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{"created":"2022-01-31T15:04:31.336064+00:00","id":"lit31086","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Pelman","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 21: 316-317","fulltext":[{"file":"p0316.txt","language":"de","ocr_de":"316\nLiteraturberkht,\nGcbt\u00e0v Friedrich. Hamlet and seine fiemflthikrankheit. Heidelberg, G. Weife, 1899. 207 S. 3 M.\nDer arme Hamlet kann auch nach seinem Tode nicht zur Buhe kommen, und sein Schatten schwebt wie der Geist seines Vaters unst\u00e4t einher, stets neue Erkl\u00e4rer in die Schranken rufend.\nWas ist nicht schon in die tiefsinnige Trag\u00f6die Shakespeare's alles hinein- und aus ihr herausgedeutet worden, und wenn auch der neueste Totengr\u00e4ber der Hoffnung Ausdruck giebt, das Hauptproblem dieser SHAKESPBA&E'schen Sphinx gel\u00f6st zu haben, damit die Discussion dar\u00fcber noch vor Anbruch des neuen Jahrhunderts zum Abschl\u00fcsse k\u00e4me, so w\u00e4re dies gewifs recht w\u00fcnschenswerth, nach den bisherigen Erfahrungen aber nicht recht wahrscheinlich.\nNicht als ob die neuen Versuche nicht manches Gute und Interessante zu Tage f\u00f6rderten, was auch dem vorliegenden Werke zugebilligt werden kann, ob aber eigentlich Neues und bisher nicht Ber\u00fchrtes, das ist eine andere Frage.\nIch m\u00f6chte dabei von dem psychiatrischen Theile absehen, wenn nicht gerade die Psychiatrie bei Hamlet einen besonderen Anspruch geltend machen k\u00f6nnte, geh\u00f6rt zu werden, und \u00fcberdies der Titel des Buches sie verlangte.\nDafs G. Friedrich nun auf der H\u00f6he psychiatrischen Wissens st\u00e4nde, kann man nicht behaupten, obwohl er einen intimen Verkehr mit einem seit l\u00e4ngerer Zeit unter einem Gem\u00fcthsdrucke stehenden Freunde und \u00fcberdies das Studium der ScHOPENHAUER\u2019schen Philosophie f\u00fcr seine psychiatrische Bef\u00e4higung ins Feuer f\u00fchrt.\nDie Unterscheidung in psychische und somatische Melancholie wind bei dem z\u00fcnftigen Psychiater kaum auf grofse Gegenliebe stofsen, und ob das mangelnde Verst\u00e4ndnifs durch seine Erkl\u00e4rung gef\u00f6rdert wird, mufs ich bezweifeln.\nEr sagt dort, S. 44: W\u00e4hrend in der melancholischen Verstimmung der sympathische Nerv durch Gram (Reiz vom Gehirn aus) ersch\u00fcttert und krank gemacht wurde, und nunmehr activ auf das Gehirn zur\u00fcckwirkt, ist in der eigentlichen Melancholie der Nerv rein somatisch erkrankt.\nAuch das best\u00e4ndige Betonen von Zwangsvorstellungen will uns nicht recht behagen.\nMan versteht n\u00e4mlich unter dieser Bezeichnung etwas ganz Anderes, als die im Banne einer \u00fcberwerthigen Idee einseitig festgehaltenen Gedanken, die sich in alles sonstige Denken und Empfinden hineinmischen und die Richtung des Handelns bestimmen.\nDie Idee der Rache war eine solche bei Hamlet zur \u00fcberwerthigen Idee gewordene Vorstellung, aber keineswegs eine Zwangsvorstellung, d. h. eine aus dem Unbewussten hervorsteigende und als krankhaft empfundene Vorstellung. Auch sonst traut Friedrich dem Dichter viel mehr an psychiatrischem Wissen und Verst\u00e4ndnifs zu, als er der Natur der Sache nach besitzen konnte.\nDafs Friedrich in der Deutung des Charakters zu wesentlich neuen Ergebnissen gekommen sei, habe ich nicht herauslesen k\u00f6nnen. Wenn ich ihn richtig verstehe, so ist sein Hamlet ein durch den pl\u00f6tzlichen Tod deB","page":316},{"file":"p0317.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n317\nVaters ersch\u00fctterter und aus dieser Stimmung durch die Erscheinung des Geistes gewaltsam herausgerissener Mensch, der seiner ganzen Charakteranlage nach mehr zum Gr\u00fcbeln als zur raschen That hinneigt.