fechner\u2019sche Gesetz erheben l\u00e4sst, denn er wirft mit diesem zugleich alle anderen Formulirungen um, die man dem Weber\u2019schen Gesetz etwa geben m\u00f6chte; ja es scheint\n1) Bulletin de l\u2019acad. roy. de Belgique. T. XXXIII, p. 376.","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber das Weber\u2019sche Gesetz.\n11\neinigerma\u00dfen zweifelhaft, ob ihm gegen\u00fcber das letztere seihst noch bestehen bleiben k\u00f6nnte.\nAm klarsten nnd entschiedensten ist dieser Standpunkt in einer neuern Arbeit von Johannes v. Kries zur Geltung gebracht worden >). Dabei ist dieser Forscher \u00fcbrigens von denjenigen Bedenken, welche das popul\u00e4re Vorurtheil der Messbarkeit psychischer Gr\u00f6\u00dfen entgegenzusetzen pflegt, weit entfernt. Er ist keineswegs der Meinung, dass im Gebiet des Psychischen nicht ann\u00e4hernd constante Werthe gefunden werden k\u00f6nnten, die in dieser Beziehung zu unver\u00e4nderlichen Ma\u00dfst\u00e4ben sich eigneten. Die hierauf fu\u00dfenden Bemerkungen Zeller\u2019s weist er ausdr\u00fccklich als unberechtigt zur\u00fcck. Was er leugnet, ist nur die Anwendbarkeit dieser Ma\u00dfst\u00e4be. Wir sollen uns mit jenen constanten psychischen Werthen ungef\u00e4hr in der n\u00e4mlichen Lage befinden wie einem L\u00e4ngenma\u00df gegen\u00fcber, dessen einzelne Einheiten s\u00e4mmtlich von einander verschieden w\u00e4ren, und bei dem uns gar kein Hilfsmittel, etwa in Gestalt eines andern festen Ma\u00dfstabes, zu Gebote st\u00fcnde, um die verschiedenen Einheiten auf einander zu reduciren. Diesen Grundgedanken sucht v. Kri esin doppelter Weise zu begr\u00fcnden : einmal durch die Untersuchung der allgemeinen Bedingungen der Messbarkeit von Gr\u00f6\u00dfen und den Nachweis , dass die psychischen Gr\u00f6\u00dfen diesen Bedingungen nicht entsprechen, und sodann durch die Entwicklung einiger Folgerungen aus dem Fechnersehen Gesetze, deren Nichtbest\u00e4tigung in der Erfahrung den praktischen Werth solcher Messungen in Frage stellen soll. Da die letzteren Einw\u00e4nde speciell nur das Fechner\u2019sche Gesetz treffen, w\u00e4hrend andersartige Formulirungen denselben m\u00f6glicherweise nicht ausgesetzt sein w\u00fcrden, soll weiter unten auf dieselben eingegangen, hier aber zun\u00e4chst die allgemeinere Frage untersucht werden.\nDer Gedankengang des Verfassers ist im wesentlichen der folgende. Alle physikalischen Messungen bestehen in der Messung von Raum, Zeit und Masse, und bei jeder dieser drei Messungen muss die Bedingung erf\u00fcllt sein, dass die Gleichsetzung des nichtidentischen einen klar verst\u00e4ndlichen Sinn habe. F\u00fcr die Messung\n1) J. v. Kri es, \u00fcber die Messung intensiver Gr\u00f6\u00dfen und \u00fcber das sogenannte psychophysische Gesetz. Vierteljahrsschr. f. wiss. Philosophie. VI. S. 257.","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"12\nW. Wundt.\nvon Raum und Zeit trifft dies ohne weiteres zu, und ebenso f\u00fcr die Messung gleichartiger Massen, wo derselben unmittelbar durch die Z\u00e4hlung gleicher Theile entsprochen wird. Bei ungleichartigen Massen dagegen wird die Vergleichbarkeit erst durch eine willk\u00fcrliche Feststellung erm\u00f6glicht, also z. B. indem man diejenigen Massen gleich setzt, welche das gleiche Gewicht besitzen. Alle zusammengesetzten physikalischen Gr\u00f6\u00dfen werden nun durch Combination von Raum-, Zeit-und Massengr\u00f6\u00dfen gebildet, wobei die Wahl derzucom-binirenden Einheiten abermals der willk\u00fcrlichen Feststellung \u00fcberlassen bleibt. Ist diese Wahl getroffen, so hat aber auch hier jede Ma\u00dfbestimmung einen klaren, eindeutigen Sinn, weil sie schlie\u00dflich wieder auf die Z\u00e4hlung von Raum-, Zeit- und Masseneinheiten zur\u00fcckf\u00fchrt. Anders verh\u00e4lt es sich mit der Messung intensiver psychischer Gr\u00f6\u00dfen. Ist z. B. eine Reihe von Empfindungen Ei} E2, E3.... Ek, Ei gegeben, so hat es keinen Sinn zu sagen, die Ver\u00e4nderung der Empfindung von Ej auf E2 sei gleich derjenigen von Ek auf E\\. Denn die Gleichartigkeit, welche unsere Raum- und Zeitvorstellung aus-zeichnet, fehlt unseren intensiven Empfindungsreihen. Zu behaupten , die Aenderung einer Druckempfindung beim Uebergang von 2 auf 3 Pfund sei gleich einer solchen beim Uebergang von 10 auf 15 Pfund, ist ebenso unzul\u00e4ssig, als wenn wir z. B. die Gleichheit einer Schall- und Lichtbewegung behaupten wollten.\nDiese Bemerkung trifft nahe zusammen mit einer Auffassung, welche fast gleichzeitig F. Boas r\u00fccksichtlich des psychophysischen Ma\u00dfverfahrens entwickelt hat. Auch nach ihm sind verschiedene Lichtintensit\u00e4ten ebenso wenig intensiv mit einander vergleichbar wie verschiedene Sinnesqualit\u00e4ten. Er kommt aber dadurch zu der Folgerung, dass die intensiven nichts anderes als eine besondere Form qualitativer Verschiedenheiten seien, eine Folgerung, die in der That auch auf dem Standpunkte, welchen v. Kries einnimmt, nahe genug liegt. Freilich aber will Boas darum noch nicht die Messbarkeit der Empfindungsintensit\u00e4t leugnen, sondern diese gewinnt f\u00fcr ihn nur eine andere Bedeutung : sie besteht ihm lediglich in der Absch\u00e4tzung der qualitativen Verwandtschaft verschiedener Empfindungen *). Hier scheint nun die ge\u00e4nderte Fassung des Problems kaum\n1) F. Boas, Pfl\u00fcger\u2019s Archiv f\u00fcr Physiologie, Bd. 28, S. 566.","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber das Weber\u2019sche Gesetz.\n13\nmehr als ein Wortunterschied zu sein. Ob man neben den sonstigen qualitativen Unterschieden der Empfindung noch andere von speci-fisch abweichender Beschaffenheit anerkennt, oder oh man diese letzteren als intensive Unterschiede bezeichnet, ist von geringer Bedeutung, sobald man nur die quantitative Messbarkeit jener qualitativen Unterschiede zugesteht. Auch ist ja anzuerkennen, dass schlie\u00dflich wohl nur die mit wachsender Intensit\u00e4t der Empfindung zunehmende Inanspruchnahme des Bewusstseins, die wachsende Erm\u00fcdung und der merkbarer werdende Gef\u00fchlston es sind, die uns veranlassen, von der verschiedenen St\u00e4rke sonst qualitativ gleicher Empfindungen zu reden. Andrerseits sind aber auch diese Begleiterscheinungen zureichend, um eine solche Bezeichnung zu rechtfertigen. Und sind erst allgemein diejenigen Empfindungs\u00e4nderungen, welche innerhalb gr\u00f6\u00dferer Abstufungen jene intensiven Erscheinungen regelm\u00e4\u00dfig herbeif\u00fchren, selbst als intensive bezeichnet, so scheint das Bedenken, welches Boas gegen die Uebertragung dieses Ausdrucks auf beliebige kleinere Aen-derungen der n\u00e4mlichen Art hegt, nicht gerechtfertigt zu sein. Auch hier handelt es sich schlie\u00dflich doch nur darum, dass die Bezeichnung einen eindeutigen Sinn hat. Einer eigentlichen Definition ist nat\u00fcrlich die Intensit\u00e4t so wenig wie die Qualit\u00e4t der Empfindung zug\u00e4nglich. Darum kann aber auch die Bezeichnung einer gegebenen Aenderung als \u00bbIntensit\u00e4ts\u00e4nderung\u00ab selbstverst\u00e4ndlich nur die Bedeutung haben, dass sie die Verwechslung mit andern Aenderungen, insbesondere mit sogenannten Qualit\u00e4ts\u00e4nderungen, ausschlie\u00dft. Wir werden aber diese Bedingung selbst dann noch als erf\u00fcllt betrachten d\u00fcrfen, wenn in einzelnen F\u00e4llen die Beurtheilung von Intensit\u00e4ts\u00e4nderungen durch die besondern Verh\u00e4ltnisse der Sinneserregung getr\u00fcbt erscheint, wie dies beispielsweise beim Gesichtssinn der Fall ist, wo die Erscheinungen theils durch den verschiedenen Gang der Reizbarkeit f\u00fcr verschiedenfarbiges und farbloses Licht bei wachsender Reizst\u00e4rke '), theils auch gelegentlich durch den Contrast complicirt werden. Auf den letzteren ist es jedenfalls zur\u00fcckzuf\u00fchren, wenn, wie Boas1 2) hervorhebt, f\u00fcr die unbefangene Auffassung Schwarz intensiver als Dunkelgrau erscheint. Denn diese Auffassung wird nur\n1)\tVgl. meine physiolog. Psychologie, I., S. 427 f.\n2)\ta. a. O. S. 571.","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14\nW. Wundt.\ndann sich geltend machen, wenn ein dunkles Object gegen eine hellere Umgehung contrastirt, wo nun der st\u00e4rkere Gegensatz auf eine absolut st\u00e4rkere Empfindung bezogen wird. Schwerlich wird aber jemals hei diffuser Beleuchtung jemand die Abnahme der Helligkeit f\u00fcr eine Zunahme der Empfindungsst\u00e4rke halten.