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{"created":"2022-01-31T15:36:09.455811+00:00","id":"lit30980","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Barth, P.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 13: 397-400","fulltext":[{"file":"p0397.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n397\nFunktion, die den reflektorischen Ablauf zur\u00fcckh\u00e4lt. Diese Erscheinung erkl\u00e4rt De Sanctis dadurch, dafs er sagt: durch eine nat\u00fcrliche Disposition des leicht erregbaren G-ef\u00e4fssystems wird den musikalisch-motorischen Zentren des Kortex mehr Blut zugef\u00fchrt als den anderen. Da ferner die Ern\u00e4hrung eines Organes oder eines Teiles desselben der Funktion proportional ist, so folgt daraus, dafs diese Zentren \u00fcbernormal th\u00e4tig sind, w\u00e4hrend den anderen Blutzuflufs entzogen wird und sie deshalb unternormal funktionieren, daher eine Hemmung der auf die ersteren wirkenden Beize unm\u00f6glich wird. Wallaschek (Wien).\nSante de Sanctis. Negativismo vesanico e allucinazioni antagonistiche.\nBoll, della Soc. Landsiana degli ospedali di Borna. XVI. 1. 16 S. 1896;\nAn einem Falle yon Verfolgungswahn, auf dem Boden von Degeneration, bei einem 27j\u00e4hrigen Landmann aus einer erblich stark belasteten Familie (Alkoholismus, Epilepsie, Verbrechen) erl\u00e4utert Verfasser den Stufengang, den die psychische Entwickelung des Individuums aus den unscheinbaren Anf\u00e4ngen von Furchtsamkeit, Mifstrauen und Zweifelsucht bis zur H\u00f6he des unheilbaren Wahnsinns nimmt. Der einem Jeden mehr oder minder innewohnende Geist der Verneinung \u00fcberwuchert den Rest der Widerstandskraft des Ich, der sich in Kontrastempfindungen \u00e4ufsert \u2014 auf dem krankhaften, von Halluzinationen aller Sinnesorgane durch w\u00fchlten Boden, bis zur v\u00f6lligen Vernichtung der Pers\u00f6nlichkeit des Kranken, der unter dem Banne (obbedienza) einer anderen ihm feindlich gesinnten Macht zu stehen glaubt. Charakteristisch ist f\u00fcr den Zwiespalt, in dem er sich befindet, dafs die Stimmen und Befehle, die er zu h\u00f6ren glaubt, Ja und Nein zu gleicher Zeit sagen.\nVerfasser fafst den Vorgang in einen etwas derben kurzen Ausdruck \u201eHypertrophie der negativen Bilder\u201c zusammen, verwahrt sich indes gegen die etwaige Deutung desselben als eines metaphysischen Begriffes.\tFraenkel.\nC. Bougl\u00e9. Les sciences sociales en Allemagne. Les m\u00e9thodes actuelles.\nParis, F. Alcan. 1896. 172 S.\nC. Bougl\u00e9 hat Recht gethan, zu seiner Darstellung der sozialen Wissenschaften in Deutschland nicht diejenigen deutschen Schriftsteller zu w\u00e4hlen, die sich selbst Soziologen nennen, Lilienfeld. Sch\u00e4ffle, Gumplowicz. Denn gerade diese bieten nicht genug Eigent\u00fcmliches dar. Lilienfeld und Sch\u00e4ffle setzen die schon von Spencer ausgef\u00fchrte Analogie zwischen Gesellschaft und Organismus fort ; Gumplowicz bewegt sich immer nur in seiner unhaltbaren Theorie, dafs alles soziale Leben auf dem Kampfe verschiedener Rassen beruhe. B. hat vier Denker ausgew\u00e4hlt, die nicht das ganze Leben der Gesellschaft nach allen Seiten in ihren Betrachtungen ersch\u00f6pfen, aber eine gewisse Selbst\u00e4ndigkeit der Auffassung zeigen, n\u00e4mlich M. Lazarus, G. Simmel, A. Wagner und R. Ihering. Zu bedauern ist, dafs W. Dilthey, der die Soziologie als Wissenschaft leugnet, aber in seiner \u201eEinleitung in die Geisteswissenschaften\u201c","page":397},{"file":"p0398.txt","language":"de","ocr_de":"398\nLitteraturbericht.