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{"created":"2022-01-31T13:12:40.487107+00:00","id":"lit3098","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wundt, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 4: 1-27","fulltext":[{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Ziele und Wege der V\u00f6lkerpsychologie.\nVon\nW. Wundt.\nJJass neue Wissensgebiete oder, da es solche im strengsten Sinn des Wortes wohl nicht gibt, neue Formen wissenschaftlicher Betrachtung eine Zeit lang um ihre Existenz k\u00e4mpfen m\u00fcssen, ist nicht nur begreiflich, sondern vielleicht sogar bis zu einem gewissen Grad n\u00fctzlich. Empf\u00e4ngt doch die neu aufstrebende Disciplin auf diese Weise den wirksamsten Antrieb, durch thats\u00e4chliche Errungenschaften sich ihre Stellung zu sichern und durch die Auseinandersetzung mit Nachbargebieten ihre wirklichen Aufgaben klarer zu erfassen, indem die etwa zu weit gehenden Anspr\u00fcche erm\u00e4\u00dfigt und die berechtigten sch\u00e4rfer begrenzt werden.\nSo haben wir in unserem Jahrhundert die vergleichende Anatomie von der Zoologie, die Sprachwissenschaft von der Philologie, die Anthropologie von den anatomisch-physiologischen Wissenschaften und von der Ethnologie sich abl\u00f6sen sehen. Noch haben selbst diese jetzt anerkannten Gebiete nicht \u00fcberall feste Gestalt gewonnen. In der Darstellung sieht man die vergleichende Anatomie zumeist immer noch die Wege des zoologischen Systems gehen. Die Sprachforscher sind, so unzweifelhaft das Object ihrer Untersuchungen zu sein scheint, doch \u00fcber die Stellung desselben zu andern Gegenst\u00e4nden geschichtlicher Forschung keineswegs allgemein einig. Die Anthropologie vollends hat erst seit verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig kurzer Zeit die Naturgeschichte und die von ihr untrennbare Urgeschichte des Menschen als ihr speci-fisches Arbeitsfeld in Anspruch genommen. Immerhin erfreuen sich alle diese Gebiete heute schon eines verh\u00e4ltni\u00dfm\u00e4ssig gesicherten Zustandes. M\u00f6gen die Ansichten \u00fcber ihre Bedeutung und Aufgabe\nWandt, Philos. Studien, IV.","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"2\nW. Wundt.\nschwanken, \u2014 \u00fcber ihre Existenzberechtigung und relative Selbst\u00e4ndigkeit herrscht kaum mehr ein Zweifel.\nGanz anders ist das bei derjenigen Wissenschaft, deren Namen man heute oft genug nennen h\u00f6rt, ohne dass sich immer ein klarer Begriff mit dem Namen verb\u00e4nde, bei der V\u00f6lkerpsychologie. Seit geraumer Zeit sind die Gegenst\u00e4nde, die man unter ihr zu begreifen pflegt, die Culturzust\u00e4nde, Sprachen, Sitten, religi\u00f6sen Vorstellungen der V\u00f6lker, nicht blo\u00df Aufgaben besonderer Wissenszweige, wie der Cultur- und Sittengeschichte, der Sprachwissenschaft und Religions-philosophie, sondern man hat auch l\u00e4ngst das Bed\u00fcrfniss,empfunden, diese Gegenst\u00e4nde in ihrer allgemeinen Beziehung zu der Natur des Menschen zu untersuchen, und dieselben haben daher zumeist einen Bestandtheil anthropologischer Betrachtungen gebildet. So hat besonders Prichard in seinem jetzt veralteten, aber f\u00fcr die Anthropologie epochemachenden Werke1) den psychologischen Merkmalen der Rassen und V\u00f6lker die geb\u00fchrende Aufmerksamkeit gewidmet. Da jedoch die Anthropologie diese Merkmale nur mit R\u00fccksicht auf ihre genealogische und ethnologische Bedeutung ber\u00fccksichtigt, so bleibt dabei ein Gesichtspunkt unbeachtet, unter welchem alle jene geistigen Erscheinungen, die an das Zusammenleben der Menschen gebunden sind, betrachtet werden k\u00f6nnen, der psychologische. Wie es aber die Aufgabe der Psychologie ist, den Thatbestand des individuellen Bewusstseins zu beschreiben und in Bezug auf seine Elemente und Entwicklungsstufen in einen erkl\u00e4renden Zusammenhang zu bringen, so kann unverkennbar auch die analoge genetische und causale Untersuchung jener Thatsachen, die zu ihrer Entwicklung die geistigen Wechselbeziehungen der menschlichen Gesellschaft, namentlich der V\u00f6lkergemeinschaft voraussetzen, als ein Object psychologischer Forschung angesehen werden.\nIn diesem Sinne haben in der That Lazarus und Steinthal die V\u00f6lkerpsychologie der individuellen Psychologie gegen\u00fcbergestellt. Sie sollte eine Erg\u00e4nzung und nothwendige Fortf\u00fchrung der letzteren sein und so mit ihr zusammen erst die gesammte Aufgabe der psychologischen Forschung ersch\u00f6pfen. Da nun aber alle die\n1) Researches into the physical history of mankind, deutsch u. d. T. Naturgeschichte des Menschen, nach der 3. Aufl. herausg. v. Rud. Wagner. 4 Bde. Leipzig 1840\u201448.","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Ziele und Wege der V\u00f6lkerpsychologie.\n3\nEinzelgebiete, mit deren Problemen sich hierbei die V\u00f6lkerpsychologie noch einmal besch\u00e4ftigt, die Sprachwissenschaft, die Mythologie, die Culturgeschichte in ihren verschiedenen Verzweigungen, selber bereits bem\u00fcht sind, die psychologischen Entwicklungsbedingungen der geistigen Thatsachen zu ermitteln, so wird dadurch die Stellung der V\u00f6lkerpsychologie zu diesen Einzelgebieten eine einigerma\u00dfen fragw\u00fcrdige, und es regt sich das Bedenken, ob nicht f\u00fcr die Arbeit, die sie sich vorsetzt, \u00fcberall schon anderweitig gesorgt sei. Betrachten wir, nm dieses Bedenken zu pr\u00fcfen, zun\u00e4chst das Programm etwas n\u00e4her, welches Lazarus und Steinthal ihrer, der Sammlung v\u00f6lkerpsychologischer Arbeiten bestimmten \u00bbZeitschrift f\u00fcr V\u00f6lkerpsychologie und Sprachwissenschaft\u00ab vorausgeschickt haben \u2019).\nDieses Programm ist in der That so umfassend w\u00fce m\u00f6glich. Nicht nur Sprache, Mythus, Religion und Sitte, sondern auch Kunst und Wissenschaft, die Entwicklung der Cultur im Allgemeinen und in ihren einzelnen Verzweigungen, ja selbst das geschichtliche Werden und Vergehen der einzelnen V\u00f6lker, sowie die Geschichte der ganzen Menschheit sollen Objecte dieser Zukunftswissenschaft sein. Das Ganze ihrer Untersuchungen soll aber in zwei Theile zerfallen, in einen allgemeinen oder abstracten, welcher die allgemeinen Bedingungen und Gesetze des Volksgeistes ohne R\u00fccksicht auf die einzelnen V\u00f6lker und ihre Geschichte zu er\u00f6rtern, und in einen speciellen oder con--creten, welcher die einzelnen, wirklich existirenden Volksgeister und ihre besonderen Entwicklungsformen zu charakterisiren habe. Das Ganze der V\u00f6lkerpsychologie wird so wieder in eine \u00bbv\u00f6lkergeschichtliche Psychologie\u00ab und eine \u00bbpsychologische Ethnologie\u00ab geschieden.\nLazarus und Steinthal haben die naheliegenden Ein w\u00e4nde, die sich gegen dieses Programm erheben lassen, keineswegs \u00fcbersehen. Zun\u00e4chst weisen sie die Behauptung zur\u00fcck, dass alle jene Probleme, die sich die V\u00f6lkerpsychologie stelle, in der Geschichte und ihren einzelnen Zweigen bereits ihre Erledigung f\u00e4nden. Der Gegenstand zwar sei der V\u00f6lkerpsychologie mit diesen Gebieten gemeinsam, nicht aber die Art der Betrachtung. Die Geschichte der Menschheit sei \u00bb Darstel-^ung der gewordenen Wirklichkeit im Reiche des Geistes\u00ab ; sie ver-\n1) Im ersten Band der genannten Zeitschr., 1860, S. 1\u201473.\n1*","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4\nW. Wundt.\n\u2018zichte auf die Darlegung der in dem geschichtlichen Werden waltenden Gesetze. Wie die beschreibende Naturgeschichte der Erg\u00e4nzung bed\u00fcrfe durch die erkl\u00e4rende Naturlehre, Physik, Chemie und Physiologie, so bed\u00fcrfe daher die Geschichte als eine Art Naturgeschichte des Geistes der Erg\u00e4nzung durch eine Physiologie des geschichtlichen Lebens der Menschheit, und dies eben sei die V\u00f6lkerpsychologie. Insoweit die Historiker, insbesondere Culturhistoriker, Philologen, Sprachforscher, ein psychologisches Verst\u00e4ndniss der von ihnen untersuchten Thats\u00fcchen zu gewinnen suchen, liefern sie sch\u00e4tzbare Vorarbeiten; aber es bleibe immer noch die Aufgabe, aus den so gewonnenen Thatsachen allgemeine Gesetze zu finden, und hierzu sei erst die V\u00f6lkerpsychologie berufen.