Open Access
{"created":"2022-01-31T15:41:47.608141+00:00","id":"lit31037","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Meinong, A.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 21: 182-272","fulltext":[{"file":"p0182.txt","language":"de","ocr_de":"?\nUeber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnis zur inneren Wahrnehmung.\nVon\nA. Meinong.\nInhalt\tSeite\n1. Einleitendes................................................183\nErster Abschnitt.\nVon den Gegenst\u00e4nden h\u00f6herer Ordnung.\n2.\tGegenstand und Inhalt.........................................185\nrS.\tDie Ordnungsverschiedenheit...................................189\n4.\tRelation und Complexion.......................................191\n5.\tDas Coincidenzprincip.........................................193\n6.\tReale und ideale Gegenst\u00e4nde..................................198\n7.\tErfahrungsgegenstftnde und fundirte Gegenst\u00e4nde...............200\nZweiter Abschnitt.\n, Gegenst\u00e4nde vor dem Forum innerer Wahrnehmung.\n8.\tDer Haupteinwand.........................................205\n9.\tZur Charakteristik der inneren Wahrnehmung...............211\n10.\tInnere Wahrnehmung beim Urtheil..........................213\n11.\tInnere Wahrnehmung beim Begehren, F\u00fchlen und\tVorstellen.\t.\t217\n12.\tInnere Wahrnehmung bei Gegenst\u00e4nden, insbesondere solchen\nh\u00f6herer Ordnung.......................................219\n13.\tEin methodologisches Bedenken............................221\n14.\tContinuirlich verbundene Inferiors, Theilbares und Getheiltes,\nunbestimmte Bestandst\u00fccke.............................223\n15.\tDie Einheit des Zusammenwirkens als Ersatx f\u00fcr\tdie\tFundirung.\t290\n18.\tWahrnehmungsfl\u00fcchtige Gegenst\u00e4nde........................237\nr\nDritter Abschnitt.\n, Ueber das Vorstellen und Wahrnehmen des seitlich\nVertheilten.\n17.\tFragestellung.......................................\u25a0... 243\n18.\tVorstellungs- und Gegenstandsseit. Die Zeitvertheilung\t....\t245","page":182},{"file":"p0183.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und\tderen\tVerh\u00e4ltnifs\tetc.\t183\n19.\tDistribuirte Gegenst\u00e4nde gegen\u00fcber distribuirten\tInhalten\t.\t. . 249\n20.\tPolemische Nachtr\u00e4ge............................................256\n21.\tDie Wahrnehmbarkeit des Vergangenen. \u201ePsychische Pr\u00e4senz-\nzeit\u201c ......................................................268\n22.\tSchlufsbemerkungen : das Hauptergebnis..........................266\n\u00a7 1. Einleitendes.\nIn dem Aufsatze \u201eZur Psychologie der Zeitanschauung\u201c1 wendet sich F. Sch\u00fcmann gegen eine Auffassung gewisser Grund-thatsachen des Vorstellens und Erkennens, die mir in der nun nicht mehr eben kurzen Zeit, seit ich an die Untersuchung dieser Thatsachen herangetreten bin und auch Andere zu deren Untersuchung anzuleiten bem\u00fcht war, stets als fundamentale Voraussetzung gedient und sich, soweit ich sehen kann, auch stets als solche bew\u00e4hrt hat. Unter solchen Umst\u00e4nden wird es vielleicht nicht ohne Nutzen sein, wenn ich den Haupteinwendungen und insbesondere der Haupteinwendung Schumann\u2019s gegen\u00fcber ausdr\u00fccklich Stellung zu nehmen versuche. Aber nicht etwa um eine \u201eAbwehr\u201c ist es mir dabei zu thun : die durchaus sachlichen Ausf\u00fchrungen Schumann\u2019s zeigen nichts von einer pers\u00f6nlichen Spitze; und dafs, falls Schumann Recht h\u00e4tte, ein gutes St\u00fcck meiner Lebensarbeit umsonst gethan w\u00e4re, darf weder mich noch Andere im Urtheil bestimmen. Ebenso wenig kann es sich um eine Widerlegung speciell Schumann\u2019s handeln, d. h. um den Versuch, die Unhaltbarkeit gerade jener Formulirungen darzuthun, die der genannte Autor bringt: was sollte auch mit dem Hervorkehren zuf\u00e4lliger, daher blos \u00e4ufserlicher M\u00e4ngel geleistet sein? Dagegen wird, wer aus der Polemik wirklich lernen will,- vor Allem darauf bedacht sein m\u00fcssen, das theoretische Bed\u00fcrfnifs nachzuf\u00fchlen, aus dem die Gegnerschaft entsprungen ist: diesem Bed\u00fcrfnifs mufs dann Rechnung getragen sein, gleichviel in welcher Form es zum Ausdruck gelangt ist. Dafs es dabei nicht ganz und gar ohne argumenta ad hominem abgehen kann, ist freilich vorauszusehen: aber am Ende sind es ja doch jederzeit auch nur argumenta hominis, die man zur Verf\u00fcgung bat Was aber im Besonderen den vorhegenden Fall anlangt, so kann meines Ermessens auch nicht der leiseste Zweifel daran aufkommen, dafs Schumann nicht wenigen Psychologen und\n1 Diese Zeitschrift 17, 106 ff.","page":183},{"file":"p0184.txt","language":"de","ocr_de":"184\nA. Meinong.\nNicht-Psychologen zu Dank geschrieben hat. Indem er zu Ende gedacht und r\u00fcckhaltlos ausgesprochen hat, was fertig zu denken so manchem Anderen zu beschwerlich oder auch zu schwierig war, hat er sich um die Kl\u00e4rung einer grundlegend wichtigen Sache ein unbestreitbares Verdienst erworben, mag er nun f\u00fcr das Richtige eingetreten sein oder nicht\nSchumann handelt dem Titel und somit den Intentionen seiner Ausf\u00fchrungen nach in erster Linie von Angelegenheiten der Zeitvorstellung : aber seine Aufstellungen haben ihrem Wesen nach ein viel weiteres Anwendungsgebiet, und um dieses weitere Gebiet ist es mir hier zu thun. Ich habe dasselbe, als es sich mir seiner Eigenart und Zusammengeh\u00f6rigkeit nach zuerst auf-dr\u00e4ngte, unter dem altherk\u00f6mmlichen Namen der \u201eRelationen\u201c zu umspannen versucht, und Anderen mufs es nicht anders gegangen sein, wenigstens ist seit dem Erscheinen meiner Studien \u201eZur Relationstheorie\u201c dem Bed\u00fcrfnifs nach einer \u201eallgemeinen Verh\u00e4ltnifslehre\u201c mehr als einmal Ausdruck gegeben worden. Inzwischen aber hatte ich die auf Relationen gerichtete Fragestellung bereits als zu eng erkennen m\u00fcssen: f\u00fcr einen ihnen augenscheinlich innig zugeordneten, gleichwohl von ihnen charakteristisch verschiedenen Thatsachenkreis schien mir in dem vorher noch wenig gebrauchten Terminus \u201eComplexion\u201c ein nicht unpassender Ausdruck vorzuliegen. Der Gedanke und das Wort aber, unter dem sich Relationen und Complexionen in mehr als blos \u00e4ufserlicher Weise zusammenfassen lassen, hat sich, ungesucht wie so vieles Andere, erst recht sp\u00e4t in der Bezeichnung \u201eGegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung\u201c eingestellt. So habe ich auf die principieUe Bedeutung des unter diesem Namen eingef\u00fchrten Begriffes bisher nur ganz vor\u00fcbergehend hin weisen k\u00f6nnen1 : mit einem ersten Versuche vollends, den Bereich dieser Gegenst\u00e4nde in zusammenfassender Darstellung zu \u00fcberblicken, meinte ich bisher der vielen noch unbeseitigten Schwierigkeiten halber zur\u00fcckhalten zu sollen. Ich denke nicht daran, mich dem nun einmal unvermeidlichen Wagnifs eines solchen Unternehmens auf die Dauer zu entziehen: den Zwecken der gegenw\u00e4rtigen Mittheilung aber wird es dienlich sein, \u00fcber die Grundpositionen* f\u00fcr welche sie eintreten will, durch eine vorl\u00e4ufige, wenn auch\n1 \u201eUeber die Bedeutung des WaBaa\u2019schen Gesetzes\u201c, diese Zeitschrift 11, 94; 8.18 der Sonderausgabe.","page":184},{"file":"p0185.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltni/s etc. 185\nnoch so skizzenhafte Darlegung derselben zu orientiren. Zu diesem Ende m\u00f6gen hier, zun\u00e4chst ganz ohne R\u00fccksicht auf die von Schumann erhobenen Einwendungen einige Bemerkungen \u00fcber Gegenst\u00e4nde im Allgemeinen und dann \u00fcber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung im Besonderen ihre Stelle finden.\nErster Abschnitt\nTon den Gegenst\u00e4nden h\u00f6herer Ordnung.\n\u00a7 2. Gegenstand und Inhalt.\nDafs es allem Psychischen wesentlich ist, einen Gegenstand zu haben, wird zum Mindesten in betreff jenes Psychischen, das uns hier ausschliefslich besch\u00e4ftigt, wohl r\u00fcckhaltslos zugestanden werden. Denn niemand zweifelt daran, dafs man nicht vorstellen kann, ohne etwas vorzustellen, und auch nicht urtheilen kann, ohne \u00fcber etwas zu urtheilen. Ebenso bereitwillig wird man wahrscheinlich auch einr\u00e4umen, dafs es kein Vorstellen noch Urtheilen giebt ohne Inhalt : aber diese Bereitwilligkeit wird f\u00fcr nicht eben Wenige auf die Annahme zur\u00fcckgehen, dafs Inhalt und Gegenstand ziemlich das N\u00e4mliche sei. Auch ich habe lange gemeint, die beiden Ausdr\u00fccke promiscue gebrauchen, also eigentlich des einen derselben entrathen zu k\u00f6nnen. Heute halte ich dies f\u00fcr unberechtigt und den dadurch bestimmten Sprachgebrauch, wie ihn noch meine \u201eUntersuchungen zur Werththeorie\u201c auf weisen, f\u00fcr ungenau. Nat\u00fcrlich kann ich nicht daran denken, das ganze ebenso schwierige als wichtige Gegenstandsproblem hier aufzurollen1: f\u00fcr die n\u00e4chsten Zwecke wird es aber auch gen\u00fcgen, auf die Thatsache der grundlegenden, h\u00f6chstens durch willk\u00fcrliche Nominaldefinitionen zu verwischenden Verschiedenheit zwischen Inhalt und Gegenstand einer gegebenen Vorstellung resp. eines gegebenen Urtheiles hinzuweisen.\nEs ist im Grunde eine sehr einfache Erw\u00e4gung, aus der dies abzunehmen ist Nichts ist gew\u00f6hnlicher, als etwas vorzustellen oder \u00fcber etwas zu urtheilen, was nicht existirt. Es kann mit dieser Nicht-Existenz ziemlich verschieden bewandt sein: die-\n1 Viel Anregendes nnd F\u00f6rderndes hier\u00fcber findet man in der Schrift K. Twa\u00e4dowski\u2019s \u201eZur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen\u201c Wien 1894, auf die hier nur im Allgemeinen hingewiesen sei, indes eine Auseinandersetzung mit derselben im Einzelnen zu weit f\u00fchren w\u00fcrde.","page":185},{"file":"p0186.txt","language":"de","ocr_de":"186\nA. Meimng.\nselbe kann auf einen Widerstreit zur\u00fcckgehen wie beim runden Viereck, sie kann eine blos thats\u00e4chliche sein wie beim goldenen Berg. Es kann sich um etwas handeln, das seiner Natur nach insofern nicht eigentlich existiren kann, als es gar nichts Reales ist: Gleichheit zwischen 3 und 3, Verschiedenheit zwischen Roth und Gr\u00fcn kann schon dem Sprachgebrauche nach zwar bestehen, aber nicht in der Weise existiren wie etwa ein Haus oder ein Baum.1 Endlich kann etwas zwar real sein, \u00fcberdies existirt haben oder in Zukunft existiren, nicht aber in der Gegenwart Gleichwohl wird es gegenw\u00e4rtig vorgestellt; die Vorstellung existirt also : wer aber wird, aufser etwa bereits einer theoretischen Vormeinung zu Liebe, annehmen wollen, dafs zwar die Vorstellung exi8tire, ihr Inhalt aber nicht?\nMan denkt bei dieser Gegen\u00fcberstellung vielleicht an den oft geltend gemachten Gegensatz des sogenannten \u201eimmanenten\u201c Objectes zum \u201etransscendenten\u201c d. h. des \u201eblos Vorgestellten\u201c zur Wirklichkeit: das Princip, dafs alles Psychische, zun\u00e4chst also jede Vorstellung einen Gegenstand haben m\u00fcsse, betreffe nicht das transscendente, wohl aber das immanente Object, und f\u00fcr letzteres tr\u00e4ten die eben ber\u00fchrten Schwierigkeiten aufser Kraft. In der That, wenn ich an einen goldenen Berg denke, so kann man ganz nat\u00fcrlich sagen, derselbe existire in meiner Vorstellung. Und wie der vorgestellte goldene Berg, so existirt am Ende auch die vorgestellte Verschiedenheit, die vorgestellte Vergangenheit, ja selbst das vorgestellte runde Viereck. Aber man darf sich hier durch eine vielfach ganz brauchbare, am Ende aber doch nur ungenaue Redeweise nicht irre f\u00fchren lassen: dasjenige, dem hier unter dem Namen des \u201evorgestellten goldenen Berges\u201c Existenz mit Recht zugesprochen wird, ist eben doch nur die Vorstellung dieses Berges. Das \u201ein der Vorstellung Existiren\u201c ist eben genau genommen gar kein Existiren, wenigstens kein Existiren des Berges: und findet man es praktisch n\u00fctzlich, die Existenz, wenn auch nur dem Worte nach, doch auf den Berg zu beziehen, so wird es zur Vermeidung vieler Mifsverst\u00e4ndnisse dienlich sein, festzuhalten, dafs diese angebliche Existenz h\u00f6chstens als eine Pseudo-Existenz bezeichnet zu\n1 Auf die principielle Bedeutung dieses Gegensatzes habe ich zuerst hingewiesen in der Abhandlung \u201eUeber die Bedeutung des WEBKB\u2019schen Gesetzes\u201c diese Zeitschrift 11, 250; S. 79 der Sonderausgabe.","page":186},{"file":"p0187.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4Unifs etc. 187\nwerden verdient.1 Will man also die Sachlage in den obigen F\u00e4llen ohne Ungenauigkeit im Ausdruck charakterisiren, so mufs man sagen: den betreffenden Vorstellungen fehlt selbstverst\u00e4nd-lieh ein transscemlentes Object ; aber auch ein immanentes Ob-ject derselben existirt so wenig, dafs vielleicht geradezu die Frage aufgeworfen werden k\u00f6nnte, ob bei einem immanenten Objecte als solchem \u00fcberhaupt je von Existenz im eigentlichen Sinne zu reden ist Was in Wahrheit existirt, ist im betreffenden Falle eben die Vorstellung (resp. das Urtheil, von Gef\u00fchl oder Begehrung auch hier abgesehen) nat\u00fcrlich unter Einschlufs ihres Inhaltes. Dafs sie einen (immanenten) Gegenstand \u201ehaben\u201c kann, ohne dafs dieser existirt, erscheint f\u00fcrs Erste freilich einigermaafsen befremdlich; doch findet man bei n\u00e4herer Betrachtung gerade hierin die Natur des Gegenstandsgedankens besonders deutlich ausgepr\u00e4gt auf den gr\u00fcndlicher einzugehen hier zu weit f\u00fchren m\u00f6chte.\nNun tritt aber die Nicht-Identit\u00e4t von Gegenstand und Inhalt nicht nur in betreff ihrer Existenz, sondern nicht minder an der Verschiedenheit ihrer Beschaffenheit zu Tage. Oben war von Gegenst\u00e4nden die Rede, denen Realit\u00e4t fehlt: Inhalte sind stets so real wie die Vorstellungen, deren Inhalte sie sind. Auch auf vergangene und k\u00fcnftige Gegenst\u00e4nde gegenw\u00e4rtiger Vorstellungen wurde hingewiesen: dagegen ist es selbstverst\u00e4ndlich, \u2022dafs keine Vorstellung gegenw\u00e4rtig sein kann ohne dafs ihr Inhalt gegenw\u00e4rtig w\u00e4re. Aufser Zweifel ist ferner, dafs nicht etwa nur Psychisches, sondern auch Physisches vorgestellt werden kann : dagegen kann der Inhalt eines Psychischen, also zun\u00e4chst einer Vorstellung, auch seinerseits nur psychisch sein. Im Be-sonderen kann ich Blaues, Warmes, Schweres vorstellen: die Vorstellung aber ist so wenig als ihr Inhalt blau, warm oder\n1 Eben im Begriffe, das Manuscript der gegenw\u00e4rtigen Abhandlung abzuschliefsen, ersehe ich aus einer v\u00f6llig berechtigten kritischen Bemerkung B. Russel\u2019s (Mind, Aprilheft, 1899, S. 255), dafs ich in meiner Arbeit \u201eUeber die Bedeutung des WEBER'schen Gesetzes\u201c (diese Zeitschr. 11, 8631; 8. 1151 der Sonderausgabe) diesem Umstande nicht ausreichend Rechnung getragen habe. R\u00e4umliche Ausdehnung z. B. ist gewifs niemals psychisch : aber die \u201eblos vorgestellte Ausdehnung\u201c ist eben eigentlich gar keine Ausdehnung, wohl aber eine Vorstellung davon, und alle Vorstellung ist psychisch. F\u00fcr meine a. a. 0. vertretene Position von der \u201etheoretischen Mefsbarkeit\u201c des Psychischen d\u00fcrfte dies kaum mehr als eine unwesentliche Modification im Gefolge haben.","page":187},{"file":"p0188.txt","language":"de","ocr_de":"188\nA. Meitwng.\nschwer ; Attribute dieser Art scheinen schon auf den ersten Blick auf Inhalte ganz und gar unanwendbar u. s. f.\nWas ist nun aber das, was sich unter den obigen, \u00fcbrigens aber auch noch unter anderen Gesichtspunkten1 als der vom Gegenst\u00e4nde grund- und wesensverschiedene Inhalt einer Vorstellung oder eines Urtheils darstellt ? Sehe ich recht, so ist diese Frage einfachst in folgender Weise zu beantworten: mag ich einen Kirchthurm oder einen Bergesgipfel, ein Gef\u00fchl oder ein Begehren, eine Verschieden!]eits- oder eine Causalrelation oder was sonst immer vorstellen, jedesmal stelle ich vor. Alle diese psychischen Geschehnisse zeigen also unbeschadet der geradezu unbegrenzten Variabilit\u00e4t des Gegenstandes ein ihnen allen gemeinsames Moment, eben das, verm\u00f6ge des sie alle Vorstellungen sind, das Vorstellen oder den Vorstellungsact. Andererseits aber k\u00f6nnen Vorstellungen, sofern sie Vorstellungen verschiedener Gegenst\u00e4nde sind, unter einander nicht v\u00f6llig gleich sein : wie immer die Relation der Vorstellung zu ihrem Gegenst\u00e4nde aufzufassen sein mag, die Verschiedenheit der Gegenst\u00e4nde mufs irgendwie auf Verschiedenheit der betreffenden Vorstellungen zur\u00fcckgehen. Das nun, worin Vorstellungen verschiedener Gegenst\u00e4nde unbeschadet ihrer Uebereinstimmung im Acte von einander verschieden sind, das ist dasjenige, was auf die Bezeichnung \u201eInhalt der Vorstellung\u201c Anspruch hat: dieser existirt, ist also real und gegenw\u00e4rtig, nat\u00fcrlich auch psychisch, mag der sozusagen mit seiner H\u00fclfe vorgestellte Gegenstand auch nicht-existirend, nicht-real, nicht-gegenw\u00e4rtig, nicht-psychisch sein.\nWer es versucht, im einzelnen Falle Inhalt und zugeh\u00f6rigen Gegenstand reinlich auseinander zu halten, kann leicht bemerken, wie dabei der Inhalt gleichsam stets zu Gunsten des Gegenstandes in den Hintergrund tritt. Es sei hier mindestens vor\u00fcbergehend darauf hingewiesen, dafs dies neben inneren Gr\u00fcnden jedenfalls auch einen \u00e4ufseren Grund hat, der im sprachlichen Ausdrucke liegt Zwar hat der Umstand, dafs die Sprache eben\n1 Hier sei nur noch der Thatsache gedacht, dafs sehr wohl zu Einem Inhalte mehrere Gegenst\u00e4nde, zu einem Gegenst\u00e4nde mehrere Inhalte geh\u00f6ren k\u00f6nnen. Ersteres verb\u00fcrgen die \u201euniversellen\u201c Vorstellungen, letzteres die vielen F\u00e4lle, wo derselbe Gegenstand durch verschiedene Vorstellungen, sei es verschiedener Subjecte sei es. desselben Subjectes, er-fafst wird oder doch werden kann (vgl. hierzu S. Witaskk \u201eHeber willk\u00fcrliche Vorstellungsverbindung\u201c, diese Zeitschrift 12, 212 ff.).","page":188},{"file":"p0189.txt","language":"de","ocr_de":"Debet Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltni\u00df etc. 189\n\u201eAusdruck\u201c ist, unter Anderem auch dies zu bedeuten, dafs sie die Vorstellungen des Redenden verr\u00e4th, und zwar nat\u00fcrlich nicht nur das Vorstellen im Allgemeinen, sondern auch dessen inhaltliche Determinationen. Aber was der Redende \u201esagen\u201c will, oder noch genauer, das, wor\u00fcber er reden will, das ist nicht das, was die Worte ausdr\u00fccken, sondern das, was sie bedeuten, und das ist nicht der Inhalt, sondern der Gegenstand der durch das betreffende Wort ausgedr\u00fcckten Vorstellung.1 Die W\u00f6rter bieten also insofern ein vor aller Theorie bereits verf\u00fcgbares Mittel, die Gegenst\u00e4nde gleichsam festzuhalten, indes die Sprache den Inhalten gegen\u00fcber den analogen Dienst besonders standhaft versagt. Es fehlt ganz und gar an nat\u00fcrlichen Benennungen f\u00fcr die einzelnen Inhalte, so dafs zuletzt nichts \u00fcbrig bleibt, als im Bed\u00fcrfnifsfaile den Umweg \u00fcber den Gegenstand einzuschlagen, um sich \u00fcber den zugeh\u00f6rigen Inhalt zu verst\u00e4ndigen. In dieser Weise l\u00e4fst sich dann z. B. vom \u201eInhalte der Blau-Vorstellung\u201c reden und etwa behaupten, dafs derselbe vom \u201eInhalte der Roth-Vorstellung\u201c verschieden sei : aber es ist nicht zu verkennen, wie solche terminologische Schwerf\u00e4lligkeit das directe Erfassen der inhaltlichen Thatbest\u00e4nde erschweren mufs.\n\u00a7 3. Die Ordnungsverschiedenheit\nHaben die bisherigen Ausf\u00fchrungen nichts weiter zu leisten gehabt, als einen l\u00e4ngst acceptirten Begriff vielleicht in helleres Licht zu setzen, so mag es nun einer etwas eingehenderen Rechtfertigung bed\u00fcrfen, weshalb und in welchem Sinne ich unter den mancherlei Gegenst\u00e4nden des Vorstellens und Urtheilens eine Art besonderer Classe unter dem Namen der Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung herauszuheben f\u00fcr erforderlich halte. Es giebt bekanntlich Gegenst\u00e4nde, denen man eine in ihrer Natur gelegene innere Unselbst\u00e4ndigkeit nachsagen kann. Ich meine nicht jene Unselbst\u00e4ndigkeit im Auftreten, verm\u00f6ge welcher etwa Farbe sich nicht ohne Ausdehnung vorstellen l\u00e4fst Auch diese Unselbst\u00e4ndigkeit mag in der Natur von Farbe und Ausdehnung begr\u00fcndet sein : aber man kann sie immer noch \u00e4ufserlich nennen gegen\u00fcber jener, ich m\u00f6chte sagen Unfertigkeit, welche z. B. dem\n1 Vgl. auch E. Maktihak, \u201eZur Psychologie des Sprachlebene\u201c, Zeit-tchrift f. \u00f6sterreichische Gymnasien, Jahrgang 1898, 1. Heft; S. 10ff. des Sonderabdruckes.","page":189},{"file":"p0190.txt","language":"de","ocr_de":"190\nA. Meinong.\nGegenst\u00e4nde \u201eVerschiedenheit\u201c anhaftet, wenn man ihn von dem, was verschieden ist, zu isoliren versucht. Ich kann den Verschiedenheitsgedanken einfach nicht ausdenken ohne Bezugnahme auf Objecte, an die er sich gleichsam heftet, indes es mindestens einen ganz guten Sinn h\u00e4tte, zu meinen, im Gedanken an Blau oder Gelb liege noch gar nichts von R\u00e4umlichkeit, obwohl es unm\u00f6glich sei, Farbe zu denken, ohne Ausdehnung mitzudenken. Mag \u00fcbrigens dieser Versuch, die beiden Arten von Unselbst\u00e4ndigkeit durch den Ansatz zu einer Beschreibung auseinanderzuhalten, noch so unbeholfen und unzureichend sein, die unmittelbare Empirie l\u00e4fst \u00fcber das einer weiteren Beschreibung vielleicht gar nicht mehr zug\u00e4ngliche Wesen des einen und des anderen Falles keine Unklarheit aufkommen. Die innere Unselbst\u00e4ndigkeit nun, die uns im Folgenden allein besch\u00e4ftigen wird, h\u00e4tte sich auch so beschreiben lassen, dafs man es da mit Gegenst\u00e4nden zu thun hat, die sich gleichsam auf andere Gegenst\u00e4nde als unerl\u00e4fsliche Voraussetzungen aufbauen: diese Betrachtungsweise rechtfertigt es, Gegenst\u00e4nde von innerer Unselbst\u00e4ndigkeit denjenigen Gegenst\u00e4nden gegen\u00fcber, die im eben angegebenen Sinne ihre Voraussetzungen ausmachen, als Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung zu bezeichnen.1 Es sei, um die noch etwa erforderlichen terminologischen Festsetzungen sogleich auf einmal zu treffen, hinzugef\u00fcgt, dafs die Gegenst\u00e4nde, auf welche ein solcher Gegenstand h\u00f6herer Ordnung gestellt erscheint, im Bedarfsf\u00e4lle als dessen Inferiora, ein Gegenstand dagegen, der sich einem anderen Gegenst\u00e4nde gegen\u00fcber als auf ihn gebaut erweist, als Superius des letzteren bezeichnet werden solL Es ist eine ausnahmslose Gesetzm\u00e4fsigkeit, dafs ein Gegenstand, der in irgend einem F alle ein Inferius gestattet, solcher Inferiora unter allen Umst\u00e4nden be dart Dagegen ist die Eigenschaft, ein Superius zu haben, also ein Inferius zu sein, in keiner Weise allgemein charakteristisch. Was jetzt einen Gegenstand h\u00f6herer Ordnung tr\u00e4gt, kann ein andermal ganz ohne einen solchen auftreten; und sollte diese M\u00f6glichkeit f\u00fcr bestimmte F\u00e4lle selbst in Abrede zu stellen sein, was aber noch sehr der Untersuchung bed\u00fcrfte, so blieben immer noch genug\n1 Wort wie Gedanke ist zu naheliegend, um wirklich neu zu sein. Vgl. z. B. Fzchner's Elemente Bd. II, S. 86; besonders aber Vorschule der Aesthetik Bd. I, 8. 56.","page":190},{"file":"p0191.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und dei'en Verh\u00e4ltnifs etc. 191\nF\u00e4lle \u00fcbrig, f\u00fcr die sie zu bezweifeln v\u00f6llig grundlos w\u00e4re. Noch weniger kann nat\u00fcrlich dadurch, dafs etwas als Inferius auftritt, etwas dar\u00fcber ausgemacht sein, in wie weit es selbst die Eignung in sich tr\u00e4gt, ein Superius abzugeben. Verschiedenheit kann zwischen Gegenst\u00e4nden, denen die F\u00e4higkeit, als Gegenstand h\u00f6herer Ordnung aufzutreten, wahrscheinlich oder sicher fehlt, wie etwa Farben, nicht leichter bestehen als zwischen-solchen, die selbst wieder Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung sind; auch Distanzen k\u00f6nnen ja z. B. verschieden sein. Aus alledem ergiebt sich, dafs man schwerlich einmal Anlafs haben wird, von Gegenst\u00e4nden niederer Ordnung als einer charakteristischen Gegen\" standsclas8e zu handeln, indes die Wichtigkeit der Classe \u201eGegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung\u201c sofort in die Augen springt, wenn man die Menge und Verschiedenartigkeit der Thatsachen in* Betracht zieht, die sich nun von selbst diesem Classenbegriffe unterordnen.\n\u00a7 4. Relation und Complexion.\nZun\u00e4chst lenkt hierbei das Beispiel von der Verschiedenheit unsere Aufmerksamkeit den Relationen zu, und es ist ohne Weiteres einleuchtend, dafs s\u00e4mmtliche Relations-Vorstellungen Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung aufweisen m\u00fcssen, bei denen die Relationsglieder, das also, zwischen dem die Relation stattfindet, als Inferiora fungiren. W\u00e4ren nun eben so gewifs alle Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung Relations-Gegenst\u00e4nde, als alle Relations-. Gegenst\u00e4nde f\u00fcr Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung gelten d\u00fcrfen, so w\u00e4re der auf die Ordnungsh\u00f6he gegr\u00fcndete Classenbegriff, obwohl nicht bedeutungslos, so doch vielleicht einer besonderen Benennung nicht bed\u00fcrftig ; er leistete eben nichts weiter als die Hervorhebung einer der charakteristischen Eigenschaften der Relationen. Nun hat sich mir aber das Bed\u00fcrfnifs nach einem besonderen Terminus gerade dadurch aufgedr\u00e4ngt, dafs daa Gebiet der Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung neben den Relationen noch eine zweite, eben so umfassende Gegenstandsclasse in sich schliefst. Gilt es z. B. den Gegenstand \u201evier N\u00fcsse\u201c vorzustellen, so ist das sicher nicht schon dadurch geleistet, dafs in meiner Wahrnehmung oder Einbildung an den Orten a, 6, c, d meines. Gesichtsfeldes je eine Nufs erscheint, es ist, wenn ich einen an","page":191},{"file":"p0192.txt","language":"de","ocr_de":"192\nA. Meinong.\nanderem Orte1 * * erkl\u00e4rten Ausdruck anwenden darf, kein objectives Collectiv aus vorgestellten N\u00fcssen, sondern noch etwas dazu, das Ergebnifs einer Z\u00e4hlung oder sonst einer \u201ecolligirenden\u201c Th\u00e4tigkeit*, und zwar ein gegenst\u00e4ndliches Ergebnifs, das sich auf den Nufsvorstellungs-Gegenst\u00e4nden als Gegenstand h\u00f6herer Ordnung aufbaut Gleiches gilt augenscheinlich von der Melodie, sofern sie mehr ist als ein objectives Collectiv von T\u00f6nen.* Gleiches aber auch schon vom rothen Quadrat oder gr\u00fcnen Rechteck, dessen Natur nicht nur einfach Farbe sowohl als Gestalt, sondern ein bestimmtes Zusammensein oder Verbundensein dieser Daten ausmacht, \u2014 Gleiches noch von vielen anderen F\u00e4llen in unbegrenzter Mannigfaltigkeit. Mit einem Worte also: Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung sind nicht nur Relationen, sondern auch Complexionen, und bei letzteren sind es die Bestandst\u00fccke, welchen in Analogie zu den Gliedern der Relationen die Rolle der Inferiora zuf\u00e4llt. Darf man nun weiter behaupten, dafs es aufser Relationen und Complexionen Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung nicht giebt, so hat unser neuer Terminus den Werth eines zusammenfassenden Ausdruckes f\u00fcr Gegenst\u00e4nde des Relationsund Complexionsgebietes ; ebenso k\u00f6nnen Glieder und Bestandst\u00fccke zusammen als Inferiora bezeichnet werden.\nDafs und warum nun aber nach solchen Zusammenfassungen ein dringendes Bed\u00fcrfnifs besteht, erhellt aus einer Gesetzm\u00e4feig-keit, die ich, freilich noch in keineswegs ein wurfsfreier Form, bereits an anderem Orte4 ausgesprochen habe und die mir die ganze Complexions- und Relationstheorie als ein Fundamentalgesetz derselben zu beherrschen scheint. Ich benenne sie das Gesetz der inhaltlichen und gegenst\u00e4ndlichen Partial-Coincidenz des Complexions- mit dem Relations - Gedanken und habe den Sinn dieses Gesetzes hier vor Allem kurz darzulegen und zugleich seine G\u00fcltigkeit zu erweisen.\n1 \u201eBeitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse\u201c diese Zeitschrift 6, 352 f. ; 8. 13 f. des Sonderabdruckes.\n9 VgL auch H\u00fc88bbl, \u201ePhilosophie der Arithmetik\u201c, Bd. I.\n* Vgl. Ehkbitfkls\u2019 Abhandlung \u201eTJeber Gestaltqualit\u00e4ten\u201c, Vierteljahnschrift f\u00fcr wissewchaftliche Philosophie, Jahrgang 1890, S. 251 ff., \u2014 dam meinen Aufsatz \u201eZur Psychologie der Complexionen und Relationen\u201c, Zeitschrift f. Psychol, u. Physiol, d. Sinnesorg. 2, 245 fl., und H\u00f6blbb\u2019s Psychologie S. 162 ff.\n4 Diese Zeitschr. 2, 254.","page":192},{"file":"p0193.txt","language":"de","ocr_de":"Ueher Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnifs etc. 193\n\u00a7 5. Das Coincidenz-Princip.\nEs wurde eben schon ber\u00fchrt, dafs eine Complexion mehr ist als das objective Collectiv der Bestandst\u00fccke. Sollen a und b eine Complexion ausmachen, also Theile eines Ganzen sein, so mufs zwischen ihnen irgend eine Verbindung bestehen, die sie zu Theilen eines Ganzen macht, d. h., sie sind Bestandst\u00fccke einer Complexion verm\u00f6ge einer Relation r, in der sie zu einander stehen. Und sollen a und b als Bestandst\u00fccke einer Complexion vorgestellt werden, so ist dies gleichfalls in keiner anderen Weise zu erzielen als so, dafs sie als Glieder einer Relation r vorgestellt werden.