\nW\u00e4hrend nun Boas zwar die Intensit\u00e4ts\u00e4nderungen der Empfindung leugnet, aber die Messbarkeit der sonst mit diesem Namen be-zeichneten Aenderungen zugibt, hat umgekehrt v. Kries gegen die Intensit\u00e4ts\u00e4nderungen nichts einzuwenden, aber er leugnet deren Messbarkeit. Beide st\u00fctzen sich dabei merkw\u00fcrdiger Weise auf eine und dieselbe Voraussetzung, auf die angebliche Unvergleichbarkeit solcher Aenderungen der Empfindung, die an verschiedenen Stellen der gew\u00f6hnlich so genannten Intensit\u00e4tsscala gelegen sind. Pr\u00fcfen wir, um diesen Widerspruch aufzukl\u00e4ren, zun\u00e4chst etwas n\u00e4her die Bedingungen der physikalischen Messung.\nIn seinen Bemerkungen \u00fcber diesen Gegenstand hat v. Kries einige Eigenth\u00fcmlichkeiten, welche die Messungen von Zeit und Masse gegen\u00fcber derjenigen des Raumes darbieten, zu erw\u00e4hnen vers\u00e4umt, die mir f\u00fcr die vorliegende Frage nicht unwesentlich zu sein scheinen. Bei der Messung der Zeit kehren n\u00e4mlich keineswegs, wie man aus v. Kries\u2019 Worten schlie\u00dfen k\u00f6nnte, die n\u00e4mlichen Verh\u00e4ltnisse wie hei derjenigen des Raumes wieder, sondern jede Zeitmessung ist eine wirkliche Messung nur insofern, als hei ihr eine r\u00e4umliche Messung stattfindet. Au\u00dferdem bedienen wir uns aber bei jeder Zeitmessung noch einer Voraussetzung, die durch unmittelbare Beobachtung gar nicht verificirt werden kann, sondern auf deren G\u00fcltigkeit wir nur aus der widerspruchslosen Anwendung schlie\u00dfen, die sie in der Wissenschaft sowohl wie in der praktischen Anwendung zul\u00e4sst. Diese Voraussetzung besteht in der Annahme der Unver\u00e4nderlichkeit der Zeitdauer gewisser regelm\u00e4\u00dfig wiederkehrender Naturerscheinungen , unter denen die Umw\u00e4lzung der Erde um ihre Axe, der sogenannte Sterntag, um ihrer relativ gro\u00dfen Ann\u00e4herung an jene Voraussetzung und um ihrer praktischen Brauchbarkeit willen den Vorzug erlangt hat. Wir wissen heute, dass die genannte Voraussetzung bei keiner physisch m\u00f6glichen Bewegung in absolutem Sinne verwirklicht ist. Um so mehr gestatten wir uns unter Umst\u00e4nden sogar sehr ungleichf\u00f6rmige Bewegungen","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber das Weber'sche Gesetz.\n15\nzur Messung der Zeit zu verwenden, sobald wir nur in der Lage sind, die Resultate der Messungen durch die erforderlichen Correctionen auf die von uns angenommene ideale Norm zur\u00fcckzuf\u00fchren. Auf diese Weise ist allm\u00e4hlich die Voraussetzung eines absolut constanten ob-jectiven Zeitma\u00dfes als im strengsten Sinne unrealisirbar theoretisch wenigstens in den Hintergrund getreten, und an seiner Stelle hat sich die Voraussetzung der absoluten Constanz der Naturgesetze als die eigentliche Bedingung jeder Zeitmessung dargethan. Auf der n\u00e4mlichen Voraussetzung beruht aber die Messung der Masse. Ohne die Annahme, dass an dem Beobachtungsort die Schwere constant sei, w\u00fcrde z. B. die Vergleichung von Gewichten keinen Sinn haben. Um die Richtigkeit dieser Annahme zu best\u00e4tigen, bedient man sich bekanntlich der Pendel versuche. Die exacte Messung der Masse beruht also wieder auf Zeitmessungen und f\u00fchrt damit zugleich auf die Voraussetzungen der letzteren zur\u00fcck. So nimmt denn auch die Mechanik in die rationelle Definition der Masse die Zeit unmittelbar auf, indem sie unter der Einheit der Masse diejenige versteht, die unter der Wirkung der Krafteinheit in der Einheit der Zeit die Geschwindigkeit Eins annimmt.\nBeruhen auf diese Weise alle physikalischen Messungen, die \u00fcber das rein Geometrische hinausgehen, auf Zeitmessungen, so ist nun aber wohl zu beachten, dass wir uns bei der Zeit nicht wie bei der Messung r\u00e4umlicher Strecken durch unmittelbare Anschauung von der Gleichheit nicht-identischer Zeittheile \u00fcberzeugen k\u00f6nnen. Bei der r\u00e4umlichen Messung legen wir entweder einen Ma\u00dfstab successiv an die zu vergleichenden Strecken an , oder wir bringen beide durch geometrische Construction in eine Relation, aus der ihr quantitatives Verh\u00e4ltniss durch eine Reihe in der Anschauung simultan gegebener Beziehungen erschlossen werden kann. Dagegen sind wir an und f\u00fcr sich nicht imStande, zwei Zeitstrecken, die verschiedenen Theilen des unendlichen Zeitverlaufs angeh\u00f6ren, an einander zu messen. Wir k\u00f6nnen nur constatiren, dass gewisse Raumstrecken, die ihnen entsprechen, einander gleich oder nach den Beziehungen, in die wir sie zur Zeit setzen, \u00e4quivalent sind. Daraus kann aber die Gleichheit der Zeitstrecken selbst immer nur unter jener Voraussetzung der zeitlichen Unver\u00e4nderlichkeit der Naturgesetze gefolgert werden. W\u00e4hrend also die r\u00e4umliche Messung in letzter Instanz auf der unmittelbaren","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16\nW. Wundt.\nAnschauung beruht, st\u00fctzt sich die Messung der Zeit und in Folge dessen auch die von Masse, Geschwindigkeit, Kraft u. s. w. au\u00dfer auf die Anschauung noch auf die genannte Voraussetzung.\nEs ist nun von Interesse , hiermit diejenigen F\u00e4lle zusammenzuhalten, in denen schon auf physikalischem Gebiete intensive Gr\u00f6\u00dfen auf anderm Wege als durch Umwandlung in extensive Raum- und Zeitgr\u00f6\u00dfen, wie es die absoluten Ma\u00dfsysteme versuchen, gemessen werden. Diese F\u00e4lle kommen allein bei der Messung der Schall- und Lichtst\u00e4rken vor, die zwar theoretisch mittelst der lebendigen Kraft der Schwingungen in extensiver Form geschehen kann, wobei aber diese theoretisch zu bevorzugende Art der Messung wegen praktischer Schwierigkeiten im allgemeinen nicht ausf\u00fchrbar ist. Man sieht sich darum hier auf die unmittelbare Vergleichung von Empfindungsintensit\u00e4ten angewiesen. Da nun eine quantitative Bestimmung von Empfindungen verschiedener Intensit\u00e4t nicht m\u00f6glich ist, so gehen alle hierher geh\u00f6rigen Methoden darauf aus, zwei Empfindungen von gleicher St\u00e4rke herzustellen, indem man durch irgend welche Hilfsmittel, welche eine quantitative Bestimmung der durch sie hervorgebrachten objectiven Ver\u00e4nderungen gestatten, die eine Empfindung so lange abschw\u00e4cht, bis sie der andern gleich geworden ist. Bei den gew\u00f6hnlichen photometrischen Methoden z. B. verschiebt man die Lichtquelle, um deren Messung es sich handelt, so lange, bis ihr Beleuchtungseffect f\u00fcr unsere Empfindung demjenigen einer Normalkerze gleich geworden ist. Das Verh\u00e4ltniss der objectiven Lichtst\u00e4rke ermisst man dann nach dem Entfernungsverh\u00e4ltniss, unter Zugrundelegung des Gesetzes,' dass die Lichtst\u00e4rke mit dem Quadrat der Entfernung abnimmt. Au\u00dfer einer durch die unmittelbare Anschauung zu gebenden Entscheidung \u00fcber gleich oder ungleich, die der bei den r\u00e4umlichen Messungen vorkommenden Entscheidung entspricht, ist auch hier noch eine Voraussetzung ma\u00dfgebend. Diese bezieht sich aber nicht auf die Unver\u00e4nderlichkeit von Naturgesetzen, wie bei der Zeitmessung, sondern auf die G\u00fcltigkeit eines bestimmten einzelnen Naturgesetzes, welches einen objectiven BewegungsVorgang als Function bestimmter r\u00e4umlicher Bedingungen, im gegebenen Beispiel die lebendige Kraft der Lichtschwingungen als Function der Entfernung von der Lichtquelle, darstellt. Da nun die zu solchem Zweck herbeigezogenen speciellen Naturgesetze zwar","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber das Weber\u2019sohe Gesetz.