\nDiese Ausf\u00fchrungen, welche die Berechtigung und Selbst\u00e4ndigkeit der V\u00f6lkerpsychologie darthun sollen, sind gewiss geeignet, ihrerseits die schwersten Bedenken zu erwecken. Ich bezweifle, dass die Vertreter der Geschichte und der verschiedenen anderen Geisteswissenschaften mit der hier ihnen zugedachten Rolle zufrieden sein werden. Im Grunde ist all ihr Thun doch nur dazu bestimmt, einer k\u00fcnftigen V\u00f6lkerpsychologie Handlangerdienste zu leisten. In der That entspricht die Arbeitstheilung, die vorgeschlagen wird, um der V\u00f6lkerpsychologie ihr Gebiet zu sichern, nicht den wirklichen Verh\u00e4ltnissen. Wohl ist alle Geschichte, wenn man will, \u00bbDarstellung der gewordenen Wirklichkeit im Reiche des Geistes\u00ab. Aber nimmermehr kann eine solche Darstellung auf die Causalerkl\u00e4rung des Geschehens Verzicht leisten. Neben der umfassenden Ber\u00fccksichtigung der \u00e4u\u00dferen Naturbedingungen beflei\u00dfigt sich daher jede historische Disciplin der psychologischen Interpretation. Ob es freilich jemals gelingen wird, \u00bbGesetze des geschichtlichen Geschehens\u00ab von \u00e4hnlichem Charakter wie die Naturgesetze zu finden, mag f\u00fcglich bezweifelt werden. Wenn dies aber m\u00f6glich sein sollte, so w\u00fcrde sich ganz gewiss der Historiker nicht das Recht nehmen lassen, sie aus der umfassenden Kenntniss der Thatsachen selbst abzuleiten. Der Vergleich mit der Naturgeschichte ist schon um desswillen hinf\u00e4llig, weil die Gegen\u00fcberstellung einer blo\u00df beschreibenden und einer erkl\u00e4renden Bearbeitung des n\u00e4mlichen Thatbestandes heute wohl von keinem Naturforscher mehr als richtig zugestanden wird. Zoologie, Botanik, Mineralogie wollen nicht minder wie Physik, Chemie und Physiologie die Objecte ihrer Untersuchung","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Ziele und Wege der V\u00f6lkerpsychologie.\n5\nerkl\u00e4ren und. so viel als m\u00f6glich in ihren causalen Beziehungen begreifen. Der Unterschied liegt vielmehr darin, dass jene es mit der Erkenntniss der einzelnen Naturobjecte in ihrem-wechselseitigen Zusammenhang, diese mit der Erkenntniss der allgemeinen Naturvorg\u00e4nge zu thun haben. Einigerma\u00dfen lie\u00dfe sich daher diesen ab-\u00abtracteren Disciplinen die allgemeine Sprachwissenschaft, die vergleichende Mythologie oder Universalgeschichte, jenen concreteren die systematische Untersuchung der Einzelsprachen, der einzelnen Mythologien und die Geschichte der Einzelv\u00f6lker vergleichen, wenn sich nicht auch hier die Bemerkung aufdr\u00e4ngte, dass Gebiete von so verschiedener Natur ihre besonderen Existenzbedingungen besitzen, die eigentlich jede Vergleichung unzutreffend machen.\nDies verr\u00e4th sich im vorliegenden Fall besonders in dem viel innigeren Zusammenhang der allgemeinen mit den speciellen Disciplinen der Geisteswissenschaften. Die einzelnen Sprachentwicklungen, Mythologien und V\u00f6lkergeschichten bilden so unver\u00e4u\u00dferliche Bestandteile der allgemeinen Sprachwissenschaft, Mythologie und Geschichte, dass beide einander, insbesondere aber die allgemeinen die concreten Disciplinen vor\u00e4ussetzen. Man kann ein t\u00fcchtiger Physiker oder Physiologe sein, ohne in Mineralogie und Zoologie besonders eindringende Kenntnisse zu besitzen, wohl aber fordert hier das concrete Gebiet die Kenntniss des allgemeinen. Man kann dagegen kein allgemeiner Sprachforscher oder Universalhistoriker sein ohne eine gr\u00fcndliche Kenntniss der einzelnen Sprachen uhd der einzelnen Theile der Geschichte, \u2014 ja, hier ist weit eher das Gegentheil des vorigen Falles m\u00f6glich: die Forschung im einzelnen kann bis zu einem gewissen Grade der H\u00fclfe der allgemeinen Grundlagen entbehren. In der Entwicklung des geistigen Lebens bildet eben das Einzelne in viel unmittelbarerer Weise einen Bestandtheil des Ganzen als in der Natur. Zerf\u00e4llt diese in eine Menge von Objecten, die als solche neben den allgemeinen Gesetzen, die ihre Entstehung und ihre Ver\u00e4nderungen beherrschen, Gegenst\u00e4nde selbst\u00e4ndiger Betrachtung sein m\u00fcssen, so trennt sich die geistige Entwicklung in jedem ihrer Hauptgebiete immer nur in eine Menge von Einzelentwicklungen, die integrirende Bestandtheile des Ganzen bilden. Darum bleiben der Stoff und die Art der Betrachtung die n\u00e4mlichen in den Einzelgebieten wie in den allgemeinen Wissenschaften, die sich auf ihnen aufbauen. Der","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6\nW. Wundt.\nschon in der Naturwissenschaft unzutreffende Gegensatz einer blo\u00df beschreibenden und einer erkl\u00e4renden Untersuchung der Erscheinungen wird somit hier ganz und gar hinf\u00e4llig: wo es sich nur um Unterschiede des Umfangs, nicht des Inhalts der untersuchten Objecte handelt, da kann auch von Verschiedenheiten der wesentlichen Methode oder der allgemeinen Aufgabe nicht mehr die Rede sein. Diese letztere besteht \u00fcberall nicht blo\u00df in der Schilderung der Thatsachen, sondern zugleich in der Nachweisung des Zusammenhanges derselben und, so weit dies nur immer m\u00f6glich ist, in ihrer psychologischen Interpretation. Wo also hier die V\u00f6lkerpsychologie mit ihrer Arbeit eintreten m\u00f6chte : sie findet aller Orten schon die Einzelforschung am Werk, diese Arbeit selber zu leisten.\nImmerhin k\u00f6nnte man denken, dass in einer Beziehung noch eine L\u00fccke bleibe, die der Ausf\u00fcllung durch eine besonders geartete Forschung bed\u00fcrfe. Jede einzelne der historischen Wissenschaften verfolgt den Process des geschichtlichen Werdens nur in einer einzelnen Richtung des geistigen Lebens: Sprache, Mythus, Kunst, Wissenschaft, Staatenbildungen und \u00e4u\u00dfere Schicksale der V\u00f6lker sind so die getrennten Objecte der verschiedenen Geschichtswissenschaften. Sollte es nun nicht nothwendig sein, alle diese einzelnen Strahlen des geistigen Lebens so zu sagen in einem einzigen Brennpunkte zu sammeln, die Resultate aller jener Entwicklungen noch einmal zum Gegenstand einer sie vereinigenden und vergleichenden geschichtlichen Betrachtung zu machen? In der That ist das eine Aufgabe, welche man auch bisher nicht ganz \u00fcbersehen hat. Theils hat die Geschichte seihst als die ohnehin allgemeinste unter den historischen Disciplinen das Bed\u00fcrfniss empfunden, die verschiedenen Momente der Cultur und Sitte in ihre allgemeine Schilderung aufzunehmen. Besonders aber ist eine derartig zusammenfassende Betrachtung stets als die wahre Aufgabe einer Philosophie der Geschichtebetrachtet worden. Auch\nLazarus und Steinthal verkennen die nahe Beziehung, in welcher das Programm ihrer V\u00f6lkerpsychologie zu den Aufgaben einer Geschichtsphilosophie steht, keineswegs ; aber sie sind der Meinung, man habe hierbei immer nur eine \u00fcbersichtliche und r\u00e4sonnirende Darstellung des geistigen Inhalts, eine Art Quintessenz der Geschichte #u gehen versucht und nie sein Augenmerk auf die Gesetze der ge-\n\u2022 ' '","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Ziele und Wege der V\u00f6lkerpsychologie.\n7\nSchichth\u00f6hen Entwicklung gerichtet1). Ich wei\u00df nicht, ob der Vorwurf in dieser Allgemeinheit berechtigt ist. Sowohl Herder wie Hegel, an die wir doch zun\u00e4chst denken werden, wenn von Philosophie der Geschichte die Rede ist, haben sich bem\u00fcht, bestimmte Gesetze der Entwicklung in dem allgemeinen Verlauf der Geschichte nachzuweisen. Wenn sie nach unserer heutigen Meinung zu einem befriedigenden Ergebnisse nicht gelangt sind, so lag dies nicht daran, dass sie keinen Versuch der Verallgemeinerung von Gesetzen gemacht haben, sondern an der Unvollkommenheit oder Zweckwidrigkeit der H\u00fclfsmittel und Methoden, deren sie sich bedienten, also an Bedingungen, die im Grunde jedes Unternehmen auf einem so schwierigen Gebiete zu einem mehr oder weniger transitorischen machen. Wenn jene Geschichtsphilosophen aber insbesondere nicht bestrebt waren, rein psychologische Gesetze der historischen Entwicklung aufzustellen, so waren sie dabei vielleicht nicht im Unrecht, da die psychologischen Kr\u00e4fte immerhin nur eines der Elemente ahgehen, die f\u00fcr den Causalzu-sammenhang der Geschichte in Betracht kommen, indem hier namentlich auch die schon von Herder so sehr hervorgehobenen und von Hegel \u00fcber Geb\u00fchr missachteten Naturbedingungen, sowie die mannigfachen \u00e4u\u00dferen Einfl\u00fcsse, welche die Cultur mit sich f\u00fchrt, eine wichtige Rolle spielen.\nSollen wir nun Angesichts solcher Bedenken der V\u00f6lkerpsychologie \u00fcberhaupt ihre Berechtigung absprechen? Geh\u00f6ren, wie es nach diesen Er\u00f6rterungen scheinen k\u00f6nnte, ihre Probleme durchgehends in andere Wissensgebiete, so dass eine selbst\u00e4ndige Aufgabe f\u00fcr sie nicht mehr \u00fcbrig bleibt? In der That ist diese Folgerung gezogen worden. Insbesondere hat derselben neuerlich Hermann Paul in seinem verdienstvollen Buche \u00bbPrincipien der Sprachgeschichte\u00ab Ausdruck gegeben. Hie Gesichtspunkte, von denen aus er zu dieser Ansicht gelangt, sind aber zum Theil andere als die oben geltend gemachten.\nPaul geht in seinen Er\u00f6rterungen von einer Zweitheilung aller Wissenschaften in Gesetzeswissenschaften und in Geschichtswissenschaften aus2). Hie ersteren zerfallen in Naturlehre und\n!) a. a. O. S. 20.\n2) Ich lege hier die zweite Auflage des Paul\u2019schen Werkes, Halle 1886, Ein-","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8\nW. Wundt.