\nGehen wir dagegen umgekehrt von der Voraussetzung aus, dafs a und b zu einander in der Relation r stehen, so ist wieder sofort ersichtlich, dafs dies nicht bedeuten kann, dafs neben den vielleicht absoluten Thatbest\u00e4nden a und b noch ein relativer Thatbestand r gegeben ist, der mit jenen etwa ein objectives Collectiv ausmachte. Vielmehr m\u00fcssen a und 6 einem Ganzen angeh\u00f6ren verm\u00f6ge der Relation r, in der sie stehen. Liegt also zwischen a und b eine Relation r vor, so ist damit ipso facto auch eine Complexion zwischen den Relationsgliedern als Bestandst\u00fccken gegeben; und wer a und b in der Relation r vorstellen will, kann dies nicht anders, als indem er sie in Complexion vorstellt.\nDas Prineip : \u201ewo Complexion, da Relation und umgekehrt\u201c ergiebt sich sonach mit voller Selbstverst\u00e4ndlichkeit f\u00fcr Wirkliches sowohl als f\u00fcr Gedachtes. Was hier aber vorliegt, ist nicht das Zusammenauftreten zweier naturgesetzlich (etwa verm\u00f6ge der Identit\u00e4t je eines Complexionsbestandst\u00fcckes mit je einem Relationsglied) blos mit einander verkn\u00fcpften, \u00fcbrigens aber gegen einander von Natur selbst\u00e4ndigen Thatbest\u00e4nde. Die Relation ist vielmehr ein Theil der Complexion; was aber diese Complexion neben der Relation in sich befafst, ja was unter dem Namen der Bestandst\u00fccke f\u00fcr sie zun\u00e4chst constitutiv ist, sind die Relationsglieder, also eben das, dem gegen\u00fcber die Relation nicht minder unselbst\u00e4ndig ist, als die Complexion der Relation gegen\u00fcber. Dieses Verh\u00e4ltnifs theilweiser Identit\u00e4t und gegenseitiger Unselbst\u00e4ndigkeit bezeichne ich mit dem Ausdrucke \u201ePartialcoincidenz\u201c. Ich leite aus den eben angestellten Erw\u00e4gungen das Recht ab, diese Coincidenz zwischen dem Com-Zeitschrift f\u00fcr Psychologie XXI.\t13","page":193},{"file":"p0194.txt","language":"de","ocr_de":"194\nA. Meinong.\nplexions- und Relationsgedanken in Anspruch zu nehmen den Inhalten sowohl als den Gegenst\u00e4nden nach, womit zugleich gesagt ist, dafs diese Coincidenz, die der yorgestellten Complexion und Relation in keinem Falle mangelt, auch unabh\u00e4ngig vom Vorgestelltwerden genau in dem Maafse verwirklicht ist, als Oomplexionen und Relationen Unabh\u00e4ngigkeit vom Vorgestelltwerden zugesprochen werden kann.\nWas ich an der schon einmal ber\u00fchrten Stelle1 in dem Satze auszusprechen versuchte : \u201eDie Relation ist die Complexion vom Standpunkte der Glieder besehen\u201c, h\u00e4tte sonach richtiger etwa so formulirt werden m\u00fcssen: die Complexion ist die Relation und deren Glieder zusammengenommen. Nur darf auch dies nicht so verstanden werden, als w\u00e4re die Complexion nur die Relation und deren Glieder: das w\u00e4re ja im Grunde nichts als das eben zuvor abgelehnte objective Collectiv aus o, b und r. Vielmehr steht ja a und b in der Relation r, was nur bedeuten kann, dafs auch a resp. b zu r in je einer Relation stehen mills, etwa r* \u201ebeziehungsweise r\", welche beiden Relationen immerhin auch gleich sein k\u00f6nnen. Zugleich wird ersichtlich, dafs, was eben in Bezug auf o, b und r gesagt wurde, sich nun auch in Bezug auf a, r und r\\ oder auch in Bezug auf 6, r und t* wiederholen liefse und dafs in dieser Weise neue und immer neue Relationen zum Vorschein kommen m\u00fcssen ohne Ende. Eine theoretische Schwierigkeit kann meines Erachtens hierin so wenig gefunden werden als etwa darin, dafs die Theilung einer Strecke auf eine unendliche Reihe immer kleinerer Theil-strecken f\u00fchrt. Dagegen ist allerdings nicht in Abrede zu stellen, dafs das Princip der Partialcoincidenz, sofern es von r gilt, mit eben so viel Recht auch von r', r\u201c und allen \u00fcbrigen unendlich vielen Relationen gelten mufs, die in dem anscheinend so einfachen Complexionsgedanken mit implicirt sind. Inzwischen fehlt es nicht an Gesichtspunkten, welche die Anwendungssph\u00e4re unseres Princips wenigstens praktisch, d. h. f\u00fcr die Regel, auf r einschr\u00e4nken werden. Vor Allem ist gegen\u00fcber der directen Empirie nicht wohl daran zu zweifeln, dafs in jeder Complexion dem r eine weitaus charakteristischere Bedeutung zukommt als den im Ganzen wohl ziemlich einf\u00f6rmigen r', r\u201c u. s. f. Schon dies m\u00f6chte ausreichen, die Relation r als Hauptrelation den\n1 Diese Zeit sehr. 2, 264.","page":194},{"file":"p0195.txt","language":"de","ocr_de":"Heber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnis etc. 195\n\u00fcbrigen Relationen der betreffenden Complexion als deren Neben; relationen entgegen zu stellen. Dies erscheint aber umsomehr am Platze, wenn man bedenkt, dafs die Relation r den \u00fcbrigen implicirten Relationen gegen\u00fcber schon insofern eine h\u00f6chst markante Ausnahmsstellung einnimmt, als nur sie allein auf Gliedern aufgebaut ist, denen die schon oben ber\u00fchrte Identit\u00e4t mit den Bestandst\u00fccken der betreffenden Complexion zukommt Die Relationen, die eine Complexion in sich schliefst, so wesentlich sie sein m\u00f6gen, z\u00e4hlen doch niemals zu deren Bestandst\u00fccken: aufser der Relation r findet sich aber in der eben gekennzeichneten unendlichen Reihe keine einzige Relation vor, die nicht mindestens Eine jener Relationen unter ihren Gliedern h\u00e4tte. Dies motivirt wohl ausreichend, bei Behauptung des Coincidenzprincipes normaler Weise zun\u00e4chst ausschliefslich die Hauptrelation der Complexion als die mit dieser coincidirende Relation ins Auge zu fassen, und diese Relation zugleich als dasjenige zu betrachten, was als vor Allem charakteristisches Moment zu gegebenen Gegenst\u00e4nden \u201ehinzukommt\u201c, wenn diese zu einer bestimmten Complexion zusammentreten.\nEs braucht \u00fcbrigens kaum hervorgehoben zu werden, dafs, auch wenn das Coincidenzprincip zun\u00e4chst auf die Hauptrelation beschr\u00e4nkt ausgesprochen wird, die Relationen. ri, r\" etc. nicht etwa Ausnahmen von diesem Principe darstellen. Auch sie haben vielmehr ihre coincidirenden Complexionen, diejenigen n\u00e4mlich, denen gegen\u00fcber sie Hauptrelationen sind. In diesem Sinne coincidirt rl mit einer Complexion aus den Bestandst\u00fccken \u00ab und r, ebenso r\" mit einer Complexion aus den Bestandst\u00fccken b und r u. s. f.\nNun bed\u00fcrfen aber die bisherigen Darlegungen insofern noch einer Erg\u00e4nzung, als im Obigen nur von Complexionen mit zwei Bestand st\u00fccken die Rede war und im Falle von mehr als zwei Bestandst\u00fccken die Annahme einer coincidirenden Relation entbehrlich scheinen k\u00f6nnte. Gesetzt n\u00e4mlich, es handle sich etwa um eine Complexion aus den Bestandst\u00fccken a, b und c, so scheint, um diese zu eonstituiren, ausreichend, dafs etwa a zu i in der Relation r,, b zu c in der Relation r2 steht: der einen Complexion st\u00e4nden dann als coincidirend zwei Relationen gegen\u00fcber, was mit dem Gedanken der Partialcoincidenz zwar ganz vereinbar, aber der Meinung, in der sich oben das Princip\nzun\u00e4chst aufgedr\u00e4ngt hat, insofern nicht gem\u00e4fs ist, als bisher\n13*","page":195},{"file":"p0196.txt","language":"de","ocr_de":"196\nA. Meinong.\njedesmal der Einen Complexion die Eine Relation gegen\u00fcbertr&t Freilich l\u00e4fst sich dieser Parallelismus auch im vorliegenden Falle durch die Annahme wahren, dafs die in Rede stehende Complexion nicht unmittelbar aus a, b und c, sondern zun\u00e4chst aus zwei Complexionen niederer Ordnung besteht, deren eine a und 6, die andere b und c zu Bestandst\u00fccken hat, mit deren erster dann die Relation rlt mit deren zweiter die Relation r, coincidirt, indes der vorgegebenen Complexion selbst eine Relation R zwischen den beiden niedrigeren Complexionen als Gliedern entspricht. Es kommt nun aber nicht eben selten vor, dafe das Einschieben von Complexionen zwischen die gegebene Complexion und die gegebenen Bestandst\u00fccke angesichts der Erfahrung eine ganz unverkennbare K\u00fcnstlichkeit ist. Man denke etwa nur an die Eventualit\u00e4t, dafs es eine Mehrheit von Objecten, z. B. deren sechs, als bestimmte oder selbst unbestimmte Mehrheit vorzustellen gilt : wer m\u00f6chte da glauben, dafs jedesmal erst zwei Objecte zu einer Complexion vereinigt werden, und dann etwa je zwei von den drei so gewonnenen Paaren wieder zu Complexionen zusammentreten, welche dann erst die unmittelbaren Inferiora zum Complexions* inhalte \u201eSechs\u201c abgeben? Gleichwohl erweist sich- auch f\u00fcr solche F\u00e4lle das Coincidenzprincip in seiner obigen einfachen Gestalt anwendbar, sobald man die sich zun\u00e4chst freilich wie etwas Selbstverst\u00e4ndliches darbietende Annahme, dafs keine Relation weniger, ebenso aber auch keine mehr als zwei Glieder haben k\u00f6nne, als Vorurtheil erkannt hat. Im gegenw\u00e4rtigen Zusammenh\u00e4nge betrifft uns nat\u00fcrlich nicht der auf den ersten Blick immerhin paradoxe, gleichwohl, wie ich glaube, in ganz allt\u00e4glichen Gedankenconceptionen realisirte Grenzfall von Relationen (und Complexionen) mit nur Einem Inferius; um so mehr die, so viel mir bekannt, zuerst von K. Zindlee1 mit ausreichendem Nachdruck betonte, sehr wichtige Thatsache, dafs es Relationen auch zwischen mehr als zwei Gliedern geben kann. Der Umstand, dafs man, wo von Relationen die Rede war, bislang fast ausschliefslich die Vergleichungsrelationen ins Auge fafste, scheint zur Folge gehabt zu haben, dafs man die aller Vergleichung in der That wesentliche Beschr\u00e4nkung auf\n1 \u201eBeitr\u00e4ge zur Theorie der mathematischen Erkenntnife\u201c, Sitzung* belichte der Wiener Akademie der Wissenschaften, phil.-hist CL 118, 21 ff.","page":196},{"file":"p0197.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnis etc. 197\nje zwei Fundamente f\u00fcr eine allen Relationen als solchen wesentliche Eigenschaft gehalten hat. Hat man einmal jedoch die Haltlosigkeit dieser Vormeinung erkannt, dann bieten die zweifellos so h\u00e4ufig auftretenden Complexionen mit mehr als zwei Bestandst\u00fccken dem Coincidenzprincip gleichfalls keine Schwierigkeiten mehr. Um die sechs Dinge als sechs vorzustellen, denke ich sie eben in einer Complexion, die wesentlich, wenn auch kaum aussehliefslich, charakterisirt ist durch die Eine Relation, in welcher die sechs Objecte zu einander gedacht werden.\nIch kann diese kurze Darlegung des Coincidenzprincipes nicht beschliefsen, ohne der Bekr\u00e4ftigung zu gedenken, die demselben durch den erfreulichen Umstand zu Theil geworden ist, dafs, offenbar v\u00f6llig unabh\u00e4ngig von meiner h\u00f6chst unvollkommenen Formulirung des Principes aus dem Jahre 1891, das Wesentliche der Sache inzwischen zur Anerkennung gelangt ist in dem Vorschl\u00e4ge B. Erdmann\u2019s1, die Relation \u201eals Art des bewussten Beisammen von Vorgestelltem zu beschreiben\u201c. Soll ich, meint Erdmann, A und B in Relation zu einander vorstellen, so m\u00fcssen zun\u00e4chst Beide dem Bewufstsein gegeben sein. Aber \u201edas Beisammen des Bewufstseins hat nicht nothwendig ein Bewufstsein des Beisammen zur Folge. Dies tritt erst ein, wenn wir, indem wir unsere Aufmerksamkeit von dem einen der beisammen befindlichen Bewufstseinsinhalte zum anderen wenden, jenes eine im Bewufstsein, in der Wahrnehmung oder Erinnerung behalten. Und erst hierdurch kn\u00fcpft sich die Beziehung\u201c. Das gilt nicht nur, \u201ewenn die bezogenen Gegenst\u00e4nde scheinbar eng neben einander im Bewufstsein wohnen, sondern ebenso, wo sie als aufserhalb des Bewufstseins, etwa fern von einander im Raum vorgestellt werden. Auch Sirius und Erde sind beisammen, sofern sie in ihrer Gravitationsbeziehung gegen einander vorgestellt werden. Die Art und Weise aber dieses Beisammenseins ist die Beziehung\u201c.2 Es ist ohne Weiteres ersichtlich, dafs das \u201eBeisammen des Bewufstseins\u201c im Sinne der oben gebrauchten Ausdrucksweise ein objectives Collectiv von Inhalten, das \u201eBewufstsein des Beisammen\u201c aber im Wesentlichen die vorgestellte . Complexion ist.\n1 Logik Bd. I, Halle 1892, 8. 57.\nA. a. O. S. 57 f.","page":197},{"file":"p0198.txt","language":"de","ocr_de":"198\n*4. Meinong.\n\u00a7 6. Reale und ideale Gegenst\u00e4nde.\nEs d\u00fcrfte der Klarheit der obigen Darlegungen f\u00f6rderlich sein, auf deren Anwendungsgebiet noch ein paar Streiflichter fallen zu lassen durch Hinweis auf die Gesichtspunkte, unter denen die Mannigfaltigkeit dessen, was auf den Namen des Gegenstandes h\u00f6herer Ordnung Anspruch hat, sich nat\u00fcrliche \u00fcberblicken l\u00e4fst Einer dieser Gesichtspunkte ist in der Gegen\u00fcberstellung von Relation und Complexion bereits zur Geltung gelangt Dafs derselbe uns zugleich gestattet, das Einfache als Grenzfall der Complexion, die Identit\u00e4t mit sich selbst als Grenzfall der Relation zu betrachten, und so alle Gegenst\u00e4nde als Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung aufzufassen, ist oben vor\u00fcbergehend bereits erw\u00e4hnt worden.\nEinen zweiten Gesichtspunkt bietet der schon oben einmal ber\u00fchrte Gegensatz des Realen und Idealen, wenn man die beiden sprachgebr\u00e4uchlich freilich bereits recht mehrdeutig gewordenen Termini so versteht, dafs man Gegenst\u00e4nde real nennt, die, falls sie nicht wirklich existiren, ihrer Natur nach doch jedenfalls existiren k\u00f6nnten, also z. B. ein Haus, ein Chronograph, ein Buch, nat\u00fcrlich auch Farbe, Ton, Elektrizit\u00e4t il dgL, im Gegens\u00e4tze zu Gegenst\u00e4nden, die, auch wenn sie in gewisser Weise affirmirt werden m\u00fcssen, doch wieder ihrer Natur nach niemals ohne Incorrectheit als existirend bezeichnet werden d\u00fcrfen. Mangel, Grenze, Vergangenes u. dgl. sind die traditionellen Beispiele f\u00fcr Nicht-Reales, also Ideales; aber es giebt eben so wichtige und charakteristische Beispiele daf\u00fcr, die man nicht anzuf\u00fchren pflegt und die f\u00fcr den gegenw\u00e4rtigen Zusammenhang den besonderen Werth haben, die Anwendung des Gegensatzes von Ideal und Real auf den uns so wuchtig gewordenen Gegensatz zwischen Relation und Complexion zu beleuchten. Man denke an die Aehnlichkeit einer Copie mil ihrem Original: beide Bilder existiren; aufser und neben ihnen aber auch noch der Aehnlichkeit Existenz zuzuerkennen, das e versp\u00fcrt jeder Unvoreingenommene als Gewaltsamkeit Dennoch ist an der Aehnlichkeit gegebenen Falles etwas vielleicht mit Recht zu affirmiren ; wir setzen ja voraus, dafs den beiden Bildern die Aehnlichkeit gar nicht abgestritten werden kann. Die Aehnlich-keit existirt nicht, aber sie besteht; und eben was seiner Natur nach zwar sehr wohl bestehen, aber streng genommen nicht","page":198},{"file":"p0199.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltni\u00df etc. 199\nexistiren kann, das ist ja das, was hier als Ideales dem Realen entgegengestellt sein soll. In gleicher Weise ist es klar, dafs im obigen Beispiele von den vier N\u00fcssen die Vierheit nicht sozusagen noch als ein besonderes St\u00fcck Wirklichkeit neben den N\u00fcssen existiren kann, indes ihr, falls richtig gez\u00e4hlt wurde, unter den gegebenen Umst\u00e4nden der Bestand nicht abzusprechen ist Die Vierzahl und nat\u00fcrlich nicht minder jede andere Zahl stellt sonach einen Complexionsfall dar, dem ideale Natur so sicher eigen ist wie der Aehnlichkeitsrelation. Dafs nun weiter den idealen Complexionen auch reale zur Seite stehen, wird auch ohne Beispiele Jedem selbstverst\u00e4ndlich erscheinen : in die Complicirtheit des Wirklichen gew\u00e4hrt ja schon die vorwissenschaftliche Erfahrung \u00fcberreichen Einblick, wenn auch gar Manches von dem, was sich zun\u00e4chst als greifbarste Wirklichkeit darstellt, genauerer Betrachtung sich als ideale Zuthat enth\u00fcllt. Mit realen Complexionen aber sind dem Coincidenz-princip gem\u00e4fs auch reale Relationen gesichert. Wer gleichwohl f\u00fcr sie noch nach Beispielen verlangt, findet deren im physischen wie im psychischen Erfahrungs kreise. Farbe, tactile Qualit\u00e4ten, Temperaturen treten stets mehr oder minder deutlich localisirt auf, und diese Verbindung mit Ortsbestimmungen ist augenscheinlich mehr als das blofse Zusammentreffen im Sinne der Gleichzeitigkeit. Ebensowenig ist, was Stumpf Tonverschmelzung genannt hat, ein blofses Zugleichsein von T\u00f6nen. Die Relationen aber, die hier wie dort Sache director Beobachtung sind, bieten nicht den geringsten Anlafs, ihnen die Natur des Realen abzusprechen. Aus dem Gebiete des psychischen Lebens sei etwa auf das Verh\u00e4ltnis des F\u00fchlens oder Begehrens zu jenen Vorstellungen hingewiesen, die das Gef\u00fchl resp. die Begehrung gleichsam mit dem unerl\u00e4fslichen Gegenst\u00e4nde versorgen. Auch was sonst in irgend einer Weise in die \u201eEinheit des Bewufstseins\u201c eingeht, befindet sich zu dem, was aufser ihm dieser Einheit angeh\u00f6rt, in einem bestimmten Verh\u00e4ltnis. Weiter unten1 wird von einer Gesetzm\u00e4fsigkeit die Rede sein, welche gewisse Typen idealer mit gewissen Typen realer Relationen verbindet.\nZusammenfassend also : Der Gegensatz von Real und Ideal hat sowohl innerhalb der Relationen als inner-\n1 Vgl. das Ende des n\u00e4chsten Paragraphen.","page":199},{"file":"p0200.txt","language":"de","ocr_de":"200\n\u00c0. Meinotuj.\nhalb der Complexionen seine Anwendung : es giebt Real-neben Idealrelationen, wie es Real- neben Idealcomplexionen giebt.1 F\u00fcr das Gebiet der Relationen tritt der in Rede stehende Gegensatz sogar, wenn mein Sprachgef\u00fchl mich nicht t\u00e4uscht, in zwei ziemlich volkst\u00fcmlichen Ausdr\u00fccken zu Tage: Idealrelationen namentlich f\u00fcgen sich zumeist zwanglos unter die Bezeichnung \u201eBeziehung\u201c, indes bei Realrelationen die Bezeichnung \u201eVerh\u00e4ltnifs\u201c sich vielfach angemessen erweist. Ohne auf diese im gegenw\u00e4rtigen Zusammenh\u00e4nge nebens\u00e4chliche Angelegenheit n\u00e4her einzugehen, begn\u00fcge ich mich damit, darauf hinzuweisen, dafs meiner Meinung nach es rathsam ist, hier den im Sprachgebrauch gelegenen Ansatz zur terminologischen Auseinanderhaltung durch Convention gleichsam zu vervollst\u00e4ndigen, also von Verh\u00e4ltnissen und Beziehungen stets im Sinne von Real- und Idealrelationen zu reden. Die dem Comcidenz-princip gem\u00e4fs ihnen zugeordneten Complexionen k\u00f6nnten dann etwa bez\u00fcglich als Verhalts- und Bezugscomplexionen bezeichnet werden.\n\u00a7 7. Erfahrungsgegenst\u00e4nde und fundirte\nGegenst\u00e4nde.\nDer Gegensatz des Realen und Idealen h\u00e4tte auch in einer anderen Weise charakterisirt werden k\u00f6nnen, der nun noch ausdr\u00fccklich zu gedenken ist Dafs alles Reale, falls es existirt, unter ausreichend g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden und vor Allem bei ausreichender Leistungsf\u00e4higkeit des erkennenden Subjectes m\u00fcfste wahrgenommen werden k\u00f6nnen, ist etwas ganz Selbstverst\u00e4ndliches. Bezeichnet man daher das Reale als etwas, das seiner Natur nach das Wahrgenommenwerden gestattet, kurz als das seiner Natur nach Wahrnehmbare, so kann das so lange als eine recht nichtssagende Bestimmung erscheinen, bis man darauf aufmerksam wird, dafs es eine ganze Classe von Gegenst\u00e4nden giebt, denen diese Wahrnehmbarkeit wieder ihrer Natur nach verschlossen ist, n\u00e4mlich eben die idealen Gegenst\u00e4nde. An sich liegt freilich zun\u00e4chst auch hierin wenig Bemerkenswerthes : es ist ja wieder selbstverst\u00e4ndlich, dals was gar nicht existiren\n1 Innerhalb der Relationen hat sich mir dieser Gegensatz schon bei den Untersuchungen \u201eZur Relationstheorie\u201c auf gedr\u00e4ngt, vgl. 8.145 ff \u201e doch durfte an diesen wie an anderen Ausf\u00fchrungen dieser 8chrift gar Manches einer Revision bed\u00fcrfen.","page":200},{"file":"p0201.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Oegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnis etc. 201\nkann, sozusagen noch weniger ein Object f\u00fcr die Wahrnehmung abgeben wird. Man gelangt nun aber auch zu einiger positiven Einsicht in die hier sich darbietende Sachlage, wenn man nun dem Analogon zur Wahrnehmung, das den Bestanderkenntnissen doch nicht wohl fehlen kann, nachfr\u00e4gt.\nAlles Urtheilen ist ein Thun; Vorstellen als solches ist es nicht \\ aber es kann Thun erforderlich sein, um zur Vorstellung dieses oder jenes Gegenstandes zu gelangen. Auch das Wahrnehmen ist also ein Thun: aber von den Vorstellungen, auf denen es basirt, z. B. den Empfindungen, hat man jederzeit gemeint, dafs sie dem wahrnehmenden Subjecte in besonders aufdringlicher Weise sozusagen in den Schools fallen, im Wesentlichen ohne sein Dazuthun, vielmehr selbst der Ausgangspunkt aller intellectuellen Th\u00e4tigkeit. Ganz anders steht es in betreff der Urtheile, auf die unsere Erkenntnifs vom Best\u00e4nde eines idealen Gegenstandes in letzter Instanz zur\u00fcckgeht. Nicht blos im Urtheilen liegt hier ein Thun: auch das Vorstellungsmaterial, mit dem das Urtheilen hier gleichsam zu operiren hat, will erarbeitet sein. Es ist eine recht triviale Sache, dafs, wer etwa \u00fcber Gleichheit oder Ungleichheit zweier Dinge ins Klare kommen will, sie mit einander vergleichen mufs1 2; und \u201eder Verstand der Verst\u00e4ndigen\u201c wird sich vergeblich abm\u00fchen, weg-zuinterpretiren, was der Unvoreingenommene hier so deutlich sieht. Vielmehr bedarf es einer diesen Erfahrungen m\u00f6glichst getreu folgenden Formulirung solcher Thats\u00e4chlichkeiten, f\u00fcr die der Fall des Vergleichens paradigmatisch ist\nEs gelte etwa, zwei Farben A und 5, vielleicht eine rothe und eine gr\u00fcne, mit einander zu vergleichen. Was dabei vorgeht ist ohne Zweifel durch blofse Beschreibung, also ohne Erfahrung, d. i. innere Wahrnehmung nicht klar zu machen: einiges Wesentliche aber l\u00e4fst sich denn doch sagen. Vor Allem ist an dem, was vorgeht, jedenfalls sowohl die A-Vorstellung als die B- Vorstellung betheiligt, was kaum anders als so zu deuten ist, dafs die beiden Vorstellungen zu einander in eine bestimmte\n1 Vgl. H\u00f6fler Psychologie S. 16.\n* Ueber die nun auch wieder von Schumann (diese Zeitschr. 17, 115) acceptirte Meinung, Aehnlichkeit oder Verschiedenheit vorgestellter Gegenst\u00e4nde dr\u00e4nge sich uns ohne unser Zuthun auf, vgl. meine Ausf\u00fchrungen in dieser Zeitschrift 2, 260ff., insbesondere aber H\u00f6fler \u201eUeber psychische Arbeit\u201c diese Zeitschr. 8, 98 ff. ; S. 55 ff. der Sonderausgabe.","page":201},{"file":"p0202.txt","language":"de","ocr_de":"202\nA Meinong.\nRealrelation treten. Die auf die Herstellung dieser Relation gerichtete Operation f\u00fchrt dann unter ausreichend g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden das Auftreten einer neuen Vorstellung, hier der der Verschiedenheit mit sich, nat\u00fcrlich nicht der Verschiedenheit schlechthin, sondern speciell der Verschiedenheit zwischen i und B. Diese Verschiedenheit wird \u00fcberdies in der (vielleicht ausnahmslosen) Regel nicht nur vorgestellt, sondern zugleich erkannt mittels eines Urtheils, in dessen Evidenz ein typischer, zun\u00e4chst vom innerlich Wahrnehmen ganz charakteristisch verschiedener Erkenntnifsfall zur Geltung kommt. Vor Allem f\u00e4llt daran der Umstand in die Augen, dafs zwischen den Inferioren A und B und dem Superius \u201eVerschiedenheit\u201c noch eine Relation besteht, die in der zwischen Inferius und Superius keineswegs ein f\u00fcr alle Mal einbegriffen ist. Man denke zum Vergleiche etwa an die Realrelation zwischen der Farbe und dem (subjectiven) Orte, an dem wir sie vorstellen. Auch diese Relation ist, wie jedes Superius, auf die Inferiora aufgebaut, aber sicher nicht so, als ob die hier als Inferiora fungirenden Gegenst\u00e4nde nicht auch in ganz anderer Relation zu einander stehen k\u00f6nnten: die Farbe, die ich jetzt an diesem Orte denke, kann ich auch an einem anderen Orte, ebenso am n\u00e4mlichen Orte eine andere Farbe denken. Nicht so bei der Verschiedenheit: sind A und B einmal verschieden, dann sind sie es jederzeit, denn sie m\u00fcssen es sein, dieses Wort im Sinne der \u201elogischen Nothwendigkeit\u201c verstanden, die hier durch die Beschaffenheit der A und B einerseits, das Wesen der Verschiedenheit andererseits begr\u00fcndet ist. Man hat demgem\u00e4fs ein Recht, A undB nicht nur als Glieder, sondern auch noch insbesondere als Fundamente der Verschiedenheitsrelation1 zu bezeichnen.\nWas hier vom Specialfalle der Vergleichung dargelegt wurde, gilt, so weit ich sehe, von s\u00e4mmtlichen Idealrelationen und -com-plexionenim Hinblick auf jeneErkenntnifs weise derselben, die ihrer Unmittelbarkeit nach an die Seite des Wahrnehmens von Realrelationen gestellt werden kann. Ueberall treten verm\u00f6ge Operationen, die immerhin bald mehr, bald minder auff\u00e4llig*\n1 Conform \u201eZur Relationstheorie\u201c, S. 44 ff.\n8 Vgl. Witasek, \u201eBeitr\u00e4ge zur Psychologie der Complexionen\u201c, diese Zeitschr. 14, 415 ff.","page":202},{"file":"p0203.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Gegenst\u00e4nde h\u00f6here*\u2022 Ordnung und deren Verh\u00e4ltnifs etc. 203\nin Grenzf\u00e4llen vielleicht selbst entbehrlich sein k\u00f6nnen \\ Vorstellungen in Realrelationen, und je nach Beschaffenheit dieser letzteren kommt es unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden zu Vorstellungen von Superioren jener Gegenst\u00e4nde, die mit ihren Inferioren durch logische Nothwendigkeit verbunden sind. Im Hinblick auf diesen Sachverhalt nenne ich den eben skizzirten Vorgang Fundirung, genauer Fundirung der betreffenden Superiora durch ihre Inferiora : die Erfahrung zeigt, so weit ich sehen kann, keinen anderen Weg, auf dem Vorstellungen dieser Superiora noch anders mit gleicher Urspr\u00fcnglichkeit, ohne Reproduction n\u00e4mlich, zu Stande kommen k\u00f6nnten. Fundirung leistet insofern f\u00fcr Vorstellungen idealer Gegenst\u00e4nde dasselbe wie Wahrnehmung f\u00fcr Vorstellungen realer Gegenst\u00e4nde; und das alte erkenntnifs-theoretisch - psychologische Princip von Intellectus und Sensus 1 2 * leidet an dem fundamentalen Mangel, mit der Fundirung sozusagen die eine H\u00e4lfte der Thatsachen zu vernachl\u00e4ssigen.8 Der Gegensatz zwischen diesen beiden Thatsachenkreisen verdient, wenn irgend einer, auch terminologisch in m\u00f6glichst charakteristischer Weise fixirt zu werden: dies geschieht einfachst, indem man den Erfahrungsgegenst\u00e4nden die Fundirungsgegen-st\u00e4nde oder fundirten Gegenst\u00e4nde zur Seite stellt Letztere decken sich im Sinne eines von mir bereits im zweiten Bande dieser Zeitschrift gemachten Vorschlages4 5 mit dem, was Ehrenfels unter der von der Analogie zum Specialfalle der Gestalt genommenen, aber eben darum nur wenig bezeichnenden Benennung \u201eGestaltqualit\u00e4ten\u201c zum ersten Male eingehenderer und wirklich beweiskr\u00e4ftiger Untersuchung unterzogen hat.R\nSind s\u00e4mmtliche idealen Complexionen und Relationen als fundirte Gegenst\u00e4nde erkannt, so bedarf es nun in betreff der\n1 Vgl. Witasek, \u201eBeitr\u00e4ge zur speciellen Dispositions - Psychologie\u201c, Archiv f. system. Philosophie 3, 287 ff.\n*\tVgl. meinen Aufsatz \u00fcber \u201ePhantasie-Vorstellung und Phantasie\u201c, Zeitschrift f\u00fcr Philosophie und philosophische Kritik 95, 166 ff.\na Vgl. Witasek, \u201eBeitr\u00e4ge zur speciellen Dispositions-Psychologie\u201c, Archiv f. systemat. Philos. 3, 277 ff., auch H\u00f6fler, Psychologie, S. 198ff. und Witasek, \u201eUeber die Natur der geometrisch optischen T\u00e4uschungen\u201c, diese Zeitschr. 19, 138 f. (S. 59 f. der Sonderausgabe).\n*\tS. 251 ff., \u2014 nur ist dort noch von \u201efundirtem Inhalt\u201c statt von \u201efundirtem Gegenstand\u201c die Bede.\n5 Vierteljahrsschr. f. wissensch. Philosophie, Jahrgang 1890, S. 249 ff.","page":203},{"file":"p0204.txt","language":"de","ocr_de":"204\nA. Meinong.\nWeite des Anwendungsgebietes der eben von diesen Gegenst\u00e4nden entworfenen Charakteristik keiner Darlegung mehr. Das Meiste zumal dessen, was sich bereits dem aufserpsychologischen Denken als \u201eRelation\u201c aufdr\u00e4ngt, ist idealer Natur und daher fundirt. N\u00e4herer Betrachtung tritt die Mannigfaltigkeit des Hierhergeh\u00f6rigen1 zu einer Anzahl Gruppen zusammen, die einerseits durch die qualitative Verwandtschaft der gegenst\u00e4ndlichen Fundirungsergebnisse, aufserdem aber auch durch die Uebereinstimmung in betreff der den Fundirungsvorgang einleitenden Operationen zusammengehalten werden. Die Abh\u00e4ngigkeit des Endergebnisses von der Beschaffenheit dieser Operationen erhellt am deutlichsten aus der Thatsache, dafs trotz der, wie ber\u00fchrt, allen Fundirungen wesentlichen Nothwendig-keitsbeziehung zwischen Inferioren und Superius dieselben Gegenst\u00e4nde je nach der Natur der sich einstellenden Operation ganz verschiedene Superiora fundiren k\u00f6nnen. Ich kann denselben vorliegenden Objecten gegen\u00fcber das eine Mal finden, dafs sie verschieden, ein anderes Mal, dafs ihrer zwei sind: dort habe ich eben verglichen, hier zusammengefafst ; im Uebrigen aber ist der gegebenen Sachlage, d. h. der Beschaffenheit der Inferiors gegen\u00fcber die Verschiedenheit nicht mehr und nicht weniger nothwendig als die ZwTeiheit. Sind die vorgegebenen Gegenst\u00e4nde T\u00f6ne, so k\u00f6nnen sie nun aber auch noch als musikalisches Motiv, also sozusagen als einfachste Melodie \u201eaufge-fafst\u201c werden, und auch diesmal fehlt die Nothwendigkeit nicht, der gem\u00e4fs diese T\u00f6ne gerade diese Melodie ausmachen und keine andere. Weniger durchsichtig d\u00fcrfte es f\u00fcr den ersten Blick sein, dafs auch noch sozusagen h\u00f6here intellectuelle Operationen, vor Allem das Urtheil selbst, Fundirungsvorg\u00e4nge einleiten k\u00f6nnen, aus denen dann auch Gedanken von gewisser-maafsen h\u00f6herer logischer Dignit\u00e4t, wie der der M\u00f6glichkeit, der Nothwendigkeit einschliefslich Disposition, Causalit\u00e4t und sonstiger Derivate resultiren. Aber N\u00e4heres hier\u00fcber darf billig einer eingehenderen Darlegung \u00fcberlassen bleiben, in der ich die Ergebnisse meiner bisherigen Untersuchungen hier\u00fcber zusammenzustellen versuchen werde.