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{"created":"2022-01-31T15:32:49.269395+00:00","id":"lit31018","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Meyer, Max","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 21: 127-134","fulltext":[{"file":"p0127.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n127\nL. W. Stern, Psychologie der Ver\u00e4nderungs&nffassung. Breslau, Freufs & J\u00fcnger 1898. 264 S. u. 15 Fig.\nStern\u2019s Buch zerf\u00e4llt in zwei Abschnitte. Der erste behandelt \u201edie Quellen der Ver\u00e4nderungsauffassung\u201c, der zweite \u201edie Feinheit der Ver\u00e4nderungsauffassung\u201c. Zun\u00e4chst bespricht der Verf. die \u201edirecte Ver\u00e4nderungsauffassung\u201c. Er betont, dafs eine directe Wahrnehmung einer Ver\u00e4nderung nur dadurch erm\u00f6glicht wird, dafs eine Reihe von Empfindungen ein successives Ganzes bildet, dessen zeitliche Dauer er \u201epsychische Pr\u00e4senzzeit\u201c nennt. Eine derartige Zusammenfassung zeitlich verschiedener\n\u2014\tund \u00e4hnlich auch r\u00e4umlich verschiedener \u2014 Theilempfindungen zu einem einheitlichen Ganzen ist so sehr durch die Thatsaehen gefordert, dafs ihre Annahme \u2014 wenn auch mit mancherlei Modificationen im einzelnen \u2014 mit Recht unter den neueren Psychologen immer mehr Anklang findet.\nAls eine stetige Ver\u00e4nderung definirt Stern eine solche, bei der bestimmte Abgrenzungen innerhalb der Ver\u00e4nderung willk\u00fcrlich sind. Die \u201eAllm\u00e4hlichkeitsauffassung\u201c charakterisirt er durch das Schema\na = b, b = c, c. = d, d \u2014 e, e = fy f=g, aber a nicht gleich g,\nwobei jedoch die Gleichungen nicht ein wirkliches Urtheil \u00fcber die Gleichheit der Nachbarn ausdr\u00fccken, sondern vielmehr die Berechtigungslosigkeit ihrer Trennung.\nStern behandelt sodann die momentane UebergangsWahrnehmung. Hierbei findet keine wirkliche Ver\u00e4ndernngsWahrnehmung statt, sondern ein wahrgenommenes \u201eUebergangszeichen\u201c wird als eine wirklich stattgehabte Ver\u00e4nderung \u201egedeutet\u201c. Stern sucht die Existenz derartiger Uebergangszeichen an verschiedenen Beispielen wahrscheinlich zu machen. An den Empfindungen sei (wie Qualit\u00e4t, Intensit\u00e4t, R\u00e4umlichkeit u. s. w.) ein gewisser \u201eUebergangscharakter\u201c zu bemerken, der das Uebergangszeichen sei. Im Nachtrag behauptet Stern gegen Witasek, dafs diesem Uebergangszeichen auch ein physikalischer Vorgang entspreche. Diese Behauptung scheint mir jedoch nicht haltbar zu sein. Bei T\u00f6nen z. B. findet der pl\u00f6tzliche Uebergang \u2014 etwa beim Loslassen einer gegriffenen Violinsaite \u2014 von einem hohen zu einem tieferen Ton physikalisch nicht so statt, dafs alle m\u00f6glichen zwischenliegenden Schwingungsfrequenzen innerhalb sehr kurzer Zeit durchlaufen w\u00fcrden, sondern vielmehr so, dafs von dem Zeitpunkte ihrer Befreiung an die Saite in langsamerer Frequenz schwingt. Etwas Anderes ist es, wenn wir mit dem Finger die Saite entlang gleiten. Aber dann haben wir eben keine \u201emomentane\u201c, sondern eine\n\u2014\twie schnell auch immer ablaufende \u2014 allm\u00e4hliche Ver\u00e4nderung.