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{"created":"2022-01-31T15:41:51.564296+00:00","id":"lit31034","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Giessler","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 21: 159-160","fulltext":[{"file":"p0159.txt","language":"de","ocr_de":"Litera turberich t.\n159\ndem sie nachweislich sp\u00e4ter nichts mehr wufste. In einem solchen somnambulen Zustand, der sich nach hysterischen Anf\u00e4llen in der Irrenanstalt (zu Bergamo) \u00f6fter wiederholte, liefs man sie u. a. einen Brief an einen Freund schreiben, den sie mit Dina Unterzeichnete, in Erinnerung an die biblische Geschichte von den S\u00f6hnen Jakobs, die die ihrer Schwester angethane Schmach durch Zerst\u00f6rung einer Stadt r\u00e4chten. Auch aus dieser Schrift geht der auf Autosuggestion beruhende Automatismus her-\u2022vor. \u2014 Die Kranke litt an grofser Hy sterie mit zeitweiligem spontanem Somnambulismus, wie es bei den Spiritisten h\u00e4ufig der Fall ist, die sich dann in eine selbstgeschaffene fremde Pers\u00f6nlichkeit hineinleben.\nFraenkel.\nG. Tarde, \u00fcn\u2019est-ce que le crime? Rev. philos. 4\u00ab (10), 337\u2014355. 1898.\nUrspr\u00fcnglich gab es nur Verbrechen innerhalb des kleinen socialen Bereiches, dem der Mensch anf\u00e4nglich angeh\u00f6rte. Den diesem Bereiche nicht Zugeh\u00f6rigen gegen\u00fcber durfte man sich alles erlauben, ohne als Verbrecher zu gelten. Unter den physiologischen Definitionen von Verbrechen ist eine von Onanoff und Blocq besonders erw\u00e4hnenswerth, wonach Verbrechen alles dasjenige ist, was einen Verlust von lebendiger Kraft herbeif\u00fchrt. Die meisten Definitionen sind psychologischer Natur. Nach Bentham ist das Verbrechen ein Act, welcher die Tendenz hat, die Totalsumme der Vergn\u00fcgen zu vermindern, die Summe der Schmerzen zu vermehren; nach Garofalo ist es ein Act, welcher die Gef\u00fchle des Mitleids und der Rechtlichkeit, soweit dieselben im mittleren Grade in einem Volke zu einer bestimmten Epoche verbreitet sind, verletzt; nach Colajanni ist es eine Handlung, welche durch individuelle und antisociale Motive bestimmt wird ; nach Durkheim ist Verbrechen alles das, was vom Collectivgeiste einstimmig gemifsbilligt wird. \u2014 Nach Tarde ist Verbrechen die Verletzung eines h\u00f6heren legislativen Willens (eines g\u00f6ttlichen, k\u00f6niglichen, oder Volkswillens). Es ist schwer zu entscheiden, welche Verletzungen unter das Civilgesetzbuch und welche unter das Criminalgesetzbuch geh\u00f6ren. Nach T. mtifsten alle bewufsten und willk\u00fcrlichen Ungerechtigkeiten unter die Verbrechen gerechnet werden. Wollte man behaupten, dafs die Verletzungen um so krimineller sind, je mehr sie die sociale Ordnung gef\u00e4hrden, so mufs man bedenken, dal's die schlimmsten Verbrechen, wie financielle Gaunereien, Nahrungsf\u00e4lschungen, politische Vergehen am wenigsten ansteckend wirken. Man k\u00f6nnte Verbrechen als einen Act definiren, der, wenn er von aller Welt nachgeahmt w\u00fcrde, f\u00fcr die sociale Ordnung verh\u00e4ngnisvoll werden w\u00fcrde. Danach w\u00e4re aber Nichtbeleuchten der Wagen und Zweir\u00e4der ein Verbrechen. Beim Verbrechen kommt es auch auf den Grad von Alarm und Entr\u00fcstung an, den es durch die Oeffentlich-keit, durch die Presse erf\u00e4hrt. Die Arten des Alarms unterscheiden sich nach Intensit\u00e4t, Ausdehnung und Vern\u00fcnftigkeit. In manchen F\u00e4llen reizt das Alarmiren eines Verbrechens zur Nachahmung. Selten ist die Ent r\u00fcstung dem Alarm