\n1 Vgl. Witasex, \u201eBeitr\u00e4ge zur Psychologie der Complexionen\u201c, diese Zeitschrift 14, 409 f.","page":204},{"file":"p0205.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnis etc. 205\nZweiter Abschnitt.\nGegenst\u00e4nde vor dem Forum innerer Wahrnehmung.\n\u00a7 8. Der Haupteinwand.\nSo skizzenhaft die vorstehenden Ausf\u00fchrungen sind, so darf ich doch hoffen, dafs sie \u00fcber die Natur dessen, was ich durch die gegenw\u00e4rtigen Ausf\u00fchrungen wie durch fr\u00fchere Arbeiten ver-treten m\u00f6chte, wenigstens den Grundgedanken nach keinen Zweifel aufkommen lassen. Zugleich bin ich nun auch in der Lage, das, was mir den eingangs erw\u00e4hnten Ausf\u00fchrungen Schumann\u2019s als eigentlicher Haupteinwand zu Grunde zu liegen scheint, in eine ebenso einfache als allgemeine Form zu bringen. Ob dann, was sich mir so ergiebt, Schumann noch als seinen Einwand wird gelten lassen k\u00f6nnen, ist dabei von nebens\u00e4chlichem Belange: es gilt ja hier, wie schon ber\u00fchrt, nicht, pers\u00f6nliche Divergenzen zum Austrage zu bringen, sondern die Er-kenntnifs der Sache zu f\u00f6rdern.\nSehe ich also recht, so kehrt sich der Einwand seiner ganzen Natur nach gegen die Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung in ihrer Gesammtheit, indem er einfach geltend macht, dafs uns die innere Wahrnehmung das Vorhandensein solcher Vorstellungsgegenst\u00e4nde resp. der Vorstellungen von solchen Gegenst\u00e4nden in keiner Weise bezeugt. Der Einwand ist, falls er zutrifft, kein schlechthin vernichtender: man wird keiner Theorie das Recht nehmen d\u00fcrfen, den Bereich des Wahrgenommenen, ja des Wahrnehmbaren durch angemessene Hypothesen zu \u00fcberschreiten. Haben wir aber in der ganzen Mannigfaltigkeit des eben als Thats\u00e4chlichkeiten Dargelegten nichts als ein Convolut von Hypothesen ohne director empirischer Beglaubigung vor uns, dann mag allerdings die Complicirtheit eines solchen Hypothesengeb\u00e4udes schon vorg\u00e4ngig begr\u00fcndeten Anstofs erregen. N\u00e4herer Untersuchung aber m\u00fcfste es dann auch noch sehr zweifelhaft sein, ob dem unserem Ein w\u00e4nde nicht ausgesetzten, d. h. also der inneren Wahrnehmung wirklich vorliegenden Thatsachen-material nicht auch noch durch andere Hypothesen eben so gut, wenn nicht gar noch besser, Rechnung zu tragen w\u00e4re.\nEben so wichtig ist nun aber weiter der Umstand, dafs unser Ein wand keineswegs so beschaffen ist, dafs seine Unstatthaftigkeit sozusagen sofort mit H\u00e4nden zu greifen w\u00e4re. Ganz im","page":205},{"file":"p0206.txt","language":"de","ocr_de":"206\nA. Meinong.\nGegentheil: handelt es sich etwa um die Verschiedenheit eines rothen Papierstreifens von einem blauen, so wird, wer unter Anrufung innerer Wahrnehmung \u00fcber seinen Vorstellungszustand Aufschlufs geben soll, zwar mit grofser Bestimmtheit das Vorhandensein der Rothvorstellung und der Blauvorstellung bezeugen, sich dagegen leicht genug f\u00fcr unf\u00e4hig erkl\u00e4ren, neben Roth und Blau noch sozusagen ein Drittes in seiner Vorstellung ausfindig zu machen. Wo m\u00f6glich noch bestimmter mag, wer eine Melodie vorstellt, zur Ueberzeugung gelangen, dafs auch bei sorgf\u00e4ltigster Nachpr\u00fcfung Anderes als Ton Vorstellungen sich seiner inneren Wahrnehmung nicht darbietet. Mit Einem Worte: der Einwand pr\u00e4sentirt sich wie die Reaction gesunden Menschenverstandes auf ein Himgespinnst, vor dem nicht nachdr\u00fccklich genug gewarnt werden k\u00f6nnte; und zumal wer daran mitgesponnen hat, wird darauf bedacht sein m\u00fcssen, die Warnung nicht ungepr\u00fcft an sich vor\u00fcbergehen zu lassen.1\nZu einer solchen Pr\u00fcfung hoffe ich in der Weise zu gelangen, dafs ich unseren Ein wand wo m\u00f6glich im weitesten Umfange des ihm von Natur zukommenden Geltungsbereiches erw\u00e4gen m\u00f6chte. Es ist dies im Grunde nur die Fortsetzung des soeben eingeschlagenen Weges. Ich habe bereits darauf hingewiesen , dafs die These von der innerlichen Un Wahrnehmbarkeit der Vorstellungen und Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung vielleicht schon weiter geht, als den n\u00e4chsten Intentionen Schumann\u2019s ge-m\u00e4fs ist. Jetzt gilt es, die These wom\u00f6glich noch weiter zu formuliren, oder vielmehr festzustellen, ob der gegen die Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung gerichtete Einwand sich nicht mit ebensoviel Scheinbarkeit auch noch auf Anderes anwenden liefse, was sonst meist unbedenklich dem Erkenntnifsgebiete der inneren Wahrnehmung zugeschrieben wird.\nEs handelt sich also um eine Art Abgrenzung des Erkennt-nifsgebietes der inneren Wahrnehmung. Die Fragestellung, die zu derselben f\u00fchren m\u00f6chte, entnehmen wir nat\u00fcrlichst dem ersten Abschnitte der gegenw\u00e4rtigen Ausf\u00fchrungen. Es wurden darin psychische Acte, deren Inhalte und deren Gegenst\u00e4nde als Thats\u00e4chlichkeiten in Anspruch genommen : w\u2019ir haben nun\n1 Dafs es streng genommen f\u00fcr mich bereits die zweite Pr\u00fcfung ist, sofern ich den Umst\u00e4nden, aus denen Schumann\u2019s Bedenken hervorgegangen sein werden, Rechnung zu tragen bem\u00fcht war, lange ehe diese Bedenken erhoben wurden, vgl. diese Zeitschr. 2, 251.","page":206},{"file":"p0207.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Vcrk\u00e4Xtnifs etc. 207\ndar\u00fcber klar zu werden, inwieweit unser Einwand innerhalb dieser drei wirklichen oder vermeintlichen Thats\u00e4chlichkeitsklassen sich anbringen l\u00e4fst.\nIch beginne mit der Classe der Gegenst\u00e4nde, um eine Schwierigkeit nicht unerw\u00e4hnt zu lassen, der im Allgemeinen ziemlich grofse, f\u00fcr unsere besonderen Zwecke dagegen kaum erhebliche Wichtigkeit zukommen d\u00fcrfte. Es empfiehlt sich, dabei einen Fall ins Auge zu fassen, wo das Vorgestellte oder Erkannte, also eben der Gegenstand, etwas Physisches ist, z. B. ein Kirchthumi, ein Bergesgipfel od. dgl. Hier dr\u00e4ngt sich zun\u00e4chst die Frage auf, wie innere Wahrnehmung mit solchen \u00e4ufseren Objecten \u00fcberhaupt zu thun haben k\u00f6nnte; und man findet sich dadurch sogleich wieder auf den schon ber\u00fchrten Gegensatz zwischen transscendentern und immanentem Object gef\u00fchrt Nicht der wirkliche Kirchthum ist es ja, \u00fcber dessen Dasein uns die innere Wahrnehmung Auskunft giebt, sondern blofs der \u201evorgestellte Kirchthurm\u201c. Nun wissen wir aber ferner vom letzteren, dafs ihm als solchem blos eine Pseudo-Existenz zukommt: wie soll also etwas innerlich wahrgenommen werden, was im Grunde gar nicht existirt? Nat\u00fcrlich liegt nichts n\u00e4her als anzunehmen, das, was der inneren Wahrnehmung gegeben sei, w\u00e4re nicht der Gegenstand, sondern eben jener Inhalt, mit dessen H\u00fclfe der betreffende Gegenstand vorgestellt wird. Um so auffallender ist die Thatsache, dafs gegebenen Falles zwar jedermann aufs Bestimmteste wissen wird, dafs er jetzt den Kirchthurm sehe, jetzt an diese oder jene charakteristische Bergformation denke, indes es ihm bei weitem nicht ebenso leicht gelingen will, sich jenes von Kirchthurm resp. Berg so grundverschiedenen Inhaltes zu besinnen. Dafs sonach der (immanente) Gegenstand nur Pseudo-Existenz hat, die innere Wahrnehmung aber doch davon Kunde zu geben vermag, darin liegt ohne Frage ein Grundproblem der Erkenntnifstheorie und zwar keines der leichtesten. Wir d\u00fcrfen hier jedoch an demselben vor\u00fcbergehen, da ja niemand bezweifeln wird, dafs der inneren Wahrnehmung unter ausreichend g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden die F\u00e4higkeit zukommt, uns in irgend einer Weise dar\u00fcber zu belehren, was wir vorstellen, wor\u00fcber wir urtheilen u. s. f. Sicher wird dies besonders bereitwillig einger\u00e4umt werden, wenn man dabei zun\u00e4chst nur die physischen Gegenst\u00e4nde ins Auge fafst: von","page":207},{"file":"p0208.txt","language":"de","ocr_de":"208\nA. Mcinong.\nden psychischen Gegenst\u00e4nden sowie denen, die weder physisch noch psychisch sind, wird sogleich unten zu reden sein.\nEs wird f\u00fcr unsere gegenw\u00e4rtigen Zwecke entbehrlich sein, bei der eben fl\u00fcchtig erw\u00e4hnten Classe der Inhalte und den an sie sich kn\u00fcpfenden Wahmehmungsschwierigkeiten besonders zu verweilen. Wir w\u00e4ren damit bei der dritten Classe wirklicher oder vermeintlicher Thats\u00e4chlichkeiten angelangt, welche oben als die des aufsergegenst\u00e4ndlich und aufserinhaltlich Psychischen, kurz als die der psychischen Acte in Anspruch genommen wurde. Die Frage stellt sich hier einfachst in folgender Gestalt dar: bezeugt die innere Wahrnehmung eben so gewifs das Sehen wie die Farbe, das H\u00f6ren wie den Ton, das Denken wie den Gedanken (falls man es f\u00fcr angemessen findet, den Gegenstand des Denkens so zu nennen), bezeugt sie das Urtheil eben so sicher wie das, wor\u00fcber ich urtheile, das Begehren, insbesondere etwa Wollen ebenso sicher wie das, was ich will, das Gef\u00fchl von Lust oder Schmerz ebenso wie das, wor\u00fcber ich mich freue, woran sich mein Schmerz kn\u00fcpft?\nLassen wir die Gef\u00fchle vorerst bei Seite, so wird man sich kaum besinnen, den \u00fcbrigen Einzelfragen ein Nein gegen\u00fcber zu stellen. Das Beispiel vom Sehen kann dabei leicht para-digmatisch verwendet werden. Ich blicke zum Fenster hinaus und suche mir mit H\u00fclfe der inneren Wahrnehmung von dem Rechenschaft zu geben, was vorgeht Ich finde zwei Kirch-th\u00fcrme, H\u00e4user, B\u00e4ume, aufgeschichtetes Brennholz und vieles Andere, aber lauter \u201eGegenst\u00e4nde\u201c, und so paradox es klingen mag, je sorgf\u00e4ltiger ich suche, desto weniger scheint sich Anderes als eben \u201eGesehenes\u201c einstellen zu wollen, dem am Ende doch auch an die Seite gestellt werden mufs, was dabei in betreff de9 gleichbleibenden oder ver\u00e4nderlichen Zustandes der betheiligten Organe zur Geltung kommt, nur dafs Daten der letzteren Art unter das \u201eGesehene\u201c nicht einbegriffen werden, daher wohl einmal auch irrig f\u00fcr das \u201eSehen\u201c genommen werden k\u00f6nnen. Aehnliches mag sich demjenigen ergeben, der in einem der anderen F\u00e4lle die Daten der inneren Wahrnehmung mit m\u00f6glichst grofser Aufmerksamkeit absucht, und nur manche F\u00e4lle von Gef\u00fchlen, lebhaftere Schmerzen zumal, scheinen einen anderen Sachverhalt darzubieten, indem hier das Vorhandensein der betreffenden Gef\u00fchle sich vielleicht nur zu nachdr\u00fccklich bemerklich macht. An mehr oder minder verfehlten Versuchen, auch solche","page":208},{"file":"p0209.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnifs etc. 20$\nThatsachen nach der Analogie der Empfindungen zu behandeln, hat es bekanntlich bis in die neueste Zeit herein nicht gefehlt. Wer sich durch sie nicht irre machen l\u00e4fst, wird also immerhin einr\u00e4umen, dafs die innere Wahrnehmung neben den bereits ihr zugesprochenen Gegenst\u00e4nden auch noch Gef\u00fchle zu unserer Kenntnifs bringe; mehr als dieses aber scheint die innere Wahrnehmung nicht leisten zu k\u00f6nnen.\nWir blicken y on hier aus nun auch noch einmal auf die Gegenst\u00e4nde zur\u00fcck. Es sind speciell physische Gegenst\u00e4nde gewesen, f\u00fcr die wir die innere Wahrnehmung sicher competent gefunden haben ; wie steht es mit den psychischen Gegenst\u00e4nden ? Als solche k\u00f6nnten, wenn wir wieder von den Inhalten absehen, doch wohl nur Acte resp. Complexionen aus solchen in Frage kommen. Aber wenn die innere Wahrnehmung sich nicht im Stande zeigt, die wirklichen Acte zu erfassen, wird man ihr bez\u00fcglich blos vorgestellter Acte mehr Zutrauen d\u00fcrfen ? Vielleicht k\u00f6nnte dem Gef\u00fchle \u00fcberhaupt oder doch manchen Gef\u00fchlen auch hierin eine Ausnahmestellung zukommen: in betreff anderer psychischer Gegenst\u00e4nde aber d\u00fcrfte der inneren Wahrnehmung, obwohl sie gerade dem Psychischen zun\u00e4chst zugeordnet scheint, keineswegs das zugemuthet werden k\u00f6nnen, was sie in Bezug auf physische Gegenst\u00e4nde vermag. Es bleibt an Gegenst\u00e4nden nun nur noch das zu erw\u00e4hnen, was weder physisch noch psychisch ist, das f\u00e4llt aber durchaus in das Gebiet dessen, was oben Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung genannt wurde, das also, dessen Wahrnehmbarkeit bereits durch unseren Ein wand in seiner nahezu urspr\u00fcnglichen, ich meine der von Schumann vertretenen Gestalt bestritten wird.\nWollen wir also das die Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung zun\u00e4chst bedrohende Argument in dem ganzen ihm seiner Natur nach zukbmmenden Geltungsgebiete erfassen, so m\u00fcssen wir es in den Satz formuliren: der inneren Wahrnehmung ist \u00fcberhaupt nichts Anderes zug\u00e4nglich als physische Gegenst\u00e4nde und Gef\u00fchle. Dafs auch diese Formulirung der Tendenz gegen\u00fcber, Gef\u00fchle und Empfindungen zu confundiren, noch nicht weit genug w\u00e4re, versteht sich; man f\u00e4nde sich so zu der weitesten und jedenfalls einfachsten These gef\u00fchrt : innerlich wahrnehmbar sind nur physische Gegenst\u00e4nde.\nVielleicht wird man meinen, dafs diese Thesen auf dem Wege allzu summarischer Betrachtung gewonnen seien. Maxi\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XXI.\t14","page":209},{"file":"p0210.txt","language":"de","ocr_de":"210\nA, Mrinong.\nvergesse indes nicht, dafs es sich hier nicht um mehr oder minder indirecte Erw\u00e4gungen in betreff allf\u00e4lliger Voraussetzungen oder Folgen gehandelt hat, sondern um ein m\u00f6glichst directes Befragen der Empirie selbst in Bezug auf ihre Grenzen, das jeder an der Antwort Interessirte zuletzt auf eigene Hand durchzuf\u00fchren hat Dafs aber die in den obigen Thesen verzeichnete Antwort sich nicht etwa auf eine ' ungeh\u00f6rig kurze, daher von Zuf\u00e4lligkeiten abh\u00e4ngige Umfrage gr\u00fcndet, daf\u00fcr b\u00fcrgt die Geschichte der Philosophie von den primitivsten Gestalten des Materialismus angefangen \u2014 daf\u00fcr b\u00fcrgt die Vormeinung der theoretisch Naiven aller Zeiten, in der der Materialismus Btets seinen ausgiebigsten R\u00fcckhalt gefunden hat; \u2014 daf\u00fcr b\u00fcrgt endlich das Verhalten der meisten von den sonst wissenschaftlich ausreichend, eventuell selbst autoritativ Urtheils-f\u00e4higen, jener wunderliche horror psychologiae, dem man auch heute noch t\u00e4glich begegnen kann, und zwar nicht nur aufser-halb sondern ab und zu selbst innerhalb der fachm\u00e4fsigen Vertretung dieser Wissenschaft Was man in den Zeiten der \u201eAufkl\u00e4rung\u201c laut verk\u00fcndet, was sich in Zeiten der Reaction gegen jene Aufkl\u00e4rung die \u201eWissenden\u201c in die Ohren fl\u00fcstern, es l\u00e4uft am Ende immer darauf hinaus, dafs es in der Welt \u201eeigentlich\u201c doch nichts Anderes giebt als Physisches, und dafs, was man \u00fcber eine ganze Welt nicht physischer, sondern psychischer Geschehnisse erfahren und davon erlebt haben will, doch nichts als Hirngespinnst ist. Darin ist fre\u00fcieh in gewissem Sinne noch weiter gegangen als in der weiter gehenden der beiden obigen Thesen : aber umsomehr behalten diese ihre Bedeutung als Ausdruck der Ueberzeugung der Vielen, die im Bereiche dessen, was die Wahrnehmung ihnen bietet, das Psychische ehrlich gesucht und eben durchaus -\u2014 nicht gefunden haben.\nNat\u00fcrlich will dies nicht so verstanden sein, als ob jedermann, der die Gegenst\u00e4nde und Vorstellungen h\u00f6herer Ordnung bestreitet, darum bereits Materialist w\u00e4re oder doch consequenter Weise sein m\u00fcfste. Dagegen m\u00f6chte ich allerdings f\u00fcr die minder weitgehende der beiden obigen Thesen den Anspruch erheben, dafs sie so gut gest\u00fctzt sei als die Negation der Gegenst\u00e4nde und Vorstellungen h\u00f6herer Ordnung im Hinblick auf die innere Wahrnehmung. Und vielleicht brauche ich auch nicht zu besorgen, dafs die N\u00e4chstbetheiligten hiegegen besonders nachdr\u00fccklich Einsprache erheben m\u00f6chten: mindestens scheint das","page":210},{"file":"p0211.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnifs etc. 211\nMaterial an eigenartigen Thatsachen, auf das z. B. Schumann die ganze Psychologie aufzubauen sich bem\u00fcht zeigt, mit jener These im besten Einkl\u00e4nge. Die Annahme der Existenz von Vorstellungen, die heute doch nicht leicht ein Psychologe f\u00fcr entbehrlich h\u00e4lt, steht freilich aufserhalb der These: aber der Pseudo-Existenz der (physischen) Gegenst\u00e4nde eine wirkliche (psychische) Existenz, eben die der Vorstellungen, zu Grunde zu legen, das wird am Ende auch ohne Zeugnifs der inneren Wahrnehmung kein allzugrofses, jedenfalls kein entbehrliches Wagnifs sein. Im Uebrigen aber tritt die These in ihr Recht: denn Vorstellungen von Physischem, unter denen die Wortvorstellungen jederzeit besonders bevorzugt werden, Associationen dieser Vorstellungen und dann allenfalls noch Gef\u00fchle, sonst aber m\u00f6glichst viele und beliebig complicirte, auch beliebig hypothetisch con-struirte physiologische Vorg\u00e4nge, machen das ausschliefsliche R\u00fcstzeug jener Psychologie aus, die das Lob, die wirklich exacte Thatsachenwissenschaft zu sein, besonders gern f\u00fcr sich vorwegnimmt\nUmgekehrt meine ich nun aber auch, dafs, wer die in Rede stehende These mit der Empirie nun doch nicht im Einkl\u00e4nge finden sollte, daraus wird Anlafs nehmen m\u00fcssen, auch dem ersten Anschein speciell in Sachen der Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung sich nicht ohne Weiteres gefangen zu geben. Wir m\u00fcssen darum der Berechtigung der These und der Natur des sie st\u00fctzenden Anscheines eine etwas n\u00e4here Erw\u00e4gung zuwenden.\n| 9. Zur Charakteristik der inneren Wahrnehmung.\nWir befinden uns dabei in der einigermaafsen unnat\u00fcrlichen, der Psychologie und Erkenntnistheorie aber keineswegs so sehr .ungewohnten Lage desjenigen, der, was ihm sonst immer nur als Erkenntnifsmittel zur Hand war, nun als Erkenntniiszweck, genauer als das zu Erkennende oder wenigstens als einen Theil 4es zu Erkennenden behandeln solL Die Besonderheit dieser Sachlage motivirt es, hier ausdr\u00fccklich die Frage aufzuwerfen, wann wir wohl berechtigt sein werden, irgend etwas als durch innere Wahrnehmung erkannt in Anspruch zu nehmen. Es handelt sich n\u00e4her darum, wann \u00fcberhaupt von Wahrnehmung, wann insbesondere von innerer Wahrnehmung zu reden sein wird. Lassen \u2018wir auch hier erkenntnifstheoretische (\u00fcbrigens auch psychologische) Probleme, die unsere n\u00e4chsten Aufgaben nicht ber\u00fchren,\n14*","page":211},{"file":"p0212.txt","language":"de","ocr_de":"212\nA. Meinong.\nbei Seite, so stellt sich die Beantwortung als eine recht einfache Sache heraus.\nNur dann wird etwas f\u00fcr wahrgenommen gelten d\u00fcrfen, wenn seine Existenz unmittelbar, d. h. ohne Bezugnahme auf eine andere, in irgend einem Sinne als Pr\u00e4misse dienende Erkennt-nifs erkannt wird, \u00fcberdies Erkenntnifs und Erkanntes wenigstens praktisch 1 gleichzeitig existiren, die Erkenntnifs sich sonach auf etwas dem Erkennenden Gegenw\u00e4rtiges richtet Geh\u00f6rt das Erkannte der Vergangenheit an, dann liegt, die erw\u00e4hnte Unmittelbarkeit vorausgesetzt, ein Fall von Ged\u00e4chtnifs vor. Vielleicht giebt es eine analog unmittelbare Erkenntnifs (genauer eine berechtigte Vermuthung) auch in Bezug auf K\u00fcnftiges: aber Niemand denkt daran, einen solchen bisher \u00fcberhaupt kaum einmal ernstlich ins Auge gefafsten Fall in das Gebiet des Wahrnehmens einzubeziehen. Ganz frei von Ungenauigkeit ist freilich die eben ausgesprochene Forderung der Gleichzeitigkeit der Wahrnehmung und des Wahrgenommenen nicht: der Fixstern, den wir wahmehmen, k\u00f6nnte zur Zeit, da dies geschieht, l\u00e4ngst zu leuchten auf geh\u00f6rt haben. Aber die Ungenauigkeiten, die hier zur Geltung kommen, betreffen speciell die \u00e4ufsere Wahr* nehmung; sie k\u00f6nnen, wo wir es wesentlich mit der inneren Wahrnehmung zu thun haben, aufser Betracht bleiben.\nWas eine Wahrnehmung als innere kennzeichnet, ist einerseits die psychische Natur des Wahrgenommenen, vor Allem aber jene Gewifsheit und Evidenz, die kein anderes unmittelbares Existenz wissen mit der inneren Wahrnehmung gemein hat Ueber das Gegebensein solchen Wissens kann nat\u00fcrlich dann auch wieder nur die innere Wahrnehmung (minder zuverl\u00e4ssig auch das Ged\u00e4chtnifs) belehren: dafs auch das Wahrnehmen selbst unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden innerlich wahrgenommen werden kann, macht mit einen Theil der Charakteristik dieser eigenth\u00fcmlichen Erkenntnifsquelle aus.\nWer nun dar\u00fcber, wie weit die innere Wahrnehmung als Erkenntnifsquelle dienen kann, etwas feststellen will, findet sich sonach in erster Linie auf die innere Wahrnehmung selbst angewiesen, ohne dafs hierin Schlimmeres als der blofse Schein eines Cirkels l\u00e4ge; auch zu unseren beiden obigen Thesen hat in\n1 Die durch diese Einschr\u00e4nkung eingef\u00fchrte Unbestimmtheit hat nur den Zweck, zu verhindern, dafs sp\u00e4teren Untersuchungen (vgl. unten \u00a7 21) vorgegriffen werde.","page":212},{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"JJeher Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verhattni\u00df etc. 213\nerster Linie innere Wahrnehmung, aufserdem freilich Ged\u00e4chtnis yerholfen. In gleicher Weise steht uns bei Nachpr\u00fcfung dieser Thesen zun\u00e4chst ein besseres H\u00fclfsmittel nicht zu Gebote. .Soll aber einem gegebenen Objecte gegen\u00fcber festgestellt werden, .ob es in den Bereich des durch unsere Thesen Ein- resp. Ausgeschlossenen geh\u00f6rt, so sind der Hauptsache nach die beiden Tragen zu beantworten: 1. wird das betreffende Object wirklich innerlich wahrgenommen ? 2. wenn ja, f\u00e4llt es in eine der beiden durch jene Thesen ausschliefslich concedirten Classen der immanenten physischen Objecte oder der Gef\u00fchle? Stellt das betreffende Wahrgenommene sich ganz oder theilweise als Physisches, jnicht zwar als immanentes Object, sondern als physische Wirklichkeit heraus, so hat man es insoweit \u00fcberhaupt nicht mit innerer, sondern mit \u00e4ufserer Wahrnehmung, \u00fcbrigens aber .nat\u00fcrlich eben darum auch nicht mit einer Instanz gegen unsere Thesen zu thun.\nIm Folgenden sollen nun Thatsachen namhaft gemacht .werden, durch die ich die in Rede stehenden Thesen f\u00fcr widerlegt halte. Ich beginne mit den (wirklich existirenden) psychischen .Thatsachen, indes die bios pseudo - existirenden immanenten \u2022Objecte uns nachher besch\u00e4ftigen sollen.\n\u00a7 10. Innere Wahrnehmung beim Urtheil.\nNichts ist selbstverst\u00e4ndlicher, als dafs Jedermann zu einer bestimmten Zeit nicht nur \u00fcber ein gewisses Wissen verf\u00fcgt, sondern auch von dessen Vorhandensein sich und Anderen im Bedarfsf\u00e4lle sozusagen Rechenschaft zu geben vermag. Viel weiter als sein wirkliches geht in der Regel sein vermeintliches .Wissen : so ist es im Ganzen meist ein recht ausgedehntes Gebi\u00e9t von Gegenst\u00e4nden, \u00fcber die Einer seine \u201eAnsichten\u201c nicht nur \u2022hat, sondern von denen er auch weifs, dafs er sie hat Diese \u201eAnsichten\u201c sind nat\u00fcrlich nichts Anderes, als was man auch .Ueberzeugungen oder Urtheile nennt; diese Urtheile sind nat\u00fcrlich entweder affirmativ oder negativ, und wer weifs, dafs er in einer Sache eine Ueberzeugung habe, der weifs auch, wie beschaffen diese Ueberzeugung, also insbesondere ob sie affirmativ oder negativ ist Welcher Natur ist dieses so allt\u00e4gliche Wissen .\u00fcber Vorhandensein und Beschaffenheit unserer Ueberzeugungen?\nOhne Zweifel geht manches davon auf das Ged\u00e4chtnifs zur\u00fcck: oft werde ich mich erinnern, dies von einem glaub-","page":213},{"file":"p0214.txt","language":"de","ocr_de":"214\nA. Mein&ng\nw\u00fcrdigen Zeugen geh\u00f6rt, jenes mit H\u00fclfe einer complicirteren Ueberlegung, deren Einzelnheiten mir vielleicht entfallen sind, eingesehen zu haben. Aber wenn ich, gleichviel ob im Hinblick auf solche Erinnerungen oder ohne sie, jetzt versichern kann: ich glaube, dafs es sich so verh\u00e4lt, oder: ich glaube, das Ereig-nifs hat nicht stattgefunden u. dgl., so handelt es sich in der Regel nicht um ein Urtheil, das ich gef\u00e4llt habe, sondern um eines, das ich eben f\u00e4lle; dar\u00fcber kann mir mein Ged\u00e4chtn\u00fcs also noch keinesfalls Auskunft geben. Erschlossen aber ist mein Wissen davon, dafs ich dieser oder jener Ueberzeugung bin, normaler Weise ebenfalls nicht: es bleibt also keine .andere M\u00f6glichkeit als die freilich auch schon so oft als selbstverst\u00e4ndlich behandelte, dafs ich vom Vorhandensein meines Urtheils eben durch Wahrnehmung Kenntnifs habe.\nIst nun diese Wahrnehmung \u00e4ufsere oder innere, oder mit ande* * ren Worten: ist das (wahrgenommene) Urtheil etwas Physisches oder etwas Psychisches ? Die in dieser Allgemeinheit sich ziemlich wunderlich anlassende Frage hat in speciellerer FormuJirung seltsamerweise immer noch nicht alle Actualit\u00e4t verloren, indem die Meinung, das Urtheil sei im Grunde nichts als ein Satz, also ein Complex von Worten, immer noch Vertreter findet Aber bei eingehenderer Erw\u00e4gung dieses Gedankens wird man sich doch wohl nicht mehr aufzuhalten brauchen. W\u00e4re der Besitz, den das Menschengeschlecht unter dem Namen der Wahrheit zu erk\u00e4mpfen, zu erhalten und zu erweitern kein Opfer gescheut hat, n\u00e4her besehen nichts als ein Schwall von Worten, von Worten ohne Sinn nat\u00fcrlich, da das Wesen des Urtheils doch sonst wohl im Sinne zu suchen sein m\u00fcfste, \u2014 dann w\u00e4re wie jede andere so auch die gegenw\u00e4rtige Fragestellung sinn- und werthlos : es w\u00e4re besten Falles jener Streit um Worte, den zu vermeiden bisher in jeder Controverse Freund wie Gegner einer Ansicht nach Kr\u00e4ften bem\u00fcht war.\nSchumann, der der in Rede stehenden Meinung nur vor\u00fcbergehend , vielleicht in Folge mifsverst\u00e4ndlicher Ausdrucksweise, zuzuneigen scheint1, stellt sich in Sachen der Natur des Urtheils auf den Standpunkt gr\u00f6fster Zur\u00fcckhaltung, indem er es f\u00fcr verfr\u00fcht erkl\u00e4rt, im Urtheile etwas Anderes als eine \u201eunbekannte Gr\u00f6fse\u201c zu sehen.2 Die hierin liegende Anerkennung des Ur*\n1 A. a. O. S. 113, Z. 13 v. u.\n* Ibid. 8. 118.","page":214},{"file":"p0215.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnifs etc. 215-\ntheiles als einer Gr\u00f6fse ist mir sicher eine werthvolle Best\u00e4tigung1 * einer bereits vor Jahren, freilich nur ganz skizzenhaft umrissenen Behauptung.1 Aber dar\u00fcber kann ich doch keinen Augenblick hn Zweifel sein, dafs sich die psychische Natur des Urtheils, seine Wesensverwandtschaft mit dem Gef\u00fchle gegen\u00fcber seiner v\u00f6lligen Wesensverschiedenheit im Vergleiche mit Bewegung, Farbe oder W\u00e4rme, ganz unvergleichlich deutlicher der Beachtung auf dr\u00e4ngt als seine Gr\u00f6fsennatur. Darum mufs ich auch3 die durch die obigen Beispiele und so viele andere Erfahrungen belegte Wahrnehmung des Urtheils als innere Wahrnehmung bezeichnen, was mit der in den betreffenden F\u00e4llen in der Regel vorliegenden Sicherheit und Evidenz im besten Einkl\u00e4nge steht.\nWie vertr\u00e4gt sich dies nun aber mit den obigen Thesen in betreff des Erkenntnifsbereiches der inneren Wahrnehmung? Vom Urtheile, womit nat\u00fcrlich Urtheilsact und nicht Urtheils-gegenstand gemeint ist, ist darin nicht die Rede ; dieselben k\u00f6nnten also offenbar nur aufrecht bleiben, wenn es gel\u00e4nge, das Urtheil irgendwie auf Vorstellungsobjecte, und zwar nat\u00fcrlich auf physische Vorstellungsobjecte zur\u00fcckzuf\u00fchren. Nun hat zwar das Bestreben, das Urtheil als eigenartige Thatsache um jeden Preis aus der Welt zu schaffen, schon zu ziemlich verzweifelten \u201eReductionen\u201c gef\u00fchrt: dafs aber das Wesen des Urtheiles nicht in dem liegen k\u00f6nne, wor\u00fcber geurtheilt wird, dar\u00fcber d\u00fcrften bisher doch die Allermeisten aufser jedem Zweifel gewesen sein, von der Aussichtslosigkeit, es speciell in einem vorgestellten physischen Thatbestande zu suchen, gar nicht zu reden. Nicht also auf Vorgestelltes, sondern h\u00f6chstens auf Vorstellungen k\u00f6nnte man das Urtheil zur\u00fcckzuf\u00fchren versuchen. Ich glaube nicht, dafs irgend ein solcher Versuch bisher auch nur den Anschein des Gelingens f\u00fcr sich hatte : gel\u00e4nge es damit gleichwohl in Zukunft besser, so w\u00e4ren auch dann die durch unsere Thesen gezogenen Schranken bereits durchbrochen: in den Urtheilen w\u00fcrden neben den Vorstellungsgegenst\u00e4nden auch aufsergegenst\u00e4ndliehe Bestimmungen innei> lieh wahrgenommen.\nDie hier allgemein dargelegte Erw\u00e4gung kann in einer specielleren Anwendung eine Art argumentum ad hominem\n1 Vgl. Gott. Gel. Anz. 1890, S. 71 ff.\n* Gegen Schumann a. a. O. S. 118.","page":215},{"file":"p0216.txt","language":"de","ocr_de":"216\nA. Memong.\nauch noch f\u00fcr denjenigen ausmachen, der die aus dem erw\u00e4hnten ^horror psychologiae\u201c nicht eben selten entspringende Sehen davor, eine innere Wahrnehmung \u00fcberhaupt f\u00fcr etwas wissenschaftlich auch nur Annehmbares zu halten, insoweit \u00fcberwunden hat, dafs er sich in irgend einem Falle auf sie st\u00fctzt Alle Wahrnehmung ist zwar auch Vorstellung, doch jedenfalls vor Allem Urtheil: etwas wahrnehmen, die Existenz des Wahrgenommenen aber in suspenso lassen, ist ein Unding. Das gilt nat\u00fcrlich auch von der inneren Wahrnehmung. In soweit also einer in irgend einem Falle \u00fcberzeugt ist, etwas innerlich wahrzunehmen, insoweit diese Ueberzeugung, wie normalerweise doch nicht anders zu erwarten, selbst auf Wahrnehmung zur\u00fcckgeht, ist damit bereits sichergestellt, dafs das Urtheil wahrgenommen werde, und zwar innerlich wahrgenommen, da ein innerlich Wahmehmen selbst doch nicht Sache \u00e4ufserer Wahrnehmung sein k\u00f6nnte.