\ndoch zu ihren Problemen Stellung nimmt, nicht mit behandelt ist. B. giebt f\u00fcr jeden einen kurzen \u00dcberblick seiner Grundgedanken, dann eine Anwendung derselben auf ein spezielles Problem, endlich eine kurze Kritik.\nLazarus verlangt eine soziale Psychologie, deren Gesetze das Geschick der V\u00f6lker ebenso erkl\u00e4ren sollen, wie die individuelle Psychologie den Lebenslauf des Individuums erkl\u00e4rt. Die soziale Psychologie mufs sogar der individuellen vorausgehen, da das Individuum von der Gesellschaft abh\u00e4ngig, diese logisch und chronologisch fr\u00fcher ist. Die wichtigste Form der Gesellschaft ist das Volk. Nicht Basse noch Sprache, sondern gemeinsame Ideen und gemeinsame Methode des Denkens schaffen ein Volk, indem sie sich in Religion, Kunst, Wissenschaft, Recht und Wirtschaft auspr\u00e4gen. Diesen Volksgeist kann man, weil er sich in Objekten auspr\u00e4gt (in anderem Sinne als bei Hegel) auch objektiven Geist nennen. Auch das Genie ist nur eine hohe Synthese allgemein verbreiteter Ideen. Nur die Psychologie der V\u00f6lker kann ihren Ursprung und ihre Entwickelung lehren.\n^Bei ihr haben alle bisherigen Theorien der sozialen Entwickelung Anleihen gemacht: die dialektische (HEGELSche), die historische, die naturalistische. Hegel spricht vom \u201eVolksgeist\u201c. Freilich sind nun die Gesetze dieser V\u00f6lkerpsychologie, die zur \u201eErkl\u00e4rung\u201c der historischen Ereignisse dienen sollen, selbst erst aus ihnen abstrahiert, es sind also nur Induktionen, nicht etwa Axiome, sie sind nur das Konstante im Variablen. Gegen die naturalistische Schule ist zu betonen, dafs die Analogie der Gesellschaft und des Organismus keine Erkl\u00e4rung f\u00fcr die Erscheinungen der ersteren ist. Eine richtige Metapher f\u00fcr den Volksgeist giebt nicht der K\u00f6rper, sondern der individuelle Geist.\nB. erhebt gegen Lazarus mit Recht den Einwand, dafs er nicht erkl\u00e4rt, wie man von dem individuellen zum sozialen Geiste kommt, tadelt auch mit Recht den Vergleich der Psychologie mit der Mechanik, der nicht zutrifft, da die Mechanik unabh\u00e4ngig von den einzelnen Teilen der Physik vor ihnen entsteht, die LAZARUSSche V\u00f6lkerpsychologie aber erst nach und aus den historischen Ereignissen, die sie erkl\u00e4ren soll, gewonnen ist.\nSimmel kritisiert in seiner ,,Einleitung in die Moralwissenschaft\u201c alle moralischen Systeme, Pflicht ist ihm eine leere Abstraktion wie das Sein, eine \u201epsychologische\u201c Form, die nur, weil sie in ihrem Urspr\u00fcnge dunkel oder unbekannt ist, idealisiert wird. Ebenso wenig aber wie die Pflicht ist der Egoismus als Moralprinzip f\u00fcr Simmel haltbar. Es l\u00e4fst sich nicht beweisen, dafs der Egoismus allgemeiner, primitiver oder einfacher sei als der Altruismus. Und auch erkenntnistheoretisch l\u00e4fst sich der Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt (dem anderen Menschen) nicht aufheben. (?) Zudem ist das Ich selbst zusammengesetzt und ver\u00e4nderlich. Der Monismus ist die Erbs\u00fcnde aller abstrakten ethischen Theorien, er geh\u00f6rt nur der Praxis an. Es bleibt also nur die Beobachtung der historischen Kr\u00e4fte, die die Moral bilden. F\u00fcr die Praxis, f\u00fcr die sittliche Wahl zwischen verschiedenen Motiven bleibt nur das \u201emoralische Gef\u00fchl\u201c \u00fcbrig, ein etwas d\u00fcrftiges Ergebnis der sehr breiten Er\u00f6rterungen Simmels.","page":398},{"file":"p0399.txt","language":"de","ocr_de":"Litter aturbericht.