\nPsychologie, die letzteren in die historischen Naturwissenschaften und die historischen Culturwissenschaften. Den Gesetzeswissenschaften sei der Begriff der Entwicklung v\u00f6llig fremd, ja mit ihrem Begriffe unvereinbar ; in den Geschichtswissenschaften sei im Gegentheil der Begriff der Entwicklung der alles beherrschende. Dieser Gegensatz beider Gebiete fordere nun aber seine Ausgleichung in einer zwischen ihnen stehenden Wissenschaft, der Geschichtsphilosophie oder Principienwissenschaft. Was Lazarus und Steinthal als Aufgabe der V\u00f6lkerpsychologie hinstellen, das ist daher nach Paul eben die Aufgabe dieser Principienwissenschaft, die sich nach ihm in ebenso viele Zweige trennt, als es einigerma\u00dfen von einander gesonderte Gebiete historischer Entwicklung gibt. Das Bestreben aller dieser Principienwissenschaften m\u00fcsse dahin gerichtet sein nachzuweisen, wie unter der Voraussetzung constanter Kr\u00e4fte und Verh\u00e4ltnisse dennoch eine Entwicklung m\u00f6glich sei.\u2014Weil es nur individuelle Seelen gibt, so kann es nach Paul auch nur eine individuelle Psychologie geben. In der an die Verbindung der Individuen gebundenen Culturentwicklung k\u00f6nnen keine Kr\u00e4fte frei werden, die nicht in der einzelnen Seele schon vorhanden sind, und es k\u00f6nnen daher auch in dieser Entwicklung keine Gesetze zur Geltung kommen, die nicht in der einzelnen Seele schon wirksam sind.\nDie M\u00f6glichkeit dieses letzten auf die Nichtexistenz einer mythologischen Volksseele gegr\u00fcndeten Einwandes ist nun freilich auch schon von Lazarus und Steinthal nicht \u00fcbersehen worden. Eine \u00bbPsyche des Volkes\u00ab im eigentlichen Sinne des Wortes, meinen sie, sei undenkbar. Aber auch f\u00fcr die individuelle Psychologie \u2014 so wird dieser selbsterhobene Einwand sofort widerlegt \u2014 sei \u00bb die Erkenntnis der Seele, d. h. der Substanz und Qualit\u00e4t derselben, keineswegs das Ziel oder auch nur das Wesentliche ihrer Aufgabe\u00ab. Diese bestehe vielmehr in der \u00bbDarstellung des psychischen Processes und Progresses, also in der Entdeckung der Gesetze, nach denen jede innere Th\u00e4tigkeit des Menschen vor sich geht, und in der Auffindung der Ursachen und Bedingungen jedes Portschrittes und jeder Erhebung in dieser Th\u00e4tigkeit.\u00ab Die Psychologie seihst wird daher von den Ver-\nleitung, zu Grunde. In den Grundgedanken stimmt \u00fcbrigens die erste 1880 erschienene Auflage mit der zweiten \u00fcberein.\n/","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Ziele und Wege der V\u00f6lkerpsychologie.\n9\nfassern auch als \u00bbGeisteslehre\u00ab bezeichnet, w\u00e4hrend die \u00bbSeelenlehre\u00ab vielmehr ein Theil der Metaphysik oder Naturphilosophie sei, sofern man unter \u00bbSeele\u00ab das Wesen oder die Substanz der Seele an sich, unter \u00bbGeist\u00ab die Th\u00e4tigkeit der Seele und deren Gesetze verstehe. In diesem Sinne k\u00f6nne zwar nicht von einer Volksseele, wohl aber von einem Volksgeiste ganz ebenso wie vom individuellen Geiste geredet werden, und es stelle sich hiermit die V\u00f6lkerpsychologie der Individualpsychologie vollkommen gleichberechtigt zur Seite b.\nSelten ist wohl von einem Anh\u00e4nger des atomistischen Seelenbegriffs die v\u00f6llige Unbrauchbarkeit desselben f\u00fcr die psychologische Erkl\u00e4rung unzweideutiger zugestanden worden, als es in diesen Worten der beiden Herbartianer geschieht. Charakteristischer Weise wird die Frage nach der Seelensubstanz aus der Psychologie in die Naturphilosophie verwiesen, die ja in Wahrheit die eigentliche Quelle dieses Begriffes ist, die aber doch sicherlich nicht aus eigenem Bed\u00fcrfniss denselben gebildet hat, sondern nur weil sie meinte, damit der Psychologie einen Dienst zu leisten. Wird diese H\u00fclfe, wie es hier geschieht, zur\u00fcckgewiesen, so ist nicht abzusehen, welche Bedeutung jener Begriff \u00fcberhaupt besitzen soll1 2). Immerhin sieht man, wie gewaltig hier immer noch der Einfluss metaphysischer Standpunkte bleibt. Lazarus und Steinthal haben thats\u00e4chlich die Herbart\u2019sehe Grundvoraussetzung verlassen, und nur dadurch ist es ihnen m\u00f6glich geworden zur Idee einer V\u00f6lkerpsychologie zu kommen. Hermann Paul kehrt zur correcten Auffassung Herbart\u2019s zur\u00fcck, und da es f\u00fcr diesen nur eine Individualpsychologie geben kann, so spricht er folgerichtig der V\u00f6lkerpsychologie ihr Recht auf Existenz ab. Aber Lazarus und Steinthal behalten merkw\u00fcrdigerweise, obgleich sie den Standpunkt Herbart\u2019s im Princip verlassen, doch dessen einzelne Voraussetzungen bei : sie reden zwar von Entwicklungsprocessen auch in der individuellen Seele, aber gleichwohl legen sie allen ihren Erkl\u00e4rungen die Herb art\u2019sehe Idee eines Vorstellungsmechanismus zu Grunde, welcher eigentlich alle Entwicklung ausschlie\u00dft. Wenn alle psychischen Processe von den niedersten bis zu den h\u00f6chsten auf der einf\u00f6rmigen Wiederholung der n\u00e4mlichen Vorstellungsmechanik be-\n1)\ta. a. O. S. 28 f.\n2)\tVergl. meine Logik II, S. 502 ff.","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10\nW. Wundt.\nruhen, so m\u00fcssen die Bedingungen jeder Entwicklung consequenter Weise in \u00e4u\u00dfere zuf\u00e4llige Wechselwirkungen mit der Naturumgebung verlegt werden. So hat denn auch Herhart ganz im Geiste seiner Grundvoraussetzung angenommen, der Unterschied zwischen Mensch und Thier beruhe schlie\u00dflich nur auf den Unterschieden der k\u00f6rperlichen Organisation und auf den R\u00fcckwirkungen, welche diese auf die Seele aus\u00fcben. Nirgends kommt deutlicher als in diesen Folgerungen der unbewusste Materialismus, der dieser ganzen Seelenmetaphysik zu Grunde liegt, zum Vorschein. Auch in diesem Punkte bleibt nun Paul der Herbart\u2019sehen Lehre treu. Die Psychologie ist ihm \u00bbGesetzeswissenschaft\u00ab, und als solcher ist Entwicklung ein ihr fremder Begriff. Die abstracten Gesetze, die sie findet, gehen aller geistigen Entwicklung voran : diese ist \u00fcberall erst ein Product der C ul tu r, d. h. der Wechselwirkungen jener Gesetze mit \u00e4u\u00dferen materiellen Bedingungen und Einfl\u00fcssen. Mit den Producten dieser Wechselwirkungen hat es aber \u00fcberall erst die geschichtliche Betrachtung zu thun.\nDennoch wird auch Paul seinerseits kaum dem Zugest\u00e4ndnisse, welches Lazarus und Steinthal bereits der psychologischen Untersuchung gemacht, entgehen k\u00f6nnen, dem Zugest\u00e4ndnisse n\u00e4mlich, dass jene Gesetze, in deren Feststellung ihre Aufgabe als Gesetzeswissen-schaft bestehen soll, nicht irgend einem von au\u00dfen herheigeholten Seelenhegriff, sondern der inneren Erfahrung selber entnommen werden y m\u00fcssen. Dann wird aber, wie dies Lazarus und Steinthal bereits einger\u00e4umt, zum eigentlichen Object der Psychologie lediglich der Thatbestand des psychologischen Geschehens. Die Seele im Sinne der psychologischen Untersuchung ist kein au\u00dferhalb dieses Thathestandes gelegenes Wesen mehr, sondern dieser Thatbestand selber, mit andern Worten: jene Unterscheidung'zwischen Seele und Geist, welche ohnehin schon die erstere aus der Psychologie in die Metaphysik oder gar in die Naturphilosophie verwiesen hatte, wird f\u00fcr die Psychologie v\u00f6llig gegenstandslos. Nennt sie das Object ihrer Untersuchung, dem alten Sprachgebrauch folgend, Seele, so ist diese Seele eben nichts anderes als die Gesammtheit aller inneren Erlebnisse. Nun gibt es unzweifelhaft unter diesen Erlebnissen solche, die stets einer gro\u00dfen Zahl von Individuen gemeinsam sind, ja f\u00fcr viele psychische Erzeugnisse, wie die Sprache, die mythischen Vorstellun-","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Ziele und Wege der V\u00f6lkerpsychologie.\n11\ngen, ist diese Gemeinschaft geradezu eine Lebensbedingung ihrer Existenz. Es bleibt daher nicht abzusehen, warum wir nicht vom Standpunkte des oben bezeichneten actuellen Seelenbegriffs aus diese gemeinsamen Vorstellungsbildungen, Gef\u00fchle und Strebungen mit demselben Rechte als Inhalt einer Volksseele ansehen, wie wir unsere eigenen Vorstellungen und Gem\u00fcthserregungen als den Inhalt unserer individuellen Seele betrachten, oder warum wir etwa jener Volksseele weniger Realit\u00e4t als unserer eigenen Seele beilegen sollen.