\nIch schliefse hieran sogleich den Hinweis auf eine That-sache, die streng genommen vielleicht erst in sp\u00e4terem Zusammenh\u00e4nge zur Sprache kommen sollte, insofern aber doch schon hierher geh\u00f6rt, als sie denselben Erfahrungen direct zu entnehmen ist, aus denen die Zugeh\u00f6rigkeit des Urtheils ins Gebiet des innerlich Wahrnehmbaren erhellt Wir nehmen in den hierhergeh\u00f6rigen F\u00e4llen nicht nur wahr, dafs wir urtheilen, sondern auch, wor\u00fcber wir urtheilen; und damit ist nicht etwa blos gesagt, dafs wir die Gegenst\u00e4nde, \u00fcber die nebenbei auch geurtheilt wird, als gegebene immanente Objecte wahrnehmen, sondern auch, dafs wir die Verbindung wahrnehmen, die zwischen diesen immanenten Objecten und dem betreffenden Urtheilsacte besteht. Denke ich, w\u00e4hrend in der nahen Kirche Mittag gel\u00e4utet wird, daran, dafs die Post mir heute keinen Brief gebracht hat so bin ich keinen Augenblick dar\u00fcber im Zweifel, dafs das negative Urtheil nicht das Mittagsgel\u00e4ute, sondern die Postr Sendung betrifft Es kommt hinzu, dafs man sich ein Urtheil anders als in einer ganz bestimmten und \u00e4ufserst innigen Verbindung mit einem zu Beurtheilenden, d. h. seinem Gegenst\u00e4nde, gar nicht vorstellen kann, vielmehr einsieht, dafs das Urtheil seinem Gegenst\u00e4nde gegen\u00fcber durchaus unselbst\u00e4ndig ist Wenn daher Sch\u00fcmann meint1, die innere Wahrnehmung lasse ein Ein-\n1 A. a. O. S. 118f.","page":216},{"file":"p0217.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnis etc. 217\ngeschlossensein des Beurtheilten in das Urtheil nicht erkennen, sondern zeige nur, dafs die Vorstellung des Beurtheilten das Urtheil, jene \u201eunbekannte Gr\u00f6fse\u201c causire, so mufs ich bestreiten, dafs damit der der inneren Wahrnehmung vorliegende That* bestand richtig beschrieben ist. Die Beschreibung enth\u00e4lt neben dem Zuwenig in betreff des \u201eEinschlusses\u201c noch ein Zuviel in betreff der Causation, von der bereits Hume meines Erachtens endg\u00fcltig dargethan hat, dafs sie \u00fcberhaupt nicht wahrgenommen werden kann, weder \u00e4ufserlich noch innerlich. Jener Einschlufs aber scheint mir durch Wahrnehmung wi\u00e8 Raisonnement in einem Maafse gesichert, dem gegen\u00fcber allf\u00e4llige Schwierigkeiten in betreff der \u201epsychophysischen Repr\u00e4sentation\u201c1 ganz und gar nicht ins Gewicht fallen k\u00f6nnen. Plausible Hypothesen f\u00fcr solche Repr\u00e4sentation aufzufinden, bleibt sicher jederzeit ein sehr dankenswerthes, namentlich dem Fortschreiten physiologischer Erkenntnifs ohne Zweifel sehr f\u00f6rderliches Bestreben. Voraussichtlich wird aber hierin der menschliche Erfindungsgeist hinter dem unersch\u00f6pflichen Reichthum der psychologischen Empirie jederzeit weit genug Zur\u00fcckbleiben : in keinem Falle aber d\u00fcrfte die Anerkennung dessen, was sich der Empirie als Thatsache darbietet, von dessen Eignung abh\u00e4ngig gemacht werden, den Ausgangspunkt f\u00fcr gleichviel wie werthvolle Hypothesen abzugeben.\n\u00a7. 11. Innere Wahrnehmung beim Begehren, F\u00fchlen und Vorstellen.\nWas eben vom Urtheil in betreff seines Verh\u00e4ltnisses zur inneren Wahrnehmung dargelegt worden ist, liefse sich nun in v\u00f6llig analoger Weise auch vom Begehren, das Wort im weitesten fiinne verstanden, in dem insbesondere das Wollen nat\u00fcrlich einbegriffen ist, ausf\u00fchren. Jeder hat unz\u00e4hlige Male bereits an sich erlebt, nicht nur dafs er begehrte oder widerstrebte, sondern auch, dafs er zur Zeit, da dies geschah, darum aufs Gewisseste .wufste und zwar nicht nur wufste, dafs er begehrte, sondern auch was er begehrte, worin hier zugleich das Wissen um die Relation zwischen dem Begehren und dessen Gegenst\u00e4nde einge-Bchlossen ist. Auch dies ist Wahmehmungswissen, n\u00e4her Wissen durch innere Wahrnehmung, die mit der in unseren Thesen\n1 A. \u00bb. O. S. 119.","page":217},{"file":"p0218.txt","language":"de","ocr_de":"218\nA. Meinong.\nausgesprochenen Beschr\u00e4nktheit ihres Gebietes h\u00f6chstens vertr\u00e4glich w\u00e4re, wenn eine \u201eReduction\u201c des Begehrens auf immanente physische Objecte, etwa noch unter Mitheranziehung von Gef\u00fchlen, sich durchf\u00fchren liefse. Aber auch hier m\u00fcfsten einer Zur\u00fcckf\u00fchrung zun\u00e4chst nicht die Objecte, sondern deren Vor Stellungen zu Grunde gelegt werden, davon ganz abgesehen, dafs das Zur\u00fcckf\u00fchren meiner Ueberzeugung nach hier keinen gl\u00fccklicheren Erfolg aufzuweisen hat als beim Urtheile. Unter allen Umst\u00e4nden bilden die Begehrungen eine neue wichtige Instanzengruppe gegen unsere Eingeschr\u00e4nktheitsthesen.\nGanz Aehnliches w\u00e4re nun auch in betreff der Gef\u00fchle zur Widerlegung desjenigen zu sagen, der, immerhin wie wir sahen auch schon dem ersten Augenschein entgegen, von den beiden Einschr\u00e4nkungsthesen die weiter gehende anzunehmen geneigt w\u00e4re. Wir wissen doch viel zu oft, dafs wir Freude oder Leid haben und woran wir es haben, als dafs auf die Dauer daran zu denken w\u00e4re, der inneren Wahrnehmung das Gebiet der Gef\u00fchle streitig zu machen.\nDafs nun gerade nur vom Vorstellen nicht gelten sollte, waa sonach vom Urtheilen, F\u00fchlen und Begehren dargethan ist, m\u00fcfste schon vorg\u00e4ngig \u00e4ufserst unwahrscheinlich heifsen, auch wenn wir im Obigen uns nicht bereits in anderer Weise auf die Wahrnehmbarkeit des Vorstellens hingedr\u00e4ngt gefunden h\u00e4tten. Nun darf aber weiter die Unnat\u00fcrlichkeit, ja Unvertr\u00e4glichkeit nicht unerw\u00e4hnt bleiben, die auf sich nimmt, wer den immanenten Vorstellungsgegenst\u00e4nden die Wahrnehmbarkeit zuspricht, dem Vorstellen aber nicht. Wir haben ja bereits gesehen, dafs jenen Objecten nur jene sogenannte \u201eExistenz in der Vorstellung\u201c, genauer also nur eine Art Pseudo-Existenz, noch genauer also gar keine Existenz zukommt, indes doch blos wahrgenommen werden kann, was existirt. Wirklich denkt ja auch niemand daran, dafs ich etwa den K\u00f6nigssee oder das homerische Troja wahrnehme, wenn ich durch innere Wahrnehmung wei\u00df, dafs ich jenen oder dieses eben vorstelle. So sind es hier gerade die immanenten Objecte, die, m\u00f6gen sie dem Gebiete des Physischen oder des Psychischen angeh\u00f6ren, aus ihrer Natur heraus Zweifel an ihrer Wahrnehmbarkeit gar wohl rechtfertigen. In dem Sinne wahrnehmbar, wie etwa Gef\u00fchle oder Begehrungen, kurz etwas wirklich Existirendes, sind diese Pseudo-Existenzen gewifs nicht Vermag gleichwohl die innere Wahrnehmung, wie","page":218},{"file":"p0219.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4itnifs etc. 219\nja nun ebenfalls aufser Zweifel, etwas \u00fcber sie zu lehren, so kann das nur unter Vermittelung dessen geschehen, was wirklich existirt, m\u00f6gen wir \u00fcbrigens \u00fcber die Natur dieser Vermittelung auch noch so schlecht unterrichtet sein. Was aber nothwendig wirklich existirt, wo immanente Objecte pseudo-existiren, das ist weder Urtheilen, noch F\u00fchlen, noch Begehren, da jene Pseudo-Existenzen an keinen dieser Thatbest\u00e4nde gebunden sind, \u2014 wohl aber das, nat\u00fcrlich inhaltlich bestimmte Vorstellen. Jeder Fall also, wo wir mit H\u00fclfe innerer Wahrnehmung die Pseudo-Existenz eines immanenten Objectes erkennen, ist selbst nur ein Fall von Pseudo-Wahrnehmung dieser Objecte und beweist, dafs ein Fall von wirklicher innerer Wahrnehmung vorliegt, durch die ein wirklich Existirendes, die betreffende Vorstellung er-fafst wird.\nWir sind so zu dem Gesammtergebnifs gelangt, dafs sowohl Vorstellen als Urtheilen, sowohl F\u00fchlen als Begehren unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden der inneren Wahrnehmung zug\u00e4nglich ist, dafs also keine der charakteristischen Classen elementarer psychischer Acte mit Recht aus dem Bereiche des innerlich Wahrnehmbaren ausgeschlossen werden kann. Wir haben nun noch zu untersuchen, wie es mit der in unseren Thesen versuchten Beschr\u00e4nkung auf die physischen immanenten Objecte bewandt ist.\n\u00a712. Innere Wahrnehmung bei Gegenst\u00e4nden, insbesondere solchen h\u00f6herer Ordnung.\nEs handelt sich also im Folgenden ausschliefslich um Wahr-nehmungsthatbest\u00e4nde, die, wie sich eben gezeigt hat, insofern eigentlich nur Pseudo-Wahrnehmungen sind, als sie blos Pseudo-Existenzen betreffen. Es soll indes auf diese Seite der Sache im Folgenden weiter nicht mehr R\u00fccksicht genommen werden: nur die Beschaffenheit der (immer mit den entsprechenden Vorbehalten) innerlich wahrnehmbaren Gegenst\u00e4nde kommt noch in Frage.\nDabei braucht der versuchte Ausschlufs der psychischen Gegenst\u00e4nde uns jetzt kaum noch mehr als vor\u00fcbergehend zu besch\u00e4ftigen. Ist einmal sichergestellt, dafs die innere Wahrnehmung psychische Thatsachen, und noch dazu solche der verschiedensten Gebiete, zu erfassen vermag, und ist dieses selbst durch directe Empirie, d. h. also wieder durch innere Wahrnehmung festgestellt, so ist damit schon gegeben, dafs die Gegen-","page":219},{"file":"p0220.txt","language":"de","ocr_de":"220\nA. Meinong.\nSt\u00e4nde der erstgenannten inneren Wahrnehmungen als solche durch die zweitgenannten inneren Wahrnehmungen erkannt werden. Es kommen die vielen Erfahrungen dar\u00fcber hinzu, -dafs man so oft durch Wahrnehmung weifs, an welchen Schmerz, welchen Entschlufs oder welches sonstige innere Erlebnifs man .eben denkt, sei es im Sinne einer Erinnerung, sei es im Sinne freier Einbildung, ebenso von Gef\u00fchlen und Begehrungen weife, die auf Psychisches gehen. Es m\u00fcfste hier also nur etwa wieder versucht werden, dem psychischen Gegenst\u00e4nde durch \u201eReduction\u201c auf Physisches seine psychische Natur streitig zu machen, \u2014 ein Unternehmen, auf dessen Aussichtslosigkeit hier nicht noch besonders eingegangen zu werden braucht\nDurch Erledigung dieses Punktes finden wir uns nun wieder vor die Ausgangs- und Hauptfrage zur\u00fcckversetzt, vor die Angelegenheit der Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung. Aber f\u00fcrs Erste scheint der im Bisherigen eingeschlagene Untersuchungs-w?eg auch hier einfach genug zum Ziele zu f\u00fchren. Denn das kann hier nun doch auch wieder niemand bestreiten, dafs wir oft genug wissen und offenbar nur durch Wahrnehmung wissen, dafs wir diese beiden Dinge \u00e4hnlich, jene un\u00e4hnlich finden, dafs wir es einmal mit drei, ein ander Mal mit f\u00fcnf Exemplaren einer Gattung zu thun haben, dafs wir diese Gestalt, jene Melodie erfassen, dafs wir diese Combination f\u00fcr m\u00f6glich, jene f\u00fcr widersprechend halten, zwischen diesen Thatsachen, jenen Erkenntnissen Zusammenhang vermuthen oder finden u. s. f. Das Einzige, was hier wirklich in Frage kommen kann, ist eigentlich nur, ob diese Gegenst\u00e4nde, deren immanente Pseudo-Existenz also feststeht, auch wirklich Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung sind. M\u00fcfste dies aber nicht, so mag man sofort fragen, gleichfalls durch die innere Wahrnehmung mit verb\u00fcrgt sein, wenn diese Gegenst\u00e4nde wirklich der inneren Wahrnehmung gegeben w\u00e4ren? Jch meine, dafs es in der That mit verb\u00fcrgt ist: aber, wie sich noch n\u00e4her zeigen wird, giebt es Umst\u00e4nde, unter denen das Zeugnifs, auf das es hier ankommt, sich besonders leicht mife-verstehen l\u00e4fst. Aufserdem aber bedeutet die Berufung auf die innere Wahrnehmung, wenn der Gegner gerade diese Wahr-jiehmung bestreitet, sofern sie isolirt bleibt, d. h. nicht auch noch anderweitig gest\u00fctzt werden kann, jedenfalls das Ende der .V erst\u00e4ndigung.\nDaher mufs der indirectere Weg des Erkennens, die der","page":220},{"file":"p0221.txt","language":"de","ocr_de":"TJebrr Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnifs etc. 221\nDiscussion leichter zug\u00e4ngliche Erw\u00e4gung, hier in ihre Recht\u00f6 treten. Wir wissen im Allgemeinen, was f\u00fcr Bedingungen erf\u00fcllt sein m\u00fcssen, damit von Gegenst\u00e4nden h\u00f6herer Ordnung die Rede sein kann: der betreffende Gegenstand mufs auf andere Gegenst\u00e4nde aufgebaut sein, ohne durch das objective Collectiv der letzteren ausgemacht zu werden. Auch die positiven Gr\u00fcnde; um deren Willen ich diese Erfordernisse in Beispielen wie die eben wieder zusammengestellten f\u00fcr erf\u00fcllt halten mufs, wurden oben1 * * wenigstens den Hauptz\u00fcgen nach dargelegt. Eine Erg\u00e4nzung bietet nat\u00fcrlich die Beantwortung der Frage, ob gegebenen Falles auch noch eine andere Auffassung m\u00f6glich oder gar wahrscheinlich zu machen w\u00e4re. Die Frage allgemein zu beantworten; d. h. allgemein die Unm\u00f6glichkeit einer anderen als der von mir vertretenen Auffassung darzuthun, bin ich freilich derzeit so wenig im Stande, als das n\u00e4mliche Erfordemifs bei vielen anderen unbedenklich acceptirten Theoremen erf\u00fcllt ist. Man d\u00fcrfte also in dieser Sache auf concret vorliegende Ersatzversuche und die Stellungnahme zu diesen angewiesen bleiben. In diesem Sinne halte ich mich im Folgenden, wie es im gegenw\u00e4rtigen Zusammenh\u00e4nge ja am nat\u00fcrlichsten ist, zun\u00e4chst an die von F. Sch\u00fcmann gebrachten Beitr\u00e4ge, ohne nat\u00fcrlich zu verkennen, dafs durch eine allf\u00e4llige Widerlegung derselben der M\u00f6glichkeit anderweitiger Versuche gleicher Tendenz noch wenig pr\u00e4judicirt ist.\n\u00a7 13. Ein methodologisches Bedenken.\nIch lasse eine kurze W\u00fcrdigung des negativen, d. h. polemischen Theiles der einschl\u00e4gigen Ausf\u00fchrungen Schumann\u2019s vorangehen. Dieselben halten sich mit Recht an den bisher literarisch zug\u00e4nglichsten Theil der Lehre von den Gegenst\u00e4nden h\u00f6herer Ordnung, n\u00e4her an Ehrenfels\u2019 bereits erw\u00e4hnte grundlegende Aufstellungen \u00fcber \u201eGestaltqualit\u00e4ten\u201c.9\nIch bin schon einmal f\u00fcr alles Wesentliche der in Rede stehenden Ausf\u00fchrungen eingetreten8; an dieser Zustimmung habe ich auch heute, obwohl einstweilen \u00fcber manches Einschl\u00e4gige hoffentlich zu gr\u00f6fserer Klarheit gelangt, nichts zur\u00fcckzunehmen : unter solchen Umst\u00e4nden wird von einem Versuche,\n1 Vgl. \u00a7 3 ff.\n*\tVierteljahr Mehr. f. tvissensch. Philosophie 1890, S. 249 ff.\n*\tDiese Zeitschr. 2, 245 ff.","page":221},{"file":"p0222.txt","language":"de","ocr_de":"222\nA. Meinong.\nSchumann\u2019s Hauptbedenken gegen Ehbenfels zu entkr\u00e4ften, nicht wohl Umgang zu nehmen sein.\nSolcher Bedenken finde ich zwei von sehr ungleichem Gewicht Das erste ist mehr formaler oder genauer methodologischer Natur und die materialen Grundlagen, auf denen es steht, liegen abseits von den Fragen, die uns hier eigentlich besch\u00e4ftigen. N\u00e4here Erw\u00e4gung dieser Grundlagen w\u00fcrde uns also voraussichtlich weit ablenken und es wird f\u00fcr Freund wie Gegner gleich erw\u00fcnscht sein, wenn sich herausstellt, dais eine solche Erw\u00e4gung entbehrlich sein d\u00fcrfte.\nSchumann findet die Hauptbeispiele, an denen Ehbenfels seine Untersuchung durchf\u00fchrt, Melodie und \u201eRaumgestalt11, \u201enicht gut gew\u00e4hlt Die Melodie ist ein sehr complicirtes psychisches Gebilde und die Tonpsychologie ist noch weit von ihrer vollst\u00e4ndigen Analyse entfernt Dafs wir eine Melodie, die zun\u00e4chst in C-Dur gespielt wird, wiedererkennen, wenn sie nachher in Fis-Dur gespielt wird, kann mannigfache, zur Zeit noch nicht n\u00e4her bestimmbare Gr\u00fcnde haben. Einfach anzunehmen, dafs in beiden F\u00e4llen dieselbe \u201eGestaltqualit\u00e4t\u201c erzeugt wird, ist wohl ein etwas grober (!) L\u00f6sungsversuch der schwierigen Fragen Ebenso ungl\u00fccklich scheint\u201c unserem Autor \u201edie Wahl der Raumgestalt Die Psychologie der Gesichtswahrnehmung ist noch aufserordentlich wenig entwickelt Eine Psychophysik der Raumwahrnehmung ist \u00fcberhaupt noch nicht ernstlich in Angriff genommen und zur Beschreibung des psychischen Thatbestandes werden wir wohl noch eine ganz neue Terminologie ausbilden m\u00fcssen.\u201c1 Und in der That wird der hier betonten Fortschrittebed\u00fcrftigkeit der Psychologie kein Besonnener seine Anerkennung versagen, wenn man vielleicht auch auf den Beisatz Werth legen mag, dafs es damit in keiner lebensf\u00e4higen Wissenschaft je anders bewandt war oder anders bewandt sein wird. Zur Bescheidenheit mahnen ist ja gleichwohl zu keiner Zeit und an keinem Orte vom Uebel. Sollten sich aber aus einer solchen Mahnung wirklich Consequenzen f\u00fcr oder eigentlich gegen die Fundirungstheorie ergeben ?\nIch vermuthe, dafs der unvoreingenommene Leser in dieser Sache schon vor aller Ueberlegung so eindeutig reagiren wird, dafs die Ueberlegung kurz ausfallen darf. Schumann findet die\n1 Diese Zeitschr. 17, 129 f.","page":222},{"file":"p0223.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnifs etc. 223\nThatsachen auf dem Gebiete des Ton- und Raumsinnes noch nicht psychologisch durchforscht genug, um die Empirie dieser Gebiete heranzuziehen. Aber wo h\u00e4tte Ehrenfels ein durch-forschteres Gebiet gefunden? Folgerichtig verlangt also Schumann eigentlich, man solle sich aller Gedanken \u00fcber die von ihm selbst als solche erkannten \u201eschwierigen Fragen\u201c enthalten, bis \u2014 ja bis wann eigentlich ? Die Gewissenhaftigkeit, der solche Zur\u00fcckhaltung entstammen m\u00f6chte, in allen Ehren ; aber h\u00e4tte sich der menschliche Forschungstrieb jederzeit durch sie meistern lassen, dann h\u00e4tten wir, f\u00fcrchte ich, eine bedenklich kurze Geschichte der Wissenschaften, falls wir n\u00e4mlich \u00fcberhaupt eine h\u00e4tten.\nUnd noch auf einen Umstand soll hier wenigstens im Vor\u00fcbergehen hingewiesen sein. Man denke, vor hundert Jahren h\u00e4tte Jemand den Physikern seiner Zeit folgende Erw\u00e4gung entgegengehalten: \u201eDie Optik ist noch weit entfernt von einer vollst\u00e4ndigen Analyse der Lichterscheinungen. Dafs Lichtstrahlen unter Umst\u00e4nden interferiren, kann mannigfache, zur Zeit noch nicht n\u00e4her bestimmbare Gr\u00fcnde haben. Einfach anzunehmen, dafs Aetherschwingungen vorhegen, ist wohl ein etwas grober L\u00f6sungsversuch der schwierigen Frage.\u201c Wer sich lieber in j\u00fcngere Vergangenheit versetzt, wird leicht etwa der mechanischen W\u00e4rmetheorie in \u00e4hnlicher Weise begegnen k\u00f6nnen; auch noch in vielen anderen Weisen m\u00f6chte der n\u00e4mliche Gedanke mit gleichem Erfolge zu variiren sein. Man kann dabei den beiden eben angef\u00fchrten Beispielen gegen\u00fcber ganz wohl des Umstandes eingedenk bleiben, dafs modernsten Auffassungen gem\u00e4fs der vorsichtige Mahner sogar h\u00e4tte im Rechte gewesen sein k\u00f6nnen. Sollte die Theorie der Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung f\u00fcr Psychologie und Erkenntnistheorie Aehnliches leisten k\u00f6nnen wie die Un-dulationstheorie f\u00fcr die Physik, dann k\u00f6nnen wir sie getrost weiter bilden, auch auf die Gefahr hin, dafs sie k\u00fcnftig einmal doch als durch Besseres ersetzbar sich erweisen sollte.\n\u00a714. Continuirlich verbundene Inferiora, Theil-bares und Getheiltes, unbestimmte Bestandst\u00fccke.\nViel wichtiger, namentlich die uns hier besch\u00e4ftigenden Untersuchungen viel directer f\u00f6rdernd ist Schumann\u2019s zweiter Einwand, obwohl er nicht die Gesammtheit der Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung, auch nicht s\u00e4mmtliche fundirte Gegenst\u00e4nde, sondern nur eine ganz bestimmte Gruppe derselben zu treffen","page":223},{"file":"p0224.txt","language":"de","ocr_de":"224\nA. Meinong.\nbestimmt ist Ich will versuchen, ihm sogleich eine m\u00f6glichst pr\u00e4cise Form zu geben.\nAus den allgemeinen Darlegungen des ersten Abschnittes war zu entnehmen, dafs die Inferiora eines gegebenen Superius gegen einander discret sein k\u00f6nnen aber nicht m\u00fcssen, dafs es sonach auch Inferiora geben kann, die mit einander continuirlich verbunden sind. Diese letztere M\u00f6glichkeit stellt unser Einwand in Abrede: das Continuum hat in Wirklichkeit nicht unendlich viele Theile, sondern gar keinen Theil; es ist eine ungetheike Einheit. So ist etwa \u201eeine beliebig gestaltete Fl\u00e4che von ganz gleichm\u00e4fsiger F\u00e4rbung, z. B. eine quadratische, nach Aussage der inneren Wahrnehmung zun\u00e4chst eine vollst\u00e4ndige Einheit.... Die Theile, in die man sich eine solche Einheit zerlegt denken kann, sind fingirte Theile\u201c.1 Nicht anders steht es \u201ebei jedem sich in bestimmter Richtung ver\u00e4ndernden und bei jedem unver\u00e4ndert bleibenden Bewusstseinsinhalt\u201c2 u. s. f. Ist dem so, so l\u00e4fst sich in solchen F\u00e4llen einfach deshalb nicht von Gegenst\u00e4nden h\u00f6herer Ordnung reden, weil die Inferiora fehlen. Besteht aber dieser Einwand zun\u00e4chst innerhalb seiner Sph\u00e4re zu Recht, dann bedroht er auch den ganzen Gedanken der Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung insofern, als es wesentlich dieselbe Erw\u00e4gung ist, mit deren H\u00fclfe die Vertreter der fundirten Gegenst\u00e4nde das eine Mal von den discreten T\u00f6nen, das andere Mal von den continuirlichen, daher im Sinne des Einwandes nur fictive Theile ausmachenden Ortsbestimmungen aus auf ein besonderes Superius, dort Melodie, hier Gestalt, argumentiren. Was hier verfehlt ist, wird dort schwerlich die dem Argument zugeschriebene Stringenz beanspruchen d\u00fcrfen.\nVor Allem mufs hier einger\u00e4umt werden, dafs es in der That keine ganz unbedenkliche Sache w\u00e4re, m\u00fcfsten die Continua in Sachen der Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung eine ganz andere Behandlung erfahren wie die Discreta. Das wird noch deutlicher, wenn man in Rechnung zieht, dafs auch Continua zu Melodien und Discreta zu Gestalten werden k\u00f6nnen. Ersteres belegen die sogenannten Satzmelodien wenigstens manchen ihrer Theile nach. Beim Ges\u00e4nge der V\u00f6gel und beim Heulen des Windes redet man freilich nicht von Melodie ; am charakteristischen\n1 Diese Zeitschr. 17, 130.\n* Ibid. 130 f.","page":224},{"file":"p0225.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnis etc. 225\nThatbestande derselben ist indes nicht zu zweifeln. Bekannt ist vollends, wie leicht ein \u201egef\u00fchlvoller\u201c Violinspieler das Discretum einer wie immer beschaffenen Melodie in das indiscreteste Continuum verwandeln kann. Solchen sozusagen continuirhch gemachten Discretis stehen dann die gleichsam discret gemachten Continua auf dem Gebiete der Gestalten als nat\u00fcrliche Gegenst\u00fccke zur Seite, wie sie in punctirten Contouren, etwa auch schraffirten Fl\u00e4chen u. dgL so oft Vorkommen. Nat\u00fcrlich sind die so gebildeten Gestaltvorstellungen mit den aus den betreffenden Continuis hergestellten keineswegs gegenstandsgleich, wie man am besten aus extremeren F\u00e4llen erkennt, wie etwa dem, dafs man drei gegebene Punkte zu einer Art Dreiecksvorstellung vereinigt. Aber entsprechend weitgehende Gegenstands\u00e4hnlichkeit wird nicht in Abrede zu stellen sein, und je weiter diese geht, desto bedenklicher wird die Andersbehandlung des doch durch fliefsende Grenzen mehr Verbundenen als Getrennten.\nUm nun aber die Beweiskraft des in Rede stehenden Ein-wandes zu w\u00fcrdigen, ist vor Allem unerl\u00e4fslich, in betreff dessen klar zu sehen, was durch denselben dem Continuum unter dem Namen der \u201eEinheit\u201c zugesprochen wird. Das Wort wird ja ohne Zweifel vom Z\u00e4hlen hergenommen sein und bedeutet insofern den Gegensatz zur Mehrheit. Aber oft genug will, wer es gebraucht, nicht so sehr den Gedanken an die Zahl Eins zum Ausdruck bringen, als vielmehr den Gedanken daran, dafs das betreffende Object so beschaffen ist, dafs es Anspruch darauf hat, als Eines behandelt zu werden, daran also, dafs es etwas Einheitliches ist.1 Solcher Einheitlichkeit giebt es zwei Hauptf\u00e4lle: einmal kann etwas so beschaffen sein, dafs es als Eines schlechthin behandelt werden mufs, weil eine Mehrheit daran sich nicht vorfindet ; dann aber kann es sich um etwas handeln, das die Behandlung als Einheit nicht schlechterdings verlangt, wohl aber mehr oder minder nahelegt, oder zum Allerwenigsten doch gestattet Im ersten Falle beruht die Einheit auf Einfachheit, im zweiten Falle dagegen darauf, dafs eine Mehrheit gegenst\u00e4ndlicher Momente sich aus inneren oder \u00e4uiseren Zusammen\u00ab\n1 Ich habe gelegentlich (diese Zeitschrift 6, 359) f\u00fcr F\u00e4lle, wo es sich nur um die Zahl handelt, den Ausdruck \u201eEinsheit\u201c vorgeschlagen.- Es k\u00f6nnte aber sein, dafs dadurch dem Sprachgef\u00fchle, zumal im Hinblick auf die Z\u00e4hl- und Bechenpraxis des t\u00e4glichen Lebens mehr als billig zage-muthet ist.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XXI.\n15","page":225},{"file":"p0226.txt","language":"de","ocr_de":"226\nA . Meinung.\ngeh\u00f6rigkeitsgr\u00fcnden zu einem Ganzen zusammenscbliefst oder vom vorstellenden Subject\u00a9 zu einem Ganzen zusammengefafst wird, was eventuell auch ohne Zusammengeh\u00f6rigkeitsgrand geschehen kann. Betrachtet man Einfachheit als Grenzfall, so gelangt man so geradezu zu der scheinbar paradoxen Aufstellung: Einheit zu sein, ist eine Eigenschaft von Mehrheiten; Einheit ist insofern nichts Anderes als Ganzes oder Complexion. Man kann dann die Scheinparadoxie noch weiter treiben und behaupten, dafs jede Mehrheit eben als solche zugleich Einheit sein muls, da der Mehrheitsgedanke die die Mehrheit ausmachenden Bestandst\u00fccke eben zu Einer Complexion, also zu einer Einheit zu-8ammenfafst. Die M\u00f6glichkeit, auch rechnerisch jede Mehrheit wieder als Einheit zu behandeln, stimmt damit bestens \u00fcberein. Zugleich beseitigt der Hinweis hierauf auch den Schein des Paradoxen: es ist ja nichts Befremdliches, wenn zweierlei Z\u00e4hlungen zweierlei Ergebnisse zu Tage bringen. Wer die betreffenden Bestandst\u00fccke z\u00e4hlt, kann deren mehrere vor-finden, auch wo eine auf Complexionen von bestimmter Beschaffenheit gerichtete Z\u00e4hlung \u00fcber die Eins nicht hinauskommt Es ist nur eine sprachliche Sonderbarkeit, dafs der Eine complexe Gegenstand im Hinblick auf die Vielheit seiner Bestandst\u00fccke zugleich selbst als Vielheit bezeichnet werden kann.\nF\u00fcr unsere n\u00e4chsten Zwecke ist damit dargethan, dafs Schumann\u2019s Einwand nur dann ein Einwand ist, wenn man unter dem, was er Einheit nennt, den Special- oder Grenzfall der Einfachheit versteht Wird aber noch Neigung bestehen, dem Continuum, dem Einheit gewifs in besonders auffallendem Maafse eignet, auch Einfachheit zuzuschreiben? Ein Kl\u00e4rungsversuch wird am besten vom Gedanken des Theiles und Theilehabens ausgehen.\nTheile, das Wort im gew\u00f6hnlichen Sinne verstanden, sind Einheiten so gut wie das Ganze, das sie ausmachen. Es ist damit gesagt, dafs, falls sie selbst wieder aus Theilen bestehen, die Theile je Eines Theiles enger zusammengeh\u00f6ren m\u00fcssen als Theile verschiedener Theile: auch hier kann diese Zusammengeh\u00f6rigkeit eine mehr oder minder nat\u00fcrliche oder k\u00fcnstliche sein, und mit dem Namen des Theilens belegt man sehr verschiedenartige Operationen, die s\u00e4mmtlich auf Herstellung solcher nat\u00fcrlicher oder k\u00fcnstlicher Zusammengeh\u00f6rigkeiten innerhalb der aus diesen Operationen hervorgehenden Theile gerichtet sind.","page":226},{"file":"p0227.txt","language":"de","ocr_de":"TJeher Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren VerhcUtnifs etc. 227\nTheile haben bedeutet nat\u00fcrlich nicht so -viel als getheilt worden sein ; sonst h\u00e4tte, was durch Zusammensetzung entstanden ist, keine Theile : Theile hat eben, was getheilt ist, mag es dies erst geworden oder immer gewesen sein. Hat aber auch das Theile, was blos theilbar ist? Was blos getheilt werden kann, aber noch nicht getheilt ist, hat, das scheint wieder selbstverst\u00e4ndlich, eben darum keine Theile. Man kommt aber damit in eine ziemlich schwierige Lage. Was theilbar ist, kann doch unm\u00f6glich einfach sein: was aber nicht einfach, sondern complex ist, scheint doch wohl Theile haben zu m\u00fcssen. Inzwischen ist die Schwierigkeit doch zun\u00e4chst terminologischer Natur. Was theilbar ist, mufs Stoff f\u00fcr Unterscheidung in sich sehliefsen: aber das Verschiedene, das es in sich enth\u00e4lt, mufs sich nicht in nat\u00fcrliche Einheiten sondern : ja im Grunde liegt, wo Letzteres der Fall ist, nicht mehr blofse Theilbarkeit vor, sondern Getheilt-heit. Es ist nun immerhin Sache des Ausdruckes, ob man bereits im Falle des nicht zu Einheiten aus einander tretenden Verschiedenen von Theilen reden will. Sprachgem\u00e4fser d\u00fcrfte es sein, es nicht zu thun. Es wird kaum ein Bed\u00fcrfnifs darnach sich geltend machen, wenn man zugleich den Terminus \u201eBestandst\u00fcck\u201c weit genug anwendet, \u00fcberall da n\u00e4mlich, wo sich innerhalb eines vorgegebenen Gegenstandes Verschiedenheiten vorfinden. Man k\u00f6nnte dann etwa unbestimmte und bestimmte Bestandst\u00fccke aus einander halten, unter letzteren aber jene verm\u00f6ge ihrer Natur aus einander tretenden Einheiten meinen, die man eben allenthalben im Hinblick auf das von ihnen ausgemachte Ganze als Theile bezeichnet.\nIm Sinne dieser Ausdrucks weise ist also jede Einheit entweder eine getheilte oder eine ungetheilte : im letzteren Falle kann sie auch einfach sein, sie mufs es aber keineswegs, da sie ebensogut eine Complexion aus unbestimmten Bestandst\u00fccken sein kann. Freilich befindet man sich letzteren gegen\u00fcber in der einigermaafsen befremdlichen Lage, dieselben aufser in der Einheit, die sie ausmachen, nur noch in der Weise erfassen zu k\u00f6nnen, dafs man sie erst ihrer Unbestimmtheit sozusagen beraubt, d. h. die bisher ungetheilte Einheit theilt Das ist ein unvermeidlicher Erfolg der hierzu erforderlichen Analyse1, der\n1 Vgl. meinen Artikel \u00fcber psychische Analyse, diese Zeitschrift 8, 881 ff, (8. 