\n399\nAdolf Wagner, der nun folgt, hat nicht alle Seiten des sozialen Lebens behandelt, sondern nur die Wirtschaft, f\u00fcr die er eine psychologische Grundlage f\u00fcr n\u00f6tig h\u00e4lt. Gegeben sind Bed\u00fcrfnisse verschiedenen Grades, die man in Bed\u00fcrfnisse der Existenz und Bed\u00fcrfnisse der Kultur einteilen kann. Aus ihnen entspringt die Arbeit, die nur das Ziel hat, mit m\u00f6glichst wenig Anstrengung m\u00f6glichst viel Befriedigung zu schaffen. Bas ist das \u00f6konomische Prinzip. Doch erzeugt die \u00f6konomische Natur des Menschen nicht allein seine Handlungen. Vielmehr giebt es aufser dem Streben nach \u00f6konomischem Vorteil noch vier Motive, die die menschlichen Handlungen bestimmen : das Streben nach Belohnung (und gleichzeitig Furcht vor Strafe), nach Ehre, nach Th\u00e4tig-keit (im Gegens\u00e4tze zur Passivit\u00e4t) und endlich, als einziges nicht egoistisches, das Streben, sein Gewissen zu befriedigen. Alle diese f\u00fcnf Motive wirken in der Geschichte in mannigfaltiger Mischung, meistens in verschiedener, vom ersten zum letzten abnehmender St\u00e4rke. Der Fehler des Individualismus ist es, nur das erste zu sehen. Der Sozialismus, wenigstens der Marxismus, will in der Vergangenheit auch nur den Egoismus als wirksam anerkennen, glaubt aber, dafs er in der Zukunft, bei anderer Wirtschaftsordnung, verschwinden werde, Wagner stellt, beide ablehnend, den Staatssozialismus als Norm f\u00fcr die Praxis auf. Denn ganz auf jede Norm zu verzichten, wie es die historische Methode der National\u00f6konomie will, ist unm\u00f6glich.\nWegen der Komplikation der Motive mufs die Geschichte, wenn sie Typen und Gesetze erhalten will, deduktiv verfahren. Aber dies ist gef\u00e4hrlich, besser ist isolierende Abstraktion und darauf folgende Deduktion der komplizierten Erscheinungen auf ihre Komponenten. So kann man aus der Geschichte auch die f\u00fcr eine bestimmte Zeit, im besonderen die Gegenwart, erreichbaren Ziele kennen lernen. Die sozialen Wissenschaften zeigen uns eben die Tendenzen des Werdens an.\nR. Ihering hat seine sozialphilosophischen Ideen wesentlich in dem Werke \u201eDer Zweck im Hecht\u201c dargelegt. Jede menschliche Handlung hat einen Zweck. Der Zweck ist ein subjektiver und ein objektiver. Nur der subjektive ist im Bewufstsein, er ist die Lust. Der objektive ergiebt sich ohne die Absicht des Handelnden. Urspr\u00fcnglich sind alle Zwecke egoistisch, da aber der Mensch in der Gesellschaft lebt, kommt auch Bek\u00e4mpfung des Egoismus, Aufopferung hinzu. Demgem\u00e4fs wirken in der Gesellschaft vier Hebel: zwei f\u00fcr den Egoismus: Lohn und Zwang; zwei f\u00fcr den sittlichen Menschen : Pflicht und Liebe.