\n17\ntheoretisch unanfechtbar sind, aber in der Erfahrung durch das Zu-sammentreifen mit andern Naturgesetzen, z. B. durch die Umwandlung der Lichtbewegung in W\u00e4rme, mehr oder minder erhebliche Abweichungen erfahren k\u00f6nnen, so sind die auf diesem Wege entstandenen Insensit\u00e4tsmessungen mit einer gewissen Unsicherheit behaftet , die zwar m\u00f6glicher Weise durch Inbetrachtnahme der stattfindenden Abweichungen verschwinden kann, die es aber doch vollkommen begreiflich macht, dass man auf solche an die unmittelbare Empfindung appellirende Messungen physikalischer Intensit\u00e4ten nur in denjenigen F\u00e4llen zur\u00fcckgreift, wo bei irgend einem Vorgang die unmittelbare Bestimmung der Factoren von Baum, Zeit und Masse nicht m\u00f6glich oder allzu schwierig ist. Neben jener Voraussetzung der G\u00fcltigkeit bestimmter Naturgesetze wird au\u00dferdem stillschweigend noch eine andere, psychologische Voraussetzung gemacht. Sie besteht darin, dass der Zustand unseres Bewusstseins hinreichend constant sei, um zu verschiedenen Zeiten hinreichend gleich sichere Entscheidungen \u00fcber die Gleichheit oder Ungleichheit von Empfindungen zu gestatten. Man kann zwar sagen, dass eine \u00e4hnliche Voraussetzung bei jeder r\u00e4umlichen und noch mehr bei jeder zeitlichen Messung schon vorkommt. Aber theils in Folge der feineren Ausbildung unseres Kaum- und Zeitsinnes , theils in Folge der mannigfacheren Hilfsmittel der Contr\u00f4le, die uns bei ihnen zu Gebote stehen, wird sich doch dieser psychologische Factor bei den Intensit\u00e4tsmessungen vorzugsweise f\u00fchlbar machen.\nDie zuletzt erw\u00e4hnten physikalischen Intensit\u00e4tsmessungen stehen nun den ps y chi s chen Ma\u00dfbestimmungen am n\u00e4chsten. Die letzteren unterscheiden sich haupts\u00e4chlich nur in dem einen wesentlichen Punkte, dass bei ihnen nicht blo\u00df \u00fcber die Gleichheit zweier Empfindungen entschieden wird, sondern dass ungleiche Empfindungen verglichen werden. Dies ist zugleich der Punkt, aus welchem alle Schwierigkeiten, die man in dem psychophysischen Ma\u00dfverfahren gefunden hat, entspringen. Denn die Messung ungleicher Empfindungen scheint auf den ersten Blick der Grundbedingung einer jeden Messung zu widerstreiten, welche Grundbedingung darin besteht, dass das Ungleiche \u00fcberall auf den Fall der Gleichheit zur\u00fcckgef\u00fchrt werde. So messen wir eine Kaumstrecke, indem wir\nWundt, Philos. Studien. II.\t2","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18\nW. Wundt.\neinen gegebenen Ma\u00dfstab mit ihr zur Deckung bringen, die Zeitdauer eines Ereignisses, indem wir dieselbe an einem andern gleichzeitigen in Bezug auf den absoluten Werth seiner Theile genau bestimmten zeitlichen Vorg\u00e4nge abmessen, und endlich die Intensit\u00e4t einer Lichtquelle, indem wir sie einer andern, als Einheit angenommenen Lichtquelle durch r\u00e4umliche Verschiebung gleich machen.\nNichts desto weniger ist dieser Unterschied der psychischen Messung von den physikalischen Messungen nur ein scheinbarer. Zun\u00e4chst vergleichen wir bei jener nicht zwei Empfindungen, sondern zwei Unterschiede je zweier Empfindungen, und in Bezug auf diese findet denn thats\u00e4chlich ein \u00e4hnliches Urtheil der Gleichheit statt. Freilich ist aber zu beachten, dass dieses Urtheil sich nicht auf den Empfindungsunterschied, sondern auf den Merklich-keitsgrad dieses Unterschieds bezieht. Das Urtheil \u00bbzwei gegebene Empfindungsunterschiede sind gleich merklich\u00ab, kann nun ohne allen Zweifel mit demselben Rechte ein Gleichheitsurtheil genannt werden wie die Urtheile \u00bbzwei Raum- oder Zeitstrecken sind gleich lang\u00ab, \u00bbzwei Licht- oder Schallst\u00e4rken sind von gleicher Intensit\u00e4t\u00ab. Ja es bildet sogar jenes Urtheil \u00fcber die Gleichheit von Merk-lichkeitsunterschieden in \u00e4hnlicherWeise die unmittelbar anschaulich gegebene Grundlage des Ma\u00dfverfahrens, wie eine solche sonst nur noch bei der r\u00e4umlichen Messung vorhanden ist, da, wie wir oben sahen, bei der Messung der Zeit, der Masse und der physikalischen Intensit\u00e4t immer noch anderweitige Voraussetzungen betheiligt sind. Nur eine psychologische Voraussetzung ist auch hier vorhanden; dieselbe existirt aber schon in derselben Weise f\u00fcr die physikalische Intensit\u00e4tsmessung. Sie besteht in der Annahme einer gewissen Con-stanz des Bewusstseinszustandes, damit, ebenso wie dort die Auffassung der Gleichheit, so hier diejenige der Merklichkeit von Unterschieden unver\u00e4ndert bleibt. Es ist nat\u00fcrlich sofort zuzugeben, dass die Feststellung einer Gleichheit zweier Gr\u00f6\u00dfen ein einfacherer Act ist als die Feststellung eines gleichen Merklichkeitsunterschieds derselben. Die gr\u00f6\u00dfere Schwierigkeit kann aber nat\u00fcrlich keinen Einwand gegen die M\u00f6glichkeit von Gleichheitsurtheilen \u00fcberhaupt begr\u00fcnden, um so weniger, da solche Urtheile eben thats\u00e4chlich stattfinden. Wohl aber weist dieser Umstand von vornherein auf die Anwendung der statistischen Methode bei allen Versuchen auf diesem Gebiete hin,","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber das Weber\u2019sche Gesetz.\n19\ndamit durch die gro\u00dfe Zahl der Beobachtungen die einzelnen Schwankungen in dem Zustand der Aufmerksamkeit eliminirt werden.\nHiermit ist nun allerdings erst die Berechtigung des Web ersehen Gesetzes, unter Voraussetzung seiner Uebereinstimmung mit den Thatsachen, erwiesen, und die des Fechnersehen bleibt, vorl\u00e4ufig noch dahingestellt. F\u00fcr die Frage der Messbarkeit psychischer Zust\u00e4nde ist dies aber vollkommen zureichend. Wer ein wenden wollte, dass gar nicht die Empfindungen selbst, sondern nur ihre Merklicli-keitsgrade gemessen werden, dem w\u00fcrde einfach zu erwidern sein, dass eben die letzteren diejenigen psychischen Elemente sind, die in diesem Falle \u00fcberhaupt allein messbar sind. Wer eine verkehrte Aufgabe stellt, der darf sich nicht wundern, wenn dieselbe nicht gel\u00f6st wird; aber er hat darum kein Bucht, die L\u00f6sung der richtigen Aufgabe zur \u00fcckzuweisen.\nIst das Weher\u2019sche Ma\u00dfprincip zul\u00e4ssig, so muss nun auf der Grundlage desselben auch eine bestimmte Ma\u00dfeinheit m\u00f6glich sein. Die Feststellung derselben bleibt nat\u00fcrlich, so gut wie die einer jeden physikalischen Ma\u00dfeinheit, willk\u00fcrlich, und sie hat sich \u00fcberdies nach den specifischen Bedingungen der psychischen Messung zu richten. Hier tritt nun die letztere zun\u00e4chst in vollst\u00e4ndige Analogie mit der Messung der Zeit, insofern die Merklichkeitsgrade der Empfindung ebenso wie die Theile der Zeit nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar, n\u00e4mlich an andern Gr\u00f6\u00dfen, mit denen dieselben in einer festen Relation stehen, gemessen werden k\u00f6nnen. F\u00fcr die Zeit ist der Raum diese Gr\u00f6\u00dfe. Wir gewinnen die Zeiteinheit, indem wir einen Theil der als constant vorausgesetzten r\u00e4umlichen Bewegung, die wir der Messung der Zeit zu Grunde legen, willk\u00fcrlich als solche Einheit benutzen. F\u00fcr die Messung der Merklichkeitsstufen der Empfindung ist die physikalische Intensit\u00e4t, die in der eben angedeuteten Weise gegenw\u00e4rtig in der Regel selbst noch unter Zuhilfenahme der Empfindung gemessen wird, jene zu Grunde gelegte Gr\u00f6\u00dfe. Wir messen also die Merklichkeits\u00e4nderung der Empfindung an der ob-jectiven Intensit\u00e4ts\u00e4nderung, die einem bestimmten Merklichkeitsgrade entspricht. Unter dieser Voraussetzung hat Weher die eben merklich werdende Aenderring als Einheit und als Ma\u00df derselben die entsprechende Aenderung des Reizes benutzt. Man kann aber mit demselben Rechte die eben unmerklich werdende Aende-\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\nW. Wundt.\nrung oder eine genau in der Mitte zwischen diesen beiden Punkten gelegene Stelle der Merklichkeitsscala an wenden ; ja es w\u00e4re die Wahl irgend eines anderen Merklichkeitsgrades nicht ausgeschlossen, sobald derselbe die zureichende B\u00fcrgschaft seiner sicheren Auffindung darb\u00f6te. Man k\u00f6nnte z. B. willk\u00fcrlich denjenigen Merkliclikeitsgrad herausgreifen, bei welchem der objective Unterschied der zwei verglichenen Intensit\u00e4ten so klein ist, dass in einer sehr gro\u00dfen Zahl von F\u00e4llen die Sch\u00e4tzung der beiden Reize von dem Verh\u00e4ltniss der Gleichheit nur um eine bestimmte kleine Zahl abweicht. Oder man k\u00f6nnte von zwei sehr verschiedenen Reizst\u00e4rken, z. B. von der Reizschwelle und Reizh\u00f6he, ausgehen und das Intervall zwischen denselben mittelst der Methode der mittleren Abstufungen successiv eintheilen, um dann einen beliebigen Theil als Einheit herauszugreifen. Solche Feststellungen w\u00fcrden zwar unzweckm\u00e4\u00dfig, aber sie w\u00fcrden keineswegs prin-cipiell unm\u00f6glich sein.