\nNun wird man freilich entgegnen, die Volksseele bestehe doch immer nur aus den einzelnen Seelen, die an ihr theilnehmen; sie sei nichts au\u00dferhalb der letzteren, und alles, was sie erzeuge, f\u00fchre darum mit Nothwendigkeit auf die Eigenschaften und Kr\u00e4fte der individuellen Seele zur\u00fcck. Aber wenn auch selbstverst\u00e4ndlich zuzugeben ist, dass die Vorbedingungen zu allem, was eine Gesammt-heit hervorbringt, schon in den Mitgliedern derselben gelegen sein m\u00fcssen, so ist damit doch keineswegs gesagt, dass diese Erzeugnisse auch aus jenen Vorbedingungen vollst\u00e4ndig erkl\u00e4rbar sind. Vielmehr ist zu erwarten, dass die Coexistenz einer Vielheit gleichartiger Individuen und die Wechselwirkung, welche dieselbe mit sich f\u00fchrt, als eine neu hinzutretende Bedingung auch neue Erscheinungen mit eigent\u00fcmlichen Gesetzen hervorbringen wird. Diese Gesetze werden zwar niemals mit den Gesetzen des individuellen Bewusstseins in Widerstreit treten k\u00f6nnen, aber sie werden darum doch in den letzteren ebensowenig schon enthalten sein, wie etwa die Gesetze des Stoffwechsels der Organismen in den allgemeinen Affinit\u00e4tsgesetzen der K\u00f6rper enthalten sind. Auf psychologischem Gebiete kommt-hier sogar noch das besondere Moment hinzu, dass f\u00fcr alle unsere Beobachtung die Realit\u00e4t der Volksseele eine ebenso urspr\u00fcngliche ist, wie die Realit\u00e4t der Einzelseelen, und dass daher der Einzelne nicht nur an den Wirkungen des Ganzen Theil nimmt, sondern fast in noch h\u00f6herem Ma\u00dfe von der Entwicklung des Ganzen, dem er angeh\u00f6rt, abh\u00e4ngt. So fallen beispielsweise die logischen Verbindungen der Vorstellungen schon in das Gebiet individual-psychologischer Untersuchung. Aber es ist einleuchtend, dass diese Verbindungen von der Existenz der Sprache und der in ihr geschehenden Gedankenbilduug so gewaltig beeinflusst sind, dass es vergeblich sein w\u00fcrde, voii den Wirkungen solcher Einfl\u00fcsse","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"W. Wundt.\n12\n/\nbei der Untersuchung des individuellen Bewusstseins zu abstrahiren. So bleibt, sofern man sich nur auf den Standpunkt der Thatsachen stellt und von allen f\u00fcr die Untersuchung doch v\u00f6llig unn\u00fctzen metaphysischen Hypothesen absieht, der V\u00f6lkerpsychologie vollst\u00e4ndig ihr Recht gewahrt. Im Allgemeinen werden die in ihr zu behandelnden Probleme zwar die Individual-Psychologie voraussetzen, dagegen wird sie doch in gar mancher Beziehung ihrerseits wieder auf die Erkl\u00e4rung der individuellen Bewusstseinserscheinungen einen Einfluss gewinnen m\u00fcssen.\nAber es ist ja nicht blo\u00df jenes metaphysische V\u00f6rurtheil, welches der Anerkennung der n\u00e8uen psychologischen Disciplin im Wege zu stehen scheint, sondern n\u00f6ch zwei andere mehr thats\u00e4chliche Gr\u00fcnde werden von Paul in \u00e4hnlichem Sinne geltend gemacht. Erstens ist alle Wechselwirkung der Individuen und darum alle Cultur von phy-sischen Einfl\u00fcssen mitbedingt; deshalb k\u00f6nnen die culturgeschicht-lichen Gebiete nicht gleichzeitig Objecte einer rein psychologischen, d. h. nur den seelischen Vorg\u00e4ngen zugewandten Betrachtung sein. Zweitens ist alle Culturgeschichte Entwicklung, die Psychologie aber ist Gesetzes Wissenschaft, sie hat nur die auf allen Entwicklungsstufen gleichf\u00f6rmig wirksamen geistigen Gesetze festzustellen, nicht die Entwicklung selbst zu verfolgen oder gar abzuleiten.\nGleichwohl kann ich auch diesen beiden Einw\u00e4nden keine Berechtigung zugestehen, und zwar deshalb, weil der Begriff von Psychologie, der ihnen zu Grunde liegt, wie ich meine, ein irriger ist. Zun\u00e4chst soll diese Psychologie die Gesetze des geistigen Lebens, wie sie an sich seihst sind, also unabh\u00e4ngig von allen physischen Einfl\u00fcssen feststellen. Aber wo gibt es denn ein geistiges Geschehen, das von solchen Einfl\u00fcssen unabh\u00e4ngig, oder das ohne alle R\u00fccksicht auf dieselben in seinem causalen Zusammenhang zu begreifen w\u00e4re? Von den einfachen Sinnesempfindungen und Sinneswahmehmungen an bis zu den verwickeltsten Denkprocessen ist unser seelisches Leben an jene Beziehungen zur physischen Organisation gebunden, die wir, so lange wir uns auf dem Boden empirisch-psychologischer Betrachtung bewegen, doch wahrlich in nicht anderem Sinne als physische Einwirkungen auffassen m\u00fcssen, wie wir etwa die Culturentwicklung in ihren verschiedenen Verzweigungen auf Wechselbeziehungen des geistigen","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Ziele und Wege der V\u00f6lkerpsychologie.\n13\nLebens mit \u00e4u\u00dferen Naturbedingungen Zur\u00fcckzufuhren suchen. Eine Seelenmechanik, welche die Vorstellungen als imagin\u00e4re Wesen behandelt, die ihren von physischen Einfl\u00fcssen v\u00f6llig unber\u00fchrten Gesetzen der Bewegung und Hemmung unterworfen sind, ist eine v\u00f6llig transscendente Wissenschaft, die mit der wirklichen Psychologie, d. h. mit derjenigen, die denThatbestanddes psychologischen Geschehens in seinen Bedingungen und Wechselbeziehungen zu begreifen strebt, nichts als den Namen gemein hat.\nNur aus der n\u00e4mlichen Vorstellung einer imagin\u00e4ren Seelenmechanik heraus, die sich zur wirklichen Psychologie ebenso verh\u00e4lt wie das metaphysische Luftschloss einer Welt an sich zur wirklichen Naturlehre, begreift sich auch der zweite Einwand : die Psychologie sei \u00bbGesetzeswissenschaft\u00ab, und darum sei ihr der Begriff der Entwicklung fremd, ja er stehe mit ihr im Widerspruch. Es mag sein, dass er mit dem Seelenhegriff, der dieser psychologischen Anschauung als Folie dient, im Widerspruch steht. Aber steht er auch im Widerspruch mit dem wirklichen Seelenleben, wie es uns in seiner durch psychologische Hypothesen unverf\u00e4lschten Gestalt in den Thatsachen des individuellen Bewusstseins entgegentritt? Ist hier nicht wiederum alles Entwicklung, von der Bildung der einfachsten Sinneswahrnehmungen an bis zu der Entstehung der verwickeltsten Gef\u00fchls- und Gedanken-processe ? Hat auch die Psychologie, soweit sie es vermag, diese Entwicklungen auf Gesetze zur\u00fcckzuf\u00fchren, so darf sie doch nimmermehr solche Gesetze von den Thatsachen der geistigen Entwicklung selber losl\u00f6sen. Einer Psychologie, die dies zu Stande br\u00e4chte, w\u00e4re schlie\u00dflich ihr eigentlicher Gegenstand abhanden gekommen. Wir d\u00fcrfen nie vergessen, dass die \u00bbGesetze\u00ab, die wir f\u00fcr ein Gebiet von Thatsachen aufstellen, nur so lange eine Berechtigung besitzen, als sie diese Thatsachen wirklich in einen erkl\u00e4renden Zusammenhang bringen. Gesetze, die dies nicht leisten, sind nicht mehr F\u00f6rderungsmittel, sondern Hemmnisse der Erkenntniss. Welche der Thatsachen des individuellen wie des allgemeinen geistigen Lebens w\u00e4re aber bedeutsamer a\u00efs eben die der Entwicklung?\nAuch hier hat, wie ich glaube, die sachgem\u00e4\u00dfe Auffassung der Verh\u00e4ltnisse, wie so oft, unter der Anwendung unzutreffender Analogien nothgelitten. Indem man die Mechanik und abstracte Physik als die Urbilder betrachtet, denen jede erkl\u00e4rende Wissenschaftnacheifern","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14\nW. Wundt.\nm\u00fcsse, l\u00e4sst man die Verschiedenheit der Bedingungen, unter denen die Gebiete stehen, au\u00dfer Acht. Wenn die Psychologie in methodischer Beziehung \u00fcberhaupt mit irgend einer Naturwissenschaft verglichen werden kann, so kommt ihr sicherlich die Physiologie, und zwar, insofern wir von menschlicher Psychologie reden, die Physiologie des Menschen, viel n\u00e4her als jene aus der Untersuchung der allgemeinsten und v\u00f6llig unver\u00e4nderlichen Eigenschaften der K\u00f6rperwelt hervorgegangenen Gebiete. Kein Physiologe wird aber zugeben, dass die Frage der Entwicklung des Lebens und seiner Functionen nicht vor das Forum der Physiologie geh\u00f6re, und dass nicht schlie\u00dflich nach \u00bbGesetzen\u00ab gesucht werden m\u00fcsse, die \u00fcber diese Entwicklung Rechenschaft gehen. Ich meine, was f\u00fcr die Physiologie unbestreitbar ist,, das trifft f\u00fcr die Psychologie in noch viel h\u00f6herem Ma\u00dfe zu. Bei den physiologischen Vorg\u00e4ngen l\u00e4sst sich immerhin in manchen F\u00e4llen, wo es sich nur um das Verst\u00e4ndniss eines gegebenen Mechanismus oder Chemismus innerhalb des lebenden K\u00f6rpers handelt, von der genetischen Frage ahstrahiren. Auf psychologischem Gebiete ist geradezu alles in den Fluss jenes nie rastenden geistigen Werdens gestellt, das im Gebiete des geschichtlichen Werdens in anderen Formen sich \u00e4u\u00dfern mag, aber in seinen Grundbedingungen schlie\u00dflich doch \u00fcbereinstimmt, weil alle geschichtliche Entwicklung in den Grund-thatsachen geistiger Entwicklung, die im individuellen Lehen hervortreten, ihre Quelle hat. Wenn es hier jemals gelingen soll, die Thatsachen unter Gesetze zu bringen, so werden diese daher nie als zureichende gelten k\u00f6nnen, wenn sie nicht zu einem gro\u00dfen Theile selbst den Charakter von Entwicklungsgesetzen besitzen.