42 ff. des Sonderabdrnckes).\n15*","page":227},{"file":"p0228.txt","language":"de","ocr_de":"228\nA, Meinong.\nsich nur insofern einigermaafsen wett machen l&fst, als man sich der Subjectivit\u00e4t der so in die Thatsachen hineingetragenen Bestimmtheit bewufst bleibt.\nSalva subjectivitate also, wenn man so sagen darf, l\u00e4fst sich nun leicht einsehen, dafs unbestimmte Bestandst\u00fccke niemals einfach sein k\u00f6nnen. Die Unbestimmtheit hat ja, wie wir sahen, darin ihre Wurzel, dafs das, was gleichsam innerhalb des Bestandst\u00fcckes gelegen ist, vor dem, was es gleichsam von aulsen umgiebt, nichts voraus hat : bei Einfachem ist dies aber begreiflicherweise niemals der Fall. Demnach ist jedes unbestimmte Bestandst\u00fcck selbst wieder eine Complexion, deren Bestandst\u00fccke nun neuerlich entweder bestimmt oder unbestimmt sein k\u00f6nnen. Wenigstens l\u00e4fst sich dem eben wieder ber\u00fchrten Erfordernis, dafs, kurz ausgedr\u00fcckt, die innere Zusammengeh\u00f6rigkeit vor der \u00e4ufseren nichts voraus habe, in zwei entgegengesetzten Weisen gerecht werden: entweder so, dafs diese Zusammengeh\u00f6rigkeit nach innen wie nach aufsen gleich locker, oder so, dafs sie gleich fest ist. Wirklich treffen wir die erste M\u00f6glichkeit etwa in jedem Haufen Aepfel oder N\u00fcsse an, der sich je nach Genauigkeit und Beheben in zwei, drei und mehr gleiche oder auch ungleiche Theile theilen l\u00e4fst und demnach vor der Theilung zwei, drei u. a f. unbestimmte Bestandst\u00fccke in sich fafst, deren Unbestimmtheit nat\u00fcrlich auch darin zur Geltung kommt, dafs \u00fcber ihre Gleichheit vorerst nichts vorgegeben ist. Immerhin wird man da bei solchen Unbestimmtheiten nicht leicht verweilen, da hier die zu Grunde hegenden bestimmten Bestandst\u00fccke, die Aepfel oder N\u00fcsse, derlei unvollkommenere Betrachtungsweisen entbehrlich machen. Nicht so bei Verwirklichung der zweiten der eben neben einander gestellten M\u00f6glichkeiten, wie sie sich in den verschiedenen Continuen darstellt. Hier weisen die unbestimmten Bestandst\u00fccke immer wieder unbestimmte Bestandst\u00fccke auf, f\u00fcr deren Anzahl jedesmal kein anderer Anhalt vorhegt als die der Analyse sich darbietenden Verschiedenheiten. Der Uebergang vom Theilbaren zum Getheilten vollzieht sich hier durch Einf\u00fchrung von Discontinuit\u00e4ten : es ber\u00fchrt dabei im Grunde als Seltsamkeit, dafs es m\u00f6glich, bei Raum und Zeit sogar unvermeidlich ist, diese Discontinuit\u00e4ten mit H\u00fclfe von Daten aus anderen Continuen herzustehen. So ist z. B. eine Raumstrecke, eine viereckige Fl\u00e4che od. dgl. als solche durch kein r\u00e4umliches Mittel discontinuirhch zu machen: zieht man im letzteren Falle","page":228},{"file":"p0229.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnifs etc. 229\n'\u00abine Diagonale, oder f\u00e4rbt man die eine H\u00e4lfte der Fl\u00e4che gelb, die andere blau, so ist das Viereck \u201egetheilt\u201c, aber eben mit H\u00fclfe nicht einer r\u00e4umlichen, sondern einer F\u00e4rbend iscontinuit\u00e4t.\nUebrigens aber sind diese Details bereits unwesentlich gegen\u00fcber dem Hauptfragepunkte, auf den wir nunmehr wieder zur\u00fcckgef\u00fchrt Bind. F\u00fcr Continua ist aus dem Obigen klar, dafs die mancherlei, ja unendlich vielen Theilungen, die an ihnen vorgenommen werden k\u00f6nnen, letztlich jederzeit in sie hineingetragen1 sind, indes ihnen von Natur nur unbestimmte Bestandst\u00fccke zukommen. Schumann hat also ganz Recht, solche Theile als fictive Theile zu bezeichnen. Hat er aber auch Recht, wenn ^r darin eine Schwierigkeit der Fundirungstheorie erblickt?\nDies w\u00e4re gewifs der Fall, wenn die nat\u00fcrliche Einheit, die, wie wir sahen, jedem Continuum zukommt, zugleich dessen Einfachheit mit sich f\u00fchrte. Da dem aber, wie gezeigt, nicht so ist, so hat, so viel ich sehe, Schumann\u2019s Einwand nur unter der Voraussetzung Geltung, dafs die Inferiora eines fundirten Gegenstandes Theile im eben pr\u00e4cisirten Sinne sein m\u00fcssen und nicht eventuell auch unbestimmte Bestandst\u00fccke sein k\u00f6nnen. Zu einer solchen Einschr\u00e4nkung fehlt aber, im Allgemeinen wenigstens, jeder Grund, wenn sie auch unter besonderen Umst\u00e4nden Geltung haben d\u00fcrfte. Gewifs kann man nicht vergleichen, auch nicht z\u00e4hlen, was nicht in irgend einer Weise \u201eunter-\u25a0schieden\u201c oder analysirt vorgestellt wird: ist aber z. B. der gef\u00e4rbte Klang eine Fundirungscomplexion, so repr\u00e4sentirt er nicht \u2022nur einen Fall, wo Analyse entbehrlich, sondern sogar einen,\n1 Weil es f\u00fcr eine Wahrheit jederzeit vom Uebel ist, wenn man sie dnrch eine untriftige Begr\u00fcndung zu st\u00fctzen versucht, so merke ich hier eine solche untriftige Begr\u00fcndung an, die mich eine Weile irregef\u00fchrt hat. Zum Beweise daf\u00fcr, dafs die vier rechtwinkeligen Dreiecke, in die man ein Quadrat durch Ziehen der Diagonalen zerfallen kann, nicht zur Natur des Quadrates geh\u00f6ren, k\u00f6nnte man sich darauf berufen, dafs, um den Oedanken jener Dreiecke zu gewinnen, nicht nur das Quadrat gleichsam aus einander gelegt, sondern auch noch jedes Dreieck durch eine Art inverser Operation (es ist die oben S. 201 ff. ber\u00fchrte Thfttigkeit, die dem Fundiren eignet) gleichsam zusammengesetzt werden mufs, sonach sicher etwas dem Quadrate an sich Fremdes hereingebracht werde. Dafs dieser Punkt unwesentlich ist, beweist ein von Natur getheilter Gegenstand, wie etwa das Schachbrett, dem man unbedenklich seine 64 Felder als Theil\u00e8 \u25a0zuspricht, ohne nach den Erfordernissen zu fragen, die erf\u00fcllt sein m\u00fcssen, um diese Theilquadrate als solche zu erfassen.","page":229},{"file":"p0230.txt","language":"de","ocr_de":"230\nA. Meinong\nwo sie dem Zustandekommen der Complexionsvorstellung abtr\u00e4glich w\u00e4re. Und so meine ich denn aus der Thatsache der continuirlich abgegrenzten Gestalt oder der continuirlichen Quasimelodie eben nur das eine abnehmen zu k\u00f6nnen, dafs unbestimmte Bestandst\u00fccke in betreff der Fundirung vielfach ganz verwandte Ergebnisse aufzuweisen haben wie bestimmte.\nGanz im Vor\u00fcbergehen sei nun \u00fcbrigens noch darauf hingewiesen, dafs unter Umst\u00e4nden auch noch ein anderer Weg offen steht, Schumann\u2019s Einwand zu entkr\u00e4ften. Die mancherlei Continua gleichen sich bekanntlich keineswegs in allen Eigenschaften, namentlich zeigt das Raum- und das Zeitcontinuum eine in verschiedener Hinsicht deutliche Ausnahmestellung. Diese Ausnahmestellung kommt unter Anderem auch darin zur Geltung, dafs bei Raum und Zeit der Punkt nichts ist und nichts sein kann als eine Grenze, indes dies etwa f\u00fcr das Farben- oder Toncontinuum mindestens gar nicht selbstverst\u00e4ndlich ist. Im Gegentheil scheinen hier gegen punktuelle Existenzen, wie etwa eine genau gleichfarbige Fl\u00e4che oder ein genau constanter Ton sie darbieten w\u00fcrden, h\u00f6chstens Wahrscheinlichkeits-, keineswegs aber eigentliche M\u00f6glichkeitseinwendungen berechtigt Bei Con-tinuen dieser letzteren Art, f\u00fcr die die Auffassung des Continuums miter dem Gesichtspunkte der \u201ePunktmannigfaltigkeit\u201c in besonderer Weise nahe gelegt erscheint, wird einem vorgegebenen Falle gleichviel ob wirklichen oder \u201eblos vorgestellten\u201c Ueber-ganges gegen\u00fcber die Frage zu erheben sein, ob es sich dabei um einen wirklich continuirlichen oder nur um einen schein-continuirlichen Uebergang handelt, wie er durch eine geordnete Reihe unterschwellig verschiedener Punkte1 jederzeit herzustellen ist. Wo punktuelle Existenzen m\u00f6glich sind, wird Letzteres wohl jederzeit das unvergleichlich Wahrscheinlichere sein : auf Schein-continua aber hat dann nat\u00fcrlich die von Schumann erhobene Schwierigkeit keinerlei Anwendung.\n\u00a715. Die Einheit des Zusammenwirkens als Ersatz\nf\u00fcr die Fundirung.\nEs wird nun an der Zeit sein, sich der positiven Seite dessen zuzuwenden, was Schumann der Theorie der fundirten Gegen-\n1 Vgl. auch L. W. Stun, Psychologie der Ver\u00e4nderungs-Auffassung, S. 26 f.","page":230},{"file":"p0231.txt","language":"de","ocr_de":"TJcbcr Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnifs etc. 231\nst\u00e4nde entgegenh\u00e4lt Dafs der Thatsache, die H\u00f6fler passend als Transponirbarkeit bezeichnet hat1, f\u00fcr sich allein Rechnung zu tragen, sich vorg\u00e4ngig noch andere M\u00f6glichkeiten darbieten k\u00f6nnten, habe ich schon vor Jahren anerkannt2 *: nur meint Schumann, indem er hieran ankn\u00fcpft, ich h\u00e4tte \u00fcbersehen, \u201edafs die in Frage kommenden Complexe schon deshalb nicht als einfache Summen betrachtet werden k\u00f6nnen, weil sie einheitliche Ganze bilden\u201c. Dies \u201eheifst in erster Linie als Ganzes wirken\u201c ; es gen\u00fcgt aber in unseren F\u00e4llen, als Wirkungen dieser Art statt \u201eneuer direct nicht nachweisbarer Vorstellungsinhalte\u201c \u201eneu hinzukommende Gef\u00fchle oder gew\u00f6hnliche Vorstellungen, welche mit dem ganzen Complex associirt sind\u201c, anzunehmen.8\nWarum ich dieses Einheitlichkeitsmoment \u201e\u00fcbersehen\u201c haben m\u00fcfste, wenn doch \u201eallerdings von dem ganzen Complex auch die Gestaltqualit\u00e4ten bedingt\u201c w\u00e4ren4 5, ist mir nicht recht ersichtlich, aber auch Nebensache. Ohne Bedenken kann ich Schumann darin beistimmen, dafs in jedem Falle, den ich f\u00fcr einen Fundirungsfall halte, die dieser Auffassung gem\u00e4fs als fundirend zu bezeichnenden Gegenst\u00e4nde ein \u201eeinheitliches Ganzes bilden\u201c, was ja, wie im vorigen Paragraphen ber\u00fchrt nichts Anderes besagt, als dafs sie eben eine Complexion ausmachen. Dafs dies mit \u201eZusammenwirken zu einem Effect\u201c sich kurzweg decke, k\u00f6nnte ich freilich nicht einr\u00e4umen, da es, wenn die Ausf\u00fchrungen des 1. Abschnittes im Rechte waren, sehr verschiedenartige Complexionen giebt Dafs aber, was eine gemeinsame Wirkung hat, insofern jedenfalls einen von den mancherlei Complexions-f\u00e4llen darstellt, halte ich gleichfalls f\u00fcr richtig. K\u00f6nnte dann der Transponirbarkeit nicht in der That durch Uebereinstimmung in einer solchen gemeinsamen Wirkung trotz Verschiedenheit der Ursachen Rechnung getragen sein, und k\u00f6nnte diese Wirkung nicht in Gef\u00fchlen und \u201egew\u00f6hnlichen Vorstellungen\u201c, d. h. eben nicht Vorstellungen von Gegenst\u00e4nden h\u00f6herer Ordnung, bestehen, oder allenfalls auch in Gef\u00fchlen und gew\u00f6hnlichen Vorstellungen zusammen?6\n1 Psychologie S. 153.\n* Diese Zeitschrift 2, 248 ff.\n\u00bb Diese Zeitschrift 17, 134 f.\n4\tA. a. O. S. 135.\n5\tEine Eventualit\u00e4t, die ich gleichfalls \u00fcbersehen haben soll, vgl. ft. a. 0.\n8. 138.","page":231},{"file":"p0232.txt","language":"de","ocr_de":"232\nA. Meinong.\nIn der That, und ich wiederhole damit eigentlich nur schon l\u00e4ngst Einger\u00e4umtes, handelte es sich um gar nichts Anderes als um die Transponirbarkeit, also jene Uebereinsthnmung im Wechsel, so k\u00f6nnte das Uebereinstimmende so gut ein Gef\u00fchl wie eine beliebige Vorstellung, aber freilich ebenso gut auch eine Wellenbewegung, ein chemischer Vorgang oder sonst irgend etwas sein. Haben wir aber Grund anzunehmen, dafs dasjenige, in dem eine in C-Dur und in G-Dur gespielte resp. vorgestellte Melodie \u00f6bereinstimmt, doch etwas Anderes sein wird als etwa ein Kanonensehufs, ein Nordlicht oder was man sonst m\u00f6glichst Abenteuerliches ausdenken mag, so kommt darin die Thatsache zur Geltung, dafs die freie Hypothesenbildung hier augenscheinlich durch eine directe Empirie eingeschr\u00e4nkt ist, die noch andere Daten beibringt als die Transponirbarkeit. N\u00e4her sind es insbesondere zwei ebenfalls schon ber\u00fchrte Dinge, welche mir die Auffassung der ganzen Sache entscheidend zu bestimmen scheinen. Einmal belehrt uns die innere Wahrnehmung dar\u00fcber, dafs wir die Melodie vorstellen: die f\u00fcr diese ohne Zweifel wesentliche \u201eEinheitlichkeit\u201c ist also eine vorgestellte Einheitlichkeit. Dann aber sagt uns die innere Wahrnehmung doch auch, aus welchen T\u00f6nen die gegebenen Falles vorgestellte Melodie gerade besteht : schon der musikalische Laie wird, wenn man ihm ein bekanntes Lied mit Begleitung vorspielt, von den T\u00f6nen der letzteren angeben k\u00f6nnen, dafs sie nicht in die erstere hineingeh\u00f6ren. Zieht man aber diese beiden Umst\u00e4nde geh\u00f6rig in Rechnung, dann wird ihnen gegen\u00fcber Schumann\u2019s L\u00f6sungsversuch sich kaum in g\u00fcnstigem Lichte zeigen.1\n1 Besonders deutlich scheint mir dies an einem etwas specielleren Falle zu werden, an der Stellung n\u00e4mlich, die Schumann (a. a. O. S. 137) gegen Witasjsk's Anerkennung des Unterschiedes zwischen director und in-directer (auf Vergleichung gegr\u00fcndeter) Ver\u00e4ndernngserkenntnirs (Mm Zcitschr. 14, 403) einnimmt. Weil Vergleichung eben nichts ist als ein Causalfall im obigen Sinne, darum seien auch die beiden Weisen, Ver\u00e4nderung zu erkennen, \u201egar nicht so verschieden von einander wie Wit asm annimmt\". Halte ich mich hier an das positive Zeugnifs jener Erkenntnifs-quelle, auf deren negatives Zeugnifs Schumann sich so oft beruft, die innere Wahrnehmung, so mufs ich mit vollster Zuversicht vielmehr so argumen-tiren: weil die beiden F\u00e4lle sich der directen Beobachtung als etwas so Grundverschiedenes darstellen, eben darum ist das Wesen des Vergleichen\u00ae gewifs nicht durch den blofsen Hinweis auf einen Effect beschrieben, an dem die Vorstellungen der zu vergleichenden Gegenst\u00e4nde betheiligt sind.","page":232},{"file":"p0233.txt","language":"de","ocr_de":"Ueher Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnifs etc. 233\nDie Meinung ist ja ohne Zweifel die, dafs die Einheitlichkeit etwa der Melodie darin besteht, dafs die sie ausmachenden T\u00f6ne eine gemeinsame Wirkung haben, diese Wirkung aber in einem Gef\u00fchle oder einer \u201egew\u00f6hnlichen\u201c Vorstellung* oder in Beidem besteht. Ist aber diese Einheitlichkeit eine vorgestellte, so kann sie mit einer sich ohne R\u00fccksicht auf das Vorgestelltwerden, eventuell also auch unvorgestellt abspielenden Causation in keiner Weise zusammenfallen. Es m\u00fc\u00dfte die Causation also vorgestellt, n\u00e4her, da die innere Wahrnehmung ja von jener Einheit Kenntnifs giebt, innerlich wahrgenommen sein, indes, wie bereits erw\u00e4hnt, die innere Wahrnehmung eine Verursachung gar nicht zum Gegenst\u00e4nde haben kann. K\u00f6nnte sie es aber auch, so h\u00e4tten wir dann in der Causalrelation erst recht einen Gegenstand h\u00f6herer Ordnung vor uns, und sollte dieser neuerlich im Sinne der ScH\u00fcMANN\u2019schen Hypothese weginterpretirt werden, so w\u00e4re die fehlerhafte unendliche Reihe unvermeidlich. Uebrigens \u2018ist auch schon der Appell an die objective Causalit\u00e4t befremdlich genug seitens eines Autors, der erkl\u00e4rter Maafsen \u201eversucht, ohne die Annahme besonderer Relationsvorstellungen auszukommen\u201c, * was letztlich doch h\u00f6chstens dann durchzuf\u00fchren :sein k\u00f6nnte, wenn man sich enthalten kann, Relationen und im Besonderen also auch Causalrelationen vorzustellen, vollends f\u00fcr irgend einen Fall in Betracht zu ziehen.\nEs d\u00fcrfte der Kl\u00e4rung f\u00f6rderlich sein, den Standpunkt, den ich durch .das Obige gegen\u00fcber Schumann zur Geltung zu bringen versucht habe, auch den Aufstellungen gegen\u00fcber zu prftcisiren, die Schumann Vorlesungsdictaten G. E. M\u00fclleb\u2019b entnommen hat, um sie als Grundlagen seiner eigenen Auffassung an die Spitze seiner oft erw\u00e4hnten Abhandlung zu stellen. Zur Charakteristik des darin vertretenen Hauptgedankens m\u00f6gen folgende Stellen gen\u00fcgen: \u201eDie Sprache bezeichnet ihren Bed\u00fcrfnissen entsprechend einfache Qualit\u00e4ten, die einander \u00e4hnlich sind, mit einem und demselben gemeinsamen Namen. Da nnn ein und dieselbe einfache Qualit\u00e4t gleichzeitig mehreren solchen Gruppen einander \u00e4hnlicher und mit gleichem Namen \u2022benannter Qualit\u00e4ten angeh\u00f6rt und sich hinsichtlich ihrer Ursachen und Wirkungen ganz wesentlich darnach bestimmt, welchen von jenen Gruppen einfacher Qualit\u00e4ten sie thats\u00e4chlich angeh\u00f6rt, so unterscheidet man an der gegebenen einfachen Qualit\u00e4t trotz der Einheitlichkeit ihrer Natur, um ihre Zugeh\u00f6rigkeit zu jenen verschiedenen Gruppen anzudeuten, eine entsprechende Anzahl von Modificationen, deren jede thats\u00e4chlich nichts\n1 Dafs dabei zun\u00e4chst wieder an die sich so allgemeiner Beliebtheit erfreuenden Wortvorstellungen gedacht sein d\u00fcrfte, ergiebt a. a. O. S. 186 oben. * A. a. O. S. 136.","page":233},{"file":"p0234.txt","language":"de","ocr_de":"234\nA. Meinong.\nAnderes bedeutet als Zugeh\u00f6rigkeit zu einer bestimmten Gruppe gleich* benannter, einander \u00c4hnlicher Qualit\u00e4ten/'1 * * \u201eEbenso wie nun die singul\u00e4r aufgefafsten einfachen Qualit\u00e4ten der T\u00f6ne, Farben u. s. w. den zwischen ihnen bestehenden Aehnlichkeiten entsprechend, von der Sprache zn Gruppen zusammengefafst und mit Namen benannt werden, so werden nin auch auf collectiv aufgefafste Erscheinungsganze, die hinsichtlich der Art und Weise, wie in ihnen die von einander unterschiedenen Einzelobjecte mit einander verkn\u00f6pft sind, einander \u00e4hnlich oder gleich sind, gleiche Bezeichnungen angewandt.\u201c * Eine \u201eh\u00f6here geistige Th\u00e4tigkeit, ein besonderes beziehendes Wissen\u201c hat dies nicht zur Voraussetzung. \u201eAlle F\u00e4higkeiten und Erkenntnisse, welche auf ein solches beziehendes Wissen zu-r\u00fcckgef\u00fchrt werden, erkl\u00e4ren sich mittels des allgemeinen Satzes, dafs Vorstellungen verschiedener collectiv aufgefafster Erscheinungsganze .... in den Associationen, die sie mit anderen Vorstellungen eingegangen sind, sich f\u00fcr einander substituiren k\u00f6nnen, falls nur jene Erscheinungsganze hinsichtlich der Art und Weise mit einander \u00fcbereinstimmen, wie ihre Be-\nstandtheile.......mit einander verkn\u00fcpft sind oder hinsichtlich ihrer\nBeschaffenheit sich zu einander verhalten.\u201c*\nVerstehe ich recht, so ist hiermit in betreff der Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und im Besonderen in betreff der Fundirungsgegenst\u00e4nde Fol* gendes gesagt: F\u00fcr St\u00e4rke und H\u00f6he eines Tones habe ich keine besonderen Vorstellungen ; gleichwohl unterscheide ich aber diese Bestimmungen, indem diese durch Bildung besonderer Aehnlichkeitsgruppen und besonderer Ausdr\u00fccke f\u00fcr sie zur Geltung kommen. Ebenso ist die Annahme entbehrlich, dafs ich von Complezionen oder Relationen besondere Vorstellungen habe: auch Complezionen und Relationen kommen an den Ausdr\u00fccken zum Vorschein, die sich an Aehnlichkeits- etwa auch Substituirbarkeitsgruppen im Falle diesmal nicht singul\u00e4rer sondern collectiver Auffassung der Objecte kn\u00fcpfen. Es giebt also Tonst\u00e4rke wie Tonh\u00f6he : wir k\u00f6nnen sie eigentlich nicht vorstellen, aber wir gelangen auf einem Umwege zu ihrer Kenntnifs. Und in gleicher Weise giebt es Aehnlichkeit, Zusammenhang u. s. w., kun Relationen und Complezionen: auch von ihnen wissen wir nur mit H\u00fclfe dessen, was sich an ihr Auftreten associirt; besondere Vorstellungen von ihnen brauchen wir darum noch nicht zu haben.\nGegen die nominalistische L\u00f6sung des Abstractionsproblems habe ich bereits vor Jahren, ja eigentlich Jahrzehnten Stellung genommen und h\u00e4tte heute an dem, was ich einst4 ausgef\u00fchrt habe, kaum mehr zur\u00fcckzunehmen, als bei einer Erstlings-Publication die Regel sein wird. Auf eine neuerliche Discussion der ersten der beiden oben in Parallele ge* stellten Thesen kann ich unter solchen Umst\u00e4nden um so leichter verzichten, als die zweite, um deren willen ja auf die erste Bezug genommen\n1 A. a. O. S. 107.\n8 Ibid. S. 109.\n8 A. a. 0. S. lllf.\n4 \u201eZur Geschichte und Kritik des modernen Nominalismus\u201c, Hw* Studien I.","page":234},{"file":"p0235.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren VerhiUtnifs etc. 235\nist\u00bb aus sich selbst heraus, wie mir scheint, ihre Unhaltbarkeit erkennen la\u00fcst Wenn mir jede Vorstellung von Relationen und Complexionen fehlt, woher weife ich dann eigentlich, ja wie kann ich es \u00fcberhaupt nur ausdenken, dafs es Relationen und Complexionen sind, nach deren Aehnlich-keit sich die \u201ecollectiv aufgefafsten\u201c Gegenst\u00e4nde gruppiren? Was ich nicht vorstellen kann, das kann ich sozusagen noch weniger erkennen. Freilich l\u00e4fst sich ein Gegenstand nicht nur direct, sondern auch indirect vorstellen1 : aber ich kann nicht absehen, wie demjenigen, dem der eigentliche Relations- resp. Complexionsgedanke fehlt, dieser irgendwie ersetzt werden k\u00f6nnte, davon gar nicht zu reden, dafe alles indirecte Vorstellen sich bereits mit H\u00fclfe von Relationsvorstellungen vollzieht, beim Fehlen derselben also von vom herein abgeschnitten w\u00e4re.\nNun bliebe aber immerhin noch eine Auffassung offen: inwieweit sie dem in Rede stehenden Dictate gegen\u00fcber authentisch ist, thut nat\u00fcrlich auch in diesem Falle nichts zur Sache. Statt zu sagen: an \u00e4hnliche Complexionen und Relationen schliefsen sich dieselben Termini, k\u00f6nnte man versuchen anzunehmen, das, was ich Inferiors nenne, zusammen mit dem durch sie associirten Worte mache erst die Complexion oder Relation, kurz den sogenannten Gegenstand h\u00f6herer Ordnung aus. Den Anforderungen der \u201elex parsimoniae\u201c w\u00e4re damit sicher in besonderem Maafse Rechnung getragen : darf man aber auch hoffen, mit so einfachen Mitteln auszulangen ? So viel ich sehe, erweist sich das Gegentheil bereits daran, dafs Objecte und Wort mit einander doch irgendwie verbunden gedacht werden m\u00fcfsten : wirklich dr\u00e4ngt sich sofort die Annahme associativer Beziehungen auf, die wohl nat\u00fcrlichst als ein Cansalfall verstanden, vom Standpunkte der gegenw\u00e4rtigen Erw\u00e4gungen aus aber immerhin auch beliebig anders gedeutet werden k\u00f6nnten, da sie f\u00fcr etwas Anderes als irgendwie geartete} Relationen nicht zu nehmen sind. Soll nun diese Relation zwischen den Objecten und dem Worte wieder als Association eines weiteren Wortes durch die Objecte und das erste Wort aufgefafst werden, die so entstehende Relation dann als Association eines dritten Wortes u. s. f. in infinitum? Einmal ist hier die Fehlerhaftigkeit einer solchen unendlichen Reihe sofort handgreiflich, dann aber verweigert ja die Erfahrung schon f\u00fcr das zweite hierzu erforderliche Wort die Verification, da ein solches normalerweise fehlt. Unter allen Umst\u00e4nden erscheint so die ganze Annahme trotz ihres Einfachheitsvorzuges durchaus unzureichend, ihrer Aufgabe gerecht zu werden.\nDie charakteristische Einheitlichkeit der Complexion kann somit nicht in einer gemeinsamen Wirkung der Bestandst\u00fccke gesucht werden. Nun meint aber Schumann, darthun zu k\u00f6nnen, dafs man sie in keinem Falle in etwas suchen darf, was zu den Bestandst\u00fccken neu hinzukommt. Zerschneidet man ein St\u00fcck Papier in vier Theile, so ist die dadurch zerst\u00f6rte Einheitlichkeit nicht selbst ein f\u00fcnfter TheiL2 Mir scheint das Beispiel\n1 Vgl. HUMX-Studien II, S. 87.\n4 A. a. O. S. 134.","page":235},{"file":"p0236.txt","language":"de","ocr_de":"236\nA Meinong.\nindes nur zu zeigen, wie leicht es in complexionstheoretischen Dingen begegnen kann, eine innerhalb ausreichend enger Grenzen richtige Position durch Verallgemeinerung ihrer Richtigkeit zu berauben. Eine Melodie aus vier T\u00f6nen ist gewifs kein f\u00fcnfter Ton; allgemein: vorgegebene Gegenst\u00e4nde werden nicht dadurch zu einer Complexion vereinigt, dafs man einfach noch einen Gegenstand, vollends einen den vorgegebenen Gegenst\u00e4nden gleichartigen, einfach hinzuf\u00fcgt. Wenn aber Gegenst\u00e4nde, die bisher nichts als ein objectives Collectiv abgegeben haben, gleichviel auf welche Weise zu einer Complexion werden, dann liegt am Ende doch \u201eetwas\u201c vor, was vorher nicht war, und insoweit ist auch etwas hinzugekommen. Aus Fr\u00fcherem ist ersichtlich geworden, dafs, was in solchem Falle ganz neu hinzukommt, meiner Meinung nach die mit der Complexion \u00aboincidirende Relation ist, bei der es aber nat\u00fcrlich auch noch darauf ankommt, dafs sie in der richtigen Relation zu den Bestandst\u00fccken der zu bildenden Complexion stehe. Fasse ich Roth, Gr\u00fcn und Verschiedenheit nur einfach zusammen, so ist damit weder die Relation \u201eVerschiedenheit zwischen Roth und Gr\u00fcn\u201c noch die dieser Relation coincidirende Complexion gedacht Ohne aber hier auf derlei n\u00e4here Bestimmungen Gewicht zu legen, scheint mir also klar, dafs bei der Complexion auf 'etwas, das zu den Bestandst\u00fccken noch charakteristisch liinzu-kommt, in keinem Falle wird verzichtet werden k\u00f6nnen. Ln Grunde thut dies auch Schumann nicht : liefse sich bereits die Causation als solch ein Hinzukommendes deuten, so vollends das Gef\u00fchl resp. die \u201egew\u00f6hnliche\u201c Vorstellung. Demgegen\u00fcber m\u00f6chte ich vor Allem nicht verschweigen, dafs mir pers\u00f6nlich [bereits das Zeugnifs der inneren Wahrnehmung die ganz ausreichende Gew\u00e4hr daf\u00fcr zu bieten scheint, dafs es weder auf das Eine noch auf das Andere ankommt, obgleich nat\u00fcrlich manchmal dieses, manchmal jenes oder wohl auch Beides mitgegeben sein mag. Inzwischen giebt es, von bereits in anderem Zusammenh\u00e4nge Dargelegtem1 jetzt abgesehen, einen der Discussion zug\u00e4nglicheren Gesichtspunkt, unter dem sich die Unannehmbarkeit auch diesesTheiles der ScHUMANNschenHypothese herausstellt. Wie ber\u00fchrt wissen wir, wenn ein Superius vor* hegt, mindestens in den allermeisten F\u00e4llen auch, welche\n1 Diese. Zeitschrift 2, 250.","page":236},{"file":"p0237.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnis etc. 237\nInferiora dazu geh\u00f6ren: in Fundirungsf\u00e4llen wissen wir \u00fcberdies mit eben so guter Evidenz (wenn es auch keine Evidenz der inneren Wahrnehmung ist), dafs zu diesen Inferioren auch gerade dieses Superius geh\u00f6ren mufs und kein Anderes dazu geh\u00f6ren kann.1 Dafs Roth und Gr\u00fcn verschieden sein mufs und nicht etwa auch gleich sein kann, dafs eine vorgegebene Tonfolge eben nur diese Melodie ausmachen kann und keine andere\u00bb leuchtet unmittelbar ein. Zwischen Gef\u00fchlen und ihrer Vorstellungsgrundlage dagegen trifft man nirgends eine solche Evidenz an. Auf Schumann\u2019s \u201egew\u00f6hnliche Vorstellungen\u201c ganz im Allgemeinen ist dieses Argument nun freilich nicht kurzweg zu \u00fcbertragen : sicher aber gilt es von den seitens des genannten Autors zun\u00e4chst ins Auge gefafsten Wortvorstellungen. Concrete F\u00e4lle anderer Art namhaft zu machen, in denen es nicht gilt und die auch nicht aus anderen Gr\u00fcnden aufser Betracht bleiben m\u00fcssen, darf ich billig dem Gegner \u00fcberlassen. Ehe sie aufgezeigt sind, halte ich mich f\u00fcr berechtigt zu vermuthen, dafs Vorstellungen von den gew\u00fcnschten Eigenschaften durchaus nicht schwer aufzufinden, dafs sie aber eben keine \u2014 \u201egew\u00f6hnlichen\u201c Vorstellungen sein werden, sondern Vorstellungen von Gegenst\u00e4nden h\u00f6herer Ordnung.\nSehe ich also recht, so bleibt von Schumann's Ersatzvorschl\u00e4gen am Ende nur das gute Zutrauen darauf \u00fcbrig, dafs \u201enoch Factoren in Frage kommen, die erst die weitere Ent Wickelung der Wissenschaft aufzeigt\u201c:2 und dieses Zutrauen entzieht sich nat\u00fcrlich kritischer Erw\u00e4gung. Aber eben so nat\u00fcrlich ist es, dafs, wer solche Factoren bereits als maafsgebend aufzuzeigen versucht hat, sich durch so unbestimmte Aussichten nicht wird beirren lassen k\u00f6nnen.\n\u00a716. Wahrnehmungsfl\u00fcchtige Gegenst\u00e4nde.\nAls Gesammtergebnifs der bisherigen Untersuchungen in betreff der Wahrnehmbarkeit (resp. Pseudo-Wahrnehmbarkeit) von Acten und Gegenst\u00e4nden d\u00fcrfen wir also festhalten, dafs die innere Wahrnehmung das ihr auf den ersten Blick mit so leichter M\u00fche streitig zu machende Gebiet gegen\u00fcber sorgf\u00e4ltigerer Erw\u00e4gung doch wieder allenthalben behauptet. Zugleich erhebt\n1 Vgl. oben \u00a7 7.\n* Diese Zeitschrift 17, 136.","page":237},{"file":"p0238.txt","language":"de","ocr_de":"238\nA. Meinong.\nsich aber auch die Frage nach den Gr\u00fcnden oder der n\u00e4heren Beschaffenheit des unstreitig vorhandenen Scheines jener Un-Wahrnehmbarkeit, der, wie in fr\u00fcherem Zusammenh\u00e4nge bereits ber\u00fchrt1 2 *, der Psychologie innerhalb wie aufserhalb ihrer Grenzen schon so vielfach verh\u00e4ngnisvoll geworden ist Es giebt ja kein wirksameres Mittel, einem tr\u00fcgerischen Scheine seine Kraft zu nehmen, als Einsicht in seine Natur und Beine wirkliche Bedeutung.