\nDer Lohn realisiert sich im Verkehr im weitesten Sinne, der auch Angebot und Ankauf von Arbeit einschliefst. Und zwar ist Ih. so optimistisch, zu glauben, dafs der Verkehr unter dem Antrieb des Egoismus Gerechtigkeit, Unabh\u00e4ngigkeit und Gleichheit zu st\u00e4nde bringen k\u00f6nne Wo der Lohn nicht ausreicht, die Interessen friedlich zu vereinigen, da tritt der Zwang ein, der immer von der Staatsgewalt ausgeht, die das Hecht erzwingt. Aus dem positiven, vom Staate erzwungenen Rechte ist das Rechtsgef\u00fchl entstanden, nicht vor ihm (?). Das Recht ist zuerst die Politik der Gewalt, sp\u00e4ter beruht es auf Zustimmung aller Mitglieder der Gesellschaft, und einseitige Gesetze, die nur f\u00fcr den B\u00fcrger gelten,","page":399},{"file":"p0400.txt","language":"de","ocr_de":"400\nLiiteraturbericht.\nwerden zweiseitige, die auch den Herrscher oder den Staat selbst verpflichten. So ist es der Zweck des Rechts, die Bedingungen des sozialen Lebens zu sichern, und dieser Zweck erkl\u00e4rt alle seine Ver\u00e4nderungen.\nDer Antrieb der Pflicht, also die Gesamtheit der sittlichen Regeln, entspringt aus dem Bed\u00fcrfnis der Gesellschaft. Ihr Motiv ist nicht die Lust, sondern das Streben, subjektive Zwecke zu objektiven zu erheben. In der Liebe fallen Egoismus und Altruismus \u00fcberhaupt zusammen.\nDie Lehre Iherings wird wenig kritisiert. Gegen die historische Rechtsschule Savignys und seiner Anh\u00e4nger, die nur Phrasen von der organischen Natur des Rechts und der Volksseele machte und damit im Widerspruch das r\u00f6mische Recht in Deutschland f\u00fcr durchaus normal hielt, wird sein Verdienst hervorgehoben. Dies allerdings mit Recht. Schon die Hegelianer sprachen in sehr begr\u00fcndeter Weise von der \u201eGedankenlosigkeit\u201c jener Schule. Der Volksgeist seihst ist nach Ihering etwas Werdendes.\nDies die Hauptideen der vier Soziologen, die B. dargestellt hat. Daneben giebt er mannigfache Seitenblicke auf verwandte Theorien. Der Darstellung ist Pr\u00e4zision und Gedr\u00e4ngtheit nachzur\u00fchmen, die Kritik aber scheint dem Referenten nicht scharf genug; besonders Simmel und Iherirg zeigen schwerere M\u00e4ngel ihres Verfahrens, die Bougl\u00e9 als solche h\u00e4tte hervorheben k\u00f6nnen. Simmel scheint nicht mehr seine fr\u00fchere Ansicht zu wiederholen, dafs die Psychologie der Metaphysik darin gleich sei, dafs in ihr entgegengesetzte S\u00e4tze gleiche Geltung haben. Aber seine Zur\u00fcckweisung des Pflichtbegriffs, weil er abstrakt sei, ist viel unwissenschaftlicher, als Bougl\u00e9 zugesteht. Auch ist Simmel keineswegs vollst\u00e4ndig. Der Evolutionismus als Moralprinzip ist z. B. fast gar nicht ber\u00fccksichtigt.\nIhering aber fehlt zwar nicht der Begriff der Gesellschaft, wohl aber der der Gesellschaften. Er kennt nur eine r\u00f6mische Gesellschaft, weifs nicht, dafs es drei r\u00f6mische Gesellschaften giebt: die gentile, die st\u00e4ndische der Republik, die Klassengesellschaft des Kaiserreichs. So mangelt ihm doch die richtige Erkenntnis der wesentlichen historischen Ver\u00e4nderungen, die in Ver\u00e4nderung des Verh\u00e4ltnisses des individuellen zum sozialen Willen bestehen. Sein ganzes Denken bleibt zwar nicht auf der Oberfl\u00e4che, ab\u00e9r er geht nicht bis zum tiefsten erreichbaren Grunde. Er ist kein Philosoph, sondern ein Spezialist, ein Jurist.\tP- Barth (Leipzig).","page":400}],"identifier":"lit30980","issued":"1897","language":"de","pages":"397-400","startpages":"397","title":"C. Bougl\u00e9: Les sciences sociales en Allemagne. Les m\u00e9thodes actuelles. Paris, F. Alcan. 1896. 172 S.","type":"Journal Article","volume":"13"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:36:09.455817+00:00"}