\nEin Haupteinwand gegen derartige Feststellungen besteht nun aber noch darin, dass sich die so gewonnenen Einheiten nicht beliebig addiren lassen wie die Theile eines Ma\u00dfstabes, und dass daher vorerst und vielleicht f\u00fcr immer die Ausmessung einer beliebigen concreten Empfindung mittelst der gew\u00e4hlten Einheit ein aussichtsloses Problem zu sein scheint. Ist auch dieser Ein wand zun\u00e4chst gegen das Fe ohne r\u2019sche Ma\u00dfprincip erhoben worden, so kann doch nicht geleugnet werden, dass er die Messung der Merklichkeitsstufen ebenfalls trifft. Hier soll nun demselben keineswegs, was sehr wohl geschehen k\u00f6nnte, mit dem Hinweis auf die geringe Ausbildung des ganzen Untersuchungsgebietes begegnet werden. Solche Anweisungen auf die Zukunft sind wenigstens dann nur am Platze, wenn auch jetzt schon irgend ein Zweck der Untersuchung sich nachweisen l\u00e4sst, aus dem m\u00f6glicher Weise allm\u00e4hlich noch andere Zwecke hervorgehen k\u00f6nnen. In der That werden nun aber selbst von denjenigen, welche derartige Einw\u00e4nde erheben, die messenden Versuche Weber\u2019s und seiner Nachfolger keineswegs als v\u00f6llig zweck- und inhaltslos verworfen. Es ist ja auch an und f\u00fcr sich klar, dass es sich hier um Thatsachen der Beobachtung handelt, \u00fcber deren Interpretation man sehr verschiedener Meinung sein kann, die sich aber nicht durch eine theoretische Discussion aus der Welt schaffen lassen. Dem Einwand, dass sich die Empfindungen nicht wie r\u00e4umliche Entfernungen mit der Elle aus-","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"(Jeher das Weber'sehe (iesetz.\n21\nmessen lassen, kann man ruhig mit der Antwort begegnen, dass, so viel sieh bis jetzt sehen l\u00e4sst, eine solche Messung nicht einmal von besonderem Interesse w\u00e4re. Jedes Untersuchungsgebiet bringt wieder seine eigenen Probleme mit sich. Mit der Behauptung, dass die sonst im Vordergrund stehenden Aufgaben in einem neuen Fall gegenstandslos sein w\u00fcrden, ist darum hier gar nichts gethan. Jeder Fall will eben nach seinen eigenen Bedingungen beurtheilt sein.\nIn der That ist es nun leicht ersichtlich, dass sich das Hauptinteresse der Psychophysik auf eine Frage concentrirt, die bei physikalischen Messungen, und speciell bei der sonst mit der psychophysischen Messung die gr\u00f6\u00dfte Analogie darbietenden Messung der Zeit, v\u00f6llig in Wegfall kommt. F\u00fcr unsere Kenntniss des zeitlichen Verlaufs der Naturerscheinungen hat es gar keine Bedeutung zu wissen, wie die verschiedenen Einheiten beschaffen w\u00e4ren, die sich an unseren verschiedenen zeitmessenden Hilfsmitteln heraussteilen w\u00fcrden, wennwir jene Einheiten nach einem und demselben Messungsprincip bestimmen sollten. Angenommen wir setzten, da periodische Bewegungen unsere gew\u00f6hnlichsten Zeitma\u00dfe abgeben, die Dauer einer Periode als die Einheit fest, so w\u00fcrden z. B. die Axendrehung der Erde, die Dauer einer Pendelschwingung, der Schwingung einer Stimmgabel u. dgl. die einander entsprechenden Einheiten sein. Das Verh\u00e4ltniss dieser Einheiten zu einander hat nur in dem Zusammenhang der Untersuchung der einzelnen Bewegungsvorg\u00e4nge, f\u00fcr die Zeitmessung als solche aber gar kein theoretisches Interesse, daher wir hier sofort den verschiedenen Einheiten eine einzige, der die Bewegung der Erde zu Grunde liegt, suhstituiren. Ganz anders im Gebiete der psychophysischen Messung. Hier concentrirt sich gegenw\u00e4rtig das Hauptinteresse gerade auf die Frage, wie sich theils in den verschiedenen Sinnesgehieten, theils in einem und demselben Sinnesgebiet unter verschiedenen Bedingungen die physischen Beizst\u00e4rken verhalten, die einer nach einem und demselben Princip festgestellten psychischen Einheit entsprechen. Als psychische Einheit wird dabei, wie wir sahen, ein constanter Merklichkeitsunterschied zweier Empfindungen ben\u00fctzt. Ob man dazu den eben merklichen oder irgend einen andern constanten Unterschied nimmt, ist an sich ebenso gleichg\u00fcltig, als ob man die Schwingungszahlen vibrationsf\u00e4higer K\u00f6rper nach ganzen oder halben Schwingungen misst. Nur muss die einmal","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\nW. Wundt.\ngew\u00e4hlte Einheit f\u00fcr eine bestimmte Untersuchung festgehalten werden.\nNun ist es eigentlich selbstverst\u00e4ndlich, dass man die Berechtigung eines Untersuchungsgebietes nicht nach Gesichtspunkten beur-theilen darf, die ihm selbst fremd sind. Dennoch ist dies immer wieder geschehen , sobald man die Zwecke der bekannten physikalischen Messnngsverfahren auf die psychophysische Messung \u00fcbertrug. Entschlie\u00dft man sich aber einmal, dieses Gebiet nach seinen eigenen Voraussetzungen zu heurtheilen, so enth\u00e4lt schon die Thatsache des W eher\u2019schen Gesetzes eine zureichende Widerlegung der gemachten Ein w\u00fcrfe. Denn oh man nun dieses Gesetz als ein in voller Strenge g\u00fcltiges oder als eine blo\u00dfe Ann\u00e4herung, als ein allgemeines oder als ein specielles ansehen, oh man ihm eine physiologische oder psychologische oder psychophysische Deutung geben m\u00f6ge, \u2014 dass die auf dasselbe bezogenen Messungsresultate irgend eine Bedeutung besitzen, gibt man eigentlich schon zu, indem man \u00fcber sie discutirt; ja seihst derjenige, der die Richtigkeit des Weber\u2019schen Gesetzes ganz leugnet, muss, wenn sein Widerspruch eine Grundlage haben soll, sich wiederum auf Messungen st\u00fctzen, die nach dem n\u00e4mlichen Princip ausgef\u00fchrt sind.\nAber die Anwendung des psychophysischen Ma\u00dfprincips beschr\u00e4nkt sich durchaus nicht auf das Weber\u2019sche Gesetz. In den Untersuchungen \u00fcber den Ortssinn, \u00fcber den Zeitsinn, \u00fcber den Umfang des Bewusstseins, kurz \u00fcberall da, wo es sich darum handelt, irgend eine Art von Abh\u00e4ngigkeit zwischen den physischen Bedingungen unserer Vorstellungen und diesen seihst festzustellen, \u00fcberall m\u00fcssen wir uns des Princips bedienen, dass wir die Aenderungen der psychische Effecte nach constanten Merklichkeitsgraden derselben ahsch\u00e4tzen. Von allen diesen Untersuchungsgehieten m\u00fcsste daher behauptet werden, dass sie nicht existiren, oder dass ihre Resultate auf T\u00e4uschung beruhen, wenn man das Weber\u2019sche Ma\u00dfprincip umsto\u00dfen wollte.","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber das Weber\u2019sche Gesetz,.\n23\n3. Die Bedingungen f\u00fcr die Zur\u00fcckf\u00fchrung des Weber\u2019schen auf das Fechner\u2019sche Mafsprincip.\nDas Weber\u2019 sehe Ma\u00dfprincip sagt aus, dass eben merkliche Unterschiede der Empfindung in Bezug auf den Grad ihrer Merklich-keit einander gleichgesetzt werden k\u00f6nnen. Gegen dieses Ma\u00dfprincip l\u00e4sst sich selbstverst\u00e4ndlich nichts einwenden. Dagegen ist damit noch nicht die Berechtigung des Fechner\u2019sehen Ma\u00dfprincips dar-gethan, nach welchem gleich merkliche Unterschiede als gleich gro\u00dfe Unterschiede der Empfindung betrachtet werden k\u00f6nnen. Die Pr\u00fcfung dieser Frage setzt zun\u00e4chst die Untersuchung der Bedingungen voraus, welche zu dem Weber\u2019schen Princip hinzukommen m\u00fcssen, wenn aus ihm das Fe chner\u2019 sehe hervorgehen soll.\nNehmen wir vorl\u00e4ufig an, es finde keine Proportionalit\u00e4t zwischen dem Grad der Merklichkeit und der Gr\u00f6\u00dfe des Unterschieds zweier Empfindungen statt, so w\u00fcrde die einfachste Annahme sein, dass die Gr\u00f6\u00dfe der Unterschiede proportional den Empfindungen zunehmen m\u00fcsse, wenn die Grade der Merklichkeit gleich bleiben sollen. Es wird gen\u00fcgen, wenn wir statt aller andern m\u00f6glichen diese einfachste Annahme untersuchen. Sie findet in der schon oben angef\u00fchrten, dem Plateau\u2019 sehen Gesetz zu Grunde liegenden Ma\u00dfbeziehung\nJ R , JE R\tk' E\nihren Ausdruck. Denn bezeichnet in derselben J R den eben merklichen Reizunterschied, J E den eben merklichen Empfindungsunterschied, so sagt diese Formel offenbar aus, dass einerseits der einem bestimmten J E entsprechende Werth J R gem\u00e4\u00df dem W e b e r \u2019 sehen Gesetze mit wachsendem R zunimmt, und dass andrerseits der einem bestimmten J R entsprechende Werth J E mit wachsendem E zunimmt. Am klarsten geht das Verh\u00e4ltniss des Fechner\u2019 sehen und des Plateau\u2019 sehen Ma\u00dfprincips hervor aus den Beziehungen :\nJ R JE\n= k.