\nDie Psychologie verh\u00e4lt sich hier nicht anders als jede andere Geisteswissenschaft. Auch die Sprachwissenschaft z. B. verzichtet ja, obgleich ihr Object fortw\u00e4hrend dem Fluss geschichtlicher Entwicklung unterworfen ist, keineswegs auf die Formulirung empirischer Gesetze. Oh solche Verallgemeinerungen ein engeres oder weiteres Umfangsgebiet besitzen, ist schlie\u00dflich ein f\u00fcr das Wesen der Sache gleichg\u00fcltiger Umstand. Die empirischen Gesetze, welche so die Sprachwissenschaft findet, sind aber in letzter Instanz sammt und sonders Entwicklungsgesetze. Die Gesetze des Lautwandels z. B. stellen fest, wie sich der Lautbestand einer Sprache oder Sprachengruppe im Laufe der Zeit ver\u00e4ndert hat. Die Gesetze der Formbildung bestimmen,","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Ziele und Wege der V\u00f6lkerpsychologie.\n15\nwie die sprachlichen Formen geworden sind und wie sie sich umgewandelt haben. Wenn die Psychologie gewisse Regelm\u00e4\u00dfigkeiten des inneren Geschehens als \u00bbGesetze\u00ab bezeichnet, die dieses Moment des Werdens nicht unmittelbar erkennen lassen, so bilden dieselben in Wahrheit nur eine scheinbare Ausnahme. Sie verhalten sich ebenso wie jene grammatischen Gesetze, bei denen man von dem Werden der sprachlichen Laute und Formen abstrahirt, um den Organismus einer gegebenen Sprache in einem bestimmten, als ruhend gedachten Zustande darzustellen, oder wie jene Gesetze der Physiologie, bei denen man lediglich die im entwickelten menschlichen Organismus vorkommenden Verh\u00e4ltnisse zu Grunde legt. So sind gewisse Associationsund Apperceptionsgesetze f\u00fcr eine bestimmte Bewusstseinsstufe von relativ allgemeing\u00fcltiger Art. Aber jene Stufe selbst steht inmitten einer langen Entwicklungsreihe, und ein psychologisches Verst\u00e4ndniss der f\u00fcr sie geltenden Gesetze wird stets die Erkenntniss der niederen Formen des Geschehens voraussetzen, aus denen sie sich entwickelt haben.\nDas geistige Leben ist im Bewusstsein des Menschen ein anderes als im Bewusstsein der h\u00f6heren Thiere, ja zum Theil im Bewusstsein des Culturmenschen ein anderes als in dem des Wilden. Es ist v\u00f6llig aussichtslos zu erwarten, dass es uns jemals gelingen werde, die Erscheinungen, welche die h\u00f6here Stufe darbietet, den n\u00e4mlichen \u00bbGesetzen\u00ab, denen das geistige Leben der niederen folgt, vollst\u00e4ndig unterzuordnen. Dennoch besteht zwischen beiden ein innerer Zusammenhang, der uns, auch abgesehen von allen genealogischen Annahmen, die Aufgabe stellt, die Gesetze der h\u00f6heren Stufe in gewissem Sinne als die Entwicklungsproducte der niederen aufzufassen. Alle geistigen Erscheinungen sind eben jenem Fluss des geschichtlichen Werdens unterworfen, bei dem das Vorangegangene zwar immer die Anlagen in sich enth\u00e4lt, aus denen sich die f\u00fcr das Folgende g\u00fcltigen Gesetze entwickeln werden, wo aber diese Gesetze selbst aus jenen Anlagen niemals ersch\u00f6pfend vorausbestimmt werden k\u00f6nnen. Darum kann in einem gegebenen Moment h\u00f6chstens die Richtung einer kommenden Entwicklung, nie diese selbst vorausgesagt werden. Ein wesentlicher Grund hierf\u00fcr liegt aber darin, dass schon bei der Entwicklung der allgemeinen Bewusstseinsfunctionen neben der in den psychologischen Thatsachen selbst gegebenen Vorbereitung stets auch noch die","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16\nW. Wandt.\nAbh\u00e4ngigkeit von \u00e4u\u00dferen Naturbedingungen eine wichtige Rolle spielt. Diese Abh\u00e4ngigkeit ist es eben, welche jene Annahme psychologischer Gesetze, die allen Beziehungen zu der physischen Organisation vorausgehen und die letztere h\u00f6chstens als H\u00fclfsmittel zu ihren Zwecken verwenden sollen, zu einer unhaltbaren Fiction macht, die dem Thatbestand der psychologischen Erfahrung gegen\u00fcber nirgends Stand h\u00e4lt. Die Psychologie hat es \u00fcberall mit Entwicklungen zu thun, die genau ebenso wie alle andern geistigen Entwicklungen an die mannigfachen \u00e4u\u00dferen Beziehungen der Wesen und vor allem an die Beziehung zu ihrer eigenen K\u00f6rperlichkeit gekn\u00fcpft sind. Ein Heraussch\u00e4len von Gesetzen, bei denen von allen diesen Beziehungen abstrahirt w\u00e4re, ist daher in diesem Falle genau ebenso unm\u00f6glich wie auf irgend einem anderen Gebiete geschichtlichen Werdens. Nur wenn man den Begriff des \u00bbGesetzes\u00ab nicht in dem in allen Erfahrungswissenschaften g\u00fcltigen Sinne der abstracten Verallgemeinerung gewisser Regelm\u00e4\u00dfigkeiten der Erfahrung versteht, sondern wenn man ihm die Bedeutung einer aus irgend welchen metaphysischen Voraussetzungen abgeleiteten Norm unterschiebt, der die Dinge aus irgend welchen a priori gewissen Gr\u00fcnden sich f\u00fcgen m\u00fcssen, \u2014 nur dann m\u00f6gen die \u00bbGesetze\u00ab jene \u00fcber allen Bedingungen der Zeit und \u00e4u\u00dferer Beziehungen stehende Gestalt gewinnen. Aber solche der Psychologie von au\u00dfen entgegengebrachte, nicht aus ihrem Gegenstand selbst abgeleitete Gesetze haben sich bis jetzt noch immer als unbrauchbar f\u00fcr die wirkliche psychologische Erkl\u00e4rung erwiesen, obgleich es selbstverst\u00e4ndlich an Bem\u00fchungen nicht mangelte, sie k\u00fcnstlich mit den Thatsachen in Verbindung zu bringen. Auch dann freilich konnte es nicht ausbleiben, dass gerade das Hauptproblem der Psychologie, die Frage der geistigen Entwicklung, von diesen angeblichen Gesetzen unber\u00fchrt blieb.\nSo scheint denn als das schlie\u00dfliche Resultat unserer Erw\u00e4gungen eine v\u00f6llige Unsicherheit dar\u00fcber zur\u00fcckzubleiben, was als die eigentliche Aufgabe der V\u00f6lkerpsychologie zu betrachten sei. Auf der einen Seite war nicht zu verkennen, dass das von Lazarus und Steinthal aufgestellte Programm nicht haltbar ist: Jene Scheidung zwischen Beschreibung und Erkl\u00e4rung, die sie annehmen, besteht nirgends zu Rechte, und die neue Disciplin, die sie fordern, findet daher","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Ziele und Wege der V\u00f6lkerpsychologie.\n17\n\u00fcberall schon die Pl\u00e4tze besetzt, welche sie einzunehmen bestimmt ist. Anderseits aber konnten auch die aus dem Begriff der Psychologie und ihrer Aufgaben gesch\u00f6pften Einw\u00e4nde gegen die Existenz einer V\u00f6lkerpsychologie nicht als zutreffend anerkannt werden. Der Abh\u00e4ngigkeit von \u00e4u\u00dferen Einfl\u00fcssen und dem Process geschichtlicher Entwicklung ist das Individuum so gut unterworfen wie irgend eine Gesammt-heit ; eine der Hauptaufgaben der Psychologie wird es daher immer bleiben, jene Wechselwirkungen zu untersuchen und diese Entwicklung begreiflich zu machen. Lassen wir den f\u00fcr die Erfahrung unbrauchbaren metaphysischen Seelenbegriff und die mit ihm zusammenh\u00e4ngende Fiction von \u00bbGesetzen\u00ab bei Seite, verstehen wir unter \u00bbSeele\u00ab lediglich den gesammten Inhalt psychologischer Erfahrungen, unter psychologischen Gesetzen die an diesen Erfahrungen wahrzunehmenden Regelm\u00e4\u00dfigkeiten, so ist die \u00bbVolksseele\u00ab an sich ein ebenso berechtigter, ja nothwendiger Gegenstand psychologischer Untersuchung wie die individuelle Seele, und da es Regelm\u00e4\u00dfigkeiten des geistigen Geschehens gibt, welche an die wechselseitigen Beziehungen der Individuen gebunden sind, so wird die V\u00f6lkerpsychologie sogar mit demselben Rechte den Anspruch erheben k\u00f6nnen \u00bbGesetzeswissenschaft\u00ab zu hei\u00dfen wie die Individualpsychologie.\nUnter diesen Umst\u00e4nden liegt die Vermuthung nahe, dass das Programm, welches Lazarus und Steinthal f\u00fcr die V\u00f6lkerpsychologie aufstellen, nicht deshalb unzutreffend sei, weil es eine solche Wissenschaft mit selbst\u00e4ndigen Aufgaben \u00fcberhaupt nicht gibt, sondern nur deshalb, weil jenes Programm zu weit ist und daher die Scheidung der wissenschaftlichen Aufgaben in ungeeigneter Weise bestimmt hat.\nIn der That kann in dieser Beziehung schon die Aufstellung eines besonderen oder concreten Theils der V\u00f6lkerpsychologie gerechte Bedenken erwecken. Sie soll \u00bbdie wirklich existirenden Volksgeister und ihre besonderen Entwicklungsformen\u00ab behandeln und so eine psychologische Beschreibung und Charakteristik der einzelnen V\u00f6lker liefern. Nun ist aber ein derartiges Unternehmen die wahre Aufgabe der Ethnologie, die mit gutem Recht gleichzeitig die physischen und die psychischen Eigenschaften der V\u00f6lker in ihren wechselseitigen Beziehungen und in ihrer Abh\u00e4ngigkeit von Natur und Geschichte zur Darstellung zu bringen sucht. Die Abl\u00f6sung des psychologischen\nWnndt, Philo\u00df. Studien. IY.\to","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18\nW. Wundt.