\nDas zweite Capitel des ersten Abschnitts behandelt den Antheil, den Reproduction und Vergleichung an der Ver\u00e4nderungsauffassung haben. Stern betont im Anschlufs an H\u00f6ffding, dafs ein schon einmal dagewesener Eindruck beim wiederholten Eintreten eine gewisse \u201eBekanntheitsqualit\u00e4t\u201c besitze. Dafs Stern diese jedoch mit Wundt als ein \u201eWiedererkennungsgef\u00fchl\u201c bezeichnet, kann ich nicht f\u00fcr nachahmenswerth halten. Unter Gef\u00fchl versteht man nun einmal Lust und Unlust. Aber das Wiedererkennen ist nicht bedingt durch Lust oder Unlust; eine derartige An-","page":127},{"file":"p0128.txt","language":"de","ocr_de":"128\nBesprechungen.\nn\u00e4hme w\u00fcrde zu gar zu wunderbaren Consequenzen f\u00fchren. Man findet freilich bei vielen Psychologen eine Neigung, alles, was bei dem heutigen Stande unserer Wissenschaft nicht genau zu beschreiben ist, als ein \u201eGe f\u00fchl\u201c zu bezeichnen. Das erinnert nur leider zu sehr an die mifsverstandene Regel des Lateinsch\u00fclers: Was man nicht decliniren kann, das sieht man als ein Neutrum an.\nDer Verf. bespricht sodann verschiedene Arten der Vergleichung von Phasen des Ver\u00e4nderungsvorganges. Vergleichung findet nach Stern nur dann wirklich statt, wenn Ein (innerhalb der \u201epsychischen Pr\u00e4senzzeit\u201c liegender) Wahrnehmungsact nicht ausreicht, sondern mehrere solche zu einem Ver\u00e4nderungsurtheil erforderlich sind.\nIm zweiten Abschnitt, der betitelt ist \u201edie Feinheit der Ver\u00e4nderungs-auffassung\u201c, bespricht der Verf. zun\u00e4chst die Technik und Methodik der experimentellen Untersuchung auf den verschiedenen Sinnesgebieten.\nS. 100 sagt Stern, man k\u00f6nne \u201edie Abst\u00e4nde zwischen zwei Empfindungen in Beziehung setzen\u201c. Sollte da nicht eine etwas vorsichtigere Ausdrucksweise am Platze gewesen sein? Meinon\u00f6\u2019b Ausf\u00fchrungen \u00fcber die Bedeutung des WEBER'schen Gesetzes scheinen auf den Verf. nicht besonders \u00fcberzeugend gewirkt zu haben.\nStern giebt dann gewisse Formeln an, vermittels deren man die \u201eUrtheilsrichtigkeit, Urtheilssicherheit, Urtheilstendenz, Urtheilsentschieden heit und Urtheilszuverl\u00e4ssigkeit\u201c (letztere wird merkw\u00fcrdiger Weise nur nebenher in einer Anmerkung erw\u00e4hnt) \u201emessen\u201c k\u00f6nne. Er versucht in \u00e4hnlicher Weise, wie dies in der mathematischen Physik geschieht, gewissen Formeln Namen beizulegen, die uns den Gebrauch dieser Formeln erleichtern. Seine Absicht hierbei ist ja gewifs zu loben, nur kann ich seinen Versuch nicht als gelungen bezeichnen. Wenn z. B. die Versuchsperson A 65\u00b0/0 richtige Urtheile abgiebt und 35% kein Urtheil (falsche Urtheile also gar nicht), so ist nach Stern\u2019s Formel ihre \u201eUrtheilssicherheit\u201c geringer als die der Versuchsperson B, die 70\u00b00 richtige und 30% falsche Urtheile abgiebt. Wie eine solche Definition der \u201eUrtheilssicherheit\u201c wissen schaftlich brauchbar sein kann, sieht man nicht recht ein. Stern st\u00fctzt sich dabei auf die Behauptung, dafs ein falsches Urtheil eigentlich ein geringerer Fehler sei als gar keines, weil beim falschen Urtheil \u201edoch immerhin das Factum der Ver\u00e4nderung als solches erkannt\u201c sei, beim Ausbleiben des Urtheil8 aber gar nichts. Dies Argument ist mir unverst\u00e4ndlich. Denn wenn das Urtheil falsch ist, so ist auch kein \u201eFactum\u201c erkannt worden. Eine Ver\u00e4nderung an sich ist eine Abstraction, die nicht wahrgenommen werden kann. Und wenn Jemand behauptet, eine Ver\u00e4nderung wahrgenommen zu haben, aber nicht ihre Richtung, so ist seine Behauptung falsch und nicht auf Grund der Wahrnehmung der Ver\u00e4nderung auf gestellt. Das \u201eFactum\u201c ist dann eben nicht \u201eerkannt\u201c, sondern erschlossen, oder wenn man Bich vor einem unbewufsten Schlufs f\u00fcrchtet, auf Grund irgend eines indirecten Crit\u00e9riums behauptet.