\nR und\nJ R JE\nk.\nR\n\u00cb\nDa nach den vorangegangenen Er\u00f6rterungen niemals die Werthe von J E und \u00cb, sondern immer nur diejenigen von J R und R unmittelbar gemessen werden k\u00f6nnen, so enth\u00e4lt die erste Gleichung nur","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nW. Wundt.\neine, die zweite aber zwei Unbekannte. Nun ist nach dem Weber sehen Gesetze\nJ R \n\u2014g- = Const.\nUnter der Annahme der G\u00fcltigkeit desselben bestehen also in beiden F\u00e4llen f\u00fcr die Werthe der Unbekannten die Voraussetzungen\nJE\nJ E = Const, und \u2014= Const.\n\u00dcj\nDer wesentliche Unterschied dieser Gleichungen liegt somit darin, dass man die n\u00e4mlichen Unterschiede im einen Fall als absolute Unterschiede zweier Empfindungen, im andern als Verh\u00e4ltnisse derselben bezeichnet. So f\u00fchrt in der That Plateau die Erscheinung, dass ein Kupferstich bei Tageslicht und bei Gaslicht nicht wesentlich ver\u00e4ndert erscheine, auf das gleiche Verh\u00e4ltnis, Helmholtz auf den gleichen Unterschied von Licht und Schatten zur\u00fcck.\nDieses letzte Beispiel zeigt aber zugleich deutlich die eigentliche Quelle des hier vorliegenden Widerspruchs. Wenn man von einer Zeichnung sagt, dass an ihr das Verh\u00e4ltniss von Licht und Schatten bei verschiedener Beleuchtung dasselbe bleibe, so denkt man dabei unwillk\u00fcrlich au das Verh\u00e4ltniss der objectiven Lichtintensit\u00e4ten. Wir wissen aus Erfahrung, dass die Zeichnung ein bestimmtes objectives Verh\u00e4ltniss von Licht und Schatten zur Darstellung bringen soll, und wir sagen daher, dass dieses Verh\u00e4ltniss unge\u00e4ndert bleibe, wenn keine merklichen Ver\u00e4nderungen in unserer Empfindung ein-treten. Letzteres ist aber so lange der Fall, als die Helligkeit von Licht und Schatten um gleich viel, d. h. um gleiche absolute Unterschiede sich \u00e4ndert. Wo solche objective Momente der Beurtheilung fehlen, da kommt auch die Versuchung, dem Unterschied das Verh\u00e4ltniss zu substituiren, in Wegfall. Kein Astronom d\u00fcrfte z. B. jemals auf den Gedanken verfallen sein, die arithmetische Reihe der Sterngr\u00f6\u00dfen oder scheinbaren Lichtst\u00e4rken in eine geometrische umzuwandeln. Seihst bei den von Delboeuf1) an rotirenden Scheiben nach der Methode der mittleren Abstufungen angestellten Versuchen wird man\n1) \u00c9tude psychophysique. Bruxelles 1873. (M\u00e9m. de l\u2019Acad. roy. de Belgique. 1873.)","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber das Weber\u2019sche Gesetz.\n25\nkaum daran denken, die Lichtst\u00e4rke des mittleren Rings subjectiv anders zu bestimmen als so, dass man ihr den gleichen Unterschied von dem \u00e4u\u00dferen Ring und der inneren Fl\u00e4che anweist. Sogar Plateau hat dies gethan, und er hat daher ausdr\u00fccklich anerkannt, dass die Versuche von Delboeuf gegen seine Auffassung entscheiden, obgleich er mit demselben Rechte wie hei der verschiedenen Beleuchtung eines Kupferstichs offenbar auch hier von einem gleichen Ver-h\u00e4ltniss der Lichtst\u00e4rke h\u00e4tte reden k\u00f6nnen. Hier hat eben das einzig m\u00f6gliche Princip der Vergleichung von Empfindungen in Folge der Analogie mit sonstigen Gr\u00f6\u00dfensch\u00e4tzungen sich mit unwiderstehlicher Gewalt Geltung verschafft. Wenn wir drei Empfindungen n. b und c so abstufen, dass l genau die Mitte zwischen a und c h\u00e4lt, so m\u00fcssen wir selbstverst\u00e4ndlich die absolute Gr\u00f6\u00dfe des Unterschieds zwischen a und h gleichsetzen der absoluten Gr\u00f6\u00dfe des Unterschieds zwischen b und c. Wir w\u00fcrden alle Principien der Gr\u00f6\u00dfenvergleichung auf den Kopf stellen, wenn wir anders verf\u00fchren. Nun sind aber auch die eben merklichen Unterschiede ohne Zweifel als gleich merkliche Unterschiede zu statuiren. In diesem Sinne ist also gegen die Umwandlung des Weber\u2019sehen in das Fechner\u2019sche Ma\u00dfprincip nichts einzuwenden, sondern diese Umwandlung beruht auf dem n\u00e4mlichen Grunds\u00e4tze, den wir hei jeder physikalischen Messung zur Anwendung bringen, auf dem Grunds\u00e4tze, dass unsere Beobachtung oder anders ausgedr\u00fcckt das Merklichwerden der Erscheinungen die einzige Quelle unserer Kenntniss derselben ist, und dass wir daher, so lange die sub-jectiven Bedingungen unserer Beobachtung constant bleiben, \u00fcbereinstimmenden Erscheinungen auch eine \u00fcbereinstimmende Bedeutung beizumessen haben.\nAllerdings setzt nun aber die Constanz der suhjectiven Bedingungen unserer Beobachtung gerade im vorliegenden Fall, wo die der Beobachtung unterworfenen Erscheinungen seihst subjectiver Natur sind, der G\u00fcltigkeit des erw\u00e4hnten Grundsatzes und damit auch der G\u00fcltigkeit des Fe chner\u2019sehen Ma\u00dfprincips gewisse Schranken. Mehr als in andern F\u00e4llen wird n\u00e4mlich zun\u00e4chst hier die Bedingung eines constanten Zustandes der Aufmerksamkeit erf\u00fcllt sein m\u00fcssen. Namentlich bei denjenigen Methoden, bei denen es sich um die Feststellung eben merklicher oder ihnen nahe stehender Unterschiede handelt, bedingen nat\u00fcrlich die Schwankungen der Aufmerksamkeit","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nW. Wundt,\nsehr erhebliche Fehler, denn dieselben ver\u00e4ndern nicht nur das beobachtende Subject, sondern gleichzeitig so zu sagen das beobachtete Object. Durch Sorgfalt und vor allem durch eine hinreichende Zahl von Beobachtungen wird aber der Einfluss. dieser Schwankungen immer in zureichender Weise eliminirt werden k\u00f6nnen.\nAnders verh\u00e4lt es sich mit einer zweiten Bedingung. Wir haben durchaus keinen Grund vorauszusetzen, dass sich unser Bewusstsein gegen\u00fcber verschiedenen Sinnesgebieten oder sogar gegen\u00fcber den verschiedenen Empfindungsqualit\u00e4ten eines und desselben Sinnes durchaus gleichartig verhalte. Die Erfahrung lehrt, dass es gegen\u00fcber jedem Sinnesgebiet eine Art dauernder Disposition der Aufmerksamkeit gibt, welche haupts\u00e4chlich von der Uebung abh\u00e4ngig zu sein scheint. Wie demnach bei einer und derselben Empfindungsqualit\u00e4t in Folge sinkender Aufmerksamkeit die Schwellenwerthe vergr\u00f6\u00dfert werden, so'wird in solchen F\u00e4llen eine dauernde Erh\u00f6hung dieser Werthe in Folge der ung\u00fcnstigen Apperceptionsbedingungen der betreffenden Empfindungen anzunehmen sein, ein Unterschied, f\u00fcr den es ohne Zweifel an physiologischen Substraten in den centralen Endigungsformen der Sinnesnerven nicht fehlen wird. So steht ja nach bekannten Erfahrungen auch die extensive Unterscheidungsf\u00e4higkeit des Ortssinnes der Haut theils wegen der g\u00e4nzlich abweichenden objectiven Bedingungen der Beizeinwirkung theils wegen geringerer Uebung weit hinter derjenigen des Gesichtssinnes zur\u00fcck. Aehnlich aber werden wir uns auf intensivem Gebiete das Verh\u00e4lt-niss zwischen Druck- und Licht- oder Schallempfindlichkeit oder sogar innerhalb des n\u00e4mlichen Sinnes zwischen der Lichtempfindlichkeit der peripherischen und der centralen Netzhauttheile zu denken haben. F\u00fcr derartige Vergleichungen heterogener oder verschieden localisirter Empfindungen kann das Princip, dass gleich merklichen gleich gro\u00dfe Unterschiede entsprechen, nicht mehr als g\u00fcltig anerkannt werden. Denn so sehr wir dieses Princip bei der Vergleichung von Intensit\u00e4ten einer und derselben Qualit\u00e4t fortw\u00e4hrend anwenden und auf die Hilfe unserer Sinneswahrnehmungen bei der Sch\u00e4tzung \u00e4u\u00dferer Vorg\u00e4nge g\u00e4nzlich verzichten m\u00fcssten, wenn wir es aufgeben wollten, so sicher wenden wir dasselbe bei der Vergleichung verschiedenartiger Sinnes-eindr\u00fccke nicht an, weil wir hier durch eine solche Anwendung uns in fortw\u00e4hrende Widerspr\u00fcche mit der Erfahrung verwickeln w\u00fcrden.","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"Deber das Weber\u2019sche Gesetz.