\nTheils dieser Betrachtung kann im Interesse der Arbeitsteilung vor\u00fcbergehend von Nutzen sein. Niemals kann aber hier eine principielle Sonderung zugestanden werden, wie denn auch diejenigen Forscher, welche vorzugsweise das Gebiet der psychologischen Ethnologie bearbeiteten, jene Trennung ausdr\u00fccklich ablehnten *). Obgleich \u00fcbrigens die Ethnologie zu einer allgemeinen Schilderung der psychologischen Eigenschaften des Menschen zun\u00e4chst das Material zu liefern bestimmt ist, und daher jedenfalls eine wichtige H\u00fclfsdisciplin der V\u00f6lkerpsychologie \u2014 falls es eine solche geben sollte \u2014 abgibt, so steht doch ihr selbst nicht diese, sondern die Anthropologie als die ihr entsprechende allgemeine Disciplin gegen\u00fcber. Auch die Anthropologie h\u00e4lt aber zwischen der physiologischen und der psychologischen Betrachtung des Menschen die Mitte, da sie als Naturgeschichte des Menschen den letzteren gleichzeitig nach seinen k\u00f6rperlichen und geistigen Eigenschaften ins Auge fasst.\nScheiden wir demnach diese ethnologischen und anthropologischen Aufgaben aus, so umfasst jedoch, was nach Lazarus und Steinthal als Inhalt des allgemeinen Theils der V\u00f6lkerpsychologie \u00fcbrig bleibt, immer noch, wie ich glaube, zahlreiche Gebiete, die zu einer specifisch psychologischen Untersuchung v\u00f6llig ungeeignet sind. Vor allem ist hierher die Geschichte zu rechnen. F\u00fcr sie bleibt die Psychologie ein wichtiges H\u00fclfsmittel, nie aber wird sich die Geschichte ihrerseits-'als ein geeignetes H\u00fclfsmittel erweisen k\u00f6nnen, um aus ihren Thatsachen psychologische Gesetze von allgemeing\u00fcltiger Bedeutung abzuleiten. Der tiefere Grund dieses Verh\u00e4ltnisses liegt in dem singul\u00e4ren Charakter aller historischen Ereignisse. Ein Factum der Geschichte wiederholt sich nie zweimal. Denn es liegt in der Natur des historischen Geschehens, dass in ihm die Bedingungen der Begebenheiten fortw\u00e4hrend wechseln, so dass die schwachen Analogien, die verm\u00f6ge der \u00fcbereinstimmenden Z\u00fcge der menschlichen Natur selbstverst\u00e4ndlich auch hier nie ganz fehlen k\u00f6nnen, v\u00f6llig zur\u00fccktreten hinter den Momenten der Neubildung. F\u00fcr die Aufstellung psychologischer Verallgemeinerungen von selbst\u00e4ndigem Werth bietet\n1) Ich nenne hier namentlich Theodor Waitz, in seiner \u00bbAnthropologie der Naturv\u00f6lker\u00ab. Die vorz\u00fcglichen Arbeiten von E. B. Tylo r fallen, als wesentlich com-parativer und entwicklungsgeschichtlicher Natur, nicht sowohl der Ethnologie als der eigentlichen V\u00f6lkerpsychologie in dem unten n\u00e4her definirten Sinne zu.","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Ziele und Wege der V\u00f6lkerpsychologie.\n19\ndaher die Geschichte nirgends Angriffspunkte. Wo man etwa eine solche Aufstellung versuchen wollte, da w\u00fcrde dieselbe zu so abgeblassten Anwendungen der aus der individuellen Psychologie bekannten Gesetze f\u00fchren, dass es nicht erst der geschichtlichen Erfahrung bedarf, um sie zu finden. Auch ist meines Wissens niemals ein derartiger Versuch gemacht worden, oder wo etwa die bekannten Versuche allgemeing\u00fcltige \u00bbhistorische Gesetze\u00ab zu abstrahiren das psychologische Gebiet ber\u00fchren, da leiden sie an der n\u00e4mlichen trivialen Selbstverst\u00e4ndlichkeit, die diese sogenannten Gesetze \u00fcberhaupt auszeichnet.\nEinigerma\u00dfen abweichend von der eigentlichen Geschichte verhalten sich die Entwicklung der Kunst und der Wissenschaft; aber zu Objecten v\u00f6lkerpsychologischer Untersuchung eignen sie sich offenbar ebenso wenig. Beide bieten zwar eine rein historische und eine allgemeinere Seite der Betrachtung dar, und, abgesehen von der einzigartigen Natur des einzelnen Kunstwerks und der einzelnen wissenschaftlichen Leistung, sind daher Kunst und Wissenschaft Gesetzen unterworfen, die in dem allgemeinen geistigen Wesen des Menschen ihre Quellen haben. Dass in Bezug auf diese allgemeinen Gesetze des k\u00fcnstlerischen Schaffens und des wissenschaftlichen Denkens die Psychologie mitzureden habe, wird in der That niemand bestreiten. Gleichwohl kommt sie hier abermals aurais einH\u00fclfsmittel zur Anwendung, nicht aber bilden die Entwicklungen der Kunst und der Wissenschaft selbst\u00e4ndige Theile psychologischer Forschung. Die \u00e4sthetische Wirkung setzt neben psychologischen Bedingungen vor allem ethische Motive der mannigfaltigsten Art voraus und leitet durch diese auf metaphysische Gr\u00fcnde zur\u00fcck, die zwar ihrerseits wieder in bestimmten psychologischen Formen in die Erscheinung treten, durch die blo\u00dfe Betrachtung dieser Formen aber niemals ersch\u00f6pfend erkannt werden k\u00f6nnen, Aehnlich verh\u00e4lt es sich mit den allgemeing\u00fcltigen Elementen des wissenschaftlichen Denkens: sie sind eingeschlossen in den Verlauf des psychologischen Denkens, aus dem sie durch ihren eminenten Erkenntnisswerth sich aussondem. Eben darum aber reicht die Frage nach den Gr\u00fcnden dieses Erkenntnisswerthes und nach den Entwicklungsgesetzen des logischen Denkens weit \u00fcber den Umkreis der Psychologie hinaus, die hier \u00fcberall nur als H\u00fclfsmittel \u00abin der ersten Unterscheidung des Erkennens von den sonstigen Bestandteilen des Bewusstseinsinhaltes mitzuwirken hat. So sind denn\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\nW. Wundt.\nauch l\u00e4ngst jene allgemeineren, die historische Betrachtung \u00fcberschreitenden Probleme des k\u00fcnstlerischen Schaffens und des wissenschaftlichen Denkens zu Objecten selbst\u00e4ndiger philosophischer Disciplinen geworden, der \u00c4sthetik und der Erkenntnisstheorie oder Logik.\nHiernach bleiben schlie\u00dflich drei gro\u00dfe Gebiete \u00fcbrig, f\u00fcr die eine specifisch psychologische Betrachtung gefordert scheint, \u2014 drei Gebiete, die, weil ihr Inhalt den Umfang des individuellen Bewusstseins \u00fcberschreitet, zugleich als die drei Grundprohleme aller V\u00f6lkerpsychologie betrachtet werden m\u00fcssen: die Sprache, der Mythus und die Sitte.\nAuch sie bilden freilich zun\u00e4chst die Objecte einer rein historischen Betrachtung, hei welcher, wie hei jeder Geschichte, die psychologische Erkl\u00e4rung \u00fcberall als H\u00fclfsmittel dienen muss. Aber von der eigentlichen Geschichte unterscheiden sie sich durch den allgemeing\u00fcltigen Charakter bestimmter geistiger Entwicklungsgesetze, die in ihnen zur Erscheinung gelangen. Keineswegs in allen Thatsachen tritt dieser Charakter hervor : jede Sprache, jede nationale Mythenbildung und Sittenentwicklung steht unter ihren besonderen, auf keine allgemeing\u00fcltigen Regeln zur\u00fcckzuf\u00fchrenden Bedingungen. Darum unterscheiden sich in gewissem Betracht Sprachen, Mythen und Sitten nicht weniger als die sonstigen geschichtlichen Erlebnisse der einzelnen Nationen. Aber neben diesem singul\u00e4ren Charakter, der ihnen wie allem Geschichtlichen zukommt, nehmen sie doch im Unterschiede von den im engeren Sinne historischen Bildungen zugleich Theil an den universellen Entwicklungsgesetzen des menschlichen Geistes. Dies liegt eben darin begr\u00fcndet, dass die Entwicklung von Sprache, Mythus und Sitte auf \u00fcbereinstimmenden geistigen Kr\u00e4ften beruht, deren Wirkungen auch in gewissen allgemeinen Z\u00fcgen \u00fcbereinstimmen m\u00fcssen. Bei der Geschichte findet ein analoges Verh\u00e4ltniss sich nur in Bezug auf gewisse individuelle Motive des Handelns, die verm\u00f6ge der \u00fcbereinstimmenden menschlichen Natur ebenfalls mit einer gewissen Regelm\u00e4\u00dfigkeit wiederkehren. Aber diese individuellen Motive k\u00f6nnen es hier wegen der vielf\u00e4ltigen Kreuzungen der Interessen niemals zu einer allgemeing\u00fcltigen Wirkung auf das Ganze bringen : sie bewahren so auch in ihren v\u00f6lkerpsychologischen Effecten immer ihren individuellen Charakter; darum bleibt die Psychologie,","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Ziele und Wege der V\u00f6lkerpsychologie.\n21\nund zwar in der Form der individuellen Psychologie, der \u00e4u\u00dferen V\u00f6lkergeschichte gegen\u00fcber immer in der Stellung eines H\u00fclfsmittels, nirgends finden sich hier Gegenst\u00e4nde einer selbst\u00e4ndigen psychologischen Forschung, so dass zugleich das Verh\u00e4ltniss sich umkehren und die Geschichte zur Grundlage v\u00f6lkerpsychologischer Betrachtungen werden k\u00f6nnte.