\nDer Verf. scheint in seinen Formeln mehr als Formeln zu erblicken, sonst w\u00fcrde er nicht ein schwieriges Problem darin finden: ob die \u201eUrtheilsrichtigkeit\u201c die gleiche bleibe, wenn die Zahl der falschen Urtheile (bei Gleichheit aller \u00fcbrigen mit Ausnahme der \u201eunbestimmten\u201c) wachse,","page":128},{"file":"p0129.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n129\noder ob sie dadurch verringert werde. Was ist denn \u201eUrtheilsrichtigkeit\u201c Anderes als ein sprachlicher Ausdruck, den wir dann an wenden, wenn die Urtheile in gewisser Weise ausfallen. Mit diesem Namen k\u00f6nnen wir nun jede beliebige Formel verkn\u00fcpfen, die nur gewisse Bedingungen erf\u00fcllt. So muls sie in einem Falle, wo wir von gr\u00f6fserer Urtheilsrichtigkeit sprechen, auch einen gr\u00f6fseren Werth aufzeigen. U. s. w. Ob dies nun die richtige, \u201ecorrecte\u201c Formel f\u00fcr die \u201eUrtheilsrichtigkeit\u201c sei, kann gar nicht in Frage kommen, wofern die Formel nur wissenschaftlich brauchbar ist, d. h. uns das Denkgesch\u00e4ft erleichtert. Letztere Bedingung scheint mir freilich (man ber\u00fccksichtige nur das oben angegebene Beispiel \u00fcber \u201eUrtheilssicherheit\u201c) bei Stern's Formeln nicht erf\u00fcllt zu sein.\nWas Stern wollte, was ihm aber mifslungen ist, kann man wohl in folgender Weise zur Ausf\u00fchrung bringen.\nWir nennen mit Stern\nN die Anzahl der zur Beurtheilung dargebotenen F\u00e4lle, r die Anzahl der richtigen F\u00e4lle, f die Anzahl der falschen F\u00e4lle.\nDer Index d bedeute Urtheile mit dem Pr\u00e4dicat \u201edeutlich\u201c, u solche mit dem Pr\u00e4dicat \u201eundeutlich\u201c, b (\u201ebemerkt\u201c) Urtheile ohne ein solches Pr\u00e4dicat.\nDann ist r \u2014 r,i -j- n -f- r\u00ab, f = fd + fb -j- f\u00ab.\nV \u2014 f\nNun k\u00f6nnen wir \u2014~ definiren als \u201eUrtheilsrichtigkeit\u201c, \u2014\u2014 als \u201eUrtheilstendenz\u201c. Denn f\u00fcr f = r ist die UrtheilBrichtig-\nkeit gleich Null, f\u00fcr f \u2014 0 ein Maximum. Die Urtheile auf \u201eunbestimmt\u201c sind weder richtig noch falsch, haben also mit der \u201eRichtigkeit\u201c direct nichts zu schaffen. Unber\u00fccksichtigt geblieben sind sie nicht, da sie in 2V enthalten sind. Die Urtheilstendenz ist gleich Null, wenn r -j- f= 0, wenn also \u201egar keine\u201c, d. h. nur Urtheile auf \u201eunbestimmt\u201c abgegeben worden sind.\nEin Urtheil ist um so zuverl\u00e4ssiger, je gr\u00f6fser die Urtheilsrichtigkeit, um so unzuverl\u00e4ssiger, je gr\u00f6fser die Urtheilstendenz des Beobachters ist; denn wer \u201eschnell fertig\u201c mit seinem Urtheil ist, wird oft fehlgehen. Wir\nk\u00f6nnen daher den Quotienten\nUrtheilsrichtigkeit Urtheilstendenz \u2019\nalso\nr-f r + f\ndefiniren als\n\u201eUrtheilBzu verl\u00e4ssigkeit\u201c.\nNun k\u00f6nnen wir auch in obigen drei Formeln r = n -}- n\tund\nf = fd + fb fu ersetzen durch\nrx = -p- rd + n -f- y ru und\nfi = ~2 fd \"i\u201c A + 2 fUm\nDie so entstehenden drei neuen Formeln mit neuen Namen zu bezeichnen, halte ich jedoch nicht nur f\u00fcr \u00fcberfl\u00fcssig, sondern sogar f\u00fcr sch\u00e4dlich, weil verwirrend. Es gen\u00fcgt ja vollst\u00e4ndig, wenn man sagt, man habe die \u201eUrtheilsrichtigkeit\u201c u. s. w. nach der einfacheren oder compli-cirteren Formel bestimmt.