\n27\nNiemanden f\u00e4llt es ein zu behaupten, dass ein eben merklicher Druckunterschied f\u00fcr unsere Empfindung den n\u00e4mlichen absoluten Werth besitze, wie die eben merklichen Licht- oder Schallunterschiede. Die meisten Gemeinempfindungen m\u00fcssen offenbar eine bedeutende Intensit\u00e4t erreichen, um uns zum Bewusstsein zu kommen, und ebenso m\u00fcssen die intensiven oder qualitativen Unterschiede derselben sehr bedeutend sein, wenn sie bemerkt werden sollen. Aehnlich ist die Unterschiedsempfindlichkeit auf den Seitentheilen der Netzhaut erheblich geringer als im centralen Sehfeld ; und auch hier beruht diese Differenz wahrscheinlich darauf, dass die Empfindungsunterschiede gr\u00f6\u00dfer sein m\u00fcssen, wenn sie bemerkt werden sollen. Denn einerseits besteht in Bezug auf die Reizschwelle kein erheblicher Unterschied ; nach gewissen astronomischen Beobachtungen soll sogar auf den Seitentheilen die absolute Empfindlichkeit gr\u00f6\u00dfer sein als in der Netzhautmitte. Andrerseits erscheint ein Licht von bestimmter St\u00e4rke im indirecten Sehen ebenso hell wie im directen.\t^ /\nW\u00e4hrend hiernach das W e b e r \u2019 sehe Ma\u00dfprincip ein allgemeing\u00fcltiges ist, finden f\u00fcr die Uebertragung desselben in das Fechner\u2019-sche beschr\u00e4nkende Bedingungen statt, wie solches \u00fcbrigens auch in der Ma\u00dfformel\n, J R . ,,\nk--R=JE\nschon angedeutet liegt, da f\u00fcr die Constante k selbstverst\u00e4ndlich immer nur f\u00fcr ein bestimmtes eng begrenztes Gebiet von Empfindungen der n\u00e4mliche Werth vorausgesetzt ist. Es entsteht nun aber weiterhin die Frage, wie eng oder wie weit die Grenzen der Substitution des zweiten Ma\u00dfprincips f\u00fcr das erste gezogen werden d\u00fcrfen.\nZun\u00e4chst gilt der Grundsatz der Aequivalenz gleich merklicher und gleicher Unterschiede offenbar \u00fcberall da, wo es sich um reine Intensit\u00e4ts\u00e4nderungen einer qualitativ constant bleibenden Empfin dung handelt. Auf diesen Fall findet ganz der oben ausgesprochene Satz seine Anwendung, dass die St\u00e4rke der Empfindung nach dem Grad ihrer Merklichkeit gesch\u00e4tzt wird, weil eine andere Art der Sch\u00e4tzung unm\u00f6glich ist, da nur diese mit der bei jeder objectiven Verwerthung unserer Sinnes Wahrnehmungen stattfindenden Voraussetzung \u00fcbereinstimmt. Ebenso verh\u00e4lt es sich bei qualitativen Aenderungen von stetigem Charakter, wenn","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28\nW. Wundt.\ngleichzeitig die Intensit\u00e4t der Empfindung constant bleibt. Es hat zwar in dieser Beziehung von Kries geltend gemacht, dass die Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr Tonh\u00f6hen sehr betr\u00e4chtlich schwanken k\u00f6nne, ohne dass deshalb die Intervalle der Octave, Quinte etc. sich \u00e4nderten.1) Hiergegen ist jedoch zu bemerken, dass die Festsetzung dieser Intervalle mit der Unterschiedsempfindlichkeit gar nichts zu thun hat, sondern auf der durch das Zusammenfallen gewisser Partialt\u00f6ne bedingten Klangverwandtschaft beruht. Wie wenig aber Unterschiedsempfindlichkeit und Klangve\u00ef-wandtschaft Zusammengehen, davon kann man sich hei der Untersuchung der tiefsten und h\u00f6chsten T\u00f6ne \u00fcberzeugen. Man kann hier leicht eine Grenze finden, wo das Intervall der Quinte oder sogar der Octave genau dem eben merklichen Unterschiede entspricht. Geht man \u00fcber diese Grenze, so h\u00f6rt nat\u00fcrlich auch die Unterscheidung der Intervalle auf, noch unmittelbar vor derselben wird aber das Intervall zwar etwas unsicher, doch selten nur falsch aufgefasst. Niemand, der die Hauptintervalle einer Octave einerseits etwa zwischen 250 und 500 und andrerseits zwischen 8000 und 16 000 oder gar zwischen 16 000 und 32 000 Schwingungen an abgestimmten Stimmgabeln pr\u00fcft, wird sich nun dem Eindruck verschlie\u00dfen, dass nicht nur im ersten Fall die Zahl wohl unterscheidbarer Abstufungen der Empfindungen sehr viel gr\u00f6\u00dfer ist als in dem letzteren, sondern dass auch dort Grundton und Octave, abgesehen von dem nat\u00fcrlich constant bleibenden Charakter der Klangverwandtschaft, eine entschiedener ausgepr\u00e4gte Verschiedenheit enthalten als hier. DerWiderspruch, welchen von Kries zu finden glaubt, dass man eine sehr verschiedene Zahl gleich merklicher Unterschiede durchlaufen k\u00f6nne, um schlie\u00dflich dennoch hei dem n\u00e4mlichen Endunterschied anzulangen, ergibt sich also hier nicht im mindesten.\nWesentlich andere Bedingungen treten dagegen ein. wenn Intensit\u00e4t und Qualit\u00e4t einer Empfindung gleichzeitig sich ver\u00e4ndern. Zun\u00e4chst kann hier selbstverst\u00e4ndlich nicht daran gedacht werden, dass 1) Qualit\u00e4ts\u00e4nderungen hei verschiedener Intensit\u00e4t oder 2) Intensit\u00e4ts\u00e4nderungen verschiedener Empfindungsqualit\u00e4ten mit einander vergleichbar seien. In ersterer Beziehung ist es\n1) a. a. O. S. 282.","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"Lieber das Weber\u2019sche Gesetz.\n29\neine bekannte Erfahrung, dass die Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr T\u00f6ne von mittlerer St\u00e4rke und f\u00fcr Farben von mittlerer Lichtintensit\u00e4t gr\u00f6\u00dfer ist als f\u00fcr T\u00f6ne und Farben von sehr gro\u00dfer oder sein-kleiner Schall- und Lichtintensit\u00e4t. In der zweitgenannten Beziehung verbieten die abweichenden physikalischen und physiologischen Reizbedingungen eine Vergleichung. So ist die Lage der Reizschwelle und der Reizh\u00f6he hei den verschiedenen T\u00f6nen eine h\u00f6chst abweichende, und es ist sehr wahrscheinlich, dass dem auch ein verschiedener Verlauf der Unterschiedsempfindlichkeit entspricht. Bei den Farben kommen dazu noch die eigenthiimliehen Bedingungen der Netzhautreizung, welche zu der Voraussetzung f\u00fchren, dass mit jeder Farbenerregung zugleich eine farblose Erregung gesetzt werde, die nun aber mit wachsender Lichtst\u00e4rke bei den verschiedenen Farben mit sehr verschiedener Geschwindigkeit zunimmt. Wenn daher von Kries bemerkt, da die Unterschiedsempfindlichkeit im brechbaren Theil des Spektrums gr\u00f6\u00dfer sei als im weniger brechbaren, so m\u00fcsste man streng genommen erwarten, dass bei gleichm\u00e4\u00dfiger Verst\u00e4rkung zweier Farben die brechbarere \u00fcherwiege, w\u00e4hrend doch das Gegentheil der Fall sei1;, so ist dieser Einwand deshalb hinf\u00e4llig, weil hier das Rechner\u2019sehe Ma\u00dfprincip auf Ver\u00e4nderungen der Empfindung angewandt wird, die sich aus verschiedenen, vorerst nicht von einander isolirbaren Coinponenten zusammensetzen. Wir k\u00f6nnten mit demselben Rechte die Unterschiedsempfindlichkeiten bei einem tieferen Tone c und einem h\u00f6heren c vergleichen wollen, w\u00e4hrend man gleichzeitig in einem unbekannten Verh\u00e4ltnisse Klangfarbe und Klangst\u00e4rke ver\u00e4nderte.\nHiernach ergiehtsich als das Resultat unserer Er\u00f6rterungen der Satz : eine Uebertragung des Weber'schen in das Fecliner\u2019sehe Ma\u00dfprincip ist nur dann gestattet, wenn die mit einander verglichenen Empfindungsunterschiede einer und derselben Reihe einsinniger, unter const an ten zeitlichen und r\u00e4umlichen Bedingungen stattfindender Ver\u00e4nderungen angeh \u00f6re n. So erheblich auch durch diese Bedingung die Anwendbarkeit des Fechner\u2019sehen Princips f\u00fcr das \u00bbMa\u00df von Empfindungen\u00ab eingeschr\u00e4nkt wird, so ist dagegen nicht zu verkennen, dass andrerseits\n1) A. a. O. S. 281.","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30\nW. Wundt.\nin derselben die Anregung zu einer Reihe neuer psychophysischer Probleme gelegen ist. Denn es wird sich nun um die Aufgabe handeln, in denjenigen F\u00e4llen, in denen das Fechner\u2019sehe Ma\u00dfprincip nicht anwendber ist, andere Hilfsmittel f\u00fcr die Vergleichung von Empfindungen aufzusuchen, und es l\u00e4sst sich vermuth en, dass die Verbindung der so erhaltenen mit den auf den einzelnen Empfindungsgebieten nach dem Web er\u2019sehen Ma\u00dfprincip gewonnenen Resultaten zu neuen Ergebnissen f\u00fchren wird. So liegt es z. B. nahe, als Vergleichungsma\u00dfstab f\u00fcr direct und indirect gesehene Lichteindr\u00fccke den aufzustellen, dass wir eine Gleichheit der Empfindungen statuiren, wenn ein Unterschied zwischen dem direct und dem indirect gesehenen Eindruck nicht mehr wahrgenommen wird. Daraus wird sich aber ein Verlauf der relativen Empfindungs\u00e4nderung ergeben, dessen Vergleichung mit der relativen Unterschiedsempfindlichkeit nicht ohne Interesse sein d\u00fcrfte.