\nEin Wechselverh\u00e4ltniss dieser Art besteht dagegen in vollstem Umfange zwischen jenen drei oben bezeichne ten Gebieten und der Psychologie. Auch hier leistet die letztere bei der Interpretation der einzelnen Erscheinungen ihre Dienste ; anderseits aber sind Sprache, Mythus und Sitte seihst geistige Entwicklungsproducte, in deren Erzeugung sich eigenth\u00fcmliche psychologische Gesetze beth\u00e4tigen, zu denen die Eigenschaften des individuellen Bewusstseins zwar die letzten Motive enthalten, ohne dass aber damit jene Gesetze selbst schon gegeben w\u00e4ren. Denn indem die letzteren eine geistige Wechselwirkung der Individuen voraussetzen, \u00fcberschreiten sie ganz und gar den Umfang und die F\u00e4higkeiten des Einzelbewusstseins. Sie sind Formen des Geschehens, die durchaus neue, von der individuellen Psychologie nicht vorauszusehende Bedingungen mit sich f\u00fchren. Eben darum k\u00f6nnen aber diese Erscheinungen aus den Gesetzen des individuellen Seelenlebens ebenso wenig endg\u00fcltig erkl\u00e4rt werden, wie es etwa m\u00f6glich ist, aus den einfachen Gesetzen des geistigen Lebens der Thiere die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins zu deduciren. Alle jene aus der Gemeinschaft des geistigen Lebens hervorgehenden Entwicklungen bilden so die Probleme einer selbst\u00e4ndigen psychologischen Untersuchung, f\u00fcr die man den Namen der V\u00f6lkerpsychologie zweckm\u00e4\u00dfig deshalb beibehalten wird, weil die Volksgemeinschaft der weitaus wichtigste jener Lebenskreise ist, in denen sich ein geistiges Ge-sammtleben entwickeln kann. Die V\u00f6lkerpsychologie ihrerseits ist aber ein Theil der allgemeinen Psychologie, und ihre Resultate bieten vielfach auch f\u00fcr die individuelle Psychologie werthvolle Aufschl\u00fcsse dar, weil Sprache, Mythus und Sitte als Erzeugnisse des Gesammtgeistes zugleich ein Material abgeben, aus welchem auf das geistige Leben der Einzelnen zur\u00fcckgeschlossen werden kann. So werfen z. B. die Erscheinungen der Sprache, die an sich nur als eine Sch\u00f6pfung des Gesammtgeistes zu begreifen ist, doch zugleich ein helles Licht auf die psychologische Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit des individuellen Denkens. Wie also auf der","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\nW. Wundt.\neinen Seite die Individualpsychologie zur Aufhellung v\u00f6lkerpsychologischer Probleme dient, so gewinnen anderseits die v\u00f6lkerpsychologischen Thatsachen den Werth eines zur Erkl\u00e4rung der individuellen Bewusstseinserscheinungen \u00fcberaus werthvollen objectiven Materials.\nGegen die Stellung, die wir hiermit der V\u00f6lkerpsychologie als einer selbst\u00e4ndig neben der Individualpsychologie stehenden, mit deren H\u00fclfe arbeitenden, aber ihr selbst auch wiederum h\u00fclfreichen Disciplin anweisen, kann die Thatsache, dass Sprache, Mythus und Sitte auf diese Weise gleichzeitig zu Objecten verschiedener Wissenschaften gemacht werden, der Sprach-, Mythen- und Sittengeschichte sowohl wie der V\u00f6lkerpsychologie, nicht als irgend berechtigter Einwand gelten. Ist doch solche Doppelheit der Betrachtung auch anderw\u00e4rts nichts Ungew\u00f6hnliches. In Geologie und Pal\u00e4ontologie, Anatomie und Physiologie, Philologie und Geschichte, Kunstgeschichte und \u00c4sthetik, im System einer Wissenschaft und in ihrer Methodik, \u2014 hier \u00fcberall sind den einander coordiiiirten Formen wissenschaftlicher Bearbeitung die $jecte ganz oder theilweise gemeinsam, nur der Gesichtspunkt ist ein anderer, unter dem die Probleme behandelt werden. Selbst das individuelle Leben kann ja in \u00e4hnlichem Sinne Gegenstand einer doppelten Betrachtungsweise sein: es kann einmal in seiner singul\u00e4ren Natur und in seinem specifischen, nur ihm eigenth\u00fcmlichen Entwicklungsgang aufgefasst werden, dann ist es Gegenstand der Biographie, dieser beschr\u00e4nktesten, aber, sofern nur das zu schildernde Leben einen bedeutsamen Inhalt hat, keineswegs unwichtigsten Form der Geschichte. Die individuellen Erlebnisse k\u00f6nnen aber auch in Bezug auf ihren allgemeing\u00fcltigen Werth, auf die geistigen Gesetze, die in ihnen zur \u00c4u\u00dferung kommen, untersucht werden, \u2014 dann tritt das Einzelleben unter den Gesichtspunkt der Individualpsychologie, f\u00fcr welche der specifische Werth dieses Einzellebens ganz au\u00dfer Betracht bleibt, da sie in den einzelnen Erfahrungen desselben nur einen Stoff sieht, in dem sich ihr allgemeine geistige Entwicklungsgesetze enth\u00fcllen.\nVollkommen dem analog ist das Verh\u00e4ltniss der V\u00f6lkerge-schichte zur V\u00f6lkerpsychologie. Wie die psychologische Untersuchung des Einzellebens alle die Momente desselben, die nur eine singul\u00e4re Bedeutung besitzen, au\u00dfer Betracht l\u00e4sst, so auch die V\u00f6lkerpsychologie. Nur hat sich hier innerhalb der geschichtlichen Be-","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Ziele und Wege der V\u00f6lkerpsychologie.\n23\narbeitung selbst schon eine vorbereitende Scheidung der Gebiete vollzogen, indem die Entwicklung jener allgemeinen Grundlagen des menschlichen Gesammtlebens, der gemeinsamen Sprache, des gemeinsamen Y or stellungskreises und der allgemeing\u00fcltigen Willensnormen, sich von der Schilderung der \u00e4u\u00dferen Schicksale der V\u00f6lker und ihrer Ableitung aus inneren Ursachen als dem Object der eigentlichen Geschichte getrennt hat. Aber auch nach dieser Scheidung bleibt die geschichtliche Darstellung jener allgemeinen Elemente des V\u00f6lkerlebens noch eine von ihrer psychologischen Erforschung wesentlich verschiedene Aufgabe : die erstere betrachtet dieselben in ihrer historischen Bedingtheit und darum im Zusammenhang mit der ganzen \u00e4u\u00dferen und inneren Geschichte der V\u00f6lker ; die zweite untersucht sie lediglich im Hinblick auf die allgemeinen geistigen Entwicklungsgesetze, die an ihnen zum Ausdruck gelangen. F\u00fcr die geschichtliche Betrachtung hat die Vergleichung mythischer Vorstel-hingskreise, die au\u00dferhalb jedes nachweisbaren historischen Zusammenhangs stehen, h\u00f6chstens insofern einen Werth, als daraus etwa trotzdem auf \u00fcbereinstimmende geschichtliche Bedingungen zur\u00fcckgeschlossen werden kann: f\u00fcr die v\u00f6lkerpsychologische Untersuchung ist umgekehrt die \u00dcbereinstimmung des Einzelnen vor Allem dann von Bedeutung, wenn eine Entstehung unter \u00e4hnlichen, aber geschichtlich unabh\u00e4ngigen Bedingungen nachgewiesen werden kann. Hierin bew\u00e4hrt es sich eben, dass die geschichtliche Betrachtung den singul\u00e4ren, die psychologische den allgemeing\u00fcltigen Erscheinungen des V\u00f6lkerlebens ihre Aufmerksamkeit zuwendet. Darum erg\u00e4nzen sich zugleich beide : denn alles Allgemeing\u00fcltige ist urspr\u00fcnglich der Beobachtung als ein Singul\u00e4res gegeben, und es kann erst aus dem Fluss des Einzelgeschehens durch die Vergleichung zahlreicher Entwicklungen von \u00fcbereinstimmendem Charakter gewonnen werden. Anderseits aber erheben sich alle singul\u00e4ren Erlebnisse auf der Grundlage allgemeiner Eigenschaften des Volksgeistes, ebenso wie das individuelle Leben die allgemeinen psychologischen Eigenschaften des Einzelbewusstseins voraussetzt. Darum sch\u00f6pft die V\u00f6lkerpsychologie aus der Geschichte, um sich ihrerseits wieder der letzteren als H\u00fclfs-mittel zur Verf\u00fcgung zu stellen.\nKaum bedarf es wohl nach diesen allgemeinen Bemerkungen noch einer n\u00e4heren Ausf\u00fchrung an Beispielen, wie verschieden sich","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nW. Wundt.\ndie historische und die psychologische Betrachtung gegen\u00fcber allen jenen Gegenst\u00e4nden, die ihnen gemeinsam sind, gestalten. F\u00fcr die Sprachgeschichte sind die Entwicklung und allm\u00e4hliche Ver\u00e4nderung der grammatischen Formen, die Scheidung der Redetheile, der Bedeutungswandel der W\u00f6rter und die in ihm sich auspr\u00e4gende Diffe-renzirung und Wandelung der Begriffe Bestandtheile einer zusammengeh\u00f6rigen geschichtlichen Entwicklung, die ihren Werth auch dann beh\u00e4lt, wenn sie in der beobachteten Form nur einmal vorgekommen sein sollte. Die Psychologie der Sprache erblickt in allen diesen Vorg\u00e4ngen Erscheinungsformen des geistigen Gesammtlebens, die f\u00fcr sie nur insoweit ein Interesse besitzen, als sie auf allgemeing\u00fcltige psychologische Gesetze zur\u00fcckgef\u00fchrt werden k\u00f6nnen. Wenn das Wort \u00bbK\u00f6nig\u00ab mit dem gothischen Wort \u00bbKuni\u00ab, Geschlecht, zusammenh\u00e4ngt und darnach, die Endung patronymisch gefasst, einen \u00bbMann von Geschlecht\u00ab bedeutet, so mag dies f\u00fcr den Historiker insofern bedeutsam sein, als es auf eine Urzeit zur\u00fcckweist, in welcher ein Geburtsadel die Herrschaft f\u00fchrte ; f\u00fcr den Psychologen steht die Frage im Vordergrund, auf welcher auch in anderen \u00e4hnlichen Beispielen zum Ausdruck kommenden Bewegung der Vorstellungen dieser \u00dcbergang beruhe, und er wird so den einzelnen Fall als die Exemplification eines allgemeinen Gesetzes des Wandels der Vorstellungen im Volksgeiste darz\u00fcstellen suchen. Den Historiker werden die mannigfachen Sitten, die hei deutschen und slavischen V\u00f6lkern auf einen dereinst weit verbreiteten Cultus von Baum-, Wald- und Feldgeistern hinweisen, als Zeugnisse fr\u00fcherer Religionsanschauungen und Cultur-zust\u00e4nde interessiren; das Vorkommen \u00e4hnlicher Culte bei den alten und bei manchen orientalischen V\u00f6lkern wird er als werthvolle Spuren vorgeschichtlicher Beziehungen beachten. F\u00fcr den Psychologen dagegen entsteht die ganz andere Frage, welche allgemeing\u00fcltigen Bedingungen der Entstehung jener eigenth\u00fcmlichen Cultvorstellungen zu Grunde liegen, und welchen psychologischen Ursachen sie hinwiederum ihre lange Fortdauer unter v\u00f6llig ge\u00e4nderten Culturzust\u00e4n-den, sowie die damit Hand in Hand gehenden, in ihren wesentlichsten Z\u00fcgen \u00fcberall gleichartigen Umwandelungen verdanken; und auch hier wird die psychologische Untersuchung schlie\u00dflich bem\u00fcht sein* den Vorgang auf ein allgemeing\u00fcltiges Entwicklungsgesetz des Volksgeistes zur\u00fcckzuf\u00fchren.","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Ziele und Wege der V\u00f6lkerpsychologie.