\nt\tf\ty _l_ f\nInteressant sind auch die Verh\u00e4ltnisse \u2014 , -4- und \u2014~^-4r-. Auch\nri\th\tri ~r fi\n9\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XXT.","page":129},{"file":"p0130.txt","language":"de","ocr_de":"130\nBesprechungen.\nf\u00fcr diese braucht man jedoch keine Namen einzuf\u00fchren, da man ja doch darunter nichts Anderes verstehen kann als eben diese Verh\u00e4ltnisse.\nWarum haben wir \u00fcbrigens oben in rt und f mit Stern gerade 3\t1\nQ , 1 und -0- als Multiplicatoren benutzt? Warum nicht lieber die ganzen\nZahlen 3, 2 und 1, deren Differenzen doch auch gleich sind? Nat\u00fcrlich aas\n\u00a5\ndem einfachen Grunde, weil so f\u00fcr r<* = ru = 0 der Bruch \u2014 gleich 1 ist\nDieser Umstand scheint Stern dunkel vorgeschwebt zu haben, doch er-\n3\t1\nw\u00e4hnt er ihn nicht, so dafs auf S. 101 die Zahlen 0 , 1 und -\u00bb-erscheinen,\nals seien sie von einem h\u00f6heren Geiste inspirirt.\nNoch einige Beispiele m\u00f6chte ich geben, um darzuthun den Unwerth der Formeln in der Gestalt, die Stern ihnen gegeben hat.\nSeinen Formeln I und II h\u00e4ngt Stern S. 104 f. die Bedingung an, sie\nY\nseien nur dann brauchbar, wenn \u2014rr \u201eoberhalb des Wahrscheinlichkeits-\niV\nwerthes\u201c liege, mit welch sonderbarem Ausdrucke Stern sagen will, wenn r>f-\nDie Hinzuf\u00fcgung dieser Bedingung zeigt, dafs Stern selbst bemerkt hat, dafs seine Formeln zu Absurdit\u00e4ten f\u00fchren. Dies kann man aber nicht dadurch vermeiden, dafs man den Gebrauch der Formeln durch eine ganz willk\u00fcrliche1 Bedingung einschr\u00e4nkt, sondern dadurch, dafs man eben eine andere mathematische Function w\u00e4hlt, die jene Bedingung implicite enth\u00e4lt, wie dies die oben von mir bestimmten Formeln thun. Die Function r \u2014 f\nN\nwird eben Null, wenn r \u2014 f wird. Und wir m\u00fcssen von ihr ver-\nlangen, dafs sie f\u00fcr r \u2014 f gleich Null wird, weil dann eben keine Urtheils-richtigkeit mehr vorhanden ist. Stern aber sieht sich in diesem Falle ge-n\u00f6thigt, seine Function willk\u00fcrlich gleich Null zu setzen, obwohl sie einen endlichen Werth hat.\nDafs Stern in seinen Formeln mehr erblickt als blofse Formeln, ersieht man auch aus Folgendem: Er erw\u00e4hnt bei seiner Formel II, diese Function habe \u201edrei Hauptwerthe: den Deutlichkeitswerth = 1,5; den Vollwerth = 1; den Unsicherheitswerth = 0,5.\u201c2 Der Werth 0,6 bedeutet nach Stern: \u201eim Durchschnitt sind alle F\u00e4lle mit Unsicherheit richtig bemerkt worden.\u201c Das scheint mir nun nicht mehr Psychologie zu sein, sondern Metaphysik. Die Zahl 0,5 bedeutet mir weiter nichts, als dafs die Function in diesem Falle einen kleineren, gleichen oder gr\u00f6fse-ren Werth aufzeigt, als in anderen F\u00e4llen, wo sie bezw. 0,6, 0,5, 0,4 ergab. Den Werth 0,5 ergiebt Stern\u2019s Function z. B. bei folgenden Procentzahlen\n1 Der Verf. freilich nennt sie auf S. 105 \u201eselbstverst\u00e4ndlich\u201c. Aber \u201eselbstverst\u00e4ndlich\u201c und \u201ewillk\u00fcrlich\u201c bedeuten hier ganz dasselbe, n\u00e4mlich dafs man keine Gr\u00fcnde daf\u00fcr angeben kann.\n9 Wozu diese Namengebung dienen soll, ist schwer einzusehen. Verlangt der Verf. vom Leser, dafs er diese entsetzlichen Namen auswendig lerne? Gen\u00fcgen denn nicht die betreffenden Zahlen?","page":130},{"file":"p0131.txt","language":"de","ocr_de":"Besprechungen.