\nSchlie\u00dflich ist darauf hinzuweisen, dass die unter den oben bemerkten beschr\u00e4nkenden Bedingungen gestattete Ueberf\u00fchrung des Weber\u2019schen in das Fechner\u2019sehe Ma\u00dfprincip immerhin noch auf einer Voraussetzung beruht, die aber, insofern sie vollst\u00e4ndig den bei der Messung von Zeit, Masse und physikalischer Intensit\u00e4t stattfindenden Voraussetzungen parallel geht und als gleich berechtigt mit denselben anerkannt werden muss, keinen Einwand gegen das Ma\u00dfprincip selbst begr\u00fcndet. Diese Voraussetzung besteht darin, dass bei constantem Zustand unserer Aufmerksamkeit gleichen Ver\u00e4nderungen unserer Wahrnehmung gleiche Ver\u00e4nderungen ihrer Ursachen entsprechen. Auf die objecti-ven Ursachen der Wahrnehmungen bezogen, bedienen wir uns dieses Grundsatzes bei jeder Verwerthung derselben zu praktischer oder theoretischer Weiterkenntniss. Auf die subjectiven Ursachen der Wahrnehmungen, die Empfindungen bezogen beruht auf dem n\u00e4mlichen Grundsatz das Fechner\u2019sehe Ma\u00dfprincip in der Psycho-physik. Schlie\u00dflich aber ruht dieser Grundsatz selbst wieder auf der allgemeinen Voraussetzung einer durchg\u00e4ngigen Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit unserer geistigen Vorg\u00e4nge, welche der als Grundlage der Zeitmessung dienenden Voraussetzung der durchg\u00e4ngigen Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit des objectiven Geschehens vollst\u00e4ndig entspricht.","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber das We.ber\u2019sche Gesetz.\n31\n4. Pie psychologische Bedeutung des Weher\u2019sch en Gesetzes.\nDurch die obigen Betrachtungen ist auch die Frage nach dem Verh\u00e4ltniss des Fechner\u2019schen zu dem Weber\u2019schen Gesetze beantwortet. Das W e b e r\u2019sche Gesetz bezieht sich nicht auf die Empfindungenselbst, sondern auf unsere Auffassung derselben : es ist, wie ich es anderweitig ausgedr\u00fcckt habe, keinEmpfindungs-, sondern ein Apperceptionsgesetz1). Das Fechner\u2019sche dagegen hat den Charakter eines Empfindungsgesetzes. Schon aus diesem Grunde kann nur von einer thats\u00e4chlichen Best\u00e4tigung des Weber\u2019schen, nicht aber des Fechner\u2019schen Gesetzes die Rede sein. Denn wie sich unsere Empfindungen abgesehen von ihrer Apperception verhalten, bleibt uns an sich absolut unbekannt. Die Frage nach der Berechtigung einer Ueberf\u00fchrung des Weber\u2019schen in das Fechn ersehe Princip kann darum nur den Sinn haben festzustellen, unter welchen Bedingungen wir berechtigt sind, unsere Apperception von Empfindungsunterschieden als ein Ma\u00df der Empfindungsunterschiede selbst anzusehen. Die obige Er\u00f6rterung zeigt, dass dies, auch unter Voraussetzung einer absoluten Constanz des Bewusstseinszustandes, nur bei einsinnigen, unter constanten zeitlichen und localen Bedingungen stattfindenden Aenderungen der Empfindung der Fall ist, also hei Intensit\u00e4ts\u00e4nderungen einer qualitativ unver\u00e4nderlichen oder auch bei Qualit\u00e4ts\u00e4nderungen einer intensiv unver\u00e4nderlichen und \u00fcberdies jedesmal unter den n\u00e4mlichen physiologischen Reizbarkeitsbedingungen stattfindenden Empfindung. Unter dieser Einschr\u00e4nkung f\u00e4llt aber f\u00fcr uns das Fechner\u2019sche mit dem Weber\u2019schen Princip einfach deshalb zusammen, weil die Voraussetzung einer Proportionalit\u00e4t der Apperceptionseffecte mit ihren Ursachen unter den angegebenen Bedingungen einer jeden, auch physikalischen Ma\u00dfbestimmung zu Grunde liegt, indem auf dieser Voraussetzung unsere ganze Auffassung der Au\u00dfenwelt ruht. Das Recht, eine solche fundamentale Voraussetzung aufzugehen, hat man nur dann, wenn dieselbe in Widerspr\u00fcche verwickelt. Solche Widerspr\u00fcche treten aber in der That ein, wenn die apperceptive Vergleichung \u00fcber die oben angegebenen Gren-\n1) Physiologische Psychologie. 2. Aufl. I, S. 351.","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nW. Wundt.\nzen ausgedehnt wird, in welche die praktische Yerwerthung der Empfindungen bei der Sinneswahrnehinung sie bereits eingeschlossen hat.\nZu den angegebenen Momenten kommt jedoch noch ein weiteres, welches im allgemeinen f\u00fcr die theoretische Yerwerthung der psychophysischen Thatsachen der Webe r\u2019schen Eormulirung vorder F e chn er\u2019schen den Vorzug verleiht. Eine psychologisch verst\u00e4ndliche Deutung l\u00e4sst sich n\u00e4mlich dem Webe r\u2019schen Gesetz dann geben, wenn man es, ganz im Sinne der eigenen Auffassung Weber\u2019s, als ein Apperceptionsgesetz ansieht, welches anzeigt, dass wir alle in gegenseitiger Beziehung stehenden intensiven Zust\u00e4nde des Bewusstseins ihrer Gr\u00f6\u00dfe nach nur in Relation zu einander bestimmen. Diesen Charakter eines Apperceptionsgesetzes tr\u00e4gt aber nur die urspr\u00fcngliche Weber\u2019sche Formulirung an sich; die Fechner\u2019sche hat denselben verloren, und dem entsprechend ist auch bei Fechner eine eigenth\u00fcmliche psycho-physische Interpretation an die Stelle getreten, welche weder zu bekannten psychologischen noch zu physiologischen Thatsachen Beziehungen darbietet.\nNach Fechner\u2019s Auffassung besitzt n\u00e4mlich das Weber\u2019sehe Gesetz den Charakter eines Fundamentalgesetzes, welches gerade deshalb, weil es einzig und allein die Wechselbeziehung des Physischen und Psychischen normirt, eine Ableitung aus anderweitigen physiologischen oder psychologischen Thatsachen nicht zul\u00e4sst. Man hat mehrfach gegen diese Auffassung eingewandt, sie stehe mit Fechner\u2019s eigener metaphysischer Grundansicht, nach der ein durchg\u00e4ngiger Parallelismus der k\u00f6rperlichen und geistigen Vorg\u00e4nge existiren soll, im Widerspruch. Dennoch ist ein solcher Vorwurf wohl nicht gerechtfertigt. Denn jener Parallelismus schlie\u00dft gerade die Existenz einer functionellen Beziehung ein, insofern der allgemeine Begriff der letzteren eben nur die durchg\u00e4ngige Beziehung einer bestimmten Reihe von Ver\u00e4nderungen zu einer andern Reihe von Ver\u00e4nderungen enth\u00e4lt. Dagegen wird die Voraussetzung einer Proportionalit\u00e4t der Ver\u00e4nderungen dadurch nicht unbedingt gefordert. Fechner selbst hat \u00fcbrigens ausdr\u00fccklich betont, dass die Psychophysik nur die erfahrungsm\u00e4\u00dfigen Beziehungen zwischen Leib und Seele ihren Entwickelungen zu Grunde legel). W\u00e4re jener Ein-\n1) Elemente der Psychophysik, I, S. 6.","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"U\u00dfber das Weber\u2019sche Gesetz.\n33\nwand berechtigt, so w\u00fcrde er daher zun\u00e4chst doch mehr die metaphysische Grundansicht Fe diner\u2019s als seine Auffassung des Web ersehen Gesetzes in Frage stellen. Dagegen wird man schon vom empirischen Standpunkte aus anerkennen m\u00fcssen, dass, sobald sich eine rein physiologische oder psychologische Deutung des letzteren auffinden l\u00e4sst, damit seine Stellung als psychophysisches Grundgesetz in der von F e ohne r angenommenen Weise nicht vereinbar ist, w\u00e4hrend von jenen Deutungen selbst die eine die andere nicht notli-wendig ausschlie\u00dft. Die metaphysische Ansicht F1 ec hue r\u2019s , die f\u00fcr die sinnlichen Elemente des Seelenlebens in der That eine gro\u00dfe Wahrscheinlichkeit besitzt, w\u00fcrde daher mit einer solchen zweiseitigen Erkl\u00e4rung mindestens ebenso gut, wenn nicht besser vereinbar sein als mit Fechner\u2019s eigner Auffassung. Zum Theil schon in \u00e4lteren psychologischen Arbeiten, namentlich aber in meiner \u00bbphysiologischen Psychologie\u00ab habe ich nun zu zeigen gesucht, dass das W e b e r\u2019sche Gesetz, sobald man es nicht als eigentliches Empfindungsgesetz, sondern in dem oben angedeuteten Sinne als Apperceptionsgesetz auffasst . mit zahlreichen andern Thatsachen einem allgemeineren Gesetz der relativen Auffassung innerer Zust\u00e4nde und Vorg\u00e4nge sich unterordnet. Daneben versuchte ich in dem letzterw\u00e4hnten Werk in einigen hypothetischen Ausf\u00fchrungen anzudeuten, wie man sich gleichzeitig auch physiologisch dasselbe fundirt denken k\u00f6nnte.