\nln diesem Sinne scheint mir ein Umstand Beachtung zu verdienen, der bisher wohl nur deshalb die ihm zukommende Ber\u00fccksichtigung nicht gefunden hat, weil seit den Tagen Des-caetes\u2019 die innere Wahrnehmung stets nur unter dem Gesichtspunkte des erkenntnifstheoretischen Fundamentalprincipes eine mehr oder minder summarische W\u00fcrdigung gefunden hat, von der psychologischen Untersuchung aber ziemlich unber\u00fchrt gebheben ist Vieheicht hat auch gerade die eigenth\u00fcmliche Ausnahmestellung, die dem Wissen aus innerer Wahrnehmung im Vergleich mit ahem anderen Wissen von Existenzen eigen ist, die Meinung beg\u00fcnstigt, als k\u00f6nnte es innerhalb des Bereiches der inneren Wahrnehmung keinerlei Verschiedenheiten mehr geben. Dennoch kann man sich leicht vom Vorhandensein solcher Verschiedenheiten \u00fcberzeugen: sie betreffen zun\u00e4chst weder den Gewifsheits- oder Sicherheitsgrad8, noch die Evidenz der Wahrnehmungsurtheile; wer sich aber gew\u00f6hnt hat, sich unter einem Datum innerer Wahrnehmung sozusagen etwas Starres, Unver\u00e4nderliches zu denken, kann darauf hin gar wohl in Zweifel gerathen, ob und wie lange er es hier noch wirk* lieh mit Daten innerer Wahrnehmung zu thun hat\nWer etwa an einem wolkenlosen Sommertage das Blau des Himmels auf seine Augen wirken l\u00e4fst, wird sich zun\u00e4chst der Wahrnehmung dieses Blau nicht leicht entziehen k\u00f6nnen. Da\u00df ist nat\u00fcrlich noch keine innere Wahrnehmung: ja im Hinblick auf physikalische Bedenken mag man Anstand nehmen, einem so wenig gesicherten Urtheile gegen\u00fcber \u00fcberhaupt von Wahrnehmung zu reden. So lange man sich aber von Gedanken dieser Art aus dem Zustande des Naiven nicht herausdr\u00e4ngen l\u00e4fst, so lange glaubt man jedenfalls an die Existenz dieser\n1\tVgl. oben S. 20\u00d6f.\n2\tVorl\u00e4ufiges \u00fcber diesen Gegensatz habe ich in den Gtitt. Gel. Anz.\n1890, 8. 71 f. mitgetheilt.","page":238},{"file":"p0239.txt","language":"de","ocr_de":"JJeber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnis etc.\t239\nHimmelsbl\u00e4ue; und dafs er daran glaubt, ist auch dem Naiven zur gegebenen Zeit eine sehr leicht zug\u00e4ngliche Erkenntnifs, die nun ihrerseits bereits ohne jeden Zweifel eine Erkenntnifs durch innere Wahrnehmung ist. Weiter kostet es auch gewifs kein Besinnen, dasjenige namhaft zu machen, was an dem Gegenst\u00e4nde einer solchen Erkenntnifs sozusagen zun\u00e4chst in die Augen springt: was man hier durch innere Wahrnehmung mit, man m\u00f6chte fast sagen, un\u00fcbertrefflicher Zuverl\u00e4ssigkeit weifs, ist dies, dafs das, was man sieht, die Himmelsbl\u00e4ue ist, oder vielleicht noch deutlicher: dafs sie eben das ist, was man sieht, eine Wendung, die im gegenw\u00e4rtigen Zusammenh\u00e4nge hoffentlich niemand als blofse Paraphrase des vielberufenen \u201eSatzes der Identit\u00e4t\u201c mifsverstehen wird. Der Schauende kann nun versuchen, sich die Natur dessen, was er als (pseudo-existirendes) Object seines Schauens erkennt (es k\u00f6nnte nat\u00fcrlich eben so gut auch hallueinirt sein, ohne der Richtigkeit der Erkenntnifs aus innerer Wahrnehmung Eintrag zu thun), noch klarer zu machen. Vielleicht wird er dabei zu erheblichen Erfolgen nicht mehr fortschreiten k\u00f6nnen: aber er kann beim Gegenst\u00e4nde seines Schauens praktisch gesprochen verweilen, so lange er will, ohne dafs die Deutlichkeit und Zuverl\u00e4ssigkeit, mit der er \u00fcber den Gegenstand seines Schauens Bescheid weifs, dadurch merklich herabgesetzt w\u00fcrde.\nMan vergleiche dies nun mit der Leistung innerer Wahrnehmung, die seitens desjenigen vorliegt, der einen bestimmten Entschlufs gefafst hat und um diesen Entschlufs, wie das doch die Regel ist, weifs. Ich meine dabei nicht zun\u00e4chst das, was die innere Wahrnehmung in betreff des Gegenstandes eines solchen Entschlusses verr\u00e4th. Trotz der Volksth\u00fcmlichkeit der Wendung: \u201eer weifs nicht, was er will\u201c d\u00fcrfte gerade in dieser Hinsicht der Aufschlufs, den die innere Wahrnehmung giebt, nicht erheblich hinter dem Zur\u00fcckbleiben, was das Beispiel vom blauen Himmel geboten hat, und das eben ber\u00fchrte volksth\u00fcm-liche \u201eNicht-wissen\u201c ist wohl meist ein wenig gl\u00fccklicher Ausdruck f\u00fcr das unmotivirt rasche Wechseln des Begehrungszieles. Nun sagt aber dem Wollenden die innere Wahrnehmung, wie wir wissen, nicht nur, was gewollt wird, sondern auch, ja in gewissem Sinne vor Allem, dafs gewollt wird; der Naive hat auch \u00fcber die Zuverl\u00e4ssigkeit und Bestimmtheit dieses Wissens zu klagen keinen Anlafs. Wenn jedoch etwa der Psycholog","page":239},{"file":"p0240.txt","language":"de","ocr_de":"240\nA. Meinong.\ndaran gehen will, sich die Natur dessen, was ihm da als Wollen vorliegt, \u00e4hnlich klar zu machen wie die Natur dessen, was im ersten Beispiel dem Blicke des Schauenden sich auf dr\u00e4ngte, so ist das Ergebnifs ein wesentlich ung\u00fcnstigeres. Es ist, als ob das zu Untersuchende sich hier um so leichter dem Erkennen entz\u00f6ge, je beharrlicher man auf dessen Erfassung bedacht ist: man findet Gef\u00fchle, wohl auch Vorstellungen, sicher mindestens allerhand Vorstellungsobjecte, und kann, wie das an \u00e4lteren und neueren Theorien des Wollens deutlich geworden ist, am Ende in recht ernste Zweifel gerathen, ob man zu Anfang der Untersuchung ein Wollen wirklich vorgefunden hat.\nWie sehr dem gegen\u00fcber die gesehene Himmelsbl\u00e4ue des ersten Beispieles im Vortheile ist, l\u00e4fst sich nun nicht verkennen. Der Gegensatz k\u00f6nnte aber noch st\u00e4rker zur Geltung gebracht werden, wenn an Stelle des Wollens gewisse intellectuelle Operationen, wie Abstrahiren oder Vergleichen, ja das Urtheilen und am Ende das Vorstellen selbst herangezogen w\u00fcrde. Einigermaafsen ins Klare dar\u00fcber zu kommen, worin dieser Gegensatz seinen Grund hat, ja auch nur worin er eigentlich besteht, w\u00e4re gewifs ein in hohem Grade dankenswertes Unternehmen. Sicher wird die nat\u00fcrliche Unbest\u00e4ndigkeit mancher psychischer Geschehnisse, die so leicht in blos dispositionelle Zust\u00e4nde \u00fcbergehen wie Wollen oder Urtheilen, daran nicht ohne Antheil sein; aber gewifs liegt daran nicht Alles, muthmaafslich auch nicht das Meiste. Vor weiterer Untersuchung klar ist aber die teleologische Seite der Sache, die allgemein in der Behauptung zum Ausdruck zu bringen w\u00e4re, dafe physische immanente Objecte sich normaler Weise der inneren Wahrnehmung gegen\u00fcber im Vergleiche mit psychischen Acten in einer Vorzugsstellung befinden, die nicht sowohl in der Beschaffenheit der auf diese reap, jene gerichteten Wahmehmungs-urtheile, also insbesondere deren Gewifsheit und Evidenz, als in ihrer F\u00e4higkeit zur Geltung kommt, sich dem Wahmehmen und Beachten, wohl gar Beobachten gegen\u00fcber sozusagen zu behaupten. Ich will, was in dieser Weise an den psychischen Acten zu Tage tritt, kurz als deren gr\u00f6fsere Wahrnehmungsfl\u00fcchtigkeit bezeichnen, wobei diesem Worte vorerst keine andere Aufgabe zuf\u00e4llt als die, einen der n\u00e4heren Untersuchung noch bed\u00fcrftigen Thatbestand durch Benennung desselben dieser Untersuchung entgegenzuf\u00fchren. Ob der Terminus verdient,","page":240},{"file":"p0241.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4Unifs etc. 241\nauch \u00fcber eine solche Untersuchung hinaus beibehalten zu werden, das wird mit durch sie festzustellen sein.\nSolche relative Wahrnehmungsfl\u00fcchtigkeit kommt nun aber nicht nur den psychischen Acten zu, sie ist unter Umst\u00e4nden auch an immanenten Gegenst\u00e4nden anzutreffen, eventuell sogar, was im Grunde besonders befremdlich sein k\u00f6nnte, selbst bei jenen Gegenst\u00e4nden, deren Vorzugsstellung gegen\u00fcber der inneren Wahrnehmung oben durch das Beispiel vom Himmelsblau beleuchtet werden sollte. Letzterer Fall tritt dann ein, wenn die betreffenden Objecte nicht Gegenst\u00e4nde von Wahr-nehmung8- sondern von Einbildungsvorstellungen sind. Bekanntlich ist die F\u00e4higkeit, etwa sensible Qualit\u00e4ten einzubilden (ich meine nicht, zu halluciniren, sondern blos Einbildungsvorstellungen derselben zu concipiren), individuell aufserordent-lich verschieden. Gesetzt nun, einer sei seiner F\u00e4higkeit, z. B. Farben einzubilden, v\u00f6llig sicher; dann kann immer noch die in : mehr als einer Hinsicht wichtige Frage aufgeworfen werden, wie lange er eine solche Einbildungsvorstellung, zun\u00e4chst also wieder den Gegenstand derselben, festzuhalten vermag. Zur Beantwortung der Frage l\u00e4fst sich nat\u00fcrlich nur auf experimentellem Wege gelangen : die Aufgabe aber, anzugeben, ob zu bestimmter Zeit der eingebildete Gegenstand als solcher noch gegenw\u00e4rtig sei oder nicht, f\u00e4llt nat\u00fcrlich der inneren Wahrnehmung zu. Nun haben Vor versuche, die im Grazer psychologischen Laboratorium hier\u00fcber angestellt worden sind, allerdings ergeben, dafs die Maximalzeit, w\u00e4hrend welcher ein solches Festhalten sich durchf\u00fchren l\u00e4fst, erstaunlich kurz ist; noch auff\u00e4lliger sind aber die Schwierigkeiten, mit denen das Versuchssubject zu k\u00e4mpfen hat, wenn es den Zeitpunkt, in dem ihm das eingebildete Object eben nicht mehr gegenw\u00e4rtig ist, durch irgend eine Bewegung zu markiren bem\u00fcht ist. Ich kann nicht wohl daran zweifeln, dafs hier Wahrnehmungsfl\u00fcchtigkeit vorliegt, die hier sicher nicht den Act, sondern den (pseudo-existirenden) Gegenstand betrifft, da der Beobachter seine Aufmerksamkeit ganz fraglos zun\u00e4chst dem letzteren zuwendet\nDafs, was eben von physischen Gegenst\u00e4nden gezeigt wurde, noch in weit h\u00f6herem Maafse von psychischen Gegenst\u00e4nden gelten wird, bedarf keiner Ausf\u00fchrung. Dem besonderen Vorwurfe der gegenw\u00e4rtigen Darlegungen steht nun aber ein anderer Fall von Wahmehmungsfl\u00fcchtigkeit bei Gegenst\u00e4nden ungleich\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XXI.\t16","page":241},{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"242\nA. Meinong.\nn\u00e4her. Es handelt sich n\u00e4mlich dabei direct um unsere Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung, wie man leicht genug erfahren kann, wenn man etwa beim Vergleichen eines rothen mit einem gr\u00fcnen Felde sich das Wesen des Verschiedenheitsgedankens klar zu machen sucht. Wer an Verschiedenheit denkt, denkt ohne Zweifel an \u201eetwTas\u201c; indem man nun aber der Natur dieses \u201eetwas\u201c nachzugehen versucht, begegnet es leicht genug, dais -gerade das Gesuchte entschl\u00fcpft und nichts \u00fcbrig bleibt als die beiden Gegenst\u00e4nde Roth und Gr\u00fcn. Aehnliches kann man am Gedanken der Melodie, der Summe, der Unm\u00f6glichkeit, des Zusammenhanges erleben u. s. f. Um ihr Vorhandensein auf directem Wege, durch Wahrnehmung also, zu wissen, f\u00e4llt, so lange das f\u00fcr theoretische Bearbeitung unerl\u00e4fsliche Festhalten nicht erfordert wird, durchaus nicht schwer: beim Versuche des gleichsam innerlich Fixirens versagt die innere Wahrnehmung dagegen nur zu leicht. N\u00e4her ist es hier offenbar in erster Linie die Relation, der die Wahmehmungsfl\u00fcchtigkeit anhaftet: nat\u00fcrlich wird aber die coincidirende Complexion mitbetroffen, wo es gilt, diese im Gegens\u00e4tze zu den sie ausmachenden Gliedern zu erfassen.\nMan wird darauf hin nicht ohne Weiteres behaupten d\u00fcrfen, dafs Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung als solche Wahrnehmung\u00bb-fl\u00fcchtig sind : denn eine Linie, eine continuirlich umgrenzte Figur u. dgl. lassen sich, obwohl es, wie wir wissen, Com-plexionen sind, gar wohl in der inneren Wahrnehmung fest-halten. Dagegen wird man wohl ein Recht haben, Wahr-nehmungsfl\u00fcchtigkeit allen jenen Gegenst\u00e4nden h\u00f6herer Ordnung zuzusprechen, deren n\u00e4chste Inferiora noch nicht gegen einander resp. gegen ihr Superius analysirt sind. Wo Relationen explicite, also nicht etwa nur in den coincidirenden Complexionen, vorgestellt werden, kann erstere Analysirtheit nicht leicht, letztere gar nicht fehlen: Relationen werden also wohl jederzeit wahrnehmungsfl\u00fcchtig sein. Bei Complexionen mit unanalysirten Bestandst\u00fccken hingegen scheint Gleiches niemals der Fall zu sein: es ist, als ob hier die Bestandst\u00fccke an die ihnen gleichsam besonders fest anhaftende Relation etwas von ihrer Wahrnehmungsbest\u00e4ndigkeit abg\u00e4ben, die dann nat\u00fcrlich auch der Complexion als Ganzem zu Statten kommt. Werden die betreffenden Inferiora nachtr\u00e4glich doch einer erfolgreichen Analyse unterworfen, so hat das auch die Wahrnehmungsfl\u00fcchtigkeit des","page":242},{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnis etc. 243\nSuperius zur Folge: nur unanalysirbare Complexionen sind Ver\u00e4nderungen dieser Art augenscheinlich nicht mehr ausgesetzt.\nSo gewifs nun auch in dieser Sache die n\u00e4here Untersuchung noch \u00fcberall aussteht, das Beigebrachte d\u00fcrfte doch ausreichen, den Widerspruch einigermaafsen verst\u00e4ndlich zu machen, in dem der erste Anschein bez\u00fcglich des Competenzbereiches der inneren Wahrnehmung zum Ergebnifs etwas n\u00e4herer Untersuchung steht. Wer auf die Thatsache der Wahrnehmungsfl\u00fcchtigkeit nicht Bedacht nimmt, dem wird in den uns nun etwas n\u00e4her bekannten F\u00e4llen die innere Wahrnehmung geradezu um so gewisser den Dienst versagen, je nachdr\u00fccklicher und hartn\u00e4ckiger er auf ein klares, gegen\u00fcber jedem Nebengedanken gesichertes Erfassen der betreffenden Thatbest\u00e4nde hindr\u00e4ngt.\nDritter Abschnitt.\nUeber das Torstellen nnd Wahrnehmen des zeitlich\nTertheilten.\n\u00a7 17. Fragestellung.\nEs wird der W\u00fcrdigung der Wahmehmungsschwierigkeiten, wie wir sie bei den Gegenst\u00e4nden h\u00f6herer Ordnung angetroffen haben, f\u00f6rderlich sein, nun auch der Thatsache zu gedenken, dafs solche Schwierigkeiten unter Umst\u00e4nden auch bei Inferioren auftreten. Wir bleiben dabei insofern durchaus im Zusammenh\u00e4nge der bisherigen Untersuchungen, als Thatbest\u00e4nden, in denen Inferiora als solche zur Geltung kommen, auch die Superiora als Correlate nicht fehlen k\u00f6nnen, aufserdem aber gerade von solchen F\u00e4llen zu reden ist, wo in der Regel das betreffende Superius die Stellung der Hauptsache einnimmt, d. h. im Centrum der Aufmerksamkeit resp. innerhalb der Urtheils-sph\u00e4re1 sich befindet, indes die zugeh\u00f6rigen Inferiora zun\u00e4chst die Rolle des unentbehrlichen aber meist zur\u00fccktretenden Substrates zu spielen haben.\nN\u00e4her handelt es sich hier insbesondere um solche Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung, deren Inferiora zeitlich auseinander-liegen, wie man f\u00fcrs Erste mit einer sogleich zu verbessernden\n1 Was mich zur Aufstellung dieses Begriffes gef\u00fchrt hat, findet man dargelegt in dieser Zeitschrift 8, 869 ff.\n16*","page":243},{"file":"p0244.txt","language":"de","ocr_de":"244\nA. Meinong.\nUngenauigkeit sagen kann. Als typisches Beispiel kann etwa die Melodie oder sonst einer jener F\u00e4lle dienen, die Ebrentels unter dem Namen der \u201ezeitlichen Gestaltqualit\u00e4ten\u201c zusammengefasst hat1 Besteht die Melodie aus den sie ausmachenden T\u00f6nen, ist es ausgeschlossen, das Superius vorzustellen, ohne die Inferiora, dann kann die Melodie nicht vorgestellt werden, ehe jB\u00e4mmtliche sie ausmachende T\u00f6ne gegeben sind, also wenigstens, wo die Melodie geh\u00f6rt, nicht blos phantasirt wird, nicht vor dem Auftreten des letzten Tones. Aber auch von den vorhergehenden T\u00f6nen scheint keiner fehlen zu d\u00fcrfen, so dafs zum Vorstellen einer Melodie das gleichzeitige Vorstellen s\u00e4mmtlicher sie aus-machender T\u00f6ne unerl\u00e4sslich erscheint Ist dem so, dann haben wir in diesen zugleich vorgestellten T\u00f6nen jedenfalls Gegenst\u00e4nde vor uns, deren Pseudo-Existenz sich der inneren Wahrnehmung, wenn \u00fcberhaupt, so sicherlich nicht ungesucht verr\u00e4th, so dafs diese sich hier den T\u00f6nen gegen\u00fcber schwerlich in g\u00fcnstigerer Lage bef\u00e4nde als gem\u00e4fs fr\u00fcheren Erw\u00e4gungen der Melodie oder anderen Gegenst\u00e4nden h\u00f6herer Ordnung gegen\u00fcber. Ja es kann kaum einem Zweifel unterliegen, dafs hier die innere Wahrnehmung ihr Zeugnifs noch viel beharrlicher weigert, so dafs die Frage, ob die Thatsachen, f\u00fcr die dieses Zeugnifs verlangt wird, \u00fcberhaupt existiren, sich hier ungleich kr\u00e4ftiger Geltung verschafft, als in den bisher besprochenen F\u00e4llen.\nDer Umkreis der hiermit aufgeworfenen quaestio facti betrifft nicht nur die eben ber\u00fchrten \u201ezeitlichen Gestaltqualit\u00e4ten''. Auch wenn man zwei Objecte mit einander vergleicht, begegnet es nicht selten, dafs man eines nach dem anderen vorstellt und sich eines Zugleichvorstellens beider nicht recht besinnen kann. Immerhin aber sind F\u00e4lle, wo die zeitliche Verschiedenheit der Inferiora mehr den Charakter des Zuf\u00e4lligen an sich tr\u00e4gt, die Ausnahmen, oder stellen wenigstens die minder auff\u00e4lligen That-best\u00e4nde dar, so dafs die Untersuchung sich besser zun\u00e4ohst an Inferiora h\u00e4lt, bei denen das Nacheinander in irgend einer Weise zum Wesen der Sache geh\u00f6rt Wir betreten damit das That-sachengebiet, dem Schumann\u2019s oft erw\u00e4hnter Aufsatz schon seinem Titel nach, also in besonders directer Weise gewidmet ist Dafe Schumann jenes Zugleichvorstellen des zeitlich Verschiedenen nicht als Thatsache gelten lassen zu d\u00fcrfen meint, kann nach\n1 Vierteljahrsschr. f. wise. Philos. 1890, 283 ff.","page":244},{"file":"p0245.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnis etc. 245\nFr\u00fcherem Niemanden \u00fcberraschen. Seinen Standpunkt theilt in der Hauptsache W. Stern, der sich durch seine dankenswerten Forschungen \u00fcber das Vorstellen und Beurteilen von Ver\u00e4nderungen 1 ein besonderes Anrecht darauf erworben hat, in dieser Angelegenheit geh\u00f6rt zu werden.\nInzwischen handelt es sich hier nur um Schwierigkeiten, auf die ich bereits in meiner Abhandlung \u00fcber psychische Analyse nachdr\u00fccklich genug hingewiesen zu haben hoffe2 und denen gegen\u00fcber ich dort auch bereits Stellung genommen habe. Dafs ich mich hier gleichwohl nicht begn\u00fcge, auf diese Ausf\u00fchrungen einfach zu verweisen, hat in Unklarheiten seinen Grund, die ich damals, zun\u00e4chst wohl, weil ich Inhalt und Gegenstand noch nicht geh\u00f6rig auseinanderhielt, nicht zu beseitigen vermochte. Vielleicht bin ich jetzt im Stande, das Wesentliche der Sache klarer und darum auch \u00fcberzeugender darzulegen.\n\u00a7 18. Vorstellungs- und Gegenstandszeit Die Zeitvertheilung.\nMehr als bei vielen anderen Dingen h\u00e4ngt hier die Einsicht in die Sachlage an der Sorgfalt und Pr\u00e4cision im Durchdenken der hier mafsgebenden Begriffe. Dafs derartige Bem\u00fchungen solchen, denen sie, gleichviel weshalb, zu anstrengend sind, f\u00fcr \u201escholastisch\u201c gelten, weifs ich: aber es w\u00e4re am Ende doch ein seltsames Vorrecht, wenn die Psychologie oder ihr verwandte Wissenschaften es wirklich dem Belieben des Forschers freistellten, sich die Arbeit nach Wunsch leicht zu machen.\nVor Allem wichtig scheint mir die ausreichende Beachtung der bereits im Analysen-Aufsatze hervorgehobenen Thatsache, dafs, wo vorgestellt wird, das Zeitmoment in mehr als einer Weise betheiligt sein kann. Ich habe dies durch den terminologischen Gegensatz zwischen \u201e\u00e4ufserer\u201c und \u201einnerer Vorstellungszeit\u201c zum Ausdruck zu bringen versucht3; aber die sonst schon viel gebrauchte Gegen\u00fcberstellung von Aufsen und Innen scheint gerade hier den charakterisirenden Werth nicht zu haben, den ich ihr beimafs. Ueberdies aber stehen mir heute, wie ich hoffe,\n1 Eigentlich mehr noch als dessen \u201ePsychologie der Ver\u00e4nderung\u00bb-auffassung\u201c kommt f\u00fcr den gegew\u00e4rtigen Zusammenhang in Frage dessen Abhandlung \u201ePsychische Pr\u00e4senzzeit\u201c, diese Zeitschrift 13, 325 fl.\n* Diese Zeischrift 0, 444 ff.\n8 A. a. O. S. 438 f.","page":245},{"file":"p0246.txt","language":"de","ocr_de":"246\nA, Meinong.\ndie terminologischen H\u00fclfsmittel zu Gebote, unter deren Anwendung sich ohne blos symbolischen Wortgebrauch und wohl auch richtiger als durch diesen sagen l\u00e4fst, worauf es hier eigentlich ankommt\nH\u00e4lt man, wie wir es oben gethan haben, an jeder Vor-stellungsthatsache Act, Inhalt und Gegenstand auseinander, so ergiebt dies vorerst rein \u00e4ufserlich die M\u00f6glichkeit, bei einer Vor-stellungsthatsache sozusagen an drei verschiedenen Stellen derselben von Zeit zu reden. Da nichts existirt, ohne zu bestimmter Zeit zu existiren, so giebt es auch keinen Vorstellungsact, dem die Zeitbestimmung fehlte, ebenso wenig nat\u00fcrlich einen solchen Vorstellungsinhalt, nur dafs man es sofort als selbstverst\u00e4ndlich betrachten wird, dafs die Zeitbestimmung des Actes und des zugeh\u00f6rigen Inhaltes zusammenf\u00e4llt Mufs ich sonach, wenn ich vorstelle, zu bestimmter Zeit vorstellen, so mufs ich doch, wie ich seinerzeit dargethan habe1, nicht geradezu jedesmal das, was ich vorstelle, in zeitlicher Bestimmtheit vorstellen; immerhin wird es aber sehr h\u00e4ufig geschehen, und gerade mit F\u00e4llen dieser Art haben wir es im Folgenden zun\u00e4chst zu thun. Wir k\u00f6nnen also ohne Gefahr irgend eines Mifsverst\u00e4ndnisses von Actzeit, Inhaltszeit und Gegenstandszeit reden, wenn wir uns nur h\u00fcten, unter der letzteren etwa die Zeit zu verstehen, zu der der Vorstellungsgegenstand pseudo-existirt. Um indefs auch f\u00fcr diese, im Principe zun\u00e4chst vierte Zeitbestimmung nicht ohne jeden Ausdruck zu sein, wollen wir diese Zeit f\u00fcr den Ausnahmefall, dass auch von ihr ausdr\u00fccklich gesprochen werden mufs, als Pseudo-Gegenstandszeit bezeichnen.\nDie Complication, die in diesem Auseinanderhalten von nicht weniger als viererlei Zeitbestimmungen gelegen scheint, verschwindet zu einem guten Theile, wenn man das thats\u00e4chliche Verh\u00e4ltnifs dieser Zeitbestimmungen zu einander in R\u00fccksicht zieht. Ist es richtig, dafs, wie eben ber\u00fchrt, Actzeit und Inhaltszeit unvermeidlich zusammenfallen \u2014 wir kommen \u00fcbrigens auf diesen Punkt noch einmal zur\u00fcck \u2014 dann kann man diese beiden Bestimmungen ohne Schaden unter dem einen Namen \u201eVorstellungszeit\u201c zusammennehmen. Was aber eben als Pseudo-Gegenstandszeit benannt wurde, ist in Wahrheit nichts weiter als noch einmal die Inhalts- also die Vorstellungszeit; denn die\n1 A. a. O. S. 447 ff.","page":246},{"file":"p0247.txt","language":"de","ocr_de":"Heber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnis etc. 247\nZeit, da das Vorgestellte \u201ein der Vorstellung existirt\u201c, somit, wie wir wissen, pseudo-existirt, ist eben die Zeit, da das Betreffende vorgestellt wird. So steht der Vorstellungszeit eigentlich nur noch die Gegenstandszeit gegen\u00fcber1, und hier ist von einer nothwendigen oder auch nur die Regel ausmachenden Goincidenz dieser beiden Zeiten ganz und gar keine Rede. Der Beweis liegt in der trivialen Thatsache, dafs ich jetzt nicht nur Gegenw\u00e4rtiges, sondern auch Vergangenes und K\u00fcnftiges, n\u00e4mlich etwas als vergangen bezw. als k\u00fcnftig vorstellen kann. Die Frage nun, ob die hiermit erwiesene Unabh\u00e4ngigkeit der Gegenstandszeit von der Vorstellungszeit gewisse Grenzen hat, ist eigentlich das, was uns im gegenw\u00e4rtigen Zusammenh\u00e4nge etwas n\u00e4her besch\u00e4ftigen mufs.\nMit den Zeitbestimmungen, von denen bisher ausschliefslich die Rede war, sind jene punctuellen Daten gemeint, die sich zur Zeitstrecke in analoger Weise verhalten, wie die punctuellen Raumdaten, die Ortsbestimmungen, zur Raumstrecke. Das Ver-h\u00e4ltnifs zwischen Vorstellungs- und Gegenstandszeit betrifft aber, nat\u00fcrlich auch die Zeitstrecken. Zu einer pr\u00e4cisen Fragestellung in dieser Richtung f\u00fchrt die Ber\u00fccksichtigung des gleichfalls bereits in der Abhandlung \u00fcber psychische Analyse2 hervorgehobenen Unterschiedes zwischen Vorstellungsgegenst\u00e4nden oder auch Wirklichkeiten, deren Natur einer Zeitstrecke bedarf, Um sich zu entfalten, gegen\u00fcber solchen, deren Charakteristik sich in einem einzigen Zeitpunkte, einem zeitlichen Querschnitte gleichsam, zusammengedr\u00e4ngt findet, ohne nat\u00fcrlich der Gebundenheit dieses Schnittpunktes an eine Zeitstrecke irgendwie zu pr\u00e4judiciren. Es liegt nahe f\u00fcr Thatsachen, bezw. Gegenst\u00e4nde dieser Art die Bezeichnungen \u201eStreckenthatsache und Punktthatsache\u201c, bezw. \u201eStreckengegenstand und Punktgegenstand\u201c vorzuschlagen, erforderlichen Falles noch versehen mit einer den zeitlichen Charakter dieses Gegensatzes andeutenden Bestimmung, da das Analogon desselben auch auf r\u00e4umlichem Gebiete nicht fehlt Aber solche Benennung w\u00e4re undeutlich : kann man weder dem Raumpunkte noch dem Zeitpunkte als solchen Existenz beimessen, so bleibt es immer mifsverst\u00e4ndlich, ein Wirkliches im Raume resp. in\n1 Uebereinstimmend unterscheidet H\u00f6fler (Psychologie S. 352) \u201eZeit des Actes\u201c und \u201eZeit des Inhaltes\u201c indem er noch \u201eInhalt\u201c sagt, wo richtiger \u201eGegenstand\u201c zu sagen w\u00e4re.\n* A. a. O. S. 448.","page":247},{"file":"p0248.txt","language":"de","ocr_de":"248\nA. Meinong.\nder Zeit, das insofern jedenfalls streckenhaft ist, als punctuell zu bezeichnen. Dagegen m\u00f6chte der Kern des in Rede stehenden Gegensatzes zwar nicht darin zu suchen sein, ob der Gegenstand eine Zeitstrecke einnimmt, denn die nimmt er immer ein1, wohl aber darin, ob und wie der Gegenstand in dieser Zeitstrecke vertheilt ist. Der Farbe, dem Tone als solchem fehlt solche Vertheilung: der Melodie, dem Farbenwandel kommt sie in bestimmter Weise zu. Redet man aber einmal von einem andauernd erklingenden Tone, von einer unver\u00e4ndert bleibenden Farbe, so ist auch das ein Fall von Zeitvertheilung, so gewifs nicht nur Bewegung sondern auch Ruhe einen Fall von Zeitvertheilung darstellt. Ich stelle in diesem Sinne im Folgenden den zeitlich distribuirten oder zeitvertheilten Gegenst\u00e4nden resp. Thatsachen zeitlich in dis tribuirte gegen\u00fcber: eine analoge Unterscheidung in Betreff r\u00e4umlicher Vertheilung ist nat\u00fcrlich innerhalb der engeren Grenzen des einer r\u00e4umlichen Bestimmung \u00fcberhaupt Zug\u00e4nglichen ebenso anwendbar, wird uns aber im Weiteren nicht zu besch\u00e4ftigen brauchen, so dass im gegenw\u00e4rtigen Zusammenh\u00e4nge f\u00fcr \u201ezeitlich distribuirt\u201c auch wohl kurzweg \u201edistribuirt\u201c wird gesagt werden k\u00f6nnen. Diese Ausdrucksweise vorausgesetzt, l\u00e4fst sich das Hauptproblem des Verh\u00e4ltnisses von Gegenstands- zu Vorstellungszeit in die Frage fassen: kann oder mufs wohl gar die Vorstellung eines distribuirten Gegenstandes selbst eine distribuirte Thatsache sein?\nIm Grunde ist freilich auch diese Formulirang f\u00fcr unsere Bed\u00fcrfnisse noch zu allgemein. Es k\u00f6nnte ja sehr wohl sein, dafs die Vorstellung was immer f\u00fcr eines Gegenstandes nach ihren den Gegenstand nicht betreffenden, also ihren aufserinhalt-lichen Eigenschaften einen charakteristischen Verlauf zeigt, dem-gem\u00e4fs sie aufserinhaltlich f\u00fcr distribuirt gelten mufs. Was f\u00fcr uns Wichtigkeit hat, ist dagegen, wie es in dieser Hinsicht mit dem Inhalte bewandt ist, wenn der dem Inhalte doch in gewisser Weise correlative Gegenstand eine charakteristische Zeitvertheilung aufweist Man k\u00f6nnte auch so fragen : wenn ein zeitlich distribuirter Gegenstand vorgestellt werden soll, kann oder mufs dem Nacheinander des Gegenstandes ein Nacheinander des Inhaltes entsprechen? \u2014 oder k\u00fcrzer, obwohl nun wieder\n1 Deshalb ist auch Ehbsnfkls\u2019 Gegen\u00fcberstellung des Zeitlichen und Unzeitlichen hier nicht einfach her\u00fcberzunehmen.","page":248},{"file":"p0249.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnifs etc. 249\nundeutlich: ist Zeit erforderlich, um ein zeitlich Ausgedehntes vorzustellen ?\n\u00a7 19. Distribuirte Gegenst\u00e4nde gegen\u00fcber distribuirten Inhalten.\nVersucht man, was an und f\u00fcr sich gewifs correct ist, die Frage empirisch an der Hand irgend eines concreten Beispiels zu entscheiden, so scheint sich die Antwort so ungezwungen einzustellen, als l\u00e4ge hier \u00fcberhaupt kein Problem vor. Es handle sich etwa darum, eine Bewegung vorzustellen. Man wird zu einer solchen Vorstellung h\u00e4ufig am besten dadurch gelangen, dafs man einer sich wirklich vollziehenden Bewegung mit dem Blicke folgt; je nach den Orten, die das Bewegte zu verschiedenen Zeiten einnimmt, erh\u00e4lt der Beschauer ann\u00e4hernd zu den n\u00e4mlichen Zeiten entsprechend verschiedene Empfindungen, und ist die letzte dieser Empfindungen vor\u00fcber, dann hat der Beobachter eben auch aufgeh\u00f6rt, die Bewegung zu sehen. Mit der Gegenstandszeit geht hier also allem Anscheine nach die Inhaltszeit durchaus parallel ; es scheint ausgeschlossen, letztere auf einen Punkt zusammenzudr\u00e4ngen. So weit geht hier der Parallelismus, dafs Gegenstands- und Vorstellungszeit hier geradezu ungef\u00e4hr zu coincidiren scheinen. Dafs dem nicht \u00fcberall so ist, lehrt nun freilich die Empirie schon am wachen \\ noch deutlicher am tr\u00e4umenden Subject2; aber das scheint vorerst doch nur darauf hinzuweisen, dafs jener Parallelismus zwischen den beiden Zeiten sich in verschiedenen F\u00e4llen durch verschiedene Weisen functio-neller Abh\u00e4ngigkeit der einen Zeit von der anderen bestimmt, dafs jedoch \u00fcbrigens jedenfalls und der Natur der Sache nach der gegenst\u00e4ndlichen Strecke stets eine inhaltliche Strecke gegen\u00fcbersteht.\nEs bleibt, seltsamerweise, m\u00f6chte man fast sagen, erst einer apriorischen Erw\u00e4gung \u00fcberlassen, den hier der Empirie anhaftenden Schein der Einfachheit und Selbstverst\u00e4ndlichkeit zu zerst\u00f6ren: \u00fcbrigens aber ist diese Erw\u00e4gung selbst der einfachsten und durchsichtigsten eine. Greifen wir, um hier\u00fcber ins Reine zu kommen, noch einmal auf das Beispiel von der\n1 Ygl. H\u00f6flek, Psychologie S. 362 f.\n3 Ein Beispiel, \u00fcbrigens kaum eines der auffallendsten, berichtet I*. W. 8tibn in dieser Zeitschr. 