proportional. Verf. behauptet, dafs z. B. eine Reihe von Brandstiftungen, veranlafst durch bed\u00fcrftige Besitzer, welche nach Erlangung ihrer Versicherungssumme trachteten, mehr Alarm als Ent-","page":159},{"file":"p0160.txt","language":"de","ocr_de":"160\nLiteraturbericht\nr\u00fcstung hervorrufen, dafs dagegen eine Reihe von Lustmorden, welche von einem an Erotomonie Leidenden vollbracht wurden, th\u00f6richter Weise mehr entr\u00fcsten als alarmiren. Bei manchen Acten geschieht beides nicht, obwohl es sehr n\u00f6thig w\u00e4re z. B. bei Kindesmord, bei Verl\u00e4umdungen in den Zeitungen. Ein Verbrechen alarmirt um so mehr, je leichter es nachgeahmt werden kann, es entr\u00fcstet umsomehr, eine je gr\u00f6fsere moralische Un\u00e4hnlichkeit zwischen dem Verbrecher und seiner Umgebung sich kund-giebt. \u2014 Es giebt Acte, welche zu allen Zeiten und an allen Orten gleichzeitig alarmiren und entr\u00fcsten: 1. der Mord, welcher weder durch geseti-liche Notwehr noch durch gesetzliche Rache entschuldigt ist, 2. der Diebstahl unter Mitgliedern derselben Gemeinschaft. Dagegen variiren die sexuellen Verbrechen von Land zu Land und sind \u00fcberall nur in dem Maafse strafbar, als sie als ein an dem Ehemann oder den Eltern begangener Diebstahl angesehen werden. Man k\u00f6nnte eine dritte Art von Verbrechen hinzuf\u00fcgen, n\u00e4mlich die schwere Beleidigung gegen ein h\u00f6heres Glied der Gemeinschaft. Aber der Begriff \u201eBeleidigung\u201c steht nicht fest In pr\u00e4historischen Zeiten gab es nur h\u00e4usliche Verbrechen. Allm\u00e4hlich wurde die patriarchale Moral zu einer tribunalen, munici palen, nationalen, universellen (christlichen). Der Forschritt der Moral ist ein doppelter : ein einseitiger und ein zur\u00fcckbez\u00fcglicher. Urspr\u00fcnglich wurde die Ermordung des Sohnes durch den Vater, der Frau durch den Ehemann minder schwer beurtheilt als umgekehrt. Ebenso hatten die Besiegten den Besiegern gegen\u00fcber keine Rechte. Mit wachsender Civilisation wird das Verh\u00e4ltnifs ein umgekehrtes. Die Ermordung des besiegten Wilden durch unsere MatroBen wird letzteren als gr\u00f6fseres Verbrechen angerechnet als umgekehrt. Die h\u00f6heren Klassen der civilisirten Staaten glauben mehr Verpflichtungen gegen die niederen zu haben als umgekehrt. \u2014\nW\u00fcnschenswerth w\u00e4re es gewesen, dafs Verf. bei der Kritik fr\u00fcherer Definitionen von Verbrechen mehr eine Widerlegung durch Gr\u00fcnde als durch Beispiele versucht h\u00e4tte. In weiterer Durchf\u00fchrung der angebahnten Gedanken h\u00e4tten noch Verbrechen im nat\u00fcrlichen Sinne von Verbrechen im juristischen Sinne unterschieden werden k\u00f6nnen. Erstere werden durch das Gef\u00fchl, Letztere unter Mitwirkung des Verstandes der auf einer bestimmten Bildungsstufe sich befindenden socialen Gemeinschaft als Verbrechen charakteri8irt. Die erstgenannten sind umfassender, und es geh\u00f6rt hierher so manche schimpfliche Handlung, welche im juristischen Sinne nicht als Verbrechen gilt, so z. B. das Untergraben des ehelichen Gl\u00fcckes durch rein psychische Einwirkung seitens einer dritten Person, das sogenannte \u201eUnm\u00f6glichmachen\u201c eines Menschen durch feineres Intrigoen-spinnen u. b. w.\tGiessleb (Erfurt).","page":160}],"identifier":"lit31034","issued":"1899","language":"de","pages":"159-160","startpages":"159","title":"G. Tarde: Qu'est-ce que le crime? Rev. philos. 46 (10), 337-355. 1898","type":"Journal Article","volume":"21"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:41:51.564301+00:00"}