\nIn der neuesten werth vollen lie vision, der Fechner das ganze Gebiet unterzogen hat1), ist nun von dem hochverehrten Begr\u00fcnder der Psychopliysik auf jene psychologische Deutung nicht weiter eingegangen, dagegen die hypothetische Veranschaulichung der begleitenden physiologischen Vorg\u00e4nge eingehender besprochen werden. Nur in Bezug auf meine Auffassung der Apperception erhebt Fechner einige Einw\u00e4nde, die ich wohl der psychologischen Seite zurechnen darf, und die einige Erl\u00e4uterungen erforderlich machen.\nAusgehend von der experimentellen Analyse des Bewusstseins, habe ich die Apperception zun\u00e4chst mit R\u00fccksicht auf ihren Effect als denjenigen Vorgang definirt, durch welchen die Klarheit einer im Bewusstsein anwesenden, zuvor percipirten Vorstellung erh\u00f6ht werde. Ich habe sodann, auf die von Fechner selbst schon geschilderten\n1) Revision der Hauptpunkte der Psychopliysik. Leipzig 1882. Wandt, Philos. Studien. II.\t3","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34\nW. Wundt.\nInnervationsempfindungen hinweisend, welche hei gespannter Aufmerksamkeit beobachtet werden, als physiologisches Substrat der sinnlichen Vorg\u00e4nge, welche die Apperception begleiten, eine centrifugale, theils sensorische theils motorische Innervation vorausgesetzt, welche von einem bestimmten, wahrscheinlich im Vorderhirn gelegenen Centralgehiet ausgehe und hier durch centripetal zugeleitete sensorische Erregungen ausgel\u00f6st werde. Zu Gunsten der Annahme einer solchen Erregung habe ich speciell noch die willk\u00fcrliche Verst\u00e4rkung von Erinnerungsbildern, wiesiez.B. durch Meyer\u2019s Versuche bezeugt ist, angef\u00fchrt. Fechner fasst nun diese Ausf\u00fchrungen so auf, als wenn ich den die Apperception begleitenden Erregungsvorgang durchaus entsprechend d\u00e4chte einer \u00e4u\u00dferen Sinnesreizung, und entgegnet, ein graues Papier werde niemals heller, ein schwacher Schall niemals lauter durch verst\u00e4rkte Aufmerksamkeit1). Ohne Zweifel tr\u00e4gt meine Darstellung die Schuld an diesem Missverst\u00e4ndnisse. Doch habe ich ausdr\u00fccklich daraufhingewiesen, dass Klarheit und Intensit\u00e4t einer Vorstellung nicht mit einander verwechselt werden d\u00fcrfen, indem die erstere, au\u00dfer von der St\u00e4rke der Vorstellung, auch von der Adaptation der Aufmerksamkeit abh\u00e4ngig sei. Diese Adaptation kennen wir nun freilich bis jetzt blo\u00df aus ihren psychologischen Effecten; \u00fcber ihre physiologischen Grundlagen wissen wir nur, dass sie in der Regel von Muskelspannungen begleitet ist, und dass Eindr\u00fccke , die wegen ihrer geringen Intensit\u00e4t unserer Wahrnehmung v\u00f6llig entgehen, durch die Aufmerksamkeit wahrnehmbar werden k\u00f6nnen. Diese Thatsache scheint mir aber, abgesehen von der willk\u00fcrlichen Verst\u00e4rkung der Erinnerungsbilder, allerdings zu beweisen, dass die Aufmerksamkeit einen verst\u00e4rkenden Einfluss auf die Empfindungen auszu\u00fcben vermag. Wenn dieser, wie selbstverst\u00e4ndlich vorauszusetzen ist, immer nur relativ schwache Zunahmen der Empfindung erzeugen kann, so wird es vollkommen begreiflich, dass er \u00fcberhaupt nur bei schwachen Empfindungen nachweisbar ist. Ich bin nun aber keineswegs der Meinung, hiermit sei auch nur die physiologische Basis dessen, was wir Aufmerksamkeit oder Apperception nennen, ersch\u00f6pft. Die verst\u00e4rkende Wirkung auf die Empfindung ist nur eine Seite derselben, wie schon die begleitende motorische Innervation\n1) a. a. O. S. 266.","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"Uebw das Weber'scho Gesetz.\n35\neine andere ist. Diese letztere h\u00e4ngt regelm\u00e4\u00dfig mit Anpassungen der den \u00e4u\u00dferen Sinnesorganen beigegebenen Hilfsmuskeln, der Accommodations- und Bewegungsmuskeln des Auges, der Trommelfellspanner u. s. w., zusammen, welche genau nach der Beschaffenheit des zu appercipirenden Eindrucks sich richten und so die Sch\u00e4rfe der Auffassung wesentlich mitbedingen. Abgesehen von diesen peripherischen R\u00fcckwirkungen ist es aber nicht undenkbar, dass schon die Erregungs Vorg\u00e4nge in dem centralen Apperceptionsorgan eine bestimmte Wirkung aus\u00fcben, indem jedesmal die Erregungen der Sinnescentren , welchen die centrifugale Reizung zustr\u00f6mt, verm\u00f6ge der correspondirenden Miterregung des Apperceptionsorganes einen ausgezeichneten Werth f\u00fcr das Bewusstsein gewinnen. Diese Miterregung w\u00fcrde insofern der Wirkung der Localzeichen analog gedacht werden k\u00f6nnen, als dabei nicht die specifischen Empfindungen, von denen sie begleitet sein mag, sondern nur die Effecte dieser Empfindungen zum Bewusstsein gelangen, wodurch die letzteren nun die Bedeutung von Zeichen oder Signalen gewinnen.\nDass diese Ausf\u00fchrungen durchaus hypothetischer Art sind, leugne ich nicht. Mit einiger Sicherheit kennen wir eben nur die psychologischen Effecte der Apperceptionsth\u00e4tigkeit. Aber gerade von der Voraussetzung aus, dass den sinnlichen Functionen des Bewusstseins bestimmte physiologische Vorg\u00e4nge parallel gehen, scheint mir doch der Versuch gerechtfertigt zu sein, diejenigen physiologischen Vorstellungen zu entwickeln , welche den beobachteten psychischen Vorg\u00e4ngen zu entsprechen scheinen. Bei der Beurtheilung einer derartigen Hypothese darf man dann freilich nicht, wie es von Fechner geschehen, nachtr\u00e4glich von der psychologischen Seite abstrahiren und auf diese Weise die Hypothese ihrer eigentlichen St\u00fctze berauben.\nDiesen Gesichtspunkt m\u00f6chte ich mir erlauben auch denjenigen Einw\u00e4nden gegen\u00fcber geltend zu machen, welche Fechner gegen meinen Versuch einer physiologischen Interpretation des Weber\u2019-sehen Gesetzes erhebt.1) Ich bin hier ausgegangen von der psychologischen Thatsache, dass es einem \u00e4u\u00dferen Reiz um so schwerer wird, unsere Aufmerksamkeit zu erregen, je mehr dieselbe bereits durch anderweitige Eindr\u00fccke in Anspruch genommen ist. Fechner nennt\n3*\n1) a. a. O. S. 265 f.","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36\nW. Wundt. Lieber das Weber\u2019sche Gesetz,\ndie diesem psychologischen Thatbestand entsprechende physiologische Voraussetzung, dass die Erregung des Apperceptionsorgans nicht nur proportional der St\u00e4rke des ausl\u00f6senden Reizes w\u00e4chst, sondern auch au\u00dferdem der in dem Organ schon vorhandenen Erregungsgr\u00f6\u00dfe umgekehrt proportional sei, eine unwahrscheinliche Hypothese. Sie ist dies aber doch nur, wenn man den zu Grunde liegenden psychologischen Thatbestand ganz ignorirt, oder wenn man, was Fechner selbst gewiss nicht thun wird, in diesem Fall dem Postulat einer Cor-respondenz physischer und psychischer Vorg\u00e4nge gar keinen Werth beilegt. Aber auch vom rein physiologischen Standpunkte aus ist jene Voraussetzung nicht so unwahrscheinlich, wie Fechner es auffasst, sondern sie steht mit bekannten Erfahrungen \u00fcber die centralen Innervationsvorg\u00e4nge in zureichender Uebereinstimmung. Die Reflexerregung, welche durch die Reizung einer sensibeln R\u00fcckenmarkswurzel entsteht, wird in der Regel durch die gleichzeitige Reizung einer andern nahe gelegenen Wurzel herabgesetzt, und diese Hemmung kann wachsen mit der Zunahme der interferirenden Reize. *) Die oben angedeutete physiologische Hypothese steht also mindestens nicht au\u00dferhalb aller sonstigen \u00fcber die centrale Innervation bekannten That-sachen, und mehr wird man bei unserer Unbekanntschaft mit der Mechanik der h\u00f6heren Nervencentren hier vorl\u00e4ufig nicht erwarten d\u00fcrfen. Eben deshalb habe ich aber auch auf diese physiologische Hypothese nur einen geringen Werth gelegt, w\u00e4hrend ich allerdings die entsprechende psychologische Deutung fast f\u00fcr eine unvermeidliche halte, und jedenfalls f\u00fcr die einzige, die es uns gestattet, das Weber\u2019 -sehe Gesetz mit andern psychologischen Erfahrungen in eine innere Verbindung zu bringen.\n1) Vgl. meine Untersuchungen zur Mechanik der Nerven und Nervencentren. II, S. 84 f.","page":36}],"identifier":"lit3097","issued":"1885","language":"de","pages":"1-36","startpages":"1","title":"Ueber das Weber\u2018sche Gesetz","type":"Journal Article","volume":"2"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:58:02.529252+00:00"}