\n131\nvon Urtheilen: 50 richtig, 30 falsch und 20 \u201eunbestimmt\u201c. Bedeutet dies nun wirklich, dafs im Durchschnitt unter diesen Umst\u00e4nden alle F\u00e4lle mit Unsicherheit richtig beurtheilt worden sind? Das hiefse doch, an Stelle der Thatsachen eine blofse Einbildung setzen 1 Freilich, wenn wirklich einmal alle F\u00e4lle mit Unsicherheit richtig beurtheilt worden sein sollten, so w\u00fcrde Stern\u2019s Function (wie sie es in vielen anderen F\u00e4llen ebenfalls thut) den Werth 0,5 ergeben. Vielleicht wollte der Verf. nur diese einfache Thatsache zum Ausdruck bringen. Aber warum dann nicht sie als nackte Thatsache hinstellen? Warum von \u201eDurchschnitt\u201c sprechen? Ein erfrorener Mensch und ein verbrannter sind doch nicht im Durchschnitt zwei unversehrt gebliebene.\nZu seiner Formel III bemerkt Stern, die Urtheilstendenz k\u00f6nne dar-\ngestellt werden durch\nn >\niV <\n11, wobei n die Gesammtzahl der \u201egef\u00e4llten\u201c\nUrtheile ist. Man fragt sich hier zun\u00e4chst verwundert, wie denn -\nn\nN\ngr\u00f6fser sein k\u00f6nne als 1, also n )> N, d. h. die Zahl der Urtheile gr\u00f6fser als die Zahl der zur Beurtheilung dargebotenen F\u00e4lle. Dieses R\u00e4thsel l\u00f6st sich nun zwar auf, sobald wir auf S. 103 bemerken, dafs ja n garnicht, wie wir in der Definition auf S. 97 als selbstverst\u00e4ndlich angenommen hatten, die in Einem zugeh\u00f6rigen N enthaltenen gef\u00e4llten Urtheile bezeichnet, sondern die in mehreren X (mehreren Ver\u00e4nderungsformen) enthaltenen. Indessen trotz dieser L\u00f6sung des R\u00e4thsels st\u00fcrzt sich die Sphinx nicht in den Abgrund, sondern bleibt sitzen, um uns weiter zu qu\u00e4len.\nEs scheint, als ob Steen unter \u201eUrtheilstendenz\u201c garnicht versteht die Tendenz, \u00fcberhaupt zu urtheilen, sondern das m\u00f6gliche Vorkommnifs, dafs eine Versuchsperson die Ver\u00e4nderung in der einen Richtung leichter erkennt als die in der anderen.2 Statt dies aber einfach durch Vergleich der Urtheilsrichtigkeit in beiden F\u00e4llen zu ermitteln, schl\u00e4gt Stern einen anderen Weg ein, den ich im Folgenden beschreiben will.\nNehmen wir z. B. das durch die folgende Tabelle dargestellte Ergebnis einer Versuchsreihe:\n1 Auch hier hat der Leser wieder mit drei f\u00fcrchterlichen Namen einen Kampf zu bestehen.\n* So wenigstens lege ich mir seine Darstellung aus. Sollte eine Versuchsperson wirklich eine \u201eTendenz\u201c haben, ohne R\u00fccksicht auf die wirklichen Empfindungen eine bestimmte Aussage (z. B. \u201eZunahme der Tonh\u00f6he\u201c) recht oft zu machen, so w\u00fcrde ich \u2014 und Stern doch wohl auch? \u2014 eine solche \u201etendenzi\u00f6s\u201c veranlagte Versuchsperson f\u00fcr g\u00e4nzlich ungeeignet zu den fraglichen Versuchen erkl\u00e4ren. Sollte eine solche Tendenz aber wirklich bestehen, so k\u00f6nnte man dies daran erkennen, dafs in den F\u00e4llen objectiver Constanz, die auf die eine Art der Ver\u00e4nderung lautenden (falschen) Urtheile, die auf die andere Art lautenden stark \u00fcberwiegen, nicht aber durch die STERN\u2019sche \u201eTendenz\u201c-formel. Denn letztere kann einen von 1 verschiedenen Werth aufzeigen, ebenso gut in Folge der gr\u00f6sseren Leichtigkeit der Beurtheilung der einen Ver\u00e4nderungsrichtung wie in Folge einer \u201eTendenz\u201c.