\nShakespeare schildert in Hamlet sich selbst, er giebt Selbstempfundenes wieder.\nEr entfaltet hier nicht, wie sonst, einen moralischen Charakter, noch entwickelt er einen solchen, sondern er zeigt einen einzelnen, besonderen Gem\u00fcthszustand, und auch diesen h\u00fcllt er in Nebel, so dafs man ihn mehr errathen und Bich aus Erz\u00e4hlungen und Monologen ein Bild davon entwerfen mufs, als dafs man ihn aus seinen Handlungen und aus eigener Anschauung kennen lernte. \u201eUnd dabei konnte man nicht klug daraus werden, bis auf den heutigen Tag.\u201c Dabei ist Hamlet nicht geisteskrank, und ebenso wenig ist er ein bewufster Simulant.\nSein den Uebrigen unverst\u00e4ndliches Wesen wird von ihnen f\u00fcr Wahnsinn gehalten, und Hamlet benutzt diese Auffassung, er l\u00e4fst sich r\u00fcckhaltlos gehen und er \u00fcbertreibt, um sich und seine Pl\u00e4ne dahinter zu verbergen, seine Gegner einzuschl\u00e4fern und sein Geheimnifs zu bewahren. Shakespeare aber benutzte seinerseits die Fiction des Wahnsinns als Erkl\u00e4rungsgrund, zum Verst\u00e4ndnisse des sonst schwer verst\u00e4ndlichen Charakters und um ihn b\u00fchnenf\u00e4hig zu machen. Das ist, wie schon bemerkt, nicht gerade neu und eigentlich kaum f\u00fcr 207 Seiten ausreichend.\nPelman.\nP. J. M\u00f6bius. Ueber J. J. Rousseau\u2019s Jugend. Beitr\u00e4ge zur Kinderforschung mit besonderer Ber\u00fccksichtigung p\u00e4dagogischer Zwecke (2). Langensalza, H. Beyer & S\u00f6hne, 1899. 29 S. 60 Pf.\nIn seiner bekannten lichtvollen Art der Darstellung schildert uns M\u00f6bius in der kleinen Abhandlung die Geschichte der Jugend Rousseau\u2019s, den er als eine pathologische Pers\u00f6nlichkeit, als einen Entarteten im Sinne MAONAN\u2019scher Psychiatrie auffafst. M\u00f6bius zweifelt nicht an der Wahrheitsliebe Rousseau\u2019s. Er sieht in den \u201eBekenntnissen\u201c die Vertheidigungs-schrift eines Paranoikers, der sich gegen seine vermeintlichen Feinde und Verfolger durch r\u00fcckhaltslose Schilderung seines Lebens, seines Ftihlens und Denkens am besten zu sch\u00fctzen glaubt.\nDer Geschichtserz\u00e4hlung f\u00fcgt M\u00f6bius einige allgemeine Bemerkungen hinzu, die von dem feinen Verst\u00e4ndnifs des Verf. f\u00fcr die Entstehungsbedingungen genialer Naturen Zeugnifs ablegen. Die Ehrenrettung Rousseau\u2019s, die M\u00f6bius einer moralistischen Pedanterie gegen\u00fcber unternimmt, ist reich an trefflichen Gedanken und wird Manchem die Freude machen, die Ref. bei ihrer Lect\u00fcre empfunden hat. Und noch eins! Ueber \u00ebigenth\u00fcmliche, widerspruchsreich erscheinende Menschen und dichterische Figuren (cfr. Hamlet etc.) wird von Historikern viel Unverst\u00e4ndliches und Langweiliges geschrieben. Manches davon w\u00fcrde vielleicht ungedruckt bleiben, wenn auch in Laienkreisen allm\u00e4hlich die Erkenntnifs hineindr\u00e4nge, dafs zur Beurtheilung abnormer Menschen gewisse psychiatrische Kenntnisse erforderlich sind. Mit Recht sagt M\u00f6bius in Bezug auf Rousseau: \u201eAlle jConstructionen* des Charakters von psychologischen Anschauungen aus, alle psychologischen Motivirungen der Schicksale und Entschliefsungen","page":317}],"identifier":"lit31086","issued":"1899","language":"de","pages":"316-317","startpages":"316","title":"Gustav Friedrich: Hamlet und seine Gem\u00fcthskrankheit. Heidelberg, G. Wei\u00df, 1899. 207 S.","type":"Journal Article","volume":"21"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:04:31.336070+00:00"}