\n25\nWieder aber kommen wir bei dem Versuch die Gebiete auszumessen, f\u00fcr welche in dieser Weise der historischen eine psychologische Untersuchung parallel gehen kann, auf Sprache, Mythus und Sitte als die einzigen zur\u00fcck, welche den hier erforderlichen Charakter allgemeiner Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit mit dem dem individuellen wie dem V\u00f6lkerleben eingepr\u00e4gten Charakter singul\u00e4rer geschichtlicher Entwicklung verbinden. Die Sprache enth\u00e4lt die allgemeine Form der in dem Volksgeiste lebenden Vorstellungen und die Gesetze ihrer Verkn\u00fcpfung. Der Mythus birgt den urspr\u00fcnglichen Inhalt dieser Vorstellungen in seiner Bedingtheit durch Gef\u00fchle und Triebe. Die Sitte endlich schlie\u00dft die aus diesen Vorstellungen und Trieben entsprungenen allgemeinen Willensrichtungen in sich. Wir verstehen darum hier Mythus und Sitte in jenem weiteren Sinne, in welchem der erstere die ganze primitive Weltanschauung enth\u00e4lt, wie sie unter dem Einfl\u00fcsse der allgemeinen Anlagen der menschlichen Natur vor dem Beginn des wissenschaftlichen Denkens entstanden ist, w\u00e4hrend die Sitte zugleich alle jene Anf\u00e4nge der Rechtsordnung umfasst, welche der planm\u00e4\u00dfigen Rechtsbildung, die ein singul\u00e4rer historischer Vorgang ist, vorangehen.\nSo wiederholen sich in Sprache, Mythus und Sitte gleichsam auf einer h\u00f6heren Stufe die Elemente, aus denen sich der Thatbestand des individuellen Bewusstseins zusammensetzt. Dabei f\u00fchrt aber der Wechsel verkehr der Einzelgeister, in deren gemeinsamen Vorstellungen und Strebungen die Volksseele besteht, neue Bedingungen mit sich. Sie sind es namentlich, die, dem untheilbaren Vorstellungs-inhalt des individuellen Bewusstseins gegen\u00fcber, Sprache und Mythus als zwei Erscheinungsweisen des Volksgeistes hervortreten lassen, die sich ann\u00e4hernd wie Form und Inhalt zu einander .verhalten, indem die Sprache dem geistigen Lebensinhalt jene nach au\u00dfen tretende Form gibt, durch welche derselbe erst zu einem gemeinsamen werden kann. In der Sitte endlich beth\u00e4tigt sich die Willensseite der Volksseele. Freilich aber, wie bei der Betrachtung des Einzelbewusstseins Vorstellen, F\u00fchlen und Wollen nicht als getrennte Kr\u00e4fte angesehen werden d\u00fcrfen, sondern vielmehr als die in sich untrennbaren Bestandtheile eines und desselben inneren Geschehens : so bilden auch Sprache, Mythus und Sitte allgemeine geistige Erscheinun-","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"20\n, W. Wundt.\ngen, die auf das innigste mit einander verwachsen sind, so dass sich die eine ohne die andere nicht denken lie\u00dfe. Die Sprache ist nicht blo\u00df das H\u00fclfsmittel, welches die individuellen geistigen Kr\u00e4fte zur Einheit sammelt, sondern sie nimmt an dem Inhalt, den sie zum Ausdruck bringt, den lebendigsten Antheil : sie ist selbst ganz und gar von jenem mythologischen Denken erf\u00fcllt, das urspr\u00fcnglich ihren Inhalt bildet. Nicht minder sind Mythus und Sitte \u00fcberall mit einander verwachsen. Sie verhalten sich zu einander wie das Motiv und die That: die Sitte gibt den Lebensanschauungen eines Volkes, welche der Mythus in sich birgt und welche die Sprache zu einem gemeinsamen Besitz macht, in Handlungen Ausdruck, und diese Handlungen wirken ihrerseits erhaltend und weiterbildend auf die Vorstellungen zur\u00fcck, aus denen sie entsprungen sind. Neben der Untersuchung der einzelnen Functionen der Volksseele wird daher die Erforschung dieser Wechselwirkungen derselben eine wichtige Aufgabe der V\u00f6lkerpsychologie sein.\nNat\u00fcrlich ist der fundamentale Unterschied, welchen so die Geschichte von Sprache, Mythus und Sitte andern geschichtlichen Entwicklungen gegen\u00fcber darbietet, der Beachtung nicht v\u00f6llig entgangen. In Bezug auf die Sprache hat man diesen Unterschied darin zu linden geglaubt, dass ihre Entwicklung nicht sowohl ein geschichtlicher als ein naturgeschichtlicher Process sei1). Dieser Aute-druck ist wohl kein ganz gl\u00fccklicher; immerhin liegt ihm das Bewusstsein zu Grunde, dass Sprache, Mythus und Sitte in Bezug auf die Hauptmomente ihrer Entwicklung dem bewussten Einfl\u00fcsse indi-dueller Willensacte entzogen sind, daher sie als unmittelbare Erzeugnisse des gesammten Volksgeistes erscheinen, an denen der Wille Einzelner immer nur unwesentliches \u00e4ndern kann. Diese Eigenth\u00fcmlich-keit liegt nun freilich nicht sowohl in einer wirklichen Unabh\u00e4ngigkeit von den Eiuzeigeistern begr\u00fcndet als vielmehr in dem Umstande, dass deren Einfl\u00fcsse hier unendlich viel zersplitterter und darum unsichtbarer wirksam sind als in der Geschichte des politischen und der h\u00f6heren Entwicklungsformen des geistigen Lebens der V\u00f6lker. Aber diese Unsichtbarkeit der individuellen Wirkungen bringt es zugleich mit sich, dass eine jede derselben nur dann von dauerndem Erfolge sein kann, wenn sie den in der Gemeinschaft an und f\u00fcr sich schon bestehen-\n1) Vergl. hierzu die Bemerkungen in meiner Logik, II S. 550.","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Ziele und Wege der V\u00f6lkerpsychologie.\n27\nden Strebungen tentgegenkommt. Hieraus gewinnen diese in die Anf\u00e4nge des menschlichen Daseins zur\u00fcckreichenden geschichtlichen Entwicklungen allerdings eine gewisse Verwandtschaft mit Naturprocessen , insofern sie aus allverbreiteten Naturtrieben zu entspringen scheinen : die Willensimpulse sind eben hier zu Totalkr\u00e4ften geworden, die auch in der Unwiderstehlichkeit ihrer Wirkungen eine gewisse Aehnlichkeit mit blinden Naturkr\u00e4ften annehmen. Da auf solche Weise diese primitiven Erzeugnisse des Gesammtwillens die Resultate allverbreiteter geistiger Kr\u00e4fte sind, so erkl\u00e4rt sich daraus auch ohne weiteres der allgemeing\u00fcltige Charakter, den die Erscheinungen in Bezug auf gewisse Grundformen des Geschehens an sich tragen, und der sie ehen nicht blo\u00df zu Objecten historischer Betrachtung macht, sondern ihnen zugleich den Werth von allgemeinen Erzeugnissen des menschlichen Gesammtgeistes verleiht, die eine psychologische Untersuchung herausfordem.\nMag es demnach auf den ersten Blick befremdend erscheinen, dass gerade Sprache, Mythus und Sitte von uns als die Aufgaben der V\u00f6lkerpsychologie herausgegriffen, alle \u00fcbrigen Erzeugnisse des Volksgeistes aber derselben entzogen werden, so wird doch, glaube ich, dieses Befremden schwinden, wenn man erw\u00e4gt, dass eben der Charakter der Allgemeing\u00fcltigkeit der fundamentalen Erscheinungsformen allein auf jenen Gebieten anzutreffen ist, bei den \u00fcbrigen nur insoweit, als sie in Wahrheit selbst noch denselben angeh\u00f6ren. So sind insbesondere die Anf\u00e4nge der Kunst und der Wissenschaft aus dem Mythus, die Rechts- und Staatenbildungen aus der Sitte emporge-wachsen. Object einer psychologischen Betrachtung, welche in \u00e4hnlichem Sinne das V\u00f6lkerbewusstsein wie die individuelle Psychologie das Einzelbewusstsein zu ihrem Gegenstand nimmt, kann aber naturgem\u00e4\u00df nur das sein, was f\u00fcr das erstere einen ebenso allgemeing\u00fcltigen Werth hat, wie die von der Individualpsychologie untersuchten Thatsachen f\u00fcr das Einzelbewusstsein. In Wahrheit sind darum Sprache, Mythus und Sitte keineswegs blo\u00dfe Bruchst\u00fccke aus dem Zusammenhang des Volksgeistes, sondern sie sind dieser Volksgeist selbst in seiner von den individuellen Einfl\u00fcssen singul\u00e4rer geschichtlicher Entwicklung verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig noch unber\u00fchrten Gestalt.","page":27},{"file":"p0640s0001table1.txt","language":"de","ocr_de":"Wundt, Philosophische-Studien. \u00c6Bd.\nI (Tab.\u00ef\u00ef.)\n+0,10\n\u00c6 (Tab. V.) IS, \u00c0.\nTaf.l.\n0,05\nO\n0,05\n15\n20\n70\n-0,10\n+0,20\nW.(Tab.W)\n65,02.\n+0,05\nli\u00dbiAnst.v.' J. G.Bach.Xeipzig-\nYerlagy.Wilh.Engelmaim, leipzig.","page":0}],"identifier":"lit3098","issued":"1888","language":"de","pages":"1-27","startpages":"1","title":"Ueber Ziele und Wege der V\u00f6lkerpsychologie","type":"Journal Article","volume":"4"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:12:40.487113+00:00"}