\n9*","page":131},{"file":"p0132.txt","language":"de","ocr_de":"132\nBesprechungen.\nUrtheile\n100 Z-F\u00e4lle\n80 Zs 10 At\n10 Ct\n100 4-F\u00e4lle\n16 Za 75 A a 10 Ca\n100 C-F\u00e4lle\n20 3:\n20 Ac 60 Ce\nZ, A und C bedeuten Zunahme, Abnahme und Constanz. Objectiv haben wir von jeder Art 100 F\u00e4lle; die Versuchsreihe umfafst also ins-gesammt 300 F\u00e4lle.\nZx bedeutet Zunahmeurtheil bei objectiver Zunahme, Az Abnahme-\nurtheil bei objectiver Zunahme u. s. w.\nNun addirt Stebn die Anzahlen von Zz> Za und Zc und erh\u00e4lt 115;\nvon Ax, Aa und Ae und erh\u00e4lt 105; von Cz, Ca und Ce und erh\u00e4lt 80.\n\u00bbr j j , ,\t, ,\t115\t105\t,80\nUnd dann behauptet er, ^qq,\tund\nseien die \u201eUrtheilstenden-\nzen\u201c f\u00fcr Zunahme-, Abnahme- und Constanzurtheile.\nAber wie kann man denn verschieden benannte Zahlen \u00fcberhaupt addiren?! An diese Unm\u00f6glichkeit scheint der Verfasser garnicht gedacht zu haben. Ein i^Urtheil bei objectiver Zunahme ist doch etwas ganz Anderes als ein Z-Urtheil bei objectiver Abnahme. Wer derartige Urtheile (Aussagen) addirt, behauptet damit, dafs die Aussagen von den zu beurtheilenden Vorg\u00e4ngen g\u00e4nzlich unabh\u00e4ngig waren, also rein willk\u00fcrlich (tendenzi\u00f6s) von dem Aussagenden so und nicht anders gew\u00e4hlt wurden. W\u00fcrde Stebn aber eine solche Aussagenreihe \u00fcberhaupt als einen Beitrag zur \u201ePsychologie der Ver\u00e4nderungsauffaBsung\u201c gelten lassen?\nWas die Erzeugung eines derartigen Rattenk\u00f6nigs erm\u00f6glicht hat, ist der Umstand, dafs Stebn eine Anzahl mathematischer Functionen erfindet und mit wohlklingenden Namen belegt, ohne auch nur daran xn denken, die gegenseitige Abh\u00e4ngigkeit dieser Functionen unter einander festzustellen und zu untersuchen, ob diese Abh\u00e4ngigkeit der Functionen unter einander auch zusammenstimmt mit der gegenseitigen Abh\u00e4ngigkeit der \u201eUrtheilsrichtigkeit, -Sicherheit, -tendenz, -entschiedenheit und -Zuverl\u00e4ssigkeit\u201c dem Sprachgebrauche nach. In welcher Weise man derartige Formeln, wie Stebn sie w\u00fcnscht, herleiten kann, habe ich oben zu zeigen versucht.\nBei seiner Formel IV bemerkt der Verfasser wie bei II, es gebe drei Hauptwerthe, wovon der eine, der \u201eUnsicherheitswerth\u201c, gleich 0,5 sei. Dieser Werth 0,5 bedeutet hier nach Stebn: \u201eS\u00e4mmtliche Urtheile sind unsicher gewesen.\u201c Nun wird dieser Werth z. B. erreicht, wenn die Versuche zu folgenden Procentzahlen von Urtheilen f\u00fchren: 10 deutliche (d) Urtheile, 35 einfache (b) Urtheile, keine unsicheren (u) Urtheile \u2014i n allen drei F\u00e4llen richtige und falsche Urtheile zusammengenommen \u2014 und 55 Mal gar kein Urtheil. Was f\u00fcr einen Sinn hat es denn hier zu sagen: \u201eS\u00e4mmtliche Urtheile sind \u00ab Urtheile gewesen.\u201c Sie sind es auch nicht im \u201eDurchschnitt\u201c gewesen. (Diese Deutung habe ich schon oben als metaphysisch erwiesen.) Vielmehr m\u00fcssen wir dabei bleiben, dafs in Wirklichkeit \u00fcberhaupt keine u-Urtheile vorgekommen sind.","page":132},{"file":"p0133.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022Besprechungen.\n133\nDas zweite Capitel des zweiten Abschnitts, das letzte und bei Weitem umfangreichste des Buchs, behandelt die \u201epsychische Erregbarkeit f\u00fcr Ver\u00e4nderungen und ihre Gesetze\u201c. Der Verf. versteht unter Erregbarkeit \u201eden Grad, in welchem die Psyche im Stande ist, auf \u00e4ufsere Reize mit irgend welchen psychischen Regungen zu antworten\u201c. Das n\u00e4chste Ergebnifs, zu dem er gelangt, ist: \u201eHauptgegenstand aller psychologischen Ver\u00e4nderungsuntersuchungen ist nicht die passive (Empfindungs-)Erregbarkeit, sondern die active (Urtheils-, Aufmerksamkeits-, Reactions-) Erregbarkeit. Mit anderen Worten: die Ergebnisse sind (mit wenigen Ausnahmen) nicht sowohl auf das Verh\u00e4ltnifs von Reiz\u00e4nderung zu Empfindungs\u00e4nderung zu beziehen, sondern sagen aus, in welcher Weise und in welchem Grade Empfindungs\u00e4nderungen unter gewissen zeitlichen und anderen Bedingungen im Stande sind, Leistungen psychischer oder physischer Activit\u00e4t auszul\u00f6sen.\u201c\nStern bespricht dann die Erregbarkeit bei Ver\u00e4nderung und bei Con-stanz des Reizes. Preyer's Behauptung, dafs Empfindungen nur bei Ver\u00e4nderungen der Reize auftreten k\u00f6nnten, wird mit Recht abgelehnt. Dagegen stellt der Verf. gewisse andere Gesetze auf, die er an sp\u00e4terer Stelle (wir thun hier das Gleiche) eingehender bespricht.\nUeber den Temperatursinn giebt Stern eine interessante Hypothese, wonach die \u201eW\u00e4rme- und K\u00e4ltepunkte\u201c nicht als die alleinigen temperaturempfindlichen Stellen zu betrachten seien, sondern nur als Stellen, die be* sonders geeignet sind, schnelleTemperatur\u00fcberg\u00e4nge zu percipiren.\nS. IGO w\u00e4re wohl nach physikalischem Sprachgebrauch statt \u201eW\u00e4rmemenge\u201c besser \u201eTemperaturh\u00f6he\u201c zu sagen.\nWeiterhin behandelt der Verf. die \u201eEmpfindungserm\u00fcdung\u201c und stellt Vergleiche an zwischen der Erregbarkeit f\u00fcr Ver\u00e4nderungen und der f\u00fcr Unterschiede.\nS. 206 sagt Stern in gesperrtem Druck: \u201eDie Reproduction einer fr\u00fcheren Phase ist l\u00e4nger m\u00f6glich, wenn dieselbe complex, als wenn sie einfach ist.\u201c Was der Verf. hier meint, ist sicherlich richtig, aber was er sagt, ist ebenso sicher falsch. Oder sollte er wirklich glauben, dafs die Reproduction einer einfach weife gestrichenen Wandfl\u00e4che schwieriger sei als die einer gemusterten Tapete?\nFerner wird die Bedeutung verschiedener Geschwindigkeit der Ver\u00e4nderung in Betracht gezogen. Hier nun bespricht der Verf. \u201edas Hauptgesetz der Ver\u00e4nderungserregbarkeit\u201c, welches lautet: Die Anregung zur physischen oder psychischen Reaction ist um so gr\u00f6fser, je gr\u00f6fser die Geschwindigkeit der Empfindungs\u00e4nderung ist, und \u201edas Gesetz der Optimalzeiten\u201c, welches lautet: Da in der \u00abOptimalzeit\u00ab Ver\u00e4nderungen verschiedener Geschwindigkeit zur Wahrnehmung gelangen k\u00f6nnen, so sind die langsameren Ver\u00e4nderungen relativ zu ihrem Umfang g\u00fcnstiger gestellt.\nZum Schlufs behandelt der Verf. die Erregbarkeit f\u00fcr Ver\u00e4nderungen von Intensit\u00e4ten, namentlich auf dem Gebiet des Drucksinnes. Er glaubt hier das Gesetz aufstellen zu k\u00f6nnen: bei constanter \u201eErregbarkeit\u201c\nA f\nsei die Aenderungsgeschwindigkeit . ann\u00e4hernd proportional dem Aus-gangsreiz, also:","page":133},{"file":"p0134.txt","language":"de","ocr_de":"134\nBesprechungen.\nA \u00cf = r ' F(r)\nentsprechend dem WRBBRschen Gesetz, wonach\n= r \u2022 F{r).\n(F(r) ist ein Function, die ann\u00e4hernd constant ist.)1\nIm letzten Paragraphen behauptet Stern noch einmal, dafs die Wahrnehmung einer Ver\u00e4nderung an sich leichter sei als die Wahrnehmung der Richtung. Ich habe meine Ansicht dar\u00fcber schon oben ausgesprochen. Es liegt im ersteren Fall eben gar keine Wahrnehmung einer Ver\u00e4nderung vor, sondern eine indirecte Beurtheilung, wozwischen in dem Buche vielleicht nicht klar genug unterschieden wird; so sollte Stern z. B. auf S. 206 nicht behaupten, wir k\u00f6nnten die \u201eVer\u00e4nderung\u201c eines Menschen, den wir 10 Jahre lang nicht gesehen haben, \u201econstatiren\u201c. Con-statiren k\u00f6nnen wir nat\u00fcrlich nur, dafs wir jetzt eine gewisse Summe von Empfindungen haben und fr\u00fcher einmal eine andere hatten. Alles Sonstige in diesem Falle, namentlich die \u201eVer\u00e4nderung\u201c \u2014 mag sie auch noch so wahrscheinlich sein \u2014, ist und bleibt Vermuthung und geh\u00f6rt somit nicht in das Gebiet der \u201eVer\u00e4nderungsauffassung\u201c. Oder kann ich auch etwas \u201eauffassen\u201c, was ich nur inductiv \u201eerschliefse\u201c?2\nZum Schlufs noch ein Wort aus der Einleitung. Stern sagt: \u201eIn der grofsen Principienfrage der modernen Psychologie \u2014 ob seelisches lieben ersch\u00f6pft sei mit dem Vorhandensein psychischer Inhalte, oder ob aufser diesen noch ein activer Factor, der die Inhalte verkn\u00fcpfe und verarbeite, anzunehmen sei \u2014 bekenne ich mich zu der letzteren Anschauung.\u201c Dies Glaubensbekenntnifs ist nicht sofort verst\u00e4ndlich. Der Verf. will \u201ees dem Buche \u00fcberlassen, diesen Standpunkt zu rechtfertigen\u201c. Nach S. 138 und S. 211 kann man nun wrohl annehmen, dafs die \u201epassiven\u201c psychischen Inhalte \u201eEmpfindungen\u201c, der \u201eactive\u201c Factor \u201eUrthei 1 e\u201c seien. Indessen \u2014 welcher Psychologe hat denn \u00fcberhaupt die Existenz von Urtheilen geleugnet? Grofse Uneinigkeit besteht freilich in dem schwierigen Problem einer Theorie des Urtheils. Aber auf dieses Problem geht Stern's Buch \u00fcberhaupt nichtjein. Wozu also diese Parteistellung?\nWenn wir die Recepte kennen, nach denen der Kuchen hergestellt ist, so besitzen wir alles, was uns wissenschaftlich an ihm interessirt. Ob der B\u00e4cker den Namen \u201eActiv\u201c oder \u201ePassiv\u201c f\u00fchrt, das hat auf die Beschaffenheit des Kuchens weiter keinen Einflufs. In dieser Namensfrage kann ich h\u00f6chstens eine metaphysische Frage erblicken, aber keine \u201egrofse Principienfrage der modernen Psychologie\u201c.\n1\tObige Formulirung des Gesetzes stammt von mir, nicht von Stern. Ich halte sie f\u00fcr \u00fcbersichtlicher als die Stern\u2019s, die folgender-maafsen lautet: \u201eUnter constanten zeitlichen Bedingungen l\u00e4uft f\u00fcr verschiedene lntensit\u00e4tsgrade die Aenderungserregbarkeit der Normalerregbarkeit proportional.\u201c Diese Formulirung w\u00e4re ohne die von Stern hinzugef\u00fcgten ausf\u00fchrlichen Erl\u00e4uterungen gar nicht verst\u00e4ndlich.\n2\tStern freilich nennt dies auch \u201eAuffassen\u201c. Aber welchen Nutzen soll es denn haben, thats\u00e4chliche Verschiedenheiten durch die Wahl gleicher Benennungen zu verdecken?\nMax Meyer (Hanover N. H.).","page":134}],"identifier":"lit31018","issued":"1899","language":"de","pages":"127-134","startpages":"127","title":"L. W. Stern: Psychologie der Ver\u00e4nderungsauffassung. Breslau, Preu\u00df & J\u00fcnger 1898. 264 S. u. 15 Fig.","type":"Journal Article","volume":"21"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:32:49.269400+00:00"}