13, 336.","page":249},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"250\nA. Meinong.\ngesehenen Bewegung zur\u00fcck. Eine Kugel z. B. durchlaufe in der Zeit TT1 eine Wegstrecke OO: das Wahmehmen dieser Bewegung aber bestehe darin, dafs ungef\u00e4hr gleichzeitig die durch das jeweilige Zusammengegebensein gewisser Orts und Zeitbestimmungen, also gewisser 0 mit gewissen T charakterisirten Zust\u00e4nde unserer Kugel, z. B. 01 Tr, 0\u201e T2 u. s. f. hinter einander (in WahrnehmungsVorstellungen) vorgestellt werden. Bezeichnen wir die in dieser Weise nach einander pseudo-existirenden Vorstellungsgegenst\u00e4nde mit den entsprechenden kleinen Buchstaben, so k\u00f6nnen wir die Weise, wie diese Pseudo-Existenzen sich auf die Zeitstrecke TT4 vertheilen, durch zwei parallele Linien veranschaulichen, auf deren unterer etwa die Punkte der wirklich ablaufenden Zeit, auf deren oberer die zur\n0 \u00a3 _ \u00b0l ____Oj tg\t______0% t3__Ol tj_____________\nT_______:_____ :_________________:_______i_______________T\n1\\\tT9\tT9\tTi\nbetreffenden Zeit pseudo-existirenden Vorstellungsobjecte nach den uns zun\u00e4chst wesentlichen Bestimmungen vertheilt sind. Fassen wir hier etwa die Zeitstrecke T1Ti ins Auge, so erhellt unmittelbar, dafs innerhalb derselben besten Falles nur die Gegenstandsstrecke von oytx bis oJ2 zur Geltung kommt, nicht aber irgend ein fr\u00fcherer oder gar sp\u00e4terer Theil der Gesammt-strecke. Ebenso wird in der Zeitstrecke T% T4 h\u00f6chstens die Strecke osts bis vorgestellt Man hat also schon deshalb kein Recht, die Zeitstrecke TT als Vorstellungszeit f\u00fcr die Vorstellung des Gegenstandes oo\u2018 oder tt* anzusprechen, da diese Gesammt-Strecken thats\u00e4chlich in der betreffenden Zeit unter den gegebenen Voraussetzungen gar nicht vorgestellt werden. Dies wird noch auff\u00e4lliger, wenn man erw\u00e4gt, dafs, was eben als \u201ebesten Falles\u201c zutreffend bezeichnet worden ist, n\u00e4her besehen \u00fcberhaupt nicht zutrifft. Denn was eben von der ganzen Zeitstrecke TT dargethan wurde, gilt nat\u00fcrlich in bekannterWeise nun auch wieder von beliebig kleinen Theilstrecken, so dafs die letzte Con-sequenz der in Rede stehenden Auffassung die ist, dafs \u00fcberhaupt keine Strecke vorgestellt wird, sondern blos in jedem Punkte der Zeitstrecke TT ein anderer Punkt der Gegenstands*","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnifs etc. 251\nstrecke ttf bez. oo*. Und was hier unter Zugrundelegung des einfachsten Verh\u00e4ltnisses zwischen Vorstellungs- und Gegen-Standszeit dargelegt wurde, gilt nat\u00fcrlich auch von jedem anderen Verh\u00e4ltnisse, das darauf hinausl\u00e4uft, die Gegenstandszeit auf die Th eilstrecken, ja schliefslich auf die Punkte der Vorstellungszeit aufzutheilen, gleichviel, wie diese Auftheilung sich sonst vollziehen mag. Man sieht daraus, dafs der zun\u00e4chst so selbstverst\u00e4ndlich aussehenden Annahme, zum distribuirten Gegenst\u00e4nde m\u00fcsse eine distribuirte Vorstellung geh\u00f6ren, so viel Schwierigkeiten im Wege stehen, dafs man, wenigstens f\u00fcr F\u00e4lle der eben betrachteten Art, gar nicht zugeben darf, dafs dies \u00fcberhaupt m\u00f6glich ist\nFreilich kann man f\u00fcrs Erste versuchen, diese Consequenz durch Hinweis auf fernere und n\u00e4here Analogien abzulehnen. Die Kugel, von der eben im Beispiele die Rede war, durchmifst ein St\u00fcck ihres Weges nach dem anderen: und doch tr\u00e4gt niemand Bedenken zu sagen, sie habe in der Zeit TT* den Weg 00* durchlaufen. Auch von einem Buche sagt man unbedenklich, man habe es ganz durchgelesen, wenn man eine Seite um die andere durchgelesen hat. Man kann in diesem Falle auch mit ziemlicher Richtigkeit behaupten, man habe alle Zeilen, oder auch alle Buchstaben in den Zeilen gesehen, und dafs dabei die Buchstaben alle zugleich existiren, ist unwesentlich : derselbe Erfolg h\u00e4tte sich in der Hauptsache auch eingestellt, wenn etwa ein Buchstabe nach dem anderen isolirt in unser Gesichtsfeld getreten w\u00e4re. Wie kommt es, darf man billig fragen, dafs in allen F\u00e4llen dieser Art die an der obigen schematischen Figur gekennzeichnete Schwierigkeit nicht zur Geltung kommt ? Allein die Antwort liegt hier sofort zu Tage: man kann ja Gr\u00fcnde haben, unter dem Namen Eines Gegenstandes zu vereinigen, was in Wahrheit nichts als ein objectives Collectiv von Gegenst\u00e4nden ist; und liegen diese zeitlich auseinander, dann steht auch dem successiven Erfassen dieser Einzelgegenst\u00e4nde und damit auch dem successiven Erfassen des im Grunde nur con-ventionell so genannten Einen Gegenstandes nichts im Wege. Handelt es sich dagegen um einen wirklich einheitlichen Gegenstand mit successiven Theilen, dann kann successives Vorstellen eben nur die Theile erfassen, nicht aber das Ganze, so dafs sich allgemein behaupten l\u00e4fst : distribuirte Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung k\u00f6nnen nur mittels indistribuirter Inhalte vorgestellt","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252\nA. Mtinong.\nwerden; die zeitlich verschieden bestimmten Inferiora m\u00fcssen dem Vorstellen zugleich, wenn auch nat\u00fcrlich nicht als gleichzeitig, gegeben sein.\nMan wird vielleicht einwenden, dafs, wer die blofse Succession der Vorstellungen von den Inferioren f\u00fcr unzureichend erkannt hat, noch keineswegs auf die Annahme simultanen Vorstellens derselben angewiesen sei. Es handelt sich ja auch hier wie bei allen Superioren, zun\u00e4chst um ein Uebereinstimmendes auch f\u00fcr den Fall, dafs die Inferiora wechseln: k\u00f6nnte dieses Ueberein-stimmende nicht in einer charakteristischen Relation zwischen den zeitlich an einander stofsenden Inferiorenvorstellungen bestehen? Die Annahme von Realrelationen zwischen Gliedern, deren eines dem anderen zeitlich folgt, wird ja auch aus anderen Gr\u00fcnden kaum zu vermeiden sein. Gleichwohl ist dieses Auskunftsmittel unzureichend: das Superius ist ja, wie bereits im zweiten Abschnitte zu erw\u00e4gen war, gegenst\u00e4ndlich mehr als das objective Collectiv der Inferiora. Es gen\u00fcgt nicht, dafs der psychische Zustand dessen, der die Melodie vorstellt, irgendwie verschieden ist vom Zustande dessen, der blos die einzelnen T\u00f6ne hinter einander vorstellt: das, worin diese Verschiedenheit begr\u00fcndet ist, mufs vielmehr innerhalb der Sph\u00e4re dessen liegen, was er thats\u00e4chlich vorstellt. Ueber die Realrelation zwischen den succedirenden Vorstellungen k\u00f6nnte ihn freilich allenfalls die innere Wahrnehmung unterrichten: aber abgesehen von der Unnat\u00fcrlichkeit, etwa zum Vorstellen einer Melodie die innere Wahrnehmung heranzuziehen, w\u00e4re damit das ganze Problem nur zur\u00fcckgeschoben. Es k\u00e4me ja wieder darauf an, in welcher Weise nun die Relation zwischen succedirenden Gliedern seitens der inneren Wahrnehmung zu erfassen w\u00e4re, ob durch blos successives Vorstellen der beiden Vorstellungen, oder, da solche erwiesener Maafsen nicht gen\u00fcgt, in welcher Weise sonst\nNun k\u00f6nnte es aber auch noch einen Ausweg zu geben scheinen, bei dem nichts Aufsergegenst\u00e4ndliches herangezogen wird. Folgt einer Wahmehmungs vor Stellung des Gegenstandes A eine solche des Gegenstandes B, dann kann das Subject durch das Vorstellen des A immer derart dispositionell modificirt sein, dafs diese Ver\u00e4nderung sich nun am Gegenst\u00e4nde B durch irgend einen gegenst\u00e4ndlichen Zusatz geltend macht. Aehnliches k\u00f6nnte sich auch zutragen, wenn A und B als Gegenst\u00e4nde von Einbildungsvorstellungen auf treten. Auch die Anzahl der successiv","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnifs etc. 253\nvorgestellten Gegenst\u00e4nde kann beliebig grofs angenommen werden. Das Vorstellen des distribuirten Superius best\u00e4nde dann entweder im Vorstellen dieses am Ende der Succession auftretenden Zusatzgegenstandes, oder auch im Vorstellen erst der Inferiors und dann jenes Zusatzes etwa zugleich mit dem letzten -Inferius. Der Gedanke entbehrt keineswegs guter empirischer Grundlagen; und schon vorg\u00e4ngig ist ja kaum zu bezweifeln, dafs bei succedirenden Vorstellungen der Einflufs der Ante-cedentien auch gegenst\u00e4ndlich zur Geltung kommt Gleichwohl kann der gesuchte Gegenstand h\u00f6herer Ordnung darin nicht gelegen sein: denn es ist unm\u00f6glich, ein Superius vorzustellen, wenn dessen Inferiors oder auch nur einige davon nicht vorgestellt werden. F\u00fcr CompJexionen, die uns hier zun\u00e4chst angehen, ist das besonders handgreiflich, weil die Bestandst\u00fccke hier geradezu als wesentliche Theile in das Superius eingehen. Aber auch in betreff der Relationsvorstellungen ist deren nat\u00fcrliche Unselbst\u00e4ndigkeit gegen\u00fcber den Gliedvorstellungen unmittelbar einleuchtend. Ist dem aber so, dann ist ein gegenst\u00e4ndliches Moment, das am Ende einer Succession pseudo-existirt, ohne dafs die vorher vorgestellten Gegenst\u00e4nde mehr pseudo-existiren, in keinem Falle der Gegenstand h\u00f6herer Ordnung, der diese Gegenst\u00e4nde zu Inferioren hat.1\nNoch weitere discutirbare Annahmen stehen, so viel ich sehe, nicht zu Gebote. Denn etwa auf die oben zun\u00e4chst blos schematisch vorgenommene Unterscheidung zwischen Actzeit und Inhaltszeit zur\u00fcckzugreifen, um darauf hin zu vermuthen, die Buccedirenden Theilgegenst\u00e4nde m\u00fcfsten freilich simultan vorge-stellt werden, dies aber k\u00f6nne mit H\u00fclfe entsprechend suece-dirender Inhalte geschehen, \u2014 derlei bietet sich doch schon dem ersten Blick als allzu aussichtslos dar. So viel auch der Gedanke des Vorstellungsinhaltes noch an theoretischer Sch\u00e4rfe zu w\u00fcnschen \u00fcbrig lassen mag, das Eine ist klar, dafs die Relation zwischen Act und Inhalt, mag man sie auch noch so\n1 Mit Recht stellt darum L. W. Stbbn in seiner \u201ePsychologie der Ver-ftnderungsauffassung\u201c der \u201edirecten Ver\u00e4nderungsauffassung\u201c die \u201eUeber-gangszeichen\u201c gegen\u00fcber. Die Ver\u00e4nderung des A in B kann ich aus einem Zeichen erschliefsen, in dem vielleicht nur B, vielleicht auch nicht einmal dieses enthalten ist. Das Superius \u201eVer\u00e4nderung des A in B\u201c aber kann ich nicht vorstellen, noch weniger wahrnehmen, wenn nicht beide Inferiora mitvorgestellt, bez. mitwahrgenommen werden k\u00f6nnen.","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254\nA. Meinong.\n\u00e4ufserlich fassen, eine zeitliche Verschiedenheit zwischen ihren Gliedern unter keiner Bedingung gestattet: es w\u00e4re einfach ah surd, einer Vorstellung, die existirt, einen Inhalt zuzuschreiben, der nicht existirt\nSo mufs denn die oben aufgeworfene Frage, ob zeitlieb distribuirte Gegenst\u00e4nde als solche distribuirte Vorstellungen gestatten oder verlangen, f\u00fcr Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung endg\u00fcltig mit Nein beantwortet werden. Die entscheidenden Gr\u00fcnde hierf\u00fcr liegen, wie wir sahen, einmal darin, dafs das Superius mehr ist als das objective Collectiv der Inferiora, dann darin, dafs das Superius nicht vorgestellt werden kann, ohne dafs die Inferiora vorgestellt werden. Dafs Act und Inhalt einer Vorstellung nicht zeitlich auseinander liegen k\u00f6nnen, braucht dann kaum noch besonders in R\u00fccksicht gezogen zu werden. Wir gelangen damit zu dem Ergebnifs, dafs, was die directe Empirie in betreff der Beschaffenheit der Vorstellungen des Successiven auf den ersten Blick wahrscheinlich macht, der Wahrheit nicht gem\u00e4fs ist: die Theorie hat nun zu versuchen, dem als tr\u00fcgend erkannten Schein nun auch eine positive Charakteristik der Sachlage gegen\u00fcber zu stellen.\nDen n\u00e4chsten nat\u00fcrlichen Anhalt f\u00fcr eine vorerst freilich noch recht d\u00fcrftige Conception gew\u00e4hrt hier jenes Erfahrunga-material, von dem wir eben gesehen haben, dafs es nicht im Sinne eines Parallelismus zwischen Gegenstandszeit und Vorstellungszeit gedeutet werden darf. Soll ich eine Melodie, die aus den T\u00f6nen A, B, C, D besteht, anschaulich vorstellen, so ist der nat\u00fcrlichste Weg hierzu das H\u00f6ren der betreffenden T\u00f6ne in der richtigen Aufeinanderfolge: auch das blose Einbilden einer Melodie wird beim Einbilden der einzelnen T\u00f6ne in richtiger Folge seinen nat\u00fcrlichen Anfang nehmen. F\u00fcr F\u00e4lle dieser Art ergiebt sich nun ganz von selbst, dafs die Vorstellung der Melodie der des letzten Tones keinesfalls vorangehen, wohl aber ihr nachfolgen kann. Weiter ist die schliefslich erforderliche Gleichzeitigkeit der Tonvorstellungen, die simultane Pseudo-Existenz der vorgestellten T\u00f6ne, kaum anders zu Stande gekommen anzunehmen als durch entsprechende Nachdauer der betreffenden Tonvorstellungen. Diese Nachdauer aber und die durch sie zuletzt erzielte Simultaneit\u00e4t ist auch wieder nicht so zu denken, als ob dann am Ende alle T\u00f6ne der Melodie zusammenkl\u00e4ngen: noch weniger d\u00fcrfte sich etwa ein Farbenwandel","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung, und deren Verh\u00e4ltnifs etc. 255\nals Mischfarbe oder gar eine r\u00e4umliche Bewegung als das Unding eines sich an mehreren Orten zugleich befindlichen Dinges darstellen. Vielmehr mufs an den nachdauemden Inferioravor-stellungen die Zeitlage ihrer Gegenst\u00e4nde zu einander und eventuell auch zum Zeitpunkte des Vorstellens irgendwie zur Geltung kommen; ich stelle dann die T\u00f6ne der Melodie zwar zugleich vor, doch nicht als zugleich; eventuell erscheint mir aufserdem die Melodie auch noch als mehr oder weniger vergangen. In betreff der Art und Weise, wie ein solcher Erfolg erzielt zu denken w\u00e4re, habe ich bereits im Analysenartikel Einiges deutlicher zu machen versucht1 : so d\u00fcrftig der Versuch ausgefallen ist, hier w\u00e4re nicht der Ort, daran zu bessern.2 Denn das, worauf es hier zun\u00e4chst ankommt, die unerl\u00e4fsliche Simultaneit\u00e4t der Vorstellungen successiver Inferiora, ist, wie wir sahen, durch Erw\u00e4gungen gesichert, deren Stringenz durchaus unabh\u00e4ngig ist von dem Maafse, in dem es gelingt, sich den n\u00e4heren Sachverhalt mit w\u00fcnschenswerter Anschaulichkeit vorstellig zu machen.\nDie\u201c bisherigen Ausf\u00fchrungen betrafen, wie eingangs bemerkt, Gegenst\u00e4nde, an deren Inferioren die (unter einander verschiedenen) Zeitbestimmungen direct als Bestandst\u00fccke dieser Inferiora betheiligt sind. Es bedarf nun keiner besonderen Begr\u00fcndung mehr, warum das Gesagte auch dann seine Geltung beh\u00e4lt, wenn Umst\u00e4nde, die zun\u00e4chst nicht innerhalb sondern aufserhalb der betreffenden Inferiora liegen, die Eventualit\u00e4t einer blos successiven Erfassung dieser Inferiora der Erw\u00e4gung aufdr\u00e4ngen. Soll ich zwei Farben oder T\u00f6ne vergleichen, so werde ich es in der Regel darauf anlegen, die beiden Gegenst\u00e4nde hinter einander zur Vorstellung zu bringen, mufs sie aber darum noch gar nicht als hinter einander vorstellen, sei es, dafs ich weifs, dafs die betreffenden Wirklichkeiten thats\u00e4chlich simultan existiren, sei es, dafs mich ihre Zeit \u00fcberhaupt nicht interessirt, ihre thats\u00e4chliche Aufeinanderfolge also eine zuf\u00e4llige ist. Wir k\u00f6nnen kurz auch so sagen: die Gegenstandszeit der Inferiora ist hier die n\u00e4mliche, falls sie nicht etwa v\u00f6llig aufser Betracht bleibt; aber die Vorstellungszeit der Inferiora scheint zun\u00e4chst verschieden und dies legt auch hier den Gedanken nahe, in der Succession des Vorstellens der Inferiora auch das Erfassen des\n1 Vgl. diese Zeitschr. 6, 443 ff.\n9 Vgl. einstweilen H\u00f6flek, Psychologie S. 195, 355 f.","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256\nA. M\u00e0nong,\nSuperius f\u00fcr beschlossen zu halten. Nun ist aber hier das Superius nicht einmal ein distribuirter Gegenstand: die Vorstellung dieses Gegenstandes kann also hier ihrem Inhalte nach sozusagen a potiori keine distribuirte Thatsache sein. Damit ist dann aber auch ganz im Sinne des oben Dargelegten mit gew\u00e4hrleistet, dafs zur Zeit, da das Superius vorgestellt wird, beide oder allgemein eben s\u00e4mmtliche Inferior\u00bb simultan vorgestellt werden m\u00fcssen.\n\u00a7 20. Polemische Nachtr\u00e4ge.\nWie man sieht, sind wir sonach doch zu eben der Position gelangt, die Sch\u00fcmann und Steen bek\u00e4mpfen. Was ich Beiden entgegenzuhalten habe, d\u00fcrfte im Wesentlichen durch das Obige klar genug geworden sein, um nun nur noch einiger Nachtr\u00e4ge zu bed\u00fcrfen.\nWas ich an den Darlegungen beider Autoren als eigentlichen, fundamentalen Mangel versp\u00fcre, ist dies, dafs sie die oben als mehr apriorisch denn empirisch bezeichneten Erw\u00e4gungen gar nicht in den Kreis ihrer Untersuchungen einbezogen haben. Dafs der in der n\u00e4chsten Empirie gelegene Anschein f\u00fcr die Simultaneit\u00e4tsposition eher ung\u00fcnstig als g\u00fcnstig ist, dar\u00fcber hat sich wohl kein Vertreter dieser Position T\u00e4uschungen hin-gegeben. Wem gleichwohl diese Position durch andere Gr\u00fcnde aufgezwungen ist, der bedarf einer Entkr\u00e4ftung dieser Gr\u00fcnde, nicht aber des neuerlichen Hinweises darauf, dafs, sofern diese Gr\u00fcnde nicht ber\u00fccksichtigt werden, man auch mit einfacheren Mitteln sein Auslangen finden k\u00f6nnte.\nSchumann im Besonderen concedirt die Unerl\u00e4fslichkeit der Simultaneit\u00e4t f\u00fcr denjenigen, der annimmt, dafs das Beurtheilte in das Urtheil \u201eeingeschlossen\u201c sei.1 Ich habe ber\u00fchrt, warum ich dies, das Wort \u201eEinschlufs\u201c ausreichend bildlich verstanden, annehmen mufs. Aber ich habe bei der obigen Begr\u00fcndung der Simultaneit\u00e4tsthese immer nur vom Vorstellen, in keiner Weise vom Urtheilen zu reden n\u00f6thig gehabt; und dafs das Vorstellen seinen (pseudo-existireriden, \u201eimmanenten\u201c) Gegenstand \u201eein-schliefse\u201c, trivial gesagt, dafs das Vorstellen nicht zu einer Zeit jr, das Vorgestellte zu einer Zeit y gegeben sein k\u00f6nne, das scheint mir so selbstverst\u00e4ndlich und insbesondere von jeder Urtheils-\n1 Diese Zeitschr. 17, 118.","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnifs etc. 257\ntheorie so unabh\u00e4ngig, dafs ich die hypothetische Form jenes Zugest\u00e4ndnisses nicht wohl f\u00fcr eine wirkliche Einschr\u00e4nkung desselben gelten lassen kann.\nAuf alle F\u00e4lle aber habe ich in betreff der positiven Seite der Schumann\u2019sehen Aufstellung das schon oben Hervorgehobene zu wiederholen. \u201eDafs Complexe von Bewufstseinszust\u00e4nden nur dann ein einheitliches Ganzes bilden k\u00f6nnten, wenn sie simultan im Bewufstsein w\u00e4ren\u201c *, behaupte auch ich nicht. Aber ich mufs \u00fcberdies eben auch noch bestreiten, dafs, damit ein Superius vorgestellt werde, es gen\u00fcge, dafs die Vorstellungen der Inferiora irgend ein Ganzes ausmachen: sie m\u00fcssen viel mehr in ganz bestimmte Relation zu einander treten und demgem\u00e4fs ganz bestimmte Complexionen bilden; Complexionen dieser Art verlangen aber eben Simultaneit\u00e4t ihrer Bestandst\u00fccke.\nNebenbei scheint es, als ob Schumann an vermeintlichen Consequenzen der Simultaneit\u00e4tsposition Anstofs n\u00e4hme, die sie, so viel ich sehe, gar nicht hat Dafs ein Satz \u201enicht richtig verstanden werden k\u00f6nnte, wenn die einzelnen Wortvorstellungen nicht gleichzeitig im Bewufstsein w\u00e4ren\u201c2, w\u00e4re freilich \u00fcbertrieben; aber dergleichen wird doch h\u00f6chstens derjenige behaupten wollen, der meint, dafs es beim Verstehen auf die Worte ankomme und nicht auf deren Sinn. Auch dafs Sch\u00fcmann unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden \u201ebeim Auftauchen eines neuen Eindruckes das Nichtvorhandensein des vorangegangenen ziemlich sicher . . . . constatiren\u201c kann* * 8, und gleich ihm jeder Normalsinnige in tausend F\u00e4llen des t\u00e4glichen Lebens, das k\u00f6nnte der Simul-taneit\u00e4tsthese erst unter der Voraussetzung Eintrag thun, dafs \u201egleichzeitig vorstellen\u201c soviel besagen soll, wie \u201eals gleichzeitig vorstellen\u201c resp. beurtheilen, was aber nur so lange begegnen kann, als man Vorstellungszeit und Gegenstandszeit nicht geh\u00f6rig auseinanderh\u00e4lt.\nAn L. W. Stern\u2019s Ausf\u00fchrungen scheint mir vor Allem trotz der Sorgfalt, die sie \u00fcbrigens auszeichnet, oder vielleicht gerade wegen dieser, der Nachtheil besonders deutlich, den das unzureichende Auseinanderhalten von Vorstellungsact, -Inhalt und -Gegenstand mit sich f\u00fchrt. Aufserdem aber d\u00fcrfte f\u00fcr den\n1 Diese Zeitschr. 17, 121.\na A. a. O. S. 120.\n8 A. a. 0. 8. 121.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XXI.\n17","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258\nA. Meinong:\nStandpunkt, den er einnimmt, in besonderem MaTse ein erkenn tnife-theoretische8 Interesse mafsgebend sein, die Angelegenheit der Zeit Wahrnehmung n\u00e4mlich, die er durch Annahme einer \u201epsychischen Pr\u00e4senzzeit\u201c sicher zu stellen versucht \u201eSobald mau an die M\u00f6glichkeit einer directen Wahrnehmung zeitlicher Verh\u00e4ltnisse ... glaubt\u201c, meint er1, \u201ekann der Bewufstseinsact, in welchem diese Wahrnehmung erfolgt, selbst nicht mehr punctuell, momentan sein\u201c. Mit dem Verzichte auf diese Forderung aber sind \u201ealle der Annahme einer eigentlichen Zeitwahmehmung entgegenstehenden Schwierigkeiten beseitigt ; denn sobald der Satz anerkannt ist : ,Die innerhalb einer gewissen Zeitstrecke (der Pr\u00e4senzzeit) liegenden Bewufstseinsinhalte k\u00f6nnen einen einheitlichen Bewufstseinsact bilden\u2019 \u2014, bietet auch der weitere Satz zu keinen principiellen Bedenken mehr Anlafs: ,Diese dem Bewufstseinsact objectiv zukommende Pr\u00e4senzzeit nebst den in ihr enthaltenen zeitlichen Verh\u00e4ltnissen kann auch unmittelbar sub-jectiv zu einem Inhalte werden1 \u201c.1\nEine ins Einzelne gehende Discussion dieser Aufstellung w\u00fcrde, wie vielleicht unmittelbar ersichtlich, schon im Hinblick auf das, was ich eben als terminologische Unvollkommenheit derselben bezeichnen zu m\u00fcssen meinte, sich ziemlich umst\u00e4ndlich gestalten. Auch in diesem Falle empfiehlt es sich darum, statt an die Worte sich an die v\u00f6llig klaren Intentionen des Autors zu halten. Es gilt einfach, dar\u00fcber ins Klare zu kommen, wie die oben vertretene Simultaneit\u00e4tsthese sich zur Annahme von Zeitstreckenwahmehmungen verh\u00e4lt\n\u00a7 21. Die Wahrnehmbarkeit des Vergangenen.\n\u201ePsychische Pr\u00e4senzzeit\u201c.\nAct und Inhalt einer Vorstellung, so fanden wir oben, kann zeitlich nicht auseinanderliegen ; die eben mitgetheilte Stelle l\u00e4fst nun erkennen, dafs Stebn hiermit das Wahmehmen einer Zeitstreckenthatsache f\u00fcr unvertr\u00e4glich h\u00e4lt. Worauf gr\u00fcndet sich, dies ist die n\u00e4chste Frage, die Annahme einer solchen Unvertr\u00e4glichkeit?\nDie Frage scheint leicht zu beantworten. Vorerst ist klar,' dafs, was oben vom Vorstellungsacte dargethan wurde, auch vom\n1 Diese Zeitschr. 13, 331.\n1 A. \u00bb. 0. S. 332.","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnis etc. 259f\nUrtheilsacte gegen\u00fcber seinem Inhalte gilt. Stelle ich niir das Tor, was ich ,,anf einmal\u201c vorstelle, so urtheile ich in Wahrheit auch nur \u00fcber das, wor\u00fcber ich ,,auf einmal\u201c urtheile, und was vom Urtheilen im Allgemeinen gilt, gilt auch vom Wahrnehmem im Besonderen. Anerkanntermafsen aber kann man nur wahr-nehmen, was ist, und nicht, was war oder sein wird : der Wahrnehmungsact scheint sonach mit dem Wahrgenommenen gleichzeitig sein zu m\u00fcssen. Ist also das Wahrzunehmende eine zeit-\u00bb liehe Streckenthatsache, so m\u00fcfste auch die Wahrnehmung eine sein, n\u00e4her m\u00fcfste der Inhalt der Wahrnehmung parallel mit\u00bb dem Wahrzunehmenden in der Zeit ablaufen. Das w\u00e4re aber eben das Gegentheil von der oben in Anspruch genommenen Indistribuirtheit des Urtheils und ist daher durch diese ausgeschlossen.\nIch habe diese Erw\u00e4gungen lange: f\u00fcr bindend und sonach die Unm\u00f6glichkeit einer wie immer gearteten Zeitwahmehm\u00fcng' f\u00fcr erwiesen gehalten. In der That f\u00fchrt der Verzicht auf die Zeitstrecken - Wahrnehmung erkenntnifstheoretische Schwierigkeiten, die un\u00fcberwindlich heifBen m\u00fcfsten, nicht mit sich. Zugleich aber ist damit der Bereich der Wahmehmungs-Erkenntnifs' auf den jeweiligen Gegenw\u00e4rtigkeitspunkt beschr\u00e4nkt ; und diese so oft anstandslos acceptirte Annahme verrftth, wenn ich recht, sehe, .die Unhaltbarkeit der Position. Auch daran zweifelt ja Niemand, dafs man nur wahmehmen kann, was real ist: der Zeitpunkt aber so gut wie der Raumpunkt ist nichts als eine Grenze, also ideal. Ist also die Wahrnehmung aus sonstigen Gr\u00fcnden auf den Gegenw\u00e4rtigkeitspunkt eingeschr\u00e4nkt, so ist ihr durch den letzterw\u00e4hnten Umstand auch die Gegenwart entr\u00fcckt; mit anderen Worten: es giebt \u00fcberhaupt keine Wahrnehmung.\nVorerst k\u00f6nnte man es hier nun freilich zu weit gegangen finden, wenn dem Gegenw\u00e4rtigkeitspunkte sozusagen die Existenzf\u00e4higkeit abgesprochen erscheint, weil es eben ein Punkt ist-Denn wenn Punkte nicht existiren k\u00f6nnen, was soll man dann' etwa von der Existenz eines r\u00e4umlich Ausgedehnten denken, aus dem man ja an beliebigen Stellen Punkte herausheben kannV sollte dann wohl die Existenz des Ausgedehnten an eben so vielen Stellen unterbrochen sein ? Man \u00fcberlege aber vor Allem, ob die Nichtexistenz des Punktes, wenn man gewifs nicht \u00fcber\nden Punkt hinaus-, d. h. zu einer, wenn auch noch so kleinen Strecke\n17*","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260\nA. Meinong.\n\u00fcbergeht wirklich eine Unterbrechung in der Existenz der Strecke bedeutet Nat\u00fcrlich ist dies zu verneinen ; es kommt aber noch hinzu, dafs oben nicht dem Punkte schlechtweg, sondern nur dem sozusagen isolirten Punkte, dem Punkte ohne Strecke die Unvertr\u00e4glichkeit mit der Existenz nachgesagt sein sollte. Der Punkt selbst freilich kann nicht existiren, sondern nur bestehen; aber wo der Punkt ist, kann sehr wohl etwas existiren, nur nicht beschr\u00e4nkt auf den Punkt Gerade dies w\u00e4re aber beim Gegenw\u00e4rtigkeitspunkte der Fall : er h\u00e4ngt freilich, wenn man so sagen darf, gleichfalls an einer Strecke; aber was kann dies helfen, wenn das woran er h\u00e4ngt, als vergangen oder k\u00fcnftig eben seiner Natur nach nicht existirt, sondern h\u00f6chstens war oder sein wird?\nWie man sieht, ist es also gar nicht Grau in Grau gemalt wenn einmal Schumann der in Rede stehenden Auffassung die Oonsequenz entgegenh\u00e4lt: \u201eDa die Vergangenheit nicht mehr, die Zukunft noch nicht ist, so w\u00e4re die Zeit ein Wirkliches, das aus zwei H\u00e4lften besteht, die beide nicht wirklich sind14 *). Es w\u00fcrde zu weit f\u00fchren, wollte ich hier versuchen, Paradoxien oder auch Unvertr\u00e4glichkeiten dieser Art mit ausreichender Gr\u00fcndlichkeit bis zu ihren Wurzeln zu verfolgen. Ich mufs mir darum an dem einfachen Hinweise darauf gen\u00fcgen lassen, dals dergleichen nicht zum geringsten Theile dem aus dem Vulg\u00e4rdenken in die Theorie her\u00fcbergenommenen Existenzbegriffe und dem auf diesen gebauten Realit\u00e4tsgedanken zur Last f\u00e4llt Wie wenig hier alles in Ordnung ist, mag ein Beispiel darthun. \u201eDer letzte weggeschmolzene Schnee44 ist, weil etwas Vergangenes, ideal ; der \u201egoldene Berg\u201c ohne Zeitbestimmung ist nach gew\u00f6hnlicher Auffassung real, obwohl er nie existirt hat und nie existiren wird. Hier ist es schon auffallend unnat\u00fcrlich, beide F\u00e4lle einfach unter das Schema \u201enicht-existirend\u201c zu subsumiren, noch mehr, dem, das zu keiner Zeit war oder sein wird, einen Realtit\u00e4tsvor-zug einzur\u00e4umen gegen\u00fcber dem, was thats\u00e4chlich vorhanden gewesen ist. Die dem historischen Interesse so nahe liegende Thats\u00e4chlichkeit des Vergangenen, der eine eben solche des K\u00fcnftigen zur Seite steht, fordert, wenn ich recht sehe, unweigerlich die Einbeziehung des Vergangenen und K\u00fcnftigen in den Bereich des Realen. Man \u00fcberwindet damit, wie n\u00e4her darzulegen ich mir f\u00fcr eine andere Gelegenheit auf sparen mufs, das on-\n1 A. a. O. 8. 127.","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnifs etc. 261\nberechtigte Eindringen eines v\u00f6llig subjeetiven Momentes in unseren Existenzgedanken, dafs in dem Umstande hervortritt, dafs jede Existenz als vergangen, gegenw\u00e4rtig oder k\u00fcnftig deter-minirt sich darstellt, diese Determination aber jedesmal nichts Anderes als eine Relation zwischen Urtheilszeit und Gegenstandszeit bedeutet, die dem Wirklichen am Ende doch gerade so zuf\u00e4llig sein mufs, wie es f\u00fcr dasselbe zuf\u00e4llig ist, ob es und wann es von irgend Jemandem erkannt wird.\nKann es also in Wahrheit der Realit\u00e4t eines Wirklichen nichts abtragen, ob und wann ein erkennendes Subject sich damit besch\u00e4ftigt, so entf\u00e4llt damit auch der auf den Realit\u00e4tsgedanken gegr\u00fcndete principielle Ausschlufs des Vergangenen aus dem Gebiete des Wahrnehmbaren. Ist damit aber auch jeder Grund, Wahrnehmung auf Gegenw\u00e4rtiges einzuschr\u00e4nken, behoben? Man scheint manchmal eine Schwierigkeit darin zu finden \\ dafs dem Erkennen die F\u00e4higkeit zugeschrieben werde, Vergangenes sei es \u00fcberhaupt, oder doch wenigstens unmittelbar zu erfassen. Allein Ersteres wird durch jedes Vergangenheitswissen, Letzteres im Besonderen durch die Functionen des Ged\u00e4chtnisses entkr\u00e4ftet, und auf den von mir erbrachten Beweis f\u00fcr die eigenartige unmittelbare Evidenz der Ged\u00e4chtnifsurtheile1 2 mufs ich hier aus-dr\u00fccklich Bezug nehmen, weil sich von diesen ein ganz nat\u00fcr-licher Uebergang zu den Wahrnehmungsurtheilen darzubieten scheint. Ged\u00e4chtnifsurtheile sind von Natur ungewifs, sie sind in diesem Sinne Vermuthungen. Aber ihre Zuversicht w\u00e4chst im Allgemeinen mit der Abnahme der Distanz zwischen Urtheilszeit und Gegenstandszeit. Nullwerth kann diese Distanz, wie wir sahen, nicht annehmen, sofern es sich um zeitlich distribuirte Gegenst\u00e4nde handelt. K\u00f6nnte sie das, dann h\u00e4tte die gegen die absolute Gewifsheit limitirende Ungewifsheit der Ged\u00e4chtnifsurtheile diese Grenze wirklich erreicht, und man h\u00e4tte den Idealfall jener absoluten Gewifsheit vor sich, die die Erkenntnistheorie f\u00fcr Wahr-nehmungsurtheile, genauer f\u00fcr die Urtheile innerer Wahrnehmung in Anspruch nimmt. Ist nun aber dieses Ideal nicht nur praktisch sondern auch begrifflich unerf\u00fcllbar, warum k\u00f6nnte man nicht das, was diesem Ideal an Erreichbarem zun\u00e4chst steht, also die f\u00fcr alle\n1 Vgl. z. B. Strong in \u201ePsychological Review\u201e 3, 166.\n* \u201eZur erkentnifstheoretischen W\u00fcrdigung des Ged\u00e4chtnisses\u201c in der Vierteljahrsschrift f. wissenschaftliche Philosophie (1886), 7 ff.","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\nA. Meinong.\njxraktischen Bed\u00fcrfnisse immer noch ausreichend gewissen und sicheren Ged\u00e4chnifsurtheile \u00fcber die der Urtheilszeit unmittelbar vorangehende, ausreichend kurz bemessene Spanne Zeit als Wahr-nehmungsurtheile bezeichnen ?\nEhe man sich entschliefst, sich in dieser Weise zu bescheiden, ist noch auf eine Classe von Gegenst\u00e4nden bedacht zu nehmen, bei denen die obigen Schwierigkeiten dem Zustandekommen eines Wahrnehmungsurtheils im strengen Sinne unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden nicht im Wege zu stehen scheinen: ich meine die zeitlich indistribuirten Gegenst\u00e4nde. Gesetzt, ich sehe ein Buch, das vor mir liegt, oder h\u00f6re einen anhaltenden Ton, oder bin mir eines Gef\u00fchles bewufst, das eine Weile andauert Ohne \u00fcbrigens der \u00e4ufseren Wahrnehmung die Dignit\u00e4t der inneren zuschreiben zu wollen, darf man sagen, dafs Beispiele dieser Art alle darin \u00fcbereinstimmen, dafs hier alle Zeitschwierigkeiten zu entfallen scheinen, falls man nicht etwa die Dauer des betreffenden Gegenstandes mit in das Wahrnehmungsurtheil ein* zubeziehen versucht Dem nat\u00fcrlich eine Zeitstrecke einnehmenden Urtheilsacte steht ein gleichfalls constanter Inhalt zu Gebote Was mit H\u00fclfe dieses Inhaltes erkannt wird, ist zun\u00e4chst nicht etwa ein constanter Gegenstand als solcher, es ist vielmehr constant derselbe Gegenstand. Thats\u00e4chlich ist aber der erkannte Gegenstand constant; und sofern, wie anzunehmen doch kaum entbehrlich sein wird, das Wahrgenommene die Wahrnehmung entweder hervorruft oder doch bedingt, ist daf\u00fcr gesorgt, dafs Wahrnehmung und Wahrgenommenes zeitlich (mehr oder wreniger genau) zusammenf\u00e4llt und so die Wahrnehmung im Rechte bleibt\nGleichwohl wird man sich nun aber einer T\u00e4uschung dar\u00fcber auf die Dauer nicht hingeben k\u00f6nnen, dafs man es hier zwar mit einer praktisch g\u00fcnstigeren, theoretisch aber doch keines-.wegs eigenartigen Sachlage zu thun hat Ist wie eben wieder ber\u00fchrt, der zeitlich indistribuirte Gegenstand als solcher constant (also von einem zeitlich distribuirten unver\u00e4nderten Gegenst\u00e4nde wie etwa der Ruhe nur dadurch verschieden, dafs diese Constant aufser Betracht bleibt), so gilt am Ende doch auch f\u00fcr ihn wie\ni\nf\u00fcr jeden zeitlich distribuirten Gegenstand, dafs zwei Strecken, die als Ganze zusammenfallen, es niemals ihren s\u00e4mmtlichen Theilen nach anders als paarweise k\u00f6nnen und dafs bei v\u00f6llig genauer Betrachtung die zusammenfallenden Paare gar nicht Strecken- sondern nur Punktpaare sind. Gelangt also g\u00fcnstigsten","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"TJeber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnifs etc. 263\nFalles der wahrgenommene Gegenstand mit dem Wahmehm\u00fcngs-urtheil im Ganzen wirklich zeitlich zur Deckung, so doch niemals allen seinen Theilen, ja \u00fcberhaupt keiner Zeitstrecke nach. Er-fafst also das Urtheil den zeitlich ausgedehnten Gegenstand, so gilt f\u00fcr jeden aus der Zeitdauer dieses Urtheils herausgegriffenen Punkt, dafs das Urtheil auf Vergangenes oder wohl auch K\u00fcnftiges, aber durchaus nicht oder h\u00f6chstens einem verschwindenden An-theile nach auf ein mit dem Urtheile Gleichzeitiges, in diesem Sinne also Gegenw\u00e4rtiges geht.\nSo steht man denn, soweit ich sehe, unvermeidlich vor dem Dilemma: entweder es giebt \u00fcberhaupt kein Wahrnehmen, oder man mufs auf die Forderung der Gleichzeitigkeit der Wahrnehmung mit dem Wahrgenommenen verzichten. Ersteres aber k\u00f6nnte nur dann annehmbar erscheinen, wenn letzterer Verzicht die sonst als Wahrnehmungen anerkannten Thatbest\u00e4nde um jede Eigenartigkeit gegen\u00fcber anderen Urtheilen br\u00e4chte. Dem ist aber keineswegs so. F\u00fcr die naive Betrachtungsweise, der der Wahmehmungsgedanke ja jedenfalls zun\u00e4chst entstammt, ist die fragliche Gleichzeitigkeit sicher kein prim\u00e4res, sondern nur ein consecutives Moment, dem die Voraussetzung zu Grunde liegt, dafs die Wahrnehmung die Wirklichkeit, auf die sie geht, zur Ursache oder doch Bedingung habe. Diese Abh\u00e4ngigkeit aber, wenn causal, gestattet streng genommen die Gleichzeitigkeit gar nicht ; wenn condicional, verlangt sie sie zum Mindesten nicht, da das Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltnifs wieder nur die bis auf die Punkte zu restrmgirenden Theile paarweise, nicht aber die beiden Ganzen betrifft. Dem Verlaufe der Wirklichkeit conco-mitirt mehr oder minder genau die WahrnehmungsVorstellung von dieser Wirklichkeit ihren Bestandst\u00fccken nach, constant oder sich ver\u00e4ndernd, je nachdem die Wirklichkeit dem Typus der Ruhe oder dem der Bewegung folgt Bei jedem Punkte dieser gegenst\u00e4ndlichen Linie hebt das \u201eZur\u00fccksinken\u201c des in jenem Punkte gegebenen Gegenstandes in die subjective Vergangenheit1 an : bei jedem Punkte setzt zugleich ein Urtheil ein, dessen Gewifsheitsgrad mit jenem Zur\u00fccksinken wohl in functionellem Zusammenh\u00e4nge stehen wird. Im Ganzen ergiebt dies nat\u00fcrlich nicht etwa eine unendlich grofse Anzahl solcher Anschlufsurtheile, sondern ein einziges, wie auch immer complexes Urtheil mit\n1 Vgl. die schon erw\u00e4hnten Ausf\u00fchrungen im Analysenartikel S. 443 ff.","page":263},{"file":"p0264.txt","language":"de","ocr_de":"264\nA. Mdnong,\nstetig wachsendem Gegenst\u00e4nde, falls sich die wahrgenommene Wirklichkeit stetig ver\u00e4ndert hat, \u2014 eines mit unver\u00e4ndertem Gegenst\u00e4nde bei unver\u00e4nderter Wirklichkeit. So hat man hier im Ganzen einen Vorstellungs- und Urtheilsthatbestand vor sich, der immerhin um einiges verwickelter sein mag, als man von den Thatbest\u00e4nden des Wahmehmens erwarten m\u00f6chte, die mar sich stets f\u00fcr besonders einfach zu halten gew\u00f6hnt hat. Aber es liegt eine ausreichend pr\u00e4cise Charakterisirtheit vor, um darauf hin der hergebrachten Unterscheidung des Thatsachen-wissens in das von der gegenw\u00e4rtigen und der nicht-gegenw\u00e4rtigen Wirklichkeit immer noch statt zu geben.\nKurz also: die Wahrnehmung h\u00e4ngt nicht an der Gleichzeitigkeit mit dem Wahrgenommenen und wird darum auch nicht durch die Forderung der Gleichzeitigkeit zwischen Urtheils-act und Urtheilsinhalt bedroht. Kann ich sonach in diesem Punkte der Position W. Sterns nicht beipflichten, so schlagen die eben angestellten Erw\u00e4gungen im Wesentlichen doch weit mehr zu Gunsten als zu Ungunsten dessen aus, was Stern, wie bereits bemerkt, durch Aufstellung des Begriffes der \u201epsychischen Pr\u00e4senzzeit\u201c leisten will. Zuletzt ist es ihm ja doch darum zu thun, die Wahrnehmbarkeit der Bewegung oder sonstiger Ver\u00e4nderung gegen\u00fcber einseitigem Hervorheben des Erfordernisses der Gleichzeitigkeit zu vertreten : wir aber haben gefunden, dafe er damit ganz im Rechte ist Kann ich sonach auch Vergangenes wahmehmen, so offenbar nicht \u00fcber jede Grenze hinaus, und es ist ganz passend, die Zeit, innerhalb deren ich dies kann, in besonderem Sinne als gegenw\u00e4rtig, als \u201ePr\u00e4senzzeit\u201c zu bezeichnen. Sie mit H\u00fclfe des Einheitsgedankens zu definiren1, halte ich dann freilich wieder aus bereits angegebenen* * Gr\u00fcnden f\u00fcr unthunlich: psychische Thatsachen, n\u00e4her Inhalte k\u00f6nnen sich sicher in vielerlei Weisen zu Einheiten zusammenschlie&en, d. h. vielerlei Complexionen ausmachen, ohne dafs Wahrnehmung daran betheiligt w\u00e4re. Dennoch ist in diesem Hinweis auf die Einheitlichkeit des Gegenw\u00e4rtigen jedenfalls ein f\u00fcr dieses wesentlicher Punkt getroffen. Sehe ich von einem Aussichtspunkte aus einen Eisenbahnzug die Landschaft durchqueren, so nenne ich dessen Bewegung gegenw\u00e4rtig, vielleicht auch noch, wenn die\n1 \u201eUeber psychische Prftsenzzeit\u201c a. a. O. S. 327.\n* Vgl. oben S. 231.","page":264},{"file":"p0265.txt","language":"de","ocr_de":"TJther Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnis etc. 265\nZeit, w\u00e4hrend der ich ihn verfolgen kann, nicht ganz kurz ist. Den Pfiff der Locomotive und einen auf diesen folgenden Vogelruf werde ich nicht leicht auf einmal f\u00fcr gegenw\u00e4rtig erkl\u00e4ren, auch wenn der Pfiff nach dem Beginne, der Ruf vor dem Ende der von mir \u201egesehenen\u201c Bewegung zu h\u00f6ren war. Es wird eben nicht leicht einen Gesichtspunkt geben, unter dem sich Pfiff und Ruf f\u00fcr mich zu Einem Ganzen vereinigt.\nZusammenfassend kann man also etwa sagen: Nimmt man Stern\u2019s Ausf\u00fchrungen bei den Worten, so mufs man ihnen entgegenhalten, dafs darin dem Principe der Gleichzeitigkeit von Wahrnehmung und Wahrgenommenem das Princip der Gleichzeitigkeit von Wahmehmungsact und -Inhalt und das daraus resultirende Princip der Simultaneit\u00e4t s\u00e4mmt\u00fccher zum n\u00e4mlichen Act geh\u00f6riger Inhalte geopfert ist, indes der Conflict durch Aufgeben des ersten Princips zu l\u00f6sen gewesen w\u00e4re. H\u00e4lt man sich dagegen an die Sache und die Meinung des Autors, so darf man es diesem nur Dank wissen, dafs er einer, wie ich wenigstens an mir selbst erfahren habe, sehr verlockenden Schein-consequenz des zweiten, an sich zu Recht bestehenden Gleich-zeitigkeitsprincips nachdr\u00fccklich entgegentritt und damit der Wahrnehmung ihr gutes Recht wahrt. Kann man einen Ton, eine Farbe wahmehmen, so auch eine Melodie oder eine Bewegung, soweit sie sich innerhalb der Grenzen der \u201ePr\u00e4senzzeit\u201c abspielt, \u2014 nat\u00fcrlich Melodie wie Bewegung nur ihren Bestandst\u00fccken nach, indes die auf diese gegr\u00fcndete, durch sie fundirte Idealcomplexion (zun\u00e4chst eigentlich Idealrelation) streng genommen so wenig wahrgenommen werden als existiren kann.1 Immerhin h\u00e4lt man es meist nicht so streng: nimmt man aber keinen Anstofs daran, das Intervall gleichzeitiger T\u00f6ne zu \u201eh\u00f6ren\u201c, bei dem es meiner Meinung nach gewifs nicht nur auf die Verschmelzung d. h. auf eine Realrelation hinauskommt, so ist auch gegen das \u201eH\u00f6ren\u201c der Melodie selbst ohne Einschr\u00e4nkung auf die Bestandst\u00fccke nichts einzuwenden.\nDafs dieser Auffassung gegen\u00fcber der Gegensatz zwischen Wahrnehmungs- und Ged\u00e4chtnifswissen viel von seiner anscheinenden Sch\u00e4rfe einb\u00fcfst, ist nicht zu leugnen: aber die Wirklichkeit zeigt auch sonst mehr fiiefsende Grenzen als dem Theoretiker lieb sein kann. Vollends den Bereich dessen, was\nhVgl. oben S. 200.","page":265},{"file":"p0266.txt","language":"de","ocr_de":"266\nA. Meinong.\nman seit S. Exner oft \u201eprim\u00e4res Ged\u00e4chtnifs\u201c genannt hat, von dem deutlich zu sondern, was in die \u201ePr\u00e4senzzeit\u201c f\u00e4llt, m\u00f6chte, falls ich mit den obigen Ausf\u00fchrungen im Rechte bin, doch weniger Aussicht auf Erfolg haben, als auch W. Steen meint1\nDafs zur Bezeichnung fliefsend abgegrenzter Thatsachen auch W\u00f6rter mit fliefsend begrenzter Anwendungssph\u00e4re erforderlich sind, versteht sich: darum ist es auch ganz am Platze, mit Schumann und Stern auf den Vulg\u00e4rsinn des Wortes \u201eGegenwart\u201c zur\u00fcckzugreifen. Nur bleibt daneben die Conception des Gegenw\u00e4rtigkeitspunktes nicht minder in ihrem Rechte; und wer, indem er den Gegensatz von Gegenw\u00e4rtig und Vergangen in diesem zweiten Sinne fafst, sich vor die Frage gestellt findet, -ob man Vergangenes wahrnehmen k\u00f6nne, wird dem Obigen ge-m\u00e4fs vor dem Paradoxon nicht zur\u00fcckschrecken d\u00fcrfen, die Frage zu bejahen. Er wird sogar die Paradoxie noch bis zu der Behauptung steigern m\u00fcssen, dafs im Grunde Vergangenes das einzig Wahrnehmbare sei.\n. \u00a7.22. Schlufsb emerkungen: das Hauptergebnis.\nIch komme zum Ausgangspunkt der dem Vorstellen von zeitlich distribuirten Gegenst\u00e4nden gewidmeten Untersuchungen zur\u00fcck. Es wird also dabei bleiben m\u00fcssen, dafs, wer die Melodie vorstellen will, zugleich die s\u00e4mmtlichen T\u00f6ne vorstellen mufs, die sie ausmachen, \u2014 allgemeiner: dafs, um ein Superius von zeitlich verschiedenen Inferioren vorzustellen, diese Inferiora simultan vorzustellen sind. Zugleich damit erh\u00e4lt nun aber auch der Umstand seine Bedeutung], der anerkanntermaafsen die eigentliche Wurzel der Gegnerschaft gegen die Simultaneit\u00e4ts-position ausmacht: das eigenth\u00fcmliehe Verhalten der inneren Wahrnehmung zu den im Obigen unerl\u00e4fslich gefundenen Inferioren. F\u00fcr den Hauptvorwurf der gegenw\u00e4rtigen Darlegungen, dem im Besonderen deren zweiter Abschnitt gewidmet war, hat das die nicht wohl zu verkennende Bedeutung, dafs die innere Wahrnehmung sogar Gegenst\u00e4nden gegen\u00fcber, denen eine in ihrer Natur gelegene Wahrnehmungsfl\u00fcchtigkeit keineswegs nachzusagen ist, unter Umst\u00e4nden ganz regelm\u00e4fsig den Dienst versagt . Ich habe den im dritten Abschnitte eingeschlagenen Weg zu diesem Ergebnisse gew\u00e4hlt, weil sich auf demselben einerseits\n1 Vgl. diese Zcitschr. 13, 338 fl.","page":266},{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltnis etc. 267\ndie Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung zugleich von einer charakteristischen Seite zeigen, andererseits, weil dadurch einiger Einblick in das Wesen des Wahrnehmens ganz im Allgemeinen zu gewinnen war. Uebrigens aber fehlt es auch sonst keineswegs an Zeugnissen daf\u00fcr, dafs man durchaus nicht nur dort von der inneren Wahrnehmung im Stiche gelassen wird, wo es sich um Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung handelt. Zum Belege diene hier etwa der kurze Hinweis auf die vielen F\u00e4lle, wo wir geh\u00f6rte -Worte verstehen, ohne dafs die directe Wahrnehmung uns viel mehr als den Wortklang als \u201egegeben\u201c zu verrathen vermag. Deutlicher noch als einzelne W\u00f6rter zeugen S\u00e4tze, namentlich l\u00e4ngere. Die \u00fcbertriebenen Forderungen, die Schumann in dieser Sache dem Vertreter der von ihm bek\u00e4mpften Ansicht beimifst, sind oben1 bereits abgelehnt worden: nicht s\u00e4mmtliche W\u00f6rter des Satzes m\u00fcssen gegenw\u00e4rtig bleiben, wohl aber s\u00e4mmtliche Vorstellungsbestandst\u00fccke, aus denen sich der meist recht complexe Sinn der betreffenden Rede zusammensetzt. Und noch deutlicher als einzelne S\u00e4tze sind Satzfolgen, in denen Syllogismen oder gar Schlufsketten zum Ausdrucke gelangen, gleichviel, ob dabei die in der Logik accreditirten \u201eFormen\u201c gewahrt sind oder \u2022nicht. Von Alters her setzt man der unmittelbaren Evidenz mancher Urtheile die mittelbare Evidenz anderer entgegen: was sollte man sich aber zuletzt unter dieser mittelbaren Evidenz denken, wenn nicht eine Evidenz, die ein Urtheil aus einem oder mehreren anderen Urtheilen sch\u00f6pft? Und wie liefse sich aus den Pr\u00e4missen \u2014 unter ausreichend g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden \u2014 Evidenz f\u00fcr die Conclusio sch\u00f6pfen, wenn die Quelle f\u00fcr die Evidenz der Pr\u00e4missen, die diesen zu Grunde liegenden Vorstellungen resp. deren Gegenst\u00e4nde, beim F\u00e4llen der Conclusio nicht mehr \u201egegeben\u201c w\u00e4ren? Dennoch sind f\u00fcr die innere Wahrnehmung Vorstellungen, wie Gegenst\u00e4nde, soweit sie nicht auch an der Conclusio betheiligt sind, in der Regel entschwunden, und die ganze f\u00fcr alle Erkenntnifs so fundamentale Thatsache der Evidenzvermittelung bleibt jedem Verst\u00e4ndnifs entr\u00fcckt, bis man sich entschliefst, die L\u00fccken, welche das Material innerer Wahrnehmung aufweist, mit H\u00fclfe theoretischer Construction zu .erg\u00e4nzen.\nEs ist nun freilich nicht zu verkennen, dafs dies und Aehn-\n1 Vgl. S. 257.","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268\nA. Mein (mg.\nliches weder unter allen Umst\u00e4nden gleiche Beweis-, noch f\u00fcr alle Untersuchenden gleiche Ueberzeugungskraft haben wird. Ohne Zweifel zeigt sich vor Allem die innere Wahrnehmung unter besonderen Umst\u00e4nden einmal auch besonders leistungsf\u00e4hig und l\u00e4fst dann z. B. auch die Fortdauer von Vorstellungen w\u00e4hrend einer l\u00e4ngeren geh\u00f6rten Rede deutlich erkennen. Wenn man etwa zum Zwecke einer wichtigen Verrichtung eine Anweisung erh\u00e4lt, namentlich wenn durch eine Beschreibung klar gemacht werden soll, was vielleicht nat\u00fcrlicher durch eine Zeichnung verst\u00e4ndlich zu machen w\u00e4re, da kann man zuweilen recht wohl beobachten, dafs man ein St\u00fcck nach dem anderen, wie es die Folge der W\u00f6rter oder S\u00e4tze bietet, festh\u00e4lt, um dann Alles zu der erforderlichen Complexion zusammenzuf\u00fcgen. Ferner werden gewifs auch in dieser Sache subjective Verschiedenheiten nicht fehlen: directe Zeugnisse, wie Schumann deren kurz ablehnt1, werden mindestens nicht ohne Weiteres zur Seite zn schieben sein. Von zwei Beobachtern hat ja ceteris paribus immer der das Pr\u00e4judiz f\u00fcr sich, der noch sieht, wo der Andere nicht mehr sieht. Endlich hat dort, wo die directe Empirie versagt, die Vorliebe vieler Forscher, Physisches, genauer Physiologisches statt des Psychischen zu interpoliren, immer einen gewissen Spiel* raum, wenn dieser auch, wo es sich einmal um Evidenz und insbesondere um Noth Wendigkeit handelt, meines Erachtens immer eine un\u00fcberschreitbare Grenze findet. M\u00f6gen aber auch sonach manche Erw\u00e4gungen und Erfahrungen nachtr\u00e4glich wieder gleichsam zu Gunsten der inneren Wahrnehmung ausschlagen, es werden Instanzen genug \u00fcbrig bleiben, welche die aus den Untersuchungen des dritten Abschnittes gewonnene Erkenntnifs noch bekr\u00e4ftigen, dafs auch dort, wo eine an der Natur der Gegenst\u00e4nde gesetzm\u00e4fsig h\u00e4ngende Wahmehmungsfl\u00fcchtigkeit nicht vorliegt, Thatbest\u00e4nde, die unter gewissen Umst\u00e4nden der inneren Wahrnehmung sehr wohl zug\u00e4nglich sind, unter anderen Umst\u00e4nden sich dem Kenntnifsbereiche dieser Wahrnehmung entziehen.\nInzwischen m\u00f6chte ich durch mein Verweilen bei Thatsachen, f\u00fcr deren W\u00fcrdigung Th. Lipps mit so verdienstvollem Nachdrucke eingetreten ist, nicht nachtr\u00e4glich den Schein erwecken, als h\u00e4tten die Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung im Allgemeinen\n1 Diese Zeitschr. 17, 120, 121","page":268},{"file":"p0269.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Vcrh\u00e4ltnifs etc. 269\nund die fundirten Gegenst\u00e4nde im Besonderen sozusagen das Licht director Empirie zu scheuen. Vielmehr war es in erster Linie das Absehen der gegenw\u00e4rtigen Ausf\u00fchrungen, insbesondere des zweiten Abschnittes derselben, darzuthun, dafs die durch sie vertretene Theorie allen an eine solche beim gegenw\u00e4rtigen Stande unseres Wissens zu stellenden billigen Anspr\u00fcchen Gen\u00fcge leistet Man darf eben nur an die Beschaffenheit dieser Empirie selbst nicht \u00fcbertriebene Anforderungen stellen, zu denen nicht in letzter Linie das Verlangen zu z\u00e4hlen w\u00e4re, die Daten dieser Erfahrung m\u00fcfsten jedesmal so handgreiflich sein, dafs sie sich in jedem Falle m\u00fchelos auch dem unge\u00fcbten, am Ende wohl gar widerwilligen Beobachter aufzwingen.\nN\u00e4her aber m\u00f6chten die im zweiten Abschnitte niedergelegten Hauptuntersuchungen dargethan haben, dafs der Versuch, die Existenz von (fundirten) Gegenst\u00e4nden h\u00f6herer Ordnung im Hinblick auf das angeblich versagende Zeugnifs innerer Wahrnehmung zu bestreiten, bereits ad absurdum gef\u00fchrt wird durch die Menge und Beschaffenheit der Thatsachen, deren Existenz auf ganz der n\u00e4mlichen Grundlage in Abrede zu stellen w\u00e4re, da dem fraglichen Gesichtspunkte zugleich ungef\u00e4hr alle psychischen Erlebnisse, h\u00f6chstens etwa mit Ausschlufs einiger besonders aufdringlicher Gef\u00fchle, zum Opfer fallen m\u00fcfsten. Die Natur des Irrthums aber, der zu so unannehmbaren Con-sequenzen f\u00fchrt, besteht dann darin, dafs der Gegner der Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung, man darf wohl sagen, dem Zeugnisse des naiven Menschenverstandes zum Trotz, f\u00fcr unwahrgenommen und daher (wegen Nicht-Existenz) f\u00fcr un wahrnehmbar h\u00e4lt, was genauer besehen nur wahrnehmungsfl\u00fcchtig ist.\nOb es mir gelungen ist, dieses Ergebnifs derart sicher zu stellen, um auch den Gegner zu \u00fcberzeugen? Es hiefse die Hindernisse, die einer Verst\u00e4ndigung in solchen Dingen trotz redlichsten Willens der Betheiligten im Wege stehen, gar sehr untersch\u00e4tzen, wenn ich eines solchen Erfolges auch nur mit einiger Zuversicht gew\u00e4rtig w\u00e4re. Aber eben im Hinblick auf jene Hindernisse m\u00f6chten die vorliegenden Ausf\u00fchrungen ihren Zweck erreicht haben, wenn durch sie dargethan ist, dafs diejenigen, die bisher durch Conception und Ausgestaltung der Theorie der Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung die Psychologie und Erkenntnistheorie zu f\u00f6rdern bem\u00fcht waren, durch die ihnen bisher entgegengehaltenen Einwendungen noch nicht das Recht","page":269},{"file":"p0270.txt","language":"de","ocr_de":"270\t-\tAi Meinong:\nverloren haben, ihren Weg in der eingeschlagenen Richtung fort* zusetzen. Zur Charakteristik von Weg und Ziel aber m\u00f6gen denen, die daran im Sinne sei es der Zustimmung, sei es der Ablehnung Interesse nehmen, am Schl\u00fcsse dieser Darlegungen noch ein paar Worte nicht unwillkommen sein.\nEinerseits mufs einbekannt werden, dafs die Hoffnungen, die das Beschreiten dieses Weges begleitet haben, keine ganz bescheidenen gewesen sind. Fast alles wissenschaftliche Thun hebt mit Analyse des Gegebenen an : darum ist, und dies mit Recht, auch die wissenschaftliche Psychologie zun\u00e4chst analytische Psychologie gewesen und wird niemals aufh\u00f6ren, auch analytische Psychologie zu sein. Zu je besseren Erfolgen aber die Analyse f\u00fchrte, um so n\u00e4her lag es, zu \u00fcbersehen, dafs diese neben Gewinn auch Verlust, oder doch die Gefahr eines Verlustes mit sich f\u00fchrt. Schon die Alltagserfahrung belehrt dar\u00fcber, um wie viel leichter es zu sein pflegt, auseinander zu nehmen als zusammenzusetzen. Nun ist das Analysiren des Psychologen freilich kein Auseinandernehmen im gew\u00f6hnlichen Sinne: giebt es aber im Psychischen Thats\u00e4chlichkeiten, die gleichsam \u00fcber den Elementen oder Schein-elementen stehen, auf welche die Analyse f\u00fchrt, dann werden diese Thats\u00e4chlichkeiten entweder durch die Analyse zerst\u00f6rt oder sie bleiben mindestens, weil analytischer Behandlung im gew\u00f6hnlichen Sinne selbst nicht zug\u00e4nglich, unbeachtet F\u00fcr den Stand des theoretischen Wissens \u00fcber psychische Thatsachen mufste der eine und der andere Effect die n\u00e4mliche Bedeutung haben: vom Nichtsehen und Uebersehen zum Ignoriren ist zudem nur ein Schritt, und durch diesen Schritt hat sich dar psychologische \u201eEmpirismus\u201c trotz der Unanfechtbarkeit seiner methodologischen Grundlagen sicher oft genug denen gegen\u00fcber ins Unrecht gesetzt, denen vielleicht minder entwickeltes analytisches Interesse es leichter machte, an den vor der Analyse sich geltend machenden Thats\u00e4chlichkeiten festzuhalten. Aber empiristischen Einseitigkeiten war am Ende doch nicht anders als empirisch beizukommen ; wir kennen ja nur Eine.Erkennt-nifsquelle f\u00fcr das Thatsachenwissen : die Erfahrung. Das nun zu erfassen, nat\u00fcrlich eben empirisch zu erfassen, \u2014 das zu bearbeiten, und zwar wom\u00f6glich experimentell zu bearbeiten, wovon der \u00e4ltere Empirismus nichts wissen konnte oder wollte, indes es gleichwohl zu den wichtigsten Thats\u00e4chlichkeiten des psychischen Lebens geh\u00f6rt, darin liegt, wie kaum von irgend","page":270},{"file":"p0271.txt","language":"de","ocr_de":"Ueher Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer. Ordnung, und deren Verh\u00e4ltnis etc. 271\neiner Seite bestritten werden wird, wenn nicht d i e so doch jedenfalls eine Hauptaufgabe der modernen Psychologie. Die That-sachen aber, um die es sich da zun\u00e4chst handelt, sind in erster Lim\u00e9 eigenartig charakterisirte Gedanken, und die Gegenst\u00e4nde, in denen diese Charakterisirtheit zun\u00e4chst beschlossen ist, umfafst, wenn ich recht sehe, zwanglos der Begriff der Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung. Von ihnen steht dann wieder eine Hauptclasse, die ich \u201ef un dirte Gegenst\u00e4nde\u201c genannt habe, nicht nur den Interessen der Psychologie besonders nahe, sondern sie tritt dadurch, dafs den Vorstellungen von diesen Gegen--st\u00e4nden zumeist eine ganz fundamentale Bedeutung als Erkennt-nifs m i 11 e 1 zukommt, zugleich in das Centrum der Erkenntnistheorie. Den Versuch, dies darzuthun, mufs ich freilich einer anderen Gelegenheit Vorbehalten1 : wo aber von den Hoffnungen die Rede ist, welche die Vertretung und den Ausbau der neuen Theorie begleiten, kann doch nicht unerw\u00e4hnt bleiben, dafs es-nicht zuletzt erkenntnifstheoretische Bed\u00fcrfnisse waren, aus denen die Theorie erwachsen ist und dafs diese zugleich ein Versuch: sein m\u00f6chte, der Erkenntnistheorie neue oder doch unter neuen. Gesichtspunkten sich darstellende Thatsachengrundlagen zu gewinnen.\n- Andererseits m\u00f6chte ich nun aber doch auch nicht den Schein aufkommen lassen, als w\u00e4re mein gutes Zutrauen auf Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung im Allgemeinen und fundirte Gegenst\u00e4nde im Besonderen so grofs, dafs ich in den neu gebildeten Ausdr\u00fccken Zauberformeln gefunden zu haben meinte zur L\u00f6sung aller Grundprobleme der Psychologie und Erkenntnistheorie, \u2014 oder dafs ich geneigt w\u00e4re, in den an diese Termini derzeit sich kn\u00fcpfenden Conceptionen f\u00fcr irgend ein beliebig eng abzugrenzendes Thatsachengebiet \u201eder Weisheit letzten Schlufs\u201c zu erblicken. Ich meine ganz im Gegentheil, dafs, was in dieser Sache bisher vorliegt, nichts weiter als ein erster Anfang ist, nicht mehr bedeutet als ein paar unsichere Schritte\n1 Zu -vorl\u00e4ufiger Illustration sei auf die oben S. 203 f. ber\u00fchrte Stellung der Fundirung zum Gegens\u00e4tze von \u201eintellectus\u201c und \u201esensus\u201c zur\u00fcckverwiesen, den man ja jederzeit zun\u00e4chst erkenntnifstheoretisch genommen hat. Insbesondere w\u00e4re, das Verh\u00e4ltnifs der ^Fundirungsgegenst\u00e4nde\u201c zu den \u201e Erfahrungsgegenst\u00e4ndenu mit dem des KxNT'schen Apriori und Aposteriori in Verbindung zu bringen, schwerlich das Gewaltsamste, was an K\u00e0HT-Interpretationen bereits geleistet worden ist.","page":271},{"file":"p0272.txt","language":"de","ocr_de":"272\nA. Meinong.\nin einer Richtung, von der sich einstweilen kaum mehr sagen l\u00e4fet, als dafs sie mindestens nicht nur nach seitw\u00e4rts, sondern jedenfalls auch nach vorw\u00e4rts weist. Immerhin habe ich den neuen Weg bereits ein St\u00fcck weiter verfolgt, als die bisherigen Publicationen ersehen lassen : ich weifs insbesondere, dafs dieser Weg auf eine F\u00fclle neuer Fragestellungen f\u00fchrt und damit der monographischen Detailforschung unersch\u00f6pfliche Gebiete zu er* schliefsen verspricht. Aber es wird hier so wenig wie allenthalben sonst fehlen k\u00f6nnen, dafs im Fortgange der Einzelarbeit, die auch hier das entscheidende Wort zu sprechen hat, neues Licht auf deren Ausgangspunkte fallen, und dafs in diesem Lichte dann besten Falles roh und unbeholfen erscheinen wird was die ganze einer ersten Conception verf\u00fcgbare Leistungskraft in Anspruch nahm. Und dafs es an solcher Voraussicht nicht fehlt, mag insbesondere den Gegnern dieser Conceptionen nicht ganz unwissenswerth sein; liegt darin doch die Gew\u00e4hr f\u00fcr sie, dafs diejenigen, deren Zusammenarbeiten diese Conceptionen zun\u00e4chst entsprungen sind, f\u00fcr jeden Einwurf dankbar bleiben werden, aus dem sie Anregung oder Belehrung sch\u00f6pfen k\u00f6nnen. Vorerst aber soll es mir pers\u00f6nlich zur besonderen Befriedigung gereichen, wenn der Autor, dessen Polemik den Anlafs zu den vorstehenden Untersuchungen abgegeben hat, ihnen die Ueber-zeugung entnimmt, dafs sein Eintreten in die Controverse kein erfolgloses Bem\u00fchen war.\n(.Eingegangen am 6. Juni 1899.)","page":272}],"identifier":"lit31037","issued":"1899","language":"de","pages":"182-272","startpages":"182","title":"Ueber Gegenst\u00e4nde h\u00f6herer Ordnung und deren Verh\u00e4ltni\u00df zur inneren Wahrnehmung